Zurück zu Bach

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Zurück zu Bach
Frank Schneider
BACH ALS QUELLE IM STROM DER MODERNE
(Von Schönberg bis zur Gegenwart)
FRANK SCHNEIDER
Es dürfte in der neuen Musik des 20. Jahrhunderts – und zwar relativ unabhängig von stilistischen Strömungen und Stromschnellen – kaum einen Komponisten geben, der sich nicht auf die eine oder andere Weise (tief oder flach,
gelegentlich oder andauernd, bewundernd oder kritisch) mit dem klingenden
Vermächtnis Johann Sebastian Bachs in Beziehung gesetzt hätte. Neben vielen
Komponisten, die bei ihm anscheinend unerschöpfliche Anregungen für ihre
individuelle Ästhetik, Stilistik und Technik gewinnen, pflegen oft mancherlei
andere Talente diverse Arten (und Unarten) der konjunkturellen Rückbesinnungen, die ihre Bach-Verbundenheit dadurch zu demonstrieren belieben, daß
sie Musikstücke um berühmte Zitate ranken, klanglich bewußt „bacheln“ oder
zum ungezählten Male den berühmten Viertöner (B-A-C-H) bei seinem Namen rufen. Zur modernen Interpretationsgeschichte gehören schließlich Bearbeitungen Bachscher Werke, in denen sich gleichfalls ein vitales Interesse an
der klanglichen Aktualität des großen Musikers offenbart – und andererseits
auskomponierte Bach-Porträts, wie sie zum Beispiel im Feierjahr 1985 auf
west- und ostdeutscher Seite Mauricio Kagel und Helge Jung lieferten.
Vor allem in Jubiläumsjahren – ich denke hier an die jüngsten Jubelfeiern
1985 – hat Bach immer auch bei lebenden Komponisten Konjunktur. Natürlich wünschen die Architekten solcher Festivitäten auch kompositorische
Handreichungen und Bücklinge der Nachfahren, und selbstverständlich regt es
deren Feder an, wenn entsprechende Aufträge winken, Gelder fließen, Aufführungen besser garantiert sind. Aber in der Regel – und hier verweise ich insbesondere auf den 85er Bach-Boom in der DDR – sperrten sich die Komponisten gegen derartige Gelegenheitsproduktion auf Bestellung, und wenn sie
schon willig reagierten, setzten sie nicht selten ihren eigenen Kopf durch, der
ja im Falle derartiger Anlässe auf etwas flexiblere Wände zu treffen pflegt.
Man hört es daran, daß fast alle Stücke, die sich damals mit Bach, Händel
oder Schütz beschäftigten, in der Regel eines speziell festlichen, huldigenden,
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hymnischen Tons entbehren. Das Ehrende besteht darin, sich zu nützen – die
Musik der Vergangenheit soll helfen, gegenwärtige Probleme der musikalischen Technik und Sprachlichkeit oder wenigstens ganz individuelle mentale
Betroffenheiten zu artikulieren. Deshalb wird nicht so sehr die Distanz zwischen den Zeiten und Welten, sondern eher die innere Nähe, die Verwandtschaft und Verbundenheit herausgestellt, eine produktive Kontinuität betont,
die sich akustisch besonders gern gegen die schematischen Gralshüter und gedankenlosen Verschleuderer jenes Erbes in unserer Zeit richtet – kurz, die im
Geist von Adornos berühmtem Essay – auch Bach gegen seine Liebhaber verteidigt. Beim anscheinend so unvermeidlichen wie unterschiedlichen Zitieren
seiner Musik begegnet man kaum einer zimperlichen oder ehrfürchtigen Haltung, wie andererseits die Attitüde der Hochmütigkeit, des Verbessern- und
Überbieten-Wollens ebenfalls ausgeschlossen bleibt. Schließlich lieben und
bewundern Bach alle, und keiner traut sich ein Wort gegen ihn, Cage ausgenommen, der ein Nähmaschinenhaftes an ihm banal finden zu müssen glaubte. In erster Linie geht es wohl darum, mit Hilfe des historischen Klangmaterials etwas für heute Belangvolles möglichst deutlich, möglichst eindeutig
auszudrücken, während die Frage nach der technischen Gestalt, der mehr oder
weniger modernen, avancierten Machart, von sekundärer Bedeutung zu sein
scheint. Aber die hier skizzierten Gemeinsamkeiten differenzieren sich in einem weiten Spielraum, schlagen auch um in eine Fülle von konkreten konzeptiven und gestalterischen Unterschieden, auf die es doch wohl nicht minder
ankommt.
Daß Bach anläßlich seines 300. Geburtstages wieder einmal lawinenartig
in aller Welt gehuldigt wurde, gründet wohl zum einen in der Tatsache, daß
seine Musik seit ihrer breiten Wiederentdeckung im vorigen Jahrhundert als
d a s Musterbeispiel universellen, vollkommenen Könnens und als Gipfelpunkt unvergänglicher Schönheit gilt. Ungeachtet ihrer geschichtlichen, ihrer
stilistischen und geistigen Bestimmtheit scheint sie immer aktueller zu werden. Andererseits hat dann beinahe die gesamte „Neue Musik“ unseres Jahrhunderts – aufbauend auf den großen Bach-Bewunderern Reger und Busoni –,
haben unzählige Komponisten auch divergentester Richtungen im Thomaskantor einen unausschöpfbaren Quell für spezifische Schaffensinteressen nutzen können. Die Fülle von Stücken, in denen, wie zum Dank, auch konkret
auf B–A–C–H Bezug genommen wird, ist längst nicht mehr zu überblicken,
und sie wird mit Sicherheit weiter zunehmen. In diesen Reigen fügt sich ein
Stück aus der 85er Ausbeute, das der Komponist Friedrich Schenker für seine
achtköpfige „Gruppe Neue Musik Hanns Eisler Leipzig“ schrieb. Es heißt
nicht ohne Ironie „Ach Bach“ und im Untertitel „Concerti funebre furiosi per
due Oboisti e gruppo instrumentale“. Das leicht ramponierte Italienisch paßt
nicht eben schlecht zu Schenkers deutschem Stoßseufzer, der all den Verhunzungen, Lädierungen und Plünderungen gilt, die dessen Musik und Namen
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auch widerfahren. Und sein Stück fährt dem rücksichtslos in die Parade, rüstet
zu einem exzessiven, virtuosen Musizieren, das virtuell die einstige Kühnheit,
Frische und das schockierend Überfordernde des Bachschen Musikdenkens
aus heutigem akustischen Erfahrungshorizont wiederholen möchte. Ihn fasziniere an Bach, sagte Schenker damals, „zum einen diese wahnsinnigen Dissonanzen ohne Rücksicht auf harmonische Ausgewogenheit, harmonisches
Gleichmaß, nur streng und kühn der linearen Stimmführung folgend. Andererseits gibt es in seiner Musik dieses besondere Zusammenspiel von Struktur,
Ausdruck und Affekt, letztlich die Konstruktion zugunsten des Affekts – Wirkungen, die mich ungemein interessieren. Wenn ich erbe, dann will ich offensiv erben, nicht passiv als Feierstunde. Bachsche Konstruktivität muß auch
konstruktive Folgen haben, nicht im Sinne des Übernehmens traditioneller
Modelle, sondern als Anregung für meine eigene, zeitgenössische Version,
eine körperlich erlebbare, kreative.“ So erscheint denn der unmittelbar wahrnehmbare Bezug auf Bach weitgehend gelöst, wenn man gewisse Anregungen
aus der Formwelt der Brandenburgischen Konzerte und das motivische Spiel
mit den Tonbuchstaben der drei Satz-Überschriften vernachlässigt. Die drei
Sätze heißen: „Ach Bach“ (Unterschrift: „Maestro Bach balla“ – tanzt), zweitens „Bachhaschee-Haschebach“ (Unterschrift: „Una cadenza lipsiana“), schließlich „Bach-Asche“. Diese Stichworte ergeben aber nicht nur Tonreihen-Material, sondern auch Hinweise auf ein Programm „zumeist kritischer Haltung zu
übertriebener Rezeptions-Konsumtions-Interpretations-Ma(s)che“, so Schenker, sondern sie figurieren als Sprach-Bilder, denen kompositorische Sachverhalte zugeordnet sind, wenn sich beispielsweise ein Suchen, Ertasten und Erhaschen von Klang ebenso wie sein Zerhacken, Zerstäuben und Verbrennen
wirklich ereignet.
Musikbeispiel: Schenker: „Ach, Bach“, 2. Satz
Nach diesem Präludium, das mir eine besonders kreative Art des Umgangs
mit historischen Leitfiguren zu demonstrieren scheint – nämlich dem Busonischen Aperçu folgend, daß man seine Lehrer dadurch am besten ehrt, indem
man sie überwindet und schließlich vergißt –, will ich versuchen, die Fülle
des Materials strikt zu bündeln. Nicht chronologische Vorgehensweise, nicht
nationale Gruppierung oder stilgeschichtliche Rubrizierung scheint mir dafür
geeignet zu sein, sondern ein typologischer Ansatz, um verschiedene Formen
der Annäherung an Bach – bzw. der Fortbewegung von ihm – an möglichst
charakteristischen Einzelfällen zu demonstrieren. Wenn ich dabei mehrfach
und vielleicht einseitig auf Beispiele aus der Musik der DDR zurückkomme,
um in der Bach-Welt der Gegenwart Ausschau zu halten, so hat das vielleicht
nicht zuletzt mit der geographischen Seßhaftigkeit des Ahnen zu tun, die im
gleichen Lebensraum, trotz jahrhundertelanger Distanz, ihre besondere Attraktivität und rückwirkende Verbundenheit zu bewahren scheint.
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Typus 1: Interpretation im Geist der Avantgarde
An der Nahtstelle zwischen den Spielarten moderner Bach-Interpretation und
der kompositorischen Neugier der Avantgarde an Bach ist zunächst an jenen
einzigartigen Versuch des großen Organisten Gerd Zacher zu erinnern, der
längst zur produktiven Rezeptionsgeschichte der letzten Jahrzehnte gehört. Im
Unterschied zu mehreren Versuchen, das fragmentarische Kompendium der
Kunst der Fuge aufführungspraktisch zu bearbeiten, hat Zacher mit dem Festival „Die Kunst einer Fuge – 10 Interpretationen des Contrapunctus I“ aus jenem Opus magnum et absolutum Vergegenwärtigungen für die Orgel angestrengt, die – mit Bedacht Theodor W. Adorno gewidmet – gegen den Geist
des Historismus der Bach-Pflege gerichtet waren.
Was wir im humoristischen Bereich als chronistische Stilvariationen von
diversen Instrumentationskünstlern kennen („Mein Hut, der hat drei Ecken“
usw.), erscheint hier als ernsthafteste Projektion von Personalstilen moderner
Komponisten auf ein und dasselbe abstrakte Material. Die Subjekte solcher
Einkleidung – es waren bei der Hamburger Uraufführung 1968 zunächst nur
fünf – begegnen in der Reihenfolge: Bach quasi authentisch, danach als Reminiszenz ans vergangene Jahrhundert Schumann und Brahms, schließlich György Ligeti, Olivier Messiaen, Bengt Hambraeus, Mauricio Kagel, Edgard Varèse, Juan Allende-Blin und Dieter Schnebel, der bekanntlich selbst diesen
„Contrapunctus I“ 1970 für Stimmen adaptiert hat. Wir hören daraus die Messiaen-Variante Nr. 5 „Timbres-Durèes“, die Zacher wie folgt kommentierte:
„Tribut an Messiaens ‚Modes de valeurs et d’intensités‘, jene Klavieretüde
von 1949, die als – wenngleich mißverstandenes – Schlüsselwerk der seriellen
Kompositonstechnik gilt… Olivier Messiaen entdeckte die ‚Farbe der Zeit‘.
Seinem Gedanken folgend, ist diese Fassung eine Spektralanalyse der Fuge.
Jede Tondauer erhält ihre typische Klangfarbe: Achtel und Sechzehntel sind
helle Mixturen, Viertel und Halbe sind grundige Prinzipale, alle längeren
Töne schillern bunt mit Zungenstimmen und Aliquot-Registern. Man unterscheidet die Gegenden der Geschwindigkeit deutlich. Wieder tritt die Zeit in
den Vordergrund… jetzt wird der gesamte Zusammenhang in kleinste Einheiten zerlegt, die Zeit erscheint gequantelt. Aber wie auf einem Bild, das aus
Punkten komponiert ist, das Auge dennoch eine durchgehende Form erfaßt, so
setzt sich hier aus verschieden gefärbten Zeitpunkten das ursprüngliche Modell der Fuge zusammen.“
Musikbeispiel: Zacher, „Kunst einer Fuge“ 5. Version Messiaen
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Typus 2: Interpretation als klangliche Konkretisierung
Zahllos sind im 20. Jahrhundert die Unternehmungen und höchst verschieden
die Motive, Bachs Werke – besonders die instrumentalen – für Aufführungen
im modernen Konzertsaal zu bearbeiten. Meist handelt es sich um orchestrale
Vergrößerungen, über deren mehr oder weniger gelungene Resultate sich
trefflich streiten läßt. Die bekanntesten Transkriptionen, die ich nur zu erwähnen brauche, stammen zweifellos von Schönberg und Webern, von Igor Strawinsky und Leopold Stockowski, von Edward Elgar (Fantasie und Fuge für
Orgel c-Moll BWV 537) oder von Ottorino Respighi (Passacaglia c-Moll für
Orgel). Besondere Aufmerksamkeit gewinnt immer wieder das spekulative
Spätwerk – so die Kunst der Fuge in (teilweise um Vollendung bemühten) Orchesterfassungen beispielsweise von Wolfgang Graeser und Fritz Stiedry
oder aus jüngster Zeit von Wilhelm Bergel oder Siegfried Heinrich. Auch die
Kanons und das sechsstimmige Ricercar aus dem Musikalischen Opfer sind
wiederholt eingerichtet worden, so etwa von Roger Vuataz das Ricercar, von
Bruno Cannino und Paul Dessau einige der Kanons oder von Igor Markevitch
das Ganze für kleines Orchester. Als besondere Kostbarkeit aus diesem Bereich möchte ich eine Entdeckung vorstellen, die der Berliner Komponist
Friedrich Goldmann schon vor einiger Zeit – 1978 – aber vielleicht noch nicht
hinlänglich bekannt – öffentlich vorgestellt hat: 1974 spielte der Zufall dem
amerikanischen Bach-Forscher Christoph Wolff einen geradezu sensationellen
Quellenfund in die Hände: In französischem Privatbesitz entdeckte er Bachs
Handexemplar des 1742 gedruckten vierten Teils seiner Clavier-Übung, der
sogenannten Goldberg-Variationen. Das Druck-Exemplar enthält in einem autographen Anhang 14 verklausulierte Kanons, in Bachs Handschrift also, unter dem Titel „Verschiedene Canones über die ersteren acht Fundamentalnoten
vorheriger Arie“. Es handelt sich also um kunstvoll verschlüsselte, streng kontrapunktische Miniaturen, die Bach primär als weiterführende, theoretischkompositorische Denkmöglichkeiten, weniger als praktische Spielvorlagen
aufzeichnete. Deshalb bezeichnet das Autograph zwar die technische Charakteristik eines jeden Kanons, enthält aber keinerlei Angaben zur interpretatorischen Ausführung. Stilistisch bilden die Kanons „das logische Bindeglied
zwischen der freivirtuosen Kanonik der Goldberg-Variationen und der subtileren wie diffizileren Kanontechnik des Musikalischen Opfers von 1747 und
den Variationen ‚Vom Himmel hoch‘ aus dem gleichen Jahr. In diesem BWV
1087 exemplifiziert Bach erstmals die verschiedenartigsten Spielarten kanonischer Ausarbeitung auf monothematischer Basis am Typus des Canon perpetuus, der in der Bachzeit häufig zu Widmungszwecken diente“ (Wolff). Bachs
systematisierender Denkweise entspricht die Progression von einfachen zu
komplizierteren Kanonarten. Die ersten vier Kanons kontrapunktieren das
Thema ausschließlich mit sich selbst. Die Kanons 5 bis 9 fügen zum Thema
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ihrerseits kanonisch geführte Gegenstimmen hinzu. Während Nr. 10 ein etwas
freieres zweistimmiges Zwischenspiel darstellt, folgen dann zwei Doppelkanons und ein Tripelkanon zu sechs Stimmen. „Den Abschluß bildet ein vierfacher Proportionskanon, in dem alle Stimmen durch mensurale Verwandlung
und melodische Umkehrung aus einer einzigen Linie entwickelt werden“
(Wolff). Um diese abstrakten Vorlagen aufführungsreif zu gestalten, werden
viele Überlegungen und Entscheidungen notwendig, die selber kompositorischer Natur sind, also Klangphantasie und analytischen Verstand, historisches
Wissen und vor allem Geschmack vom „Instrumentator“ verlangen. Nachzudenken war über Wiederholungs-Häufigkeit, über Schlüsse und Anschlüsse
der Kanons, über dramaturgische Gruppierungen und Zäsuren. Es müssen die
Stimmen nach Lage und Klangfarbe aufgeteilt, solistisch oder chorisch, dominierend oder begleitend, homogen oder diskursiv behandelt werden. Je nach
Charakter der einzelnen Stücke sind Tempo und Dynamik, Grundfarbe und
Variabilitätsgrad festzulegen, harmonische Auffüllungen zu erwägen, dem
Ganzen die Züge einer gewissen Geschlossenheit und inneren Zielstrebigkeit
zu verleihen: dies vor allem dann, wenn man, wie im Falle des Komponisten
Friedrich Goldmann, klanglich keine historisierende Rekonstruktion im Auge
hatte, sondern Bach mit den normalen Mitteln eines modernen Kammerorchesters und den Klangerfahrungen zeitgenössischer Kompositionspraxis musizieren läßt.
Musikbeispiel: Goldmann/Bach: 14 Kanons
Typus 3: Das B-A-C-H-Symbol
Vor allem kaum zählbar sind die Komponisten unseres Jahrhunderts, die ihre
Verehrung für Bach durch die Verwendung seines musikalischen Namenssymbols dokumentiert haben, wie dies im 19. Jahrhundert etwa durch Mendelssohn, Schumann, Liszt oder Reger in diversen Orgelstücken vorgegeben worden war. Dieses Zitat ließ sich unabhängig von bestimmten stilistischen
Orientierungen verwenden, als einmalig herausgehobenes Signal ebenso wie
als Impuls für variatives Klangspiel oder als unauffälliger Material-Kern in
durchchromatisierter, atonal freier oder zwölftönig gebundener Harmonik. Die
unterschiedlichen Funktionen werden deutlich, wenn man nur an die bekanntesten Kompositionen mit B-A-C-H-Zitaten denkt: an Busonis Fantasia contrappuntistica für 2 Klaviere, Schönbergs Variationen für Orchester, Arthur
Honeggers Prélude, Arioso et Fughette für Streichorchester, Hanns Eislers
Präludium und Fuge für Streichtrio op. 46, Eugen Suchons Symphonische
Fantasie für Orgel, Streicher und Schlagzeug, Karg-Ehlerts Passacaglia und
Fuge für Orgel op. 150, Fortners Fantasie für 2 Klaviere, 9 Instrumente und
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Orchester, um von den indirekten Emanationen im Rahmen B-A-C-H-gängiger Zwölftonreihen – wie etwa in Weberns Streichquartett op. 28, Paul Dessaus In memoriam Bertolt Brecht für Orchester, Friedrich Goldmanns 1. Sinfonie, Georg Katzers Flötenkonzert – gar nicht erst zu reden.
Eines der eigentümlichsten und umfänglichsten Dokumente der Bach-Verehrung eines Komponisten außerhalb des deutschsprachigen Raums besitzen
wir in dem Offrande musical sur le nom de BACH von dem französischen
Komponisten Charles Koechlin. Das fünfzigminütige, zwölfteilige Großwerk
für Orchester mit Klavier und Orgel – uraufgeführt erst 27 Jahre nach dem
Tod des Komponisten in Frankfurt 1977 – entstand bemerkenswerterweise
zwischen 1942 und 1946, überwiegend in der Zeit des Krieges, als Frankreich
von den Deutschen okkupiert war. Den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges
empfand Koechlin – ein linker Humanist – als unfaßbare Katastrophe, die seine schöpferische Arbeit zunächst völlig lähmte. Neben der Arbeit an einer Instrumentationslehre schrieb er vom Spätsommer 1942 an dann fast täglich
wieder Kanons und Fugen, woraus bald die Idee zu seinem „Musikalischen
Opfer über den Namen BACH“ entstand – nicht zuletzt gedacht als ein Protest gegen die faschistische Barbarei und eine Huldigung an jene große Tradition deutscher Musik, die er geschändet sah. Gleichzeitig konzipierte er das
Werk alternativ zu den seit den zwanziger Jahren grassierenden neoklassizistischen und neobarocken Tendenzen der Bach-Verwertung durch Strawinsky
und die Groupe de Six, von der er sich bereits 1926 in einem Artikel „Le Retour à Bach“ öffentlich distanziert hatte:
Jeder kennt die Formel: Sie ist Tageslosung. Ein ‚Zurück zu…‘, von dem man in bezug auf die gegenwärtige Musik spricht, findet sich zweifellos in einer Kunst, die den
Anspruch erhebt, klar, kraftvoll, nicht beschreibend, ja sogar ohne Ausdruck zu sein.
Ich denke, daß ich die Tendenzen nicht verfälsche, wenn ich sie insgesamt so charakterisiere: saubere, einfache Themen (wie in bestimmten Allegro-Sätzen von Bach),
kein Pathos (wie zu finden bei Beethoven, Franck oder Wagner), kein Expressionismus
(wie bei Fauré oder Debussy), nein, nur reine Musik, die nichts bedeuten soll. Und Fugen. Oder eher Entwürfe zu Fugen: angepaßt den Bedürfnissen einer Epoche, die verkündet, daß Zeit Geld sei. Nichts davon bei Bach. Schon die Fugenthemen – ein jedes
hat seinen unverwechselbaren Charakter. Seine Formen gehorchen nie dem trockenen
Intellektualismus; sie haben nichts Geometrisches. Sensibilität, Meisterschaft des
Handwerks, Freiheit und Schönheit der Form, ethischer Anspruch des Werkes, das
sind die wahren Charakteristika dieses Ahnherrn. Vergleicht dies mit dem oben beschriebenen ‚Zurück zu Bach‘, und zieht die Folgerungen. Was ich daraus folgere?
Soll ich die aktuelle Strömung bedauern, die Tendenz der Zeit beklagen? Keineswegs,
zumindest nicht a priori. Es geht nur um eines: Diese Tendenzen müssen zu musikalischem Leben und zur Schönheit führen. Ein solches Resultat muß nicht unvereinbar
sein mit dieser Richtung, wenngleich man sie sich etwas weniger autoritär und starr
wünschen möchte. Dennoch bezweifeln wir, daß ein ‚Zurück zu Bach‘ auch wirklich
zum angestrebten Ziel führt – es gibt andere und bessere Arten, Bach zu huldigen.
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Koechlins Antwort auf die Barockisten und Klassizisten, das Offrande musicale in 12 Teilen, verwendet große Orchesterbesetzung, die allerdings nur in
den Teilen I, X, XI und XII voll präsent ist. Durch Gegenüberstellung von
Stücken in reiner Streicherbesetzung bzw. Bläsersätzen, durch ausgefilterte
Ensembles (wie Streichquartett) und Soli von Klavier oder Orgel erreicht
Koechlin eine große Vielfalt der Klangfarben im strikten Zusammenhang mit
der Entfaltung und Verwandlung der musikalischen Substanz. Umrahmt vom
„Choral sur le thème b-a-c-h“ und einem triumphalen Finale ist die Großform
so angelegt, daß der „gleichsam im Zentrum stehende Teil VII, das Albumblatt für Klavier solo, zum homophonen Ruhepunkt der Komposition wird;
das Motto b-a-c-h ist gleichwohl auch hier allgegenwärtig. Die diesem Albumblatt nachfolgenden Teile verdichten die polyphone Struktur wieder zunehmend; einher geht damit eine allmähliche Ausweitung des instrumentalen
Apparats. Höhepunkt der kontrapunktischen Künste ist Teil XI, eine ‚symmetrische‘ Fuge mit Themeneinsätzen im Abstand des Tritonus… Das aus 22 Tönen gebaute Thema sequenziert das Motiv b-a-c-h; es ist von komplexer Dichte und durchläuft zunächst die zwölf Töne der chromatischen Skala. In seinem
Charakter ähnelt es deutlich dem Thema von Bachs Fuge h-Moll, die den ersten Teil des ‚Wohltemperierten Klaviers‘ beschließt. Bachs Fugenthema, das
ebenfalls aus 22 Tönen besteht, schließt wiederum die 12 Töne der Skala ein.
Durchaus möglich erscheint, daß solche Substanzverwandtschaft von Koechlin beabsichtigt war und auf den Widmungsträger… noch einmal versteckt anspielen möchte.“ (Otfrid Nies)
Musikbeispiel: Koechlin: Offrande musicale
Typus 4: Bach-Themen und Variationen
Bachsche Themen als Grundlage für variative Umprägungen ist ein weiteres
Modell für musikhistorische Aneigungs- und Transformationstechniken, das
im 20. Jahrhundert fortgesetzt wird. Hierbei kann man ebenso an Johann Nepomuk Davids neobarocke Variationen über ein Thema von Bach für Kammer-Orchester op. 29a oder aus jüngerer Zeit an Isang Yuns Königliches Thema für Violine solo von 1976 denken. Als besonders intelligente, weil einerseits virtuos-brillante wie andererseits hintersinnig-geschichtsphilosophisch
konzipierte Version dieses traditionellen Formtypus in der neuen Musik seien
die Bach-Variationen für großes Orchester von Paul Dessau hervorgehoben,
der übrigens in zahlreichen Werken seines Œuvres – ich erinnere vor allem an
die Oper Einstein oder die Orchestermusik IV – mit ausgedehnten Bach-Zitaten als semantisch aufschlußreichen Hintergründigkeiten operiert. Diese BachVariationen, im Frühjahr l963 komponiert, gehören zu den bekanntesten, er
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folgreichsten Orchesterwerken des Komponisten. Sie empfehlen sich qualifizierten Interpreten nicht nur als virtuoses Spielstück – und als opulentes Hörstück wollen sie nicht bloß den Ohren des Publikums vertraulich entgegen
kommen. Sie verstehen sich auch – und für feinere Wahrnehmung vor allem –
als ein Lehrstück über den produktiven Umgang mit Musikgeschichte, über
heutige, vernünftige, souveräne Aneignung der historischen Dimension von
Musik selbst. Diese Variationen enthalten Musik über Musik. Das hört man
der langsamen, etwas zerklüfteten, grüblerischen Einleitung nur dann ab,
wenn bemerkt wird, daß sie durch Tonsymbole zwei Namen herbeizitieren:
Bach und Schönberg. Dadurch werden, stellvertretend, zwei Epochen großer,
neuer Musik gleich anfänglich und programmatisch in eine konstruktive Beziehung gesetzt, als ein Erbe des kompositorischen Fortschritts mit je eigenem
inneren Widerspruch, das es zu bedenken und zu erneuern gilt. Als eigentliche
Themen für das Variieren figurieren dann ein original kontrapunktisch gesetzter „Bauerntanz“ von Carl Philipp Emanuel Bach (aus Kirnbergers Kunst des
reinen Satzes von 1779) und die berühmte kleine Musette von Bach Vater (aus
dessen Klavierbüchlein für Anna Magdalena). Die Wahl und Kombination
dieser beiden Vorlagen bilden schon für sich genommen eine dialektische Delikatesse: Indem sie das gängige Klischee vom „gelehrten“ Vater und vom
„galanten“ Sohn mißachtet und gleichsam die beiden Repräsentanten des kontrapunktischen und des homophonen Stils ihre historischen Rollen vertauschen läßt, betont sie einerseits das Moment der Kontinuität im musikgeschichtlichen Epochen-Umbruch und andererseits das verbindliche Moment
im schon damals angelegten Gegensatz von kunstvollem und populärem Musizieren.
In den 11 Variationen werden diese Themen ebenfalls kontrapunktisch harmonisiert und als Gerüst für eine Folge von modernen Charakterstücken verwendet, und zwar bei entwickelter Technik ebenfalls unter Benutzung von allgemein gebräuchlichen Idiomen oder Tanztypen wie zum Beispiel Marsch,
Polka oder Rumba. Den Anlaß zur Komposition lieferte ein Orchester-Jubiläum (das 400jährige Bestehen der Mecklenburgischen Staatskapelle), und dies
bot das äußerliche Motiv für eine solch rückschauende, Geschichte aufgreifende Konzeption, aber auch für möglichst effektvollen Ton, für konzertante
Instrumentalbehandlung, für klingenden Glanz und blankes Gloria. Doch das
Stück verwirklicht ein weitergestecktes, stets wieder akutes Anliegen: In der
durchgängig thematisierten, gelegentlich verfremdeten Kombination von geläufiger Gebrauchsmusik und strengster Kompositionsverfahren griff Dessau
das Problem des Verhältnisses von alter und neuer, von einfacher und komplexer Musik auf. Und ihm gelingt, Antagonistisches als produktiven Gegensatz
zu sehen – uns fragend, ob nicht doch Klassisches und Modernes, Ernstes und
Unterhaltsames einander angenähert werden könne und müsse. Gleichzeitig
besteht er darauf, das unverwechselbar eigene, das eigenwillige Gesicht zu
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wahren, sich als kritischer Zeitgenosse klanglich zu bewähren, im Bunde,
nicht im Widerstreit mit den Klassikern (auch der Neuen Musik), doch auch
ohne eine besserwisserische Überhebung und ohne eklektische Unterwürfigkeit ihnen gegenüber. Wenn die Musik der Bach-Variationen am Ende alle
Themen (und noch ein neues von Bach) zusammenbringt, wenn sie funkelnd
auftrumpft zu sieghaftem Hymnus, dann meint das nicht einen Sieg der Gegenwart über die Vergangenheit oder umgekehrt, sondern einen Sieg der Liebe zur Musik selbst, die, wenn sie gut ist, auch immer neu ist und neu angeeignet zu werden verdient – gleich, wann und von wem sie komponiert wurde.
Musikbeispiel: Dessau, Bach-Variationen
Typus 5: Bach-Zitate montiert und collagiert
Eine besondere Form des Zitierens Bachscher Musik ergibt sich im Zusammenhang mit den Techniken des Montierens und Collagierens, wobei nicht
selten – etwa bei Bernd Alois Zimmermann, Luciano Berio oder Alfred
Schnittke – ein ganzes heterogenes Ensemble von Zitaten begegnet und das
jeweilige Zitat nicht in seiner konkreten semantischen Individualität, sondern
eher als formelles Zeichen eines fernen und fremden Kolorits wichtig wird.
Dies gilt insbesondere für die Collage-Technik Zimmermanns im Zusammenhang mit dessen eigentümlicher kompositorischer Philosophie. In der zweiten
Hälfte der fünfziger Jahre begann er, die theoretischen Grundlagen seines
Schaffens radikal zu durchdenken. Die Erfahrung der sozialen Isoliertheit
neuer Musik, die Beobachtung der wachsenden ästhetischen Aktualität der
Tradition, seiner Liebe zu guter Musik aus allen Sphären, sein Bedürfnis nach
kritischer Reflexion und erweiterten Anwendungsmöglichkeiten des seriellen
Konzepts im Hinblick auf praktische Vernunft des kompositorischen Ansatzes
führten ihn zu jener spezifischen Theorie von der Einheit der Zeit – ihrer
„Kugelgestalt“ – zu der namentlich musikalisch die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Erlebnis-Horizont des modernen Hörers zusammenschießen und aus der sich schließlich für Zimmermann zwangsläufig das Konzept seiner „pluralistisch“ genannten Kompositionsmethode ergab. Seine
Denkweise erläuterte er seit dem grundlegenden Aufsatz „Intervall und Zeit“
von 1957 wohl am bündigsten 1968 in dem Artikel „Vom Handwerk des
Komponisten“:
Wir sind ständig von den so oft zitierten Zeugen der Vergangenheit umgeben, ja man
kann geradezu sagen, daß manche Werke früherer Zeiten gegenwärtiger sind, im Musikkonsum heute gegenwärtiger, als die sogenannte Musik der Gegenwart… Es ist
nicht an der Feststellung vorbeizukommen, daß wir mit einer ungeheuren Vielfalt von
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in den verschiedensten Zeiten entstandenen Bildungsgütern einträchtig zusammenleben, daß wir gleichzeitig in vielen Zeit- und Erlebnisschichten existieren, von denen die meisten weder voneinander ableitbar erscheinen, noch miteinander zu verbinden sind, und doch sind wir in diesem Netz von vielen verwirrenden und verwirrten
Fäden… geborgen… Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind, wie wir wissen, lediglich in ihrer Erscheinung als kosmische Zeit an den Vorgang der Sukzession gebunden. In unserer geistigen Wirklichkeit existiert diese Sukzession jedoch nicht, was
eine realere Wirklichkeit besitzt als die uns wohlvertraute Uhr, die ja im Grunde
nichts anderes anzeigt, als daß es keine Gegenwart im strengen Sinne gibt. Die Zeit
biegt sich zu einer Kugelgestalt zusammen. Aus dieser Vorstellung von der Kugelgestalt der Zeit habe ich meine… pluralistische Kompositionstechnik entwickelt, die der
Vielschichtigkeit unserer musikalischen Wirklichkeit Rechnung trägt. Das bedeutet,
rein kompositionstechnisch gesehen, daß aus einer für ein ganzes Werk oder für eine
ganze Werkgruppe verbindlichen Tonhöhenkonstellation (meistens einer Allintervallreihe) ein Proportionsgefüge von verschiedenen Zeitschichten abgeleitet wird, die auf
der einen Seite in ihrer effektiven Zeitdauer auf das Strengste mit der erwähnten Tonhöhenkonstellation verbunden sind, auf der anderen Seite aber durch die Möglichkeit
spontaner Einbeziehung von vergangener oder zukünftiger Musik, von Zitaten und Zitatcollagen, sowie Collagen überhaupt, eine vor allem erlebniszeitliche Verschiebung
erhalten – so könnte man sie jedenfalls nennen – insgesamt ein Vertauschen und gegenseitiges Durchdringen vieler Zeitschichten, worin ich eine der Eigentümlichkeiten
meiner Arbeitsweise sehen möchte.
Abgesehen vom Genre-Bezug der Invention, dem 2. Satz seines frühen Extemporale für Klavier, sowie der B-A-C-H-Folge in der Reihe der Toccata aus
der Sonate für Violine solo von 1951, begegnen wörtliche Bach-Zitate dann in
mehreren Spätwerken Zimmermanns. Zunächst in den Monologen für 2 Klaviere von 1964 verwendet er Choralbearbeitungen neben Ausschnitten aus
Werken von Messiaen, Beethoven, Debussy und anderen. In der Oper Die
Soldaten nach Lenz werden Choralsätze Bachs im instrumentalen Intermezzo
des 2. Aktes mit dem gregorianischen „Dies Irae“ und in der Simultanszene
der Verführung Mariens mit dem Volkslied vom „Rösel aus Hennegau“ kombiniert. Durchaus inhaltlich bezogen, zitiert er den Choral „0 Welt, ich muß
dich lassen“, zeilenweise zwischen Holz- und Blechbläsern wechselnd, im
vierstimmigen Satz, wie Bach ihn mit der Textzeile „Ich bins, ich sollte büßen“ in der Matthäus-Passion verwendet. Bach-Motive fehlen auch nicht in
dem als totale Collage konzipierten Ballet noir Musique pour les soupers du
Roi Ubu von 1966, und zwar im zweiten Satz mit Hilfe von Segmenten aus
den Brandenburgischen Konzerten 1 und 3 und im fünften Satz, der groteskjammervollen Pavane de Pissembock et Pissedoux, durch eine Kombination
des Bach-Chorals „Vom Himmel hoch“ mit der Pavane von William Byrd,
Strawinskys Sinfonie in C und Wagners Siegfried-Idyll. Während im Prélude
für großes Orchester Photoptosis von 1968 Elemente aus dem ersten Brandenburgischen Konzert nur flüchtig auftauchen, schließt das letzte vollendete
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Bach als Quelle im Strom der Moderne
Werk Zimmermanns, die Ekklesiastische Aktion Ich wandte mich und sah an
alles Unrecht, das geschah unter der Sonne geradezu fanalisch mit Bachs
Harmonisierung des Chorals „Es ist genug“ aus der Kantate Nr. 60 (den Berg
seinem Violinkonzert und später Paul-Heinz Dittrich seinem Cantus I für Orchester integrierte). Es war – nach Meinung Wulf Konolds – der letzte Versuch des Komponisten, „den von ihm stets betonten Zusammenhang mit der
Tradition der großen deutschen Musik hörbar zu machen“.
Musikbeispiel: Bernd Alois Zimmermann: Soldaten, 2. Akt 2. Szene
Ubu-Musik, 2. Satz
Typus 6: Freie Adaption als Parodieverfahren
Die Fülle der Anregungen durch Bach und die Vielfalt ihrer Verwertung im
Schaffen einzelner Komponisten des 20. Jahrhunderts enthalten auch den
Aspekt des modernen Parodieverfahrens, einer semantischen Umdeutung
Bachscher Musik im Zusammenhang mit Textvertonungen, das insbesondere
Hanns Eisler nutzte – der jetzt nicht gerade sonderlich geschätzte „Schüler
Schönbergs und der Arbeiterklasse“ (wie er sich einmal bezeichnete). Dieser
Mitarbeiter Bertolt Brechts war sein Leben lang von einer Verehrung für Bach
durchdrungen, wie man sie vielleicht gerade bei ihm nicht vermuten würde
und von der er nicht selten von in einer auch pädagogisch vordergründigen
und ideologisch subtilen Art Gebrauch macht, die unter den Komponisten der
Moderne als Ausnahme gelten kann. Der Nutzen, den Eisler für sich aus Bach
zieht, ist beinahe universell zu nennen, denn ohne Zweifel beeindruckte und
beeinflußte ihn Bach unter allen Komponisten der Vergangenheit am nachhaltigsten – eine Präferenz übrigens, die er mit den meisten Schönberg-Schülern
teilt. Was er den Bachschen Werken entnahm, geht über gewöhnliches Lernerlebnis hinaus, ist zuinnerst in seinem eigenen Stil für immer sedimentiert.
Man denke beispielsweise an Eislers Anwendungsweise der Zwölftontechnik
in vielen seiner Kantaten, Kammer- und Orchestermusiken, durch die er –
quod erat demonstrandum – durchaus einen Gestus des Vitalen, konzertant
Gelösten und elegant Charmanten erzielt, der sich von Haltungen in der Musik anderer Schönberg-Schüler, ihrer oft hypochondrischen Nervosität, ihrer
schmerzgetränkten Esoterik oder expressiven Zerrissenheit entfernt hält. Um
dessentwillen knüpft Eisler nicht nur wie andere Dodekaphonisten an Bachs
kunstvolle polyphone Techniken an, sondern orientiert sich auch an wesentlichen Musizierhaltungen und Ausdrucksbereichen. Sie leben in Eislers bisweilen motorischer, kraftvoll konzertierender und ornamental figurierender
Klangsprache ebenso auf wie in der gezielten Verwendung Bachscher Genretypen bis hin zur entpsychologisierten, kritisch interpretierenden und kom
Frank Schneider
mentierenden, musikalisch objektivierten Textbehandlung. Speziell Bachs Rezitativtechnik ging als wichtiges Modell in seine Methode der referierenden
Textdeklamation ein. Auf Bach verweisen neben Formen wie Suite, Kantate,
Choralvorspiel, Choralvariation, Arie, Fuge, Präludium, Invention oder Passacaglia auch zahlreiche, beziehungsvoll zitierende Adaptionen aus bestimmten
Werken und affektbezogene Klangsymbole.
Besonders reich an Anspielungen auf verschiedensten Ebenen ist die Bühnenmusik zu Brechts Bearbeitung von Gorkis Roman Die Mutter. Gleich der
erste Gesang „Wie die Krähe“ geht als Arie mit Chor – Solostrophen mit cantus-firmus-artigem Chorrefrain – auf Bach zurück. Am Gleichnis der Krähe
wird die soziale Situation und Perspektive des Proletariats – natürlich aus
Brechts Sicht der Jahre um 1930 – als Frage und Anwort behandelt: „Deine
Lage ist schlecht. Sie wird schlechter. So geht es nicht weiter, aber wo ist der
Ausweg?“. In kontrapunktierender Dramaturgie zum Textgehalt „weiß“ und
„deutet“ die Musik diesen Ausweg: Zum einen symbolisieren Kampflied-Intonationen des Refrains revolutionäre Entschlossenheit. Zum anderen benutzt
Eisler aber auch einen sehr feinen und hintergründigen Kommentar: Der Beginn der ersten Solostrophe „Arbeite, arbeite mehr…“ zitiert in der Singstimme wörtlich sowie in der Begleitung als Figurenmontage und in gleicher Tonart den vokalen Anfang der Tenorarie Nr. 8 fis-Moll aus dem Bachschen Magnificat „Deposuit potentes de sede et exaltavit humiles“. Damit gibt Eisler, den an der Vorlage gewiß auch der konkrete, energisch „arbeitende“, drängende Charakter interessiert haben mag, auf spezifisch musikalische Weise
Antwort, die unerwartet durch jenes große Bibelwort aus Lukas 1,52 („Er stößet die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen“) eine historische Vision in religiöser Vorschau säkularisiert und aktualisiert. Zu solcher rationalmusikalischen Symbolik tritt vielfältig auch das emotionale Symbol hinzu.
Eisler läßt es sich nicht entgehen, beispielsweise im gleichen Stück dort, wo
Brecht vom Jammern des Ausweglosen spricht, deutlich auf Klagemelismen
zurückzugreifen, die Bach verschiedentlich angebracht hat, etwa in der
Matthäus-Passion, Rezitativ 46 zu den Worten „…und weinete bitterlich“,
oder in der Johannes-Passion, Rezitativ 18 zum gleichen Text.
Auch für die Gestaltung seiner lapidaren, aufrüttelnden Chöre, sei es in
den Lehrstück-Musiken oder in den chorsinfonischen Werken wie dem LeninRequiem oder der Deutschen Sinfonie, wurde Bach ein bedeutender Anreger.
Sergej Tretjakow ließ sich von Eisler den Sinn dieses bewußt gesuchten Bezugs erklären: „Eisler blätterte in Noten auf dem Klavierpult und lobte Bach.
Er suchte in ihm einen Verbündeten im Kampf für den Chor, an dem das ganze Publikum teilhat, im Gegensatz zur heutigen Trennung zwischen Vortragenden und passiven Zuhörern. Die hohe Kultur des Chors, der Menschen
vereint, zusammenschließt, in einheitlichen Rhythmus und einheitliche Bewegung führt, suchte Eisler in jenen Zeiten, da die Kirche den Chorgesang pfleg
Bach als Quelle im Strom der Moderne
te und in diesem Sinne geniale Zeitgenossen mobilisierte.“ Eislers Fähigkeit,
Traditionen in Neues umschlagen, in ein Neuwerden des Materials und der
Expression eingehen zu lassen, äußert sich vielleicht am eindringlichsten in
Stücken wie der „Grabrede an einen Genossen, der an die Wand gestellt wurde“ aus der Mutter-Musik, weil hier eine weitgehend integrative Adaptierung,
eine völlig eigenständige Umfunktionierung aus dem Geiste, der „Aura“
Bachs praktiziert ist, die im neugefaßten persönlichen Idiom bereits objektivierte, kommunikativ gesicherte Sprachcharaktere als historisch hintergründiges Doppelbild, als Kontinuität geschichtsnotorischer Passionsdarstellung in
der Musik einbringt. Allenthalben, in einzelnen Wendungen wie in harmonisch-melodischen Topoi und im gesamten affektiven Habitus, kann Bach mitgehört werden, korrespondiert der Ausdruck mit den Golgatha-Szenen aus
dessen Passionen. Solche historischen Brückenschläge werden sinnträchtig
durch inhaltliche Verwandtschaft: das Thema eines politischen Mordes. Aber
Eislers Fassung, untrennbarer Bestandteil von Gehalt und Funktion des
Brechtschen Stückes, verwischt auch nicht die prinzipielle gedankliche Verschiedenheit der in Frage stehenden Fälle: „Für Bach ist die christliche Demut
noch vereinbar mit dem Antlitz des Menschen. Eislers ‚Ecce homo‘ läßt sich
von der Passion des Kämpfers nicht mehr trennen. Die idealistische Ideologie
ist gestrichen, die große humanistische Kontinuität wird realistisch fortgesetzt“, argumentierte seinerzeit in der DDR Harry Goldschmidt.
Musikbeispiel: Eisler: Musik zur Mutter, „Wie die Krähe“
Typus 7: Nachahmende Stilverwandlung
Bachs Musik hat nicht nur verschiedenen Stilen der Neuen Musik wie dem
Neobarock und Neoklassizismus der zwanziger bis vierziger Jahre als bevorzugtes Modell gedient. Sie benutzt sich nicht nur vorzüglich in den neuen Varianten des postmodernen Stilpluralismus und den mannigfaltigen Tendenzen
heutiger Polystilistik – wie etwa in den Concerti grossi Alfred Schnittkes. Sie
hat darüber hinaus und nicht zuletzt in ihrer zeitlosen Universalität des öfteren
die Grundlage für Synthesen zwischen Musiksprachen unterschiedlicher Herkunft und Physiognomie gebildet. Hier ist nicht nur an die auffällige Affinität
russischer und sowjetischer Komponisten zum großen Kontrapunktiker zu
denken, wie sie sich etwa in den Zyklen von Präludien und Fugen für Klavier
von Alexander Glasunow oder Dmitri Schostakowitsch, in dem Stück Das
Bachjahr für Flöte, Cembalo und Streicher von Osvaldas Balakauskas, im Requiem von Edison Denisow, in vielen Werken – besonders den Concerti grossi
und der 3. Sinfonie von Alfred Schnittke, dem Brandenburgischen Konzert für
Flöte, Oboe, Violine, Streicher und Cembalo von Viktor Jekimowski, der Mu
Frank Schneider
sik für die Stadt Köthen für kleines Orchester von Rodion Schtschedrin, dem
Violinkonzert Offertorium von Sofia Gubaidulina oder der Collage über
BACH für Streicher, Oboe, Cembalo und Klavier von Arvo Paert manifestiert.
Jüngst hat im Auftrage der Berliner Musikbiennale der Bulgare Georgi Tutev
BACH-Meditationen für Kammerensemble geliefert, mit denen er dem „wahrscheinlich wichtigsten Höhepunkt der abendländischen Musik“ (Tutev) seine
Reverenz erweisen wollte. Den hörbaren Bezug stiftet, neben Zitaten aus der
Matthäus-Passion, vor allem eine Zwölftonreihe aus Transpositionen und Permutationen des Namens-Motivs. Es bestimmt und durchdringt das klangliche
Material mehr oder weniger vordergründig von Anfang bis Ende, ebenso in
homophonen Abschnitten wie in kontrapunktisch gearbeiteten Partien, in den
langsamen, „meditierenden“ Sequenzen nicht weniger als in den schnellen,
aktivistischen und tokkatischen Teilen. Die charakteristische Struktur kleiner
Intervalle verweist andererseits auf typische melodische Formeln der bulgarischen Volksmusik, die Tutev in konstruktiver wie koloristischer Hinsicht einbezieht und als obligate Klangschicht entfaltet. „Die Urkraft, welche im musikalischen Erbe der Balkanregion lebt, diesem Grenzgebiet zwischen Okzident
und Orient, seine archaisch-primitiv anmutende Melodik, seine komplizierte,
hinreißende Metrorhythmik und berückende Klangfarbenfreudigkeit wirken
faszinierend auf meinen vielleicht mehr an deutschem Rationalismus orientierten Geist.“ (Tutev). Im Reichtum der instrumentalen Valeurs zwischen normaler Tongebung, sekundären Spielweisen und denaturiertem Klang – nicht
zuletzt durch eine Vielzahl von Schlaginstrumenten unterstützt – verbinden
sich durchaus verschiedenartige Traditionen zu der klingenden Überlegung,
ob von ihrer Verschmelzung ein kreativer Impuls für neue Sinnlichkeit, Spontaneität und Vitalität der etwas rat- und richtungslos gewordenen „Neuen Musik“ ausgehen könne.
Das bemerkenswerteste Experiment transkultureller Stilsynthese verdanken
wir wahrscheinlich dem bekanntesten brasilianischen Komponisten Heitor
Villa-Lobos, dessen Klangerfindungen unmittelbar auf den Traditionen der
einheimischen Folklore – besonders den Gesängen und Tänzen der indianischen und negroiden Bevölkerung – fußen. Dieses Material bringt er mit den
europäischen Methoden des Komponierens und modernen Klangvorstellungen
zusammen. Das aber geschieht bei ihm ohne alles theoretische Kalkül, fast
ganz aus der vitalen Inspiration und mit hinreißendem schöpferischen Temperament. Freilich hat er aufmerksam gelernt: bei seinen jahrelangen Streifzügen durch Brasiliens Landschaften und bei seinen nicht minder ausgedehnten
europäischen Visiten. Vor allem in Paris zwischen 1923 und 1930 holte er sich
Anregungen bei Debussy, Strawinsky und der neoklassizistischen Schule. Zu
seinen besten Stücken gehört eine Serie von neun sogenannten Bachianas
brasileiras für verschiedene instrumental-vokale Besetzungen (vom Klaviersolo bis zum sinfonischen Orchester), die ohne zyklischen Zusammenhang
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Bach als Quelle im Strom der Moderne
zwischen 1930 und 1945 entstand. Das einzig verbindende Element besteht in
der Idee, bestimmte Modelle der Bachschen Musik, besonders ihre polyphone
Struktur, mit den koloristischen, gefühlshaften und gestischen Eigenarten des
südamerikanischen Musizierens zu kombinieren. Am populärsten wurde das
fünfte Stück für Sopran und chorische Cellogruppe, obwohl es Villa-Lobos als
kleines Gelegenheits-Geschenk für eine Sängerin hinwarf. Das gilt zumindest
für die „Aria“ von 1938 mit ihrer weitgeschwungenen, kantablen Gesangsmelodie als Vokalise und dem kontrastierenden Mittelteil als fast rezitativischem
Parlando. Die schnelle Dansa, einen echten Gegen-Satz voller tänzerischer
Energie und brillanter Virtuosität, komponierte er erst 1945, um das Ganze für
den Konzertvortrag lohnend zu machen. Unschwer wird man im ariosen wie
im tokkatischen Teil die barockisierenden Floskeln und Klangfiguren heraushören, und man wird sich an ihrer bachisch inspirierten, brasilianischen Neugeburt erfreuen. Es ist der abschließende Beleg für die überwältigende Erfahrung, daß Bachs Musik auch bei den Komponisten des 20. Jahrhunderts in jeder Weise grenzenlos lebendig ist und auch zukünftig zeugungsmächtig bleiben wird.
Musikbeispiel: Villa-Lobos, Bachiana brasileira Nr 5
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