Kulturelle Überformung des Körpers_BA-Arbeit_HP
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Kulturelle Überformung des Körpers_BA-Arbeit_HP
Kulturelle Überformung des Körpers Schmerz im Kontext der Tätowierung Abbildung 1 Von Sarah Herrmann Bachelor-Studium Medienwissenschaft Schmied Schmerz. Der Schmerz ist ein Schmied. Sein Hammer ist hart; Von fliegenden Flammen Ist heiss sein Heerd; Seinen Blasebalg bläht Ein stossender Sturm Von wilden Gewalten. Er hämmert die Herzen Und schweisst sie mit schweren Und harten Hieben Zu festem Gefüge. Gut, gut schmiedet der Schmerz. Kein Sturm zerstört, Kein Frost zerfrisst, Kein Rost zerreisst, Was der Schmerz geschmiedet. Otto Julius Bierbaum1 1 Otto Julius Bierbaum, „Schmied Schmerz“, in: Otto Julius Bierbaum, Erlebte Gedichte, Berlin 1892, S. 214. Im Internet als PDF unter URL: http://www.uni-due.de/lyriktheorie/scans/1892_2bierbaum.pdf, [10.06.2010]. Inhalt 1. Einleitung ................................................................................................................. 1 1.1 Beobachtungen .............................................................................................. 1 1.2 Fragestellung und Vorgehensweise ............................................................... 2 1.3 Begriffsklärungen ........................................................................................... 4 2. (Kleine) Kulturgeschichte der europäischen Tätowiertradition ................................ 9 3. Analyse der medialen Darstellungsweisen von Schmerz im Kontext der Tätowierung ............................................................................................................... 15 3.1 ‘Offline’-Publikationen .................................................................................. 15 3.1.1 Tattoo Spirit ............................................................................................... 16 3.1.2 Schmerz und Erinnerung .......................................................................... 17 3.2 ‘Online’-Publikationen .................................................................................. 21 3.2.1 Wildcat.de & Tattooscout.de ..................................................................... 22 3.2.2 Schmerz und Identität ............................................................................... 24 3.2.3 YouTube – ‘Broadcast Yourself’................................................................ 28 3.2.4 Schmerz und Authentizität ........................................................................ 28 4. Schmerz als essentieller Bestandteil der Tätowierung?........................................ 36 5. Fazit ....................................................................................................................... 40 6. Literaturverzeichnis ............................................................................................... 42 7. Abbildungsverzeichnis ........................................................................................... 50 1. Einleitung 1.1 Beobachtungen Vermehrt begegnen uns in unserem Alltag sowie im alltäglichen Medienkonsum Menschen, die ihren Körper mittels verschiedenster Praktiken kultivieren. Sei es der Nachbar, der seinen durchtrainierten Körper öffentlich auf dem Balkon präsentiert. Oder die Mitbewohnerin, die durch ihr hervorstechendes Make-Up und ihren schrillen Kleidungsstil für Aufsehen sorgt. Sei es die ‚High Society Lady’, die ihre Schönheitsoperation von einem TV-Sender dokumentieren lässt. Oder eine Freundin, die Fotos ihres tätowierten und gepiercten Körpers in ihrem StudiVZ- Profil öffentlich zur Schau stellt. Im Zeitalter einer anscheinenden ‚Körperlosigkeit’, hervorgerufen durch die zunehmende Technisierung und Medialisierung der Öffentlichkeit – virtuelle Identitäten repräsentieren den physischen Körper; Roboter ersetzen menschliche Arbeitskraft - scheint die teils schmerzhafte Kultivierung des eigenen Körpers ein probates Mittel zu sein, sich im Sinne einer Autopoiesis selbst formen zu können. Als mediale Antwort auf dieses Phänomen kann die Proklamation des (postmodernen) Körperkultes verstanden werden. Die Verwendung des Begriffes ‚Kult’ im Zusammenhang mit ‚Körper’ weist eine religiöse – und aufgrund der implizierten Andeutung auf den menschlichen Eingriff in die Natur zugleich eine negative – Konnotation auf. Wenngleich der Begriff ‚Kult’ (von lat. cultus = Verehrung, Pflege, Bildung) ursprünglich nicht aus dem Bereich des Religiösen stammt, wird dieser traditionell in einem religiösen Sinn verstanden. Zu den charakteristischen Kennzeichen eines religiösen Kults zählen hierbei ein sinnstiftendes Objekt und eine Gemeinschaft von Menschen, die dieses Objekt in Form ritualisierter Handlungen verehrt. Insofern scheint es durchaus passend zu sein, von einem (postmodernen) Körperkult zu sprechen. Die unzähligen Schönheitskliniken (oder auch BeautyFarms genannt) und Fitness-Clubs und die mittlerweile fast an jeder Straßenecke vorhandenen Piercing- und Tattoo-Studios weisen darauf hin, dass die Nachfrage nach einer Ästhetisierung sowie Perfektionierung des Körpers groß zu sein scheint. Der Körper also in der Tat von einer großen 1 Personengruppe als sinnstiftendes Objekt verehrt zu werden scheint. Der Soziologe Robert Gugutzer bezeichnet in diesem Sinne den Körperkult als „Diesseitsreligion“, die an die Stelle der institutionellen Religion getreten sei und sich insofern von dieser unterscheide, als sie auf die „Erlösung im Diesseits“ ausgerichtet sei.2 1.2 Fragestellung und Vorgehensweise „Die Arena in Berlin-Treptow hat sich heute zu einem Tempel des Körperkults und der Schmerzen verwandelt. Denn die 17. Tattoo Convention hat ihre Pforten geöffnet.“3 Mit diesen Worten leitet die Reporterin von WatchBerlin, einem OnlineVideomagazin, ihren Bericht über die 17. Tattoo Convention in Berlin-Treptow ein. Während meiner Recherche für die vorliegende Bachelorarbeit bin ich auf zahlreiche Aussagen, journalistische Berichterstattungen oder Videoclips gestoßen, in welchen die beiden Begriffe ‚Schmerz’ und ‚Körperkult’ miteinander verknüpft wurden. Dies hat in mir das Interesse geweckt, der Frage nach dem Ursprung dieser Assoziation nachzugehen. Warum fügen sich gerade heutzutage so viele Menschen auf unterschiedlichste Art und Weise Schmerzen zu, obwohl Schmerzvermeidung Zusammenhang mit geht? der aktuelle Welchen kulturellen Trend eindeutig Stellenwert Praktiken der hat in Richtung Schmerz Körperveränderung im – insbesondere im Zusammenhang mit der Tätowierung? Das Thema der vorliegenden Arbeit lautet Kulturelle Überformung des Körpers – Schmerz im Kontext der Tätowierung. Der Titel beinhaltet bereits den Schwerpunkt dieser Arbeit: In einer Art Bestandsaufnahme sollen anhand Aussagen tätowierter Personen in verschiedenen medialen Formaten der Stellenwert und die Bedeutung von Schmerz im Zusammenhang mit der kulturellen Praktik des Tätowierens erörtert werden. Hierbei werde ich folgendermaßen vorgehen: 2 Vgl. Robert Gugutzer, „Körperkult und Schönheitswahn – Wider den Zeitgeist“, in: APuZ 18 (2007), S. 3-5. 3 WatchBerlin, „Die Tattoo Convention in Berlin“ [00:04-00:14], im Internet unter URL: http://www.youtube.com/watch?v=8TCpxHVbDcc, [20.06.2010]. 2 Um einen Einstieg in die Thematik zu erhalten, werden zunächst die Begriffe ‚Tätowierung’ und ‚Schmerz’ erläutert. Daran anschließend wird in Kapitel 2 die europäische Tätowiertradition seit Ende des 18. Jahrhundert skizziert. Da der Aspekt ‚Schmerz’ bei der Darstellung der europäischen Geschichte der Tätowierung bis her kaum behandelt wurde, wurde der Schwerpunkt in diesem Kapitel auf die Bedeutung und Funktion der Tätowierung gelegt. Dabei wird sich zeigen, dass sich diese im Verlauf der Geschichte kaum verändert hat. Wohingegen sich das Image der Tätowierung – vor allem innerhalb des letzten Jahrhunderts – gewandelt zu haben scheint. Die Analyse der medialen Darstellungsweisen von Schmerz im Kontext der Tätowierung bildet den Hauptteil dieser Arbeit. Untersuchungsgegenstand stellen dabei exemplarisch ausgewählte Aussagen tätowierter Personen in einer speziellen Internetforen, Zeitschrift (Tattoo-Spirit) Online-Communities sowie und in themenspezifischen anderen Online-Plattformen (Wildcat.de/Tattooscout.de/YouTube.de) dar. Bevor ich mit der Einzelanalyse beginne, werde ich zunächst das jeweilige Medienformat charakterisieren. Bei der Einzelanalyse konzentriere ich mich auf die individuellen und soziokulturellen Deutungen, die in den jeweiligen Aussagen enthalten sind. Es wird sich zeigen, dass Schmerz ein ambivalentes Thema zu sein scheint. Bezüglich der Vorgehensweise bei der Analyse muss angemerkt werden, dass ich aufgrund der Besonderheit von Internetforen – asynchrone Kommunikation, enorme Themenvielfalt, kaum (bis gar kein) Einfluss auf den Gesprächsverlauf – in der Rolle des stillen, passiven Beobachter vorgegangen bin, d.h. ich habe nicht versucht, den Gesprächsverlauf zu lenken. Auch fand eine Themeneingrenzung lediglich durch die Auswahl des vorhandenen Materials statt. Alle verwendeten Aussagen habe ich wörtlich, d.h. mit Fehlern, übernommenen. Auf eine Kennzeichnung der Fehler habe ich dabei verzichtet. In einem letzten Schritt soll in Kapitel 4 aus kulturhistorischer Sicht die Bedeutung von Schmerz im Zusammenhang kultureller Praktiken der Körperveränderung – insbesondere die Praktik des Tätowierens – mit den Ergebnissen meiner Analyse in Kapitel 3 verglichen werden. Diesbezüglich werden sich diverse Parallelen aufzeigen lassen. 3 1.3 Begriffsklärungen Tätowierung Eine besondere Technik der Körperbemalung4 erfreut sich seit den 1970er Jahren immer größer werdender Popularität.5 Sei es in Filmen, im Fernsehen, auf Werbeplakaten, im Schwimmbad, in der Diskothek oder beim Flanieren in der Stadt, wiederholt begegnen uns Menschen, deren Körper mit mehr oder weniger farbigen Mustern, Bildern oder Schriften verziert sind. Dieses sichtbare Resultat innerer und äußerer Prozesse auf der Haut wird in der Regel mit dem Begriff Tätowierung bezeichnet. Bei intensiverer Auseinandersetzung mit eben jenem Terminus wird allerdings deutlich, dass damit noch weitere Aspekte umfasst werden. Obwohl nur sehr wenige Autoren in der Vergangenheit eine Begriffsbestimmung vornahmen, zeigt sich dennoch eine Veränderung der Definition des Begriffs Tätowierung im Laufe des letzten Jahrhunderts. Eine der frühesten Begriffsbestimmungen findet sich in dem Klinische[n] Wörterbuch von Otto Dornblüht aus dem Jahr 1927: „Tätowierung, Tatauierung polynes. tattau, Farbstichelung, Färbung von Malen und Hornhautflecken durch Einreiben von Farbstoff, gew. Tusche, in feine Stichöffnungen; der Name stammt von den Südseeinsulanern. Besonders ausgiebige und bes. laszive Tätowierung der Haut als Neigung bei Verbrechern [Lombroso]. Aber auch sehr beliebt bei Matrosen.“6 Obgleich dieser Entwurf den damaligen Vorstellungen zu entsprechen scheint, ist er für die heutige Zeit kaum mehr haltbar. Das Online-Lexikon Wikipedia liefert eine zeitgemäßere sowie wertfreie Definition: „Eine Tätowierung (wissenschaftlich auch Tatauierung, umgangssprachlich (engl.) Tattoo) ist ein Motiv, das mit Tinte oder anderen Farbmitteln in die Haut eingebracht wird. Dazu wird die Farbe in der Regel mit Hilfe einer Tätowiermaschine durch eine oder mehrere Nadeln […] in die zweite Hautschicht gestochen und dabei ein Bild oder Text gezeichnet.“7 4 Der Kulturhistoriker Stephan Oettermann bezieht in seiner Systematik der Techniken der Körperbemalung neben der Tätowierung auch Masken, Kosmetik, Narbenzeichnungen und Brandmarkungen mit ein (Vgl. Stephan Oettermann, Zeichen auf der Haut. Die Geschichte der Tätowierung in Europa, Frankfurt am Main 1979, S. 10). In Abweichung zu Oettermann verwende ich die Begriffe Körperbemalung und Tätowierung synonym. 5 Vgl. Paul Sweetmann, „Anchoring the (Postmodern) Self? Body Modification, Fashion and Identity”, in: Body & Society 5 (1999), S. 51-76, hier S. 72 (Anm.1). 6 Otto Dornblüht, Klinisches Wörterbuch, im Internet unter URL: http://www.textlog.de/34549.html, [29.04.2010]. 7 Wikipedia, URL: http://de.wikipedia.org/wiki/T%C3%A4towierung, [05.05.2010]. 4 Allerdings wird in dieser Begriffsbestimmung lediglich die permanente Einlagerung von Farbpigmenten in der Haut akzentuiert, die Intention der Handlung bleibt vernachlässigt.8 Diese berücksichtigt der Kultursoziologe Matthias Friederich in seiner Definition, wonach die Tätowierung als „eine beabsichtigte und dauerhafte Einlagerung von Pigmenten in der Haut, die einen bild- und zeichenhaften Charakter besitzt“9, gedeutet wird. Matthias Friederichs Begriffsdarlegung entspricht im Wesentlichen der Meinigen, erweitern möchte ich diese nur um den Aspekt der Freiwilligkeit. Folglich verstehe ich unter Tätowierung eine mittels Nadelstichen freiwillig veranlasste, ziel- und funktionsgerichtete, permanente Einlagerung von Tinte oder anderen Farbpigmenten in der (menschlichen) Haut, welche einen bildoder zeichenhaften Charakter besitzen kann, aber nicht zwangsweise muss. Ferner werde ich bei der Skizzierung der Geschichte der europäischen Tätowierung mit einem weit gefassteren Tätowierungsbegriff arbeiten. Schmerz In unserem Alltag werden wir immer wieder mit mehr oder weniger schmerzhaften Erlebnissen konfrontiert. Die Trauer über den Verlust einer nahe stehenden Person, Liebeskummer, Kopfschmerzen, Verbrennungen, Stich- und Schnittverletzungen sind nur ein kleiner Teil des Spektrums möglicher schmerzhafter Erfahrungen. Die hierbei empfundene Intensität des Schmerzes hängt sowohl von den biographischen Erfahrungen als auch von dem soziokulturellen Hintergrund eines Menschen ab und lässt sich durch die Dimensionen Schmerzschwelle und Schmerztoleranz charakterisieren.10 Im Rahmen interkultureller Vergleiche ließen sich hinsichtlich der Schmerzschwelle – derjenigen Reizintensität, die gerade noch als schmerzhaft empfunden wird – zwischen Individuen verschiedener 8 Kulturen keine Unterschiede Im Gegensatz hierzu wird die Zielgerichtetheit der Handlung in der englischsprachigen Version des Online-Lexikons Wikipedia zumindest angedeutet: „A tattoo is a marking made by inserting dark, indelible ink into the dermis layer of the skin to change the pigment for decorative or other reasons“, URL: http://en.wikipedia.org/wiki/Tattoo, [05.05.2010]. 9 Matthias Friederich, Tätowierungen in Deutschland. Eine kultursoziologische Untersuchung in der Gegenwart, Würzburg 1993, S. 63. 10 Vgl. David LeBreton, Schmerz. Eine Kulturgeschichte, Zürich/Berlin 2003, S. 7; Erich Kasten, Body-Modification. Psychologische und medizinische Aspekte von Piercing, Tattoo, Selbstverletzung und andere Körperveränderungen, München 2006, 212. 5 dokumentieren. Im Vergleich hierzu ließen sich hinsichtlich der Schmerztoleranz – derjenigen Reizintensität, die gerade noch erduldet wird – erhebliche Differenzen konstatieren.11 Daraus ließe sich schließen, dass die Schmerztoleranz kulturell prägbar ist. Überdies scheint sie situationsabhängig zu sein. Bekanntermaßen kann Schmerz unter bestimmten Bedingungen12 unterschiedlich stark empfunden werden, obwohl die physiologische Schmerzverarbeitung stets denselben biochemischen Mechanismen13 folgt und die Schmerzschwelle unabhängig von den biographischen Erfahrungen und dem soziokulturellen Hintergrund konstant bleibt. Insofern lässt sich die komplexe Empfindung Schmerz nicht auf ein rein sinnliches Phänomen reduzieren. Descartes prägt mit seiner Theorie aus dem Jahr 1644 noch bis in das 20. Jahrhundert die Vorstellung der physiologischen Schmerzverarbeitung. Er ging davon aus, dass die von den Schmerzrezeptoren generierten Schmerzbotschaften mittels spezieller Nervenbahnen an ein Schmerzzentrum in Gehirn geleitet werden, wodurch der Betreffende die schmerzende Körperstelle direkt lokalisieren und gegebenenfalls reagieren (z.B. zurückzucken) kann. Weiterhin besagt die Theorie, dass bei jeder Reizung der Schmerzrezeptoren eine Schmerzbotschaft an das Gehirn gesendet wird, d.h. dass jede Reizung dieser Rezeptoren als Schmerz wahrgenommen wird.14 Die International Association for the Study of Pain (IASP)15 betont in ihrer im Jahr 1979 publizierten Definition – wonach Schmerz als „[…] an unpleasant sensory and emotional experience associated with actual or potential tissue damage, or described in terms of such damage”16 verstanden wird – die Aufteilung eines Schmerzerlebnisses in mehrere Komponenten. Jegliche Schmerzempfindung wird durch sensorisch-diskrimantive, 11 motorische, Siehe Ernst Pöppel, Lust und Schmerz, Berlin 1982, S. 239-241. z.B. Stress, Konzentration, Entspannung, Ablenkung (hemmende Wirkung), Angst, Müdigkeit, Erinnerung, Aufmerksamkeit (verstärkende Wirkung). Vgl. Pöppel, 1982, S. 246. 13 Da eine medizinische Erläuterung dieses Phänomens im Rahmen dieser Arbeit zu weit gehen würde, verweise ich auf die ausführliche Erläuterung der Signalverarbeitung im nozizeptiven Nervensystem in Manfred Zimmermann, „Physiologie von Nozizeption und Schmerz“, in: HeinzDieter Basler/Carmen Franz/Birgit Kröner-Herwig et al (Hrsg.), Psychologische Schmerztherapie, Berlin/Heidelberg, 1990, S. 46-88. 14 Vgl. Pöppel, 1982, S. 242f. 15 Für weitere Informationen bezüglich der Forschungsansätze und -ziele der International Association for the Study of Pain (IASP) siehe Internetauftritt der IASP. URL: http://www.iasppain.org/AM/Template.cfm?Section=About_IASP_&Template=/CM/HTMLDisplay.cfm&ContentI D=1608, [10.04.2010]. 16 International Association for the Study of Pain (Hrsg.), „Pain terms: A list with definitions and notes on usage”, in: Pain (= Journal of the International Association for the study of pain) 6 (1979), S. 250. 12 6 vegetative, affektiv-motivationale und kognitiv-evaluative Komponenten moduliert.17 Auf die subjektive Bewertung des Schmerzes haben vor allem die affektiv-motivationale Komponente, welche dem Schmerz eine individuelle Gefühlsqualität zuordnet, sowie die von den individuellen Schmerzerfahrungen geprägte kogntitiv-evaluative einen entscheidenden Einfluss.18 Ein bestimmtes Ereignis als schmerzhaft zu empfinden, ist demnach eng mit einer subjektiv erlebten Leidenserfahrung verknüpft.19 Schmerz existiert folglich nur in der Person, die ihn verspürt.20 Allan I. Basbaum, Professor für Anatomie und Physiologie an der Universität von Kalifornien (San Francisco), veranschaulicht diesen Aspekt in seinem Essay Unlocking the secrets of pain: The science wie folgt: „Schmerz ist nicht nur ein Reiz, der über bestimmte Wege weitergeleitet wird, sondern eher eine komplexe Empfindung, deren Wesen [...] vom affektiven und emotionalen Zustand des Individuums [abhängt]. Schmerz verhält sich zu somatischen Reizen wie Schönheit sich zu einem visuellen Reiz. Beides sind sehr subjektive Erfahrungen.“21 Allan I. Basbaum akzentuiert in dieser Aussage nicht nur die Betrachtung von Schmerz als Resultat menschlicher Wahrnehmung, sondern auch den Einfluss der dominierenden, kulturell geprägten Deutung auf die kognitive Repräsentation von Schmerz, indem er die subjektive Empfindung Schmerz mit der subjektiven Auslegung von Schönheit – welche immer auch von den vorherrschenden Idealen geprägt wird – vergleicht. David B. Morris, Schriftsteller und emeritierter Professor für Literatur an der Universität Virginia, verweist in diesem Zusammenhang in seinem Buch Geschichte des Schmerzes darauf, dass Schmerz „in allen Kulturen und zu allen Zeiten stets als ein Ereignis verstanden [wurde], das der Deutung bedarf“22. Des Weiteren fügt er an, dass der Deutungsprozess nicht nur auf der individuellen Ebene, sondern 17 Diese Aufteilung geht aus dem „Komponentenmodell des Schmerzes“ von R. Melzack und K.L. Casey (1968) hervor, welches auf der „Gate Control Theory“ (1965) von R. Melzack und P.D. Wall beruht. Das „Komponentenmodell des Schmerzes“ befasst sich mit dem engen Zusammenhang von Einstellung und Schmerzempfindung. Vgl. Kasten, 2006, S. 215; Pöppel, 1982, S. 246-248. 18 Vgl. Kasten, 2006, S. 215; Rolf-Detlef Teede, „Nozizeption und Schmerz“, in: Burkhart Bromm/Kurt Pawlik (Hrsg.) Neurobiologie und Philosophie zum Schmerz, Göttingen 2004, S. 63-74, hier S. 63. 19 Vgl. Etienne Vermeersch, „Pain, what is it and why do we care?”, in: Vlaams Diergeneeskundig Tijdschrift 69 (2000), S. 385-391, hier S. 386. 20 Vgl. Teede, 1992, S. 258. 21 Allan I. Basbaum zit. nach David B. Morris, Geschichte des Schmerzes, Frankfurt am Main 1994, S. 48. 22 Morris, 1994, S. 31. 7 auch auf „einer allgemeinen kulturellen und subkulturellen Ebene“23 stattfindet. Dies unterstreicht die oben bereits erwähnte Annahme, dass Schmerz – verstanden als eine subjektive Empfindung – von vielen Faktoren, wie z.B. gesellschaftlicher Akzeptanz, persönlicher Erfahrungen, sozialer Herkunft, Geschlecht, Religion und situativer Bedeutung24, geprägt wird. In der nachfolgenden Analyse konzentriere ich mich daher auf die individuellen und soziokulturellen Deutungen, die in den jeweiligen medialen Darstellungsweisen von Schmerz im Kontext der Tätowierung enthalten sind. Bevor ich in Kapitel 3 mit der Analyse beginne, folgt zunächst in Kapitel 2 ein kurzer Überblick über die Kulturgeschichte der europäischen Tätowiertradition. 23 24 Ebd., S. 32. Vgl. ebd., S. 34; Pöppel, 1982, S. 246. 8 2. (Kleine) Kulturgeschichte der europäischen Tätowiertradition Gleichwohl die Tätowierung im europäischen Raum seit der Frühzeit fortwährend praktiziert wurde, schien sie zwischen dem 12. und 18. Jahrhundert größtenteils aus dem europäischen Bewusstsein verschwunden gewesen zu sein.25 Der Kulturhistoriker Stephan Oettermann formuliert diesen Punkt folgender Maßen: „Man praktizierte den Hautstich in Europa, aber man sah ihn nicht. Und noch weniger war er ‚ein seltsamer Gegenstand der Betrachtung’.“26 „Ein seltsamer Gegenstand der Betrachtung“27 wurde die Tätowierung in Europa laut Oettermann erst wieder mit der öffentlichen Schaustellung des (tätowierten) tahitischen ‚Prinzen Omai’28 und der Einführung des Wortes ‚Tattoo’ (‚Tatau’)29 in den europäischen Sprachgebrauch.30 Erhard Schüttpelz, Professor für Medientheorie an der Universität Siegen, eruiert in seinem Aufsatz Unter die Haut der Globalisierung. Die Veränderungen der Körpertechnik 'Tätowieren' seit 1769 unter anderem, warum es nach den Entdeckungsfahrten des 18. Jahrhunderts zu einer Wiederbelebung des europäischen Hautstichs kam und warum der Impuls gerade aus der Südsee kam, obwohl den Europäern bereits seit dem frühen 18. Jahrhundert (ganzkörper-)tätowierte nordamerikanische ‚Indianer’ bekannt waren. Den Grund hierfür sieht er in der 25 Vgl. Stephan Oettermann, Zeichen auf der Haut. Die Geschichte der Tätowierung in Europa, Frankfurt am Main 1979, S. 12-20; Alana Abendroth, Bodymodification. Tattoos, Piercings, Scarifications – Körpermodifikationen in Wandel der Zeit, Diedorf 2009, S. 5-24; Margo DeMello, Bodies of Inscription. A cultural history of the modern tattoo community, Durham/London 2000, S. 45. 26 Oettermann, 1979, S. 20. 27 James Cook zit. n. ebd., S. 20. 28 James Cook (eigentlich Captain Fourneaux, Führer des zweiten Schiffes der Expedition) brachte ‚Omai’ 1774 von seiner Weltumsegelung mit nach Europa. Vgl. ebd., S. 121 (Anm. 2). 29 Das Verb ‚tattoing’/’tattowing’ erschien erstmals 1771 in einem Bericht über James Cooks erste Seereise nach Polynesien. Vgl. Nicholas Thomas, “Introduction”, in: Nicholas Thomas/Anna Cole/Bronwen Douglas (Hrsg.), Tattoo: Bodies, Art and Exchange in the Pacific and the West, London 2005, S. 7-32, hier S. 227 (Anm. 3). Einen möglichen Erklärungsansatz für die Aufnahme des Wortes ‚tattoo’ in den englischen Sprachwortschatz findet sich bei Oettermann., S. 121 (Anm. 3). Zur Entstehung des Wortes Tätowierung siehe auch Frank-Peter Finke, Tätowierungen in modernen Gesellschaften, Osnabrück 1996, S. 24-28. 30 Der Vollständigkeit halber sei in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass William Dampier, englischer Entdecker und Geograph, bereits 1691 die ersten tätowierten Südseeinsulaner (von der Insel Meangis, welche zwischen Sumatra und Sri Lanka liegt) mit nach Europa brachte. Unter diesen erfuhr vor allem der ganzkörper-tätowierte ‚Prinz Jeoly’ (auch ‚Giolo’) besonderen ‚Ruhm’. Vgl. Oettermann, S. 22-24; Bronwen Douglas, „’Cureous Figures’: European Voyagers and Tatau/Tattoo in Polynesia, 1595-1800“, in: Nicholas Thomas/Anna Cole/Bronwen Douglas (Hrsg.), Tattoo: Bodies, Art and Exchange in the Pacific and the West, London 2005, S. 33-52, hier S. 34. 9 „Vorspiegelung eines ‚Paradieses auf Erden’“, welche um so eher möglich war, da die „polynesischen Gesellschaften […] einige Züge aufwiesen, die sie den damaligen Europäern vertraut und attraktiv erscheinen ließen.“31 Auf einer individuellen Ebene lässt sich diese Bewunderung für das Leben auf den Südseeinseln bei den ‚Beachcombers’ und ‚Runaways’ finden. Diese waren Seemänner, die Schiffbruch erlitten haben oder bei Landgängen den oft unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen auf den Handels- und Kriegsschiffen entflohen waren. Allerdings waren es nicht nur die unmenschlichen Arbeits- und Lebensbedingungen auf den Schiffen, die die Matrosen dazu bewegten auf eine der sagenumwobenen Inseln zu fliehen, sondern auch die anscheinende sexuelle Freizügigkeit, Offenheit und Unbefangenheit der Südseeinsulaner.32 Viele der ‚Beachcombers’ und ‚Runaways’ ließen ihren Körper von den Bewohnern der jeweiligen Insel tätowieren, um von ihrem „tabuisierten Nicht-Status […] befrei[t]“33 zu werden und somit die Kontakt-Verbote aufzulösen.34 Ob dies unter Zwang oder Einwilligung geschehen war, lässt sich nicht generell sagen, da die selbstverfassten Berichte der ‚Beachcombers’ und ‚Runaways’ sich diesbezüglich stark voneinander unterscheiden und sowohl fiktionale als auch reale, d.h. von Forschern und Wissenschaftlern des 20. Jahrhunderts als nachgewiesen angesehene, Passagen enthalten.35 Neben den ‚Beachcombers’ und ‚Runaways’ ließen sich auch andere an den verschiedenen Südsee-Expeditionen beteiligten Seemänner zum Andenken an ihre ‚abenteuerlichen’ Erlebnisse tätowieren. 31 Vgl. Erhard Schüttpelz, „Unter die Haut der Globalisierung. Die Veränderungen der Körpertechnik 'Tätowieren' seit 1769“, in: Tobias Nanz/Bernhard Siegert (Hrsg.), Ex machina. Kulturtechniken und Medien, Weimar 2006, S. 109-154, hier S. 114-119. 32 Vgl. Oettermann, 1979, S. 32-38. Die Literaturwissenschaftlerin Alana Abendroth führt die europäische Vorstellung des ‚Paradieses auf Erden’ vor allem auf das im Zeitalter der Romantik entstandene Genre der Reiseliteratur zurück. Diese Bücher und Geschichten schilderten das Leben weit entfernter Kulturen, die anscheinend – im Gegensatz zu den Europäern – in Einklang mit der Natur und völliger Autonomie lebten. Vgl. Abendroth, 2009, 39f. 33 Schüttpelz, 2006, S. 118. 34 Erhard Schüttpelz sieht die polynesischen Anwendungen der Tätowierung als Rituale bzw. Praktiken der ‚Enttabuisierung’, der ‚Entheiligung’ an. Vgl. ebd., S. 117-119. 35 Oettermann, 1979, S. 32-38. 10 Nach deren Vorbild ließen in Europa zunächst weitere Seefahrer und Hafenarbeiter ihre Körper tätowieren. Hierbei erfuhren vor allem die für die Südseetätowierung als typisch erachteten Motive (Palmenbaum, Schlangen, nackte Frauen) eine grundlegende Veränderung, sowohl bezüglich der Ausgestaltung als auch der Lesart: Es entstand eine eigenständige europäische Tätowiertradition, die auf die „[…] Interferenz von Südseetechnik und europäischer Bildvorstellung“ zurückgeführt werden kann.36 Scheinbar, Mittelschicht Abbildung 2: Beispiel für die Vermischung einer Südsee- und Paradiesmotivik. so Spamer, die überspringend“ „Tätowierungswut“ im 19. „[…] 37 breite bürgerliche dehnte sich die Jahrhundert neben den Angehörigen der ‚unteren’ und ‚untersten’ Schicht – zu diesen zählten Seeleute, Hafenarbeiter, Soldaten, Handwerker, Ernte- und Fabrikarbeiter sowie Marktfahrer – auch unter Angehörigen europäischer Fürstenhäuser aus.38 Der Wirtschaftsund Sozialwissenschaftler Frank-Peter Finke relativiert diesen Punkt insofern, als er darauf hinweist, dass in Adelskreisen vorwiegend teure Schmucktätowierungen wie z.B. Miniaturporträts, Strumpfmuster, Ketten oder Ringe Anwendung fanden. Zudem verweist er in Anlehnung an die Ausführungen des Ethnologen Adolf Spamer darauf, dass diese speziellen Tätowierungen „zahlenmäßig keine Rolle gegenüber der Volkstätowierung“39 spielten. Weiterhin ist er der Ansicht, dass die „Tätowierung als Volkssitte während der gesamten Neuzeit […] ohne direkten Einfluss [der] neu auftretenden Südseetätowierungen“40 praktiziert wurde.41 Finkes Argumentationsstrang folgend, kann die im 19. Jahrhundert zunehmende Verbreitung der ‚Jahrmarkttätowierung’ als Sonderform der 36 Vgl. Oettermann, S. 45-57. Adolf Spamer zit. n. Oettermann, 1979, S. 59. 38 Vgl. Oettermann, S. 58f. 39 Adolf Spamer zit. n. Finke, 1996, S. 48. Frank-Peter Finke versteht unter Volkstätowierung „jene Art der Tätowierung, die in direkter Tradition der uralten Sitte der Tätowierung steht und nicht nur einen sozialen irrelevanten und gesellschaftlich bezugslosen Modespleen darstellt.“ Finke, 1996, S. 48. 40 Ebd., S. 48. 41 Finke kritisiert hiermit Oettermanns These, dass „der Impuls zur Wiederbelebung des europäischen Hautstichs […] aus der Südsee [kam].“ (Oettermann, 1979, S. 44). Laut Finke gehe Oettermann grundsätzlich davon aus, dass die europäische Tätowierung vor 1800 nur als Vorgeschichte zu betrachten sei. Vgl. Finke, 1996, S. 47-49. 37 11 europäischen Tätowierungen, d.h. der ‚Volkstätowierung, angesehen werden: In Sideshows und auf Jahrmärkten präsentierten – neben Liliputanern oder Damen ohne Unterleib – (ganzkörper-)tätowierte Europäer ihre größtenteils unbekleideten Körper einem sensationslustigen, vor allem aber zahlenden Publikum. Um für mehr Aufsehen zu sorgen, wurden die Tätowierungen oftmals um allerlei abenteuerliche (Entstehungs-)Geschichten, deren Inhalte überwiegend den Geschichten der Seefahrer, ‚Beachcombers’ und ‚Runaways’ entlehnt waren, aufgewertet.42 Eine ganz andere Intention vermutet Oettermann in der zunehmenden Verbreitung der Tätowierung in der Zeit der industriellen Revolution. Die Gründe hierfür sieht er in „[…] der Pauperisierung und Verstädterung der Landbevölkerung, der Auflösung der Zünfte und der Proletarisierung des Handwerkers zum Fabrikarbeiter“43. Die stetige Zunahme der Tätowierung bei Angehörigen der ‚niederen’ Stände versteht er als Versuch, den Verlust der identitätsstiftenden Gesellschaftsordnung Identitätszeichen auszugleichen. durch Selbsteinschreibung von 44 Einhergehend mit dieser stetigen Verbreitung der Tätowierung geriet der europäische Hautstich im 20. Jahrhundert zunehmend in den Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen und der Diskurs über ihn wurde eröffnet: Die (mysteriösen) Zeichen auf der Haut von Europäern offenbarten sich als schwer bestimmbares Phänomen, hinter welchem diejenigen, die den Diskurs führten – vorwiegend Mediziner, Polizisten und Kriminalanthropologen – mehr als nur reine Zierde befürchteten. Laut Oettermann wurde in der Praxis der Tätowierung der Versuch einer Revolte, einer Bedrohung der bürgerlichen Werte und Normen gesehen, welcher durch Diffamierung der Hautbilder und Kriminalisierung diffamierende ihrer Träger Diskurs fand entgegengewirkt 1876 mit werden der kriminalanthropologischen Werkes L’Uomo delinquente sollte. Veröffentlichung 45 Dieser des von Cesare Lombroso seinen Höhepunkt. Lombroso konstatierte in diesem Buch unter anderem, dass 42 Vgl. Oettermann, 1979, S. 75-84, Adolf Spamer, „Die Tätowierung in den deutschen Hafenstädten“, in: Werner Pettermann/Markus Eberwein (Hrsg.), Die Tätowierung, München 1993, S. 33-115. 43 Oettermann, 1979, S. 72. 44 Vgl. ebd., S. 72-74. 45 Die deutsche Ausgabe von L'uomo delinquente. In rapporto all'antropologia, alla giurisprudenza ed alle discipline carcerarie (dt. Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung) erschien erstmals 1889. Vgl. Oettermann, 1979, S. 127 (Anm. 23). 12 körperliche Anomalien auf eine tief verwurzelte Disposition zu kriminellem Verhalten hindeuten. Der ‚geborene Verbrecher’ also einer niederen, atavistischen Entwicklungsstufe entspreche.46 Da die Tätowierung stets mit der Südsee – mit den ‚Wilden’, ‚Primitiven’ – assoziiert wurde, galt diese auf europäischen Körpern im Allgemeinen „als Zeichen defizitärer Moral und kultureller Regressivität […]. Handelte es sich um Männer, so wurde in ihrer Tätowierung ein Zeichen krimineller Neigung gesehen und gelegentlich mit der Begrifflichkeit eines kruden Kulturevolutionismus interpretiert, nämlich als Rückfall in das von ‚Wilden’, ‚Primitiven’ oder ‚Naturvölkern’ repräsentierte Kindheitsstadium der kulturellen Entwicklung. […] Im Fall von Frauen wurde die Tätowierung als Zeichen eines sexuell liederlichen Lebenswandels oder der Prostitution gesehen.“47 Der diffamierende Diskurs, welcher durch die im frühen 20. Jahrhundert auf ihrem Höhepunkt angelangte Schaustellung (ganzkörper-)tätowierter menschlicher Jahrmarktsattraktionen genährt wurde, hielt sich bis weit in das 20. Jahrhundert. Der 1938 erschienene Erlass, wonach „Schaustellungen, die das gesunde Volksempfinden gröblich verletzen oder den Bestrebungen des nationalsozialistischen Staates widersprechen“48 von den polizeilichen Behörden zu unterbinden seien, kann als tiefer Einschnitt in die europäische Geschichte der Tätowierung angesehen werden: Für viele Schausteller, (Ganzkörper-)Tätowierte und (Berufs-)Tätowierer bedeutete dies ein Berufsverbot, für manche sogar die Deportation.49 Indes führte das nationalsozialistische Regime die in Europa fast vollständig verschwundene Zwangstätowierung in Form tätowierter Gefangenennummern auf der Haut deportierter Häftlinge wieder ein.50 Darüber hinaus wurde den Mitgliedern der Waffen-SS ihre jeweilige Blutgruppe als Zeichen der Treue gegenüber dem Herrschaftssystem eintätowiert.51 Die Tätowierung schien vom Ende des zweiten Weltkrieges an in Europa erneut verschwunden gewesen zu sein – einige Autoren prognostizierten dem 46 Vgl. Oettermann, 1979, S. 62-66. Michaela Frieß, „Die europäische Kultivierung einer südseeinsulanischen Tradition. Tätowierung als Kennzeichnung individualisierter, sexueller, kultureller und nationaler Identität“, in: Anthropos 95 (2000), S. 167-187, hier S. 178. 48 Reichsministerialblatt für die Innere Verwaltung 5 (1938) – Runderlass des Reichsführers SS und Chef der deutschen Polizei vom 26.01.1938, zit. n. Abendroth, 2009, S. 142. 49 Vgl. Oettermann, 1979, S. 91f.; Abendroth, 2009, S. 48f. 50 Vgl. Oettermann, 1979, S. 109-112; Finke, 1996, S. 164. Zur Unterscheidung nationalsozialistischer Lagertätowierung von anderen Formen der Zwangstätowierung siehe Oettermann, 1979, S. 103-112; Finke, 1996, S. 159-165. 51 Vgl. Oettermann, 1979, S. 109. Der Vollständigkeit halber sei hinzugefügt, dass als Grund für die Blutgruppentätowierung eine schnellere Behandlung im Falle einer Verwundung vorgeschoben wurde. Vgl. ebd., S. 109. 47 13 europäischen Hautstich sogar dessen Ende.52 Dies bestätigte sich jedoch nicht. Als treibende Kraft für die ‚Wiederbelebung’ der Tätowierung in Europa können die nach amerikanischem Vorbild in den späten 1970-er und frühen 1980-er Jahren aufkommenden subkulturellen Strömungen, wie z.B. die Punker-, Rocker-, New-Age- oder Schwulen-Bewegung, angesehen werden, welche sich der Tätowierung als Zeichen der Rebellion, der selbst veranlassten ‚Befreiung’ von den gesellschaftlichen Konventionen bedienten.53 Ferner hat die seit den 1980er-Jahren zunehmende Berichterstattung in Zeitschriften, Zeitungen und (privaten) Fernseh- und Musiksendern wohl einen Großteil dazu beigetragen, dass die Tätowierung ihre negativ-stigmatisierende Bedeutungszuschreibung mehr und mehr verloren hat.54 Als Zeichen der Individualität, als Ausdruck der eigenen Körperlichkeit, als Symbol des eigenen Lebensstils oder als Medium der Selbstästhetisierung und -darstellung scheint die Tätowierung in den letzten zwei Jahrzehnten ihre milieuspezifischen Grenzen überwunden55 und sich zum populärkulturellen (Mode-)Accessoire entwickelt zu haben56, wie folgender Begleittext zu dem populärwissenschaftlichen Buch Ein Tattoo ist für immer da. Die Geschichte der Tätowierung in Deutschland von Marcel Feige abschließend zeigen soll: „Tätowierungen [sind] hierzulande eine eigene Profession, und Kult für jeden. Sie sind Ausdruck der Lust am Leben. Und das ist nicht zuletzt das Verdienst einer exaltierenden Jugend, die in den 90ern die Tattoos als ein Symbol ihres Lifestyles erkoren hat. Tattoos sind Schmuck. […] Und Schmuck ist dazu da, daß er bewundert wird.“57 52 Vgl. Friederich, 1993, S. 21f. Vgl. DeMello, 2000, S. 75. 54 Vgl. Abendroth, 2009, S. 51. 55 Vgl. Sweetman, 1999, S. 51. 56 Vgl. Elisabeth Rohr, „Vom sakralen Ritual zum jugendkulturellen Design. Zur sozialen und psychischen Bedeutung von Piercing und Tattoos“, in: Anke Abraham/Beatrix Müller (Hrsg.), Körperhandeln und Körpererleben. Multidisziplinäre Perspektiven auf ein brisantes Feld. Bielefeld 2010, S.225-242. 57 URL: http://www.marcel-feige.de/marcelfeige/index.php?type=books&id=22, [10.05.2010]. 53 14 3. Analyse der medialen Darstellungsweisen von Schmerz im Kontext der Tätowierung Der Frage, welche individuellen und soziokulturellen (Be-)Deutungen von Schmerz im Kontext der Tätowierung in den verschiedenen medialen Darstellungsweisen enthalten sind, möchte ich im Rahmen dieser Arbeit exemplarisch erörtern. Es erscheint mir sinnvoll, die Vielfalt an ‘Offline’- und ‘Online’- Publikationen zu dem Oberthema Tätowierung einzugrenzen. Daher konzentriere ich mich bei der Analyse der ‘Offline’- Publikationen schwerpunktmäßig auf eine bestimmte Publikumszeitschrift (Tattoo Spirit), bei der Analyse der ‘Online’- Publikationen auf bestimmte Diskussionsverläufe zweier Online-Communities (Wilcdat.de & Tattooscout.de) sowie UserKommentare zu einem YouTube- Videoclip. Beide Bereiche zeichnen sich durch einen hohen Anteil persönlicher Erfahrungsberichte und Meinungen aus, die ich im Vorfeld dieser Arbeit exemplarisch ausgesucht habe. Dies erlaubt am ehesten eine Beantwortung der Fragestellung dieser Arbeit. 3.1 ‘Offline’-Publikationen Einhergehend mit der steigenden Popularität der Tätowierung haben sich in den letzten beiden Jahrzehnten mehrere Tattoo- Zeitschriften58 in Deutschland etabliert.59 Zu den am meist verbreiteten und innerhalb der ‚Tatto-Szene’ anerkannten60 zählen Tattoo Style und Tätowier-Magazin61, sowie Tattoo Spirit und Tattoo Scout62. Gemeinsam ist den jeweiligen Zeitschriften die eindeutige Ausrichtung auf eine spezielle Klientel: ‚Anhänger’ des Bodyart-Lifestyles. Daraus ergibt sich auch die inhaltliche Fokussierung auf die speziellen Interessen der Leserschaft. So 58 beinhalten diese meist einen Eine kleine Auswahl der auf dem Zeitschriftenmarkt vorhandenen Titel findet sich auf der Internetseite www.tätowieren.de, URL: http://www.taetowieren.de/tattoo_magazine.html, [04.06.2010]. 59 Hierzu muss angemerkt werden, dass es sich bei den erst erschienenen Zeitschriften größtenteils um Übersetzungen amerikanischer Magazine handelte. Erst seit ca. Ende der 1990-er Jahre publizierten auch deutsche Verlagshäuser Tattoo- Zeitschriften mit eigenständig redaktionellen Inhalten. Vgl. Finke, 1996, S. 177f. 60 Vgl. http://www.bodyart-forum.de/forum/viewtopic.php?f=24&t=1951, [04.06.2010]. 61 Beide Zeitschriften werden von dem Huber Verlag herausgegeben. 62 Beide Zeitschriften erscheinen im Verlag Marion Kruhm. 15 Veranstaltungskalender, welcher auf die zukünftigen Tattoo Messen (Conventions) hinweist, redaktionelle Berichte über Tattoo- Studios, TattooMotive (und deren jeweilige Bedeutung) sowie ‚prominente’ Tätowierer. Darüber hinaus zeichnen sich diese Zeitschriften durch eine (Un-)Menge an Werbung und zahlreiche Abbildungen tätowierter Personen aus. Die redaktionellen Berichte lassen sich größtenteils als ‚Lobrede’ der Körperkunst, deren Träger und deren ‚Schöpfer’ charakterisieren: „Und wieder präsentieren wir einen Kessel wunderbarer, farbenfroher und vor allem hochwertiger Tätowierungen.“63 „Eggenfelden ist für unsere Redaktion die deutsche Convention mit der längsten Anreise. […] Doch eines ist klar – diese Convention ist jeden einzelnen Kilometer wert. Die Veranstalter von Eagle Speed achten bei diesem Event auf eine Sache ganz besonders, nämlich auf Qualität. Das fängt schon bei der Auswahl der eingeladenen Tätowierer an.“64 „Ich lernte Mr. Mike auf der diesjährigen Tattoo-Convention in Dortmund kennen. Der erste Blick in seine Präsentationsmappe war ausgesprochen heftig. Derart samtweiche Schwarz-Grau-Verläufe und dennoch glasklare Motive sieht man selbst als Redakteur von Europas großer Tattoo-Illustrierten nicht jeden Tag.“65 So oder ähnlich ist der grundlegende Tenor in den meisten Magazinen. Dahingegen bleiben selbstangefertigte Tätowierungen und ‚Gangtätowierungen’ (wie z.B. ‚Knasttätowierungen’) in den Zeitschriften größtenteils unberücksichtigt. Dies liegt vermutlich an der negativen Konnotation, mit welcher diese Tätowierungen behaftet sind. Festzuhalten ist also, dass die grundlegende Bestrebung der Redakteure die ‚Aufwertung’ der Tätowierung, deren Träger sowie der Tätowierer zu sein scheint, um somit dem negativstigmatisierenden Image der Tätowierung entgegenzuwirken. 3.1.1 Tattoo Spirit Die ‚Special-Interest-Zeitschrift’ Tattoo-Spirit erschien erstmals am 15.02.2003 und wird von dem Marion Kruhm Verlag herausgegeben, welcher zudem die Magazine Tattoo Scout, Tattoo USA, Tattoo Studio und unregelmäßig erscheinende Sonderhefte verlegt. Laut telefonischer Auskunft beträgt die 63 „Tattoo Galerie”, in: Tattoo Spirit 42 (2009), S. 88-92, hier S. 88. „Eggenfelden”, ebd., S. 36-38, hier S. 36. 65 „Cologne Ink“, in: Tattoo Spirit 41 (2009), S. 14-19, hier S. 15. 64 16 aktuelle Druckauflage 80000 Exemplare.66 Tattoo-Spirit wird im monatlichen Wechsel mit Tattoo Scout über die Landesgrenzen hinaus veröffentlicht. Das selbsternannte „Lifestyle- und Bodyart-Magazin“ ist in feste Rubriken aufgeteilt: So beinhaltet dies neben Studio- und Conventions- Berichte, Reportagen zu verschiedenen, meist aktuellen Themenbereichen, Hintergrundinformationen zu Tattoo- Motiven, visuelle Anregungen hinsichtlich der Motivwahl und sonstige allgemeine Informationen rund um das Thema Tattoo (z.B. Buchtipps, Neuigkeiten aus der Szene, Erfahrungsberichte, Werbung, uvm.). Bezüglich des Tenors der redaktionellen Berichte fällt auf, dass dieser eher familiär und vertraut gehalten ist. Dies zeigt sich z.B. bereits bei der Anrede der Leser, denn diese werden geduzt. Darüber hinaus wird der vertraute oder fast familiäre Eindruck einer großen Gemeinschaft, welcher beim Lesen der Zeitschrift entsteht, wird durch die Vielzahl an Aufrufen, „schrille“, „außergewöhnliche“ oder „total verrückte“ Fotos sowie Geschichten über die Entstehung und Hintergründe der eigenen Tätowierungen bei dem Verlag einzusenden, gestärkt. Grundlage der nachfolgenden Analyse stellt ein Artikel aus den Bereichen Spirit Schicksal dar, in welchem der persönliche Beweggrund einer jungen Frau für ihre Tätowierung geschildert wird. 3.1.2 Schmerz und Erinnerung „Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört weh zu tun, bleibt im Gedächntiss“67 Was Friedrich Nietzsche Ende des 19. Jahrhunderts in Die Genealogie der Moral für den immerwährenden Schmerz als Gedächtnisstütze in oralen Kulturen geltend macht, scheint auch auf die Tätowierung von Julia68 zuzutreffen. In dem Artikel „Mein Tattoo ist ein Neubeginn“69 schildert sie die Geschichte, die hinter ihrer Tätowierung steht: Im Alter von 10 Jahren habe sie damit begonnen, sich mittels scharfer Klingen selbst zu verletzen. Als Grund 66 Informationen bezüglich der tatsächlich verbreiteten Auflage ließen sich nicht ermitteln. Friedrich Nietzsche zit. n. Roland Borgards, „Schmerz/Erinnerung.”, in: Roland Borgards (Hrsg.), Schmerz und Erinnerung, München 2005, S. 9-24, hier S. 12. 68 In dem Artikel wird die junge Frau Julia genannt. Ob dies ihr tatsächlicher Name ist, muss offen bleiben. Dennoch werde ich im Verlauf der Analyse den Namen Julia verwenden. 69 Ohne Verfasser, „Mein Tattoo ist ein Neubeginn“, in: Tattoo Spirit 41 (2009), S. 60. 67 17 hierfür nennt sie traumatische Kindheitserfahrungen, wie z.B. das Aufwachsen im Kinderheim sowie ihre Rolle als Außenseiterin: „Es gab einfach Momente, da hat alles so wehgetan, dass ich es nur ausgehalten hab, indem ich mir noch mehr Schmerzen zufügt [sic!] habe.“ Derartige Versuche einer Gefühlskontrolle, indem der seelische Schmerz in den Hintergrund gedrängt wird, lassen sich am ehesten durch die wechselseitige Beziehung von Schmerz und Erinnerung im Zusammenhang mit der Schmerzwahrnehmung erklären. Denn Schmerz zu empfinden ist verbunden mit einem zuvor erlebten Zustand eines Leidens, d.h. einen Schmerz wahrzunehmen heißt zugleich sich eines vergangenen Schmerzes zu erinnern. Demnach setzen sich Schmerz und Erinnerung wechselseitig voraus. Der Literaturwissenschaftler Roland Borgards sieht genau in dieser wechselseitigen Beziehung den Grund dafür, dass sich Schmerz und Erinnerung auch gegenseitig ausschließen können: „Der Schmerz blockiert traumatisch die Erinnerung; die Erinnerung überdeckt therapeutisch die gegenwärtigen Schmerzen.“70 Demnach kann Julias selbstverletzendes Verhalten als Versuch angesehen werden, ihre schmerzhaften Erinnerungen durch einen aktuell auftretenden physischen Schmerz zumindest kurzzeitig einzudämmen. Da dieses Verhalten jedoch nicht die Ursachen ihrer seelischen Schmerzen behob, begab sich Julia in Therapie, welche ihr geholfen habe, mit dem ‚Ritzen’ aufzuhören. Um diese für sie so wichtige Veränderung in ihrem Leben festhalten zu können, habe sie sich dafür entschieden, mittels einer Tätowierung ein sichtbares, permanentes Zeichen auf ihrer Haut – ähnlich zu ihren Narben – zu setzen: „Das Tattoo bedeutet für mich, dass ich mit dem Ritzen aufgehört habe und dass ich es nie wieder machen möchte. […] Ich will mit dem Tattoo einfach sagen, dass ich damit abgeschlossen habe.“71 Obwohl Julia sich vermeintlich aus pragmatischen Gründen für ihre Tätowierung entschieden hat, scheint ihre Tätowierung dennoch eine körperliche Modifikation darzustellen, hinter der sich Schmerzen verbergen. Auch nach Abklingen der physischen Schmerzen bleibt die Erinnerung, welche beim Anblick ihrer Tätowierung – aber auch ihrer Narben – in ihr hervorgerufen wird, stets erhalten. 70 71 Roland Borgards, 2005, S. 17. Ohne Verfasser, „Mein Tattoo ist ein Neubeginn“, in: Tattoo Spirit 41 (2009), S. 60. 18 Der Ethnologe Pierre Clastres verweist diesbezüglich auf den Zusammenhang von Schmerzen und Gedächtnis am Beispiel von Initiationsriten: „Nach der Initiation, wenn der Schmerz bereits vergessen ist, bleibt etwas zurück, ein unwiderruflicher Rest, die Spuren, die das Messer oder der Stein auf dem Körper hinterlässt, die Narben der empfangenen Wunden. […] Das Zeichen verhindert das Vergessen, der Körper selbst trägt auf sich die Spuren der Erinnerung, der Körper ist Gedächtnis.“72 Auch im Falle von Julia scheinen die Tätowierung – und die Narben auf ihrem Körper – einem Vergessen entgegenwirken zu sollen73: „[…]Ich liebe Tattoos und ich wusste von Anfang an, dass ich etwas machen will, was auch für immer bleibt, genauso wie die Narben. Ich habe hunderte am ganzen Körper und die verstecke ich auch nicht.“74 Mit dieser Aussage deutet Julia zudem an, dass die Narben auf ihrem Körper einen Teil ihrer Identität repräsentieren, welchen sie keineswegs leugnen möchte. Die Tatsache, dass sie ihre Narben scheinbar nicht versteckt, steht in eindeutigem Kontrast zu dem Verhalten eines Großteils der Personen mit selbstverletzenden Verhaltenweisen. Erich Kasten vertritt diesbezüglich die Meinung, dass ein größerer Teil der Personen, welche sich selbst Verletzungen zufügen, hinterher zwar ein Gefühl der Ruhe oder Erleichterung verspüren würden, dieses jedoch kurze Zeit später in ein Gefühl der Beschämung transformiert werde, da ihnen nun bewusst werde, dass ihr Verhalten nicht normal sei und sie erneut die Kontrolle über sich selbst verloren hätten. Daher würde dieser Teil der betroffenen Personen ihre Narben und Wunden vor dem sozialen Umfeld verbergen. Eine Möglichkeit, die eher stigmatisierenden Narben dennoch ohne Schamgefühl zeigen zu können, sieht Kasten in dem 72 Pierre Clastres zit. n. Aleida Assmann, Erinnerungsräume, München 1999, S. 245f. Der eigene Leib als Landkarte des Lebens wird auch in einer SF-Dokumentation mit dem Titel „Scharf beobachtete Körper. Alltagsgeschichten von Freud und Leib“ aus dem Jahr 2009 thematisiert. In dieser wird unter anderem die (Lebens-)Geschichte von Verena erzählt, welche sich seit frühester Kindheit als Außenseiterin gefühlt habe. Dadurch habe sie ein Faible für Menschen entwickelt, welche nicht dem Durchschnitt entsprechen. Nicht durchschnittlich seien für Verena die Tätowierten, da diese zwar anders, aber doch bei Sich seien. Diese würden sich nicht so viele Gedanken über die Meinung der anderen machen. Sich tätowieren zu lassen erschien Verena eine Möglichkeit anders zu sein und sich dabei stark zu fühlen. Nach dem Motto „If you can’t find yourself – you have to create yourself“ habe sich Verena zunächst ein kleines Tattoo als Liebesbezeugnis an ihren damaligen Freund auf die Hand stechen lassen. Seitdem würde sie jede weit reichende und für sie wichtige Veränderung in ihrem Leben mit einer Tätowierung auf ihrem Körper festhalten. Vgl. SF-Reportage „Scharf beobachtete Körper. Alltagsgeschichten zwischen Freud und Leib“ [09:40-19:05], im Internet unter URL: http://videoportal.sf.tv/video?id=28cfd196-675b-475b-a9abe9e14ed5b775&referrer=http%3A%2F%2Fwww.sf.tv%2Fsendungen%2Fdok%2Findex.php%3F docid%3D20091112-2000-SF1, [17.04.2010]. 74 Tattoo Spirit 41 (2009), S. 60. 73 19 Versuch einiger Personen, die vorhandenen Narben mittels Skarifizierungen „im Sinne einer psychoanalytischen Sublimierung“ in eine künstlerische Ausdrucksform zu verwandeln.75 Die Frage, ob Körpermodifikationen – wie z.B. Tätowierungen, Piercings, Skarifizierungen, Cuttings oder Brandings76 – im Allgemeinen als Praktiken der Selbstverletzung betrachtet werden können bzw. als solche benutzt werden, soll hier nicht weiter behandelt werden.77 Allerdings deutet eine weitere Aussage von Julia darauf hin, dass ihre Motivation für die Tätowierung nicht nur in der Markierung des Endpunktes eines Lebensabschnittes lag: „Da das Tätowieren auch etwas schmerzhaft ist, dachte ich mir, wenn ich irgendwann mal wieder den Bedarf habe, dann lass ich mir was stechen. Das ist tausendmal besser, als mir mit einer Rasierklinge die Arme zu ritzen.“78 Julia sieht scheinbar in dem Akt des Tätowierens eine ‚bessere’ Möglichkeit, ihren eventuell neu aufkommenden seelischen Schmerz durch die Zufügung eines physischen Schmerzes zu überdecken.79 Jedoch wolle sie sich nie wieder „etwas antun“. Und genau daran solle sie ihre Tätowierung stets erinnern. Julias Tätowierung kann demzufolge als ‚vorbeugende Maßnahme’ verstanden werden, indem sie ihre Bestrebungen versinnbildlicht, sich in Zukunft nicht mehr selbst zu verletzten und die Kontrolle über den eigenen Körper und ihre Gefühle zu bewahren. Mit der Tätowierung scheint Julia ihrem Schmerz einen festen Ort auf ihrem Körper zugeteilt zu haben. Die Erziehungswissenschaftlerin Elisabeth Rohr veranschaulicht diesen Punkt wie folgt: „So verwandelt sich der gepiercte oder tätowierte Körper in ein stummes Gedächtnis seelischer Wunden, wobei diese Wunden nicht mehr einer weiteren psychischen Verarbeitung und Reflektion zugänglich sind, sondern durch das Piercing und Tattoo transformiert und als körperliche Symbole auf die Haut gebannt werden und sich somit einer diskursiven Auseinandersetzung 75 Vgl. Kasten, 2006, S. 322-325. Vgl. Mike Featherstone, “Body Modification: An Introduction“, in: Body & Society 5 (1999), S. 1-13, hier S. 1. 77 Diesen Sachverhalt thematisiert unter anderem Erich Kasten in seinem Buch BodyModification. Vgl. Kasten, 2006, S. 305-326; Vgl. auch Aglaja Stirn, „Mein Körper gehört mir, ich kann damit machen was ich will“, in: Forschung Frankfurt 2 (2004), S.27-29, im Internet unter URL: http://www.forschung-frankfurt.uni-frankfurt.de/dok/2004/2004-2/Tattoo_27-29.pdf, [15.04.2010]. 78 Tattoo Spirit 41 (2009), S. 60. 79 Von einer ähnlichen Erfahrung berichtet auch Andreas. Nach der Trennung von seiner Frau habe er versucht, sich neu zu orientieren. In diesem Zusammenhang habe er sich für eine Tätowierung entschieden. Während des Stechens seines Tribals habe er eine gewisse „Erleichterung vom ständig vorhandenen Schmerz“ verspürt. Sein Gehirn habe sich mit anderen Schmerzen beschäftigt, wodurch der „latent vorhandene Schmerz“ sich verlagert habe. Siehe hierzu Video „Meine Tattoo Story“ [11:09], im Internet unter URL: http://www.thebiographychannel.de/highlights/meine-tattoo-story, [18.05.2010]. 76 20 widersetzen. Auf diese Weise werden sie scheinbar zum Verschwinden gebracht.“80 Die Aussage, dass seelische Schmerzen durch Tattoos oder Piercings „zum Verschwinden gebracht“ werden, begründet Rohr mit den Selbstheilungskräften des Körpers. Ihrer Meinung nach würden die seelischen Schmerzen durch den Akt des Tätowierens nach außen gelenkt und in einer körperlichen Wunde gebündelt werden, die aufgrund der Selbstheilungskräfte des Körpers ohne weitere Behandlung heilen und als ästhetisches Zeichen auf der Haut „[…] zwar die Erinnerung an den Schmerz wie die Erinnerung an die aktiv gestaltete Überwindung des Schmerzes“ erhalten würde, aber in „abgewehrter Form“.81 3.2 ‘Online’-Publikationen „Das Internet ist in den modernen Wissens- und Industriegesellschaften eine nicht mehr wegzudenkende Kommunikationstechnologie, die als Voraussetzung für die Distribution und Produktion von Informationen und materiellen Produkten ebenso relevant ist, wie sie das Alltagsleben vieler Menschen […] beeinflusst.“82 Wie in dem einleitenden Zitat des Sprachwissenschaftlers Peter Schlobinski angedeutet, hat sich das Internet, jenes globale Kommunikations- und Datennetz, welches 1990 unter dem Namen World-Wide Web für die Öffentlichkeit zugänglich wurde, in den letzten 20 Jahren zu einem wichtigen Kommunikations-, Distributions- und Informationsmedium entwickelt.83 In der vorliegenden Arbeit sind vor allem jene Anwendungen von Interesse, welche der „Vordenker des modernen Internets“84 Tim O’Reilly 2004 als ‚Web 2.0’85 bezeichnet hat. Mit dem Begriff ‚Web 2.0’ werden üblicherweise virtuelle Formen des sozialen Miteinanders – Social Network-Sites86, Wikis87, Weblogs88 80 Rohr, 2010, S. 235. Vgl. ebd., S. 235. 82 Peter Schlobinski, „Editorial: Sprache und internetbasierte Kommunikation - Voraussetzungen und Perspektiven“, in: Torsten Siever/Peter Schlobinski/Jens Runkehl (Hrsg.), Websprache.net. Sprache und Kommunikation im Internet, Berlin/New York 2005, S. 1-14, hier S. 1. 83 Vgl. ARD-ZDF-Online Studie, URL: http://www.ard-zdf-onlinestudie.de/, [16.05.2010]. 84 Simon Hage, Tim O’Reilly. Der Web Master, 22.11.2006, URL: http://www.managermagazin.de/it/artikel/0,2828,449911,00.html, [16.05.2010]. 85 Vgl. Tim O’Reilly, Web 2.0: Compact definition?, URL: http://radar.oreilly.com/archives/2005/10/web-20-compact-definition.html, [13.05.2010]. 86 „ […] Social network sites [are] web-based services that allow individuals to (1) construct a public or semi-public profile within a bounded system, (2) articulate a list of other users with whom they share a connection, and (3) view and traverse their list of connections and those made by others within the system.” Danah Boyd/Nicole Ellison, „Social network sites: Definition, 81 21 – beschrieben. Diese ermöglichen den (registrierten) Nutzern eigen produzierte schriftliche, (audio-)visuelle oder musikalische Erzeugnisse zu veröffentlichen, aktuelle themenbezogene oder interessenbezogene Fragen und Anliegen (gemeinsam) zu diskutieren sowie Informationen und Wissen auszutauschen. Meist mit einer ‚Kommentar-Funktion’ versehen, bieten diese Internetseiten den Nutzern darüber hinaus die Möglichkeit, Anregungen, Ideen aber auch (konstruktive) Kritik äußern zu können und vorhandene Ein- bzw. Beiträge – wie z.B. bei der Online Enzyklopädie Wikipedia – zu redigieren oder Videos – wie z.B. auf der Videoplattform YouTube – zu bewerten.89 Unter Einbeziehung jener Kommentare, Antworten, Anregungen bzw. Kritiken wird in der ausgewählter nachfolgenden Userbeiträge Analyse der zunächst anhand Online-Communities exemplarisch Wildcat.de und Tattooscout.de untersucht, welche individuellen und soziokulturellen Deutungen dem Schmerz im Kontext der Tätowierung beigemessen werden. Daran anschließend wird ausgehend von einem exemplarisch ausgewählten Videoclip auf der Videoplattform YouTube derselbe Analyseansatz verfolgt. 3.2.1 Wildcat.de & Tattooscout.de Die Internetseite www.wildcat.de wird von der Wildcat Deutschland GmbH90 betrieben. Laut telefonischer Auskunft könne die Unternehmenstätigkeit von Wildcat nicht auf ein spezielles Gebiet beschränkt werden. Vielmehr decke Wildcat ein facettenreiches Angebot rund um die Schwerpunktthemen Tätowierung, Piercing, Scarifications und Suspension ab. Hierzu gehöre neben history, and scholarship”, in: Journal of Computer-Mediated Communication, 13 (2007), Artikel 11, URL: http://jcmc.indiana.edu/vol13/issue1/boyd.ellison.html, [13.05.2010]. 87 „[Der Begriff Wiki bezeichnet] eine Plattform für das Wissensmanagement. Jeder Teilnehmer kann bestehende Inhalte bearbeiten. Diskussionen zu einem Eintrag können auf den jeweiligen Seiten geführt und dokumentiert werden. Auf Wunsch können einzelne Einträge für die weitere Bearbeitung gesperrt werden - etwa wenn eine bestimmte Qualität erreicht wurde.“, Harvard Business Manager, URL: http://www.harvardbusinessmanager.de/extra/glossar/a-599776.html#W, [13.05.2010]. 88 „Ein Blog […] oder auch Weblog […] ist ein auf einer Website geführtes und damit – meist öffentlich – einsehbares Tagebuch oder Journal.“ Wikipedia, URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Weblog, [13.05.2010]. 89 Vgl. Miriam Meckel, „Aus Vielen wird das Eins gefunden – wie Web 2.0 unsere Kommunikation verändert“, in: APuZ 39 (2008), S. 17-22. URL: http://www.bpb.de/publikationen/X08XMV,0,0,Neue_Medien_Internet_Kommunikation.html, [10.04.2010]. 90 Im Weiteren Verlauf nur noch Wildcat genannt. 22 der Organisation von Tattoo-Conventions (z.B. die Tattoo-Convention in Dortmund) der Vertrieb diversen Zubehörs (z.B. Ohrschmuck, Piercing-Stecker) und die Bereitstellung verschiedener Dienste im Internet. Registrierte User haben auf der Internetseite von Wildcat die Möglichkeit, ein eigenes Profil zu erstellen, auf ihrer Profilseite einen Blog zu führen, zu bestimmten Themen Artikel zu verfassen, sich mit anderen Mitgliedern in Chatrooms zu unterhalten sowie ihre Fragen und Anliegen in themenspezifischen Foren zur Diskussion zu stellen. Da Wildcat.de auf eine spezielle Klientel ausgerichtet ist, kann davon ausgegangen werden, dass ein Großteil der Mitglieder dieser OnlineCommunity ihren Körper bereits ‚modifiziert’ hat oder dies noch beabsichtigt. Auch das Angebot des Bodyart-Portals tattooscout.de91 orientiert sich an den Interessen einer speziellen Klientel. Im Gegensatz zu Wildcat.de ist Tattooscout.de – wie der Name bereits andeutet – jedoch auf die besonderen Interessen von Tätowierten und Tätowierern ausgerichtet.92 So beinhaltet das Portal einen Kalender mit aktuellen Veranstaltungstipps, eine Galerie mit UserFotos zum Bewerten und Kommentieren, eine Studiodatenbank und themenspezifische Foren. Bei beiden Internetportalen fällt auf, dass diese allgemeine Informationen zu dem Schwerpunktthema Body-Modification mit Produkt- und Markeninformationen der jeweiligen Partner-Unternehmen kombinieren. Diese Kombination ist sowohl bei Wildcat.de als auch bei Tattooscout.de eindeutig unter der Rubrik Shop, etwas unauffälliger unter dem Bereich Community zu finden.93 91 Das Online-Magazin Tattooscout.de wird betrieben von der Arno Joosten & Ulrich Hendrix GbR. Der Internetauftritt offenbart jedoch eine gewisse Nähe zu der Zeitschrift Tattoo-Spirit, welche von dem Kruhm Verlag vertrieben wird. Dieser Verlag gibt unter anderem auch die Zeitschrift Tattoo Scout heraus. Ob und inwiefern Tattooscout.de mit dem Kruhm Verlag zusammenarbeitet, konnte ich nicht ermitteln, da ich diesbezüglich keine Rückantwort erhalten habe. 92 Interessanterweise gibt es auf dieser Internetseite auch auf die Themen ‚Piercing & Bodymodification’ ausgerichtete Foren. Zudem erscheinen in der Rubrik News auch aktuelle Meldungen aus der Piercing-Szene. Es scheint fast so, als seien die Tattoo- und Piercingszenen nicht voneinander zu trennen. 93 Tattooscout.de bietet z.B. ein öffentlich zugängliches Forum für Tätowierer, welches als „Werbeplattform für den Professional Account dient“. URL: http://www.tattooscout.de/component/option,com_forum/Itemid,44/page,viewtopic/t,3842/, [28.05.2010]. 23 3.2.2 Schmerz und Identität „Nur durch die bereitwillige Öffnung für das Neue, indem Lust gesucht und Schmerz riskiert werden, versucht der durch die Welt Ziehende, seine Identität zu finden. Lust und Schmerz scheinen notwendige Dimensionen für die Reifung der Persönlichkeit zu sein, und dem Gereiften gewähren sie vielleicht die Kontinuität der eigenen Identität.“94 Das Stechen einer Tätowierung ist im Grunde stets mit Schmerzen verbunden. Schließlich werden mittels schnell aufeinander folgender Nadelstiche Farbpigmente unter der Haut eingebracht, wodurch ein Oberflächenschmerz95 erzeugt wird. Wie bereits in Kapitel 1.3 erwähnt, resultiert jedoch nicht aus jeder Aktivierung des nozizeptiven Systems eine schmerzhafte Empfindung. Oftmals wird das Stechen einer Tätowierung als angenehm, lustvoll, befreiend oder ‚geil’ empfunden. Dies ist vermutlich auf die innere Einstellung der jeweiligen Person zurückzuführen, woraufhin zahlreiche Diskussionsverläufe zu unterschiedlichen Userbeiträgen der Online-Communities Wildcat.de und Tattooscout.de hindeuten. Ausgangspunkt dieser Diskussionen ist die in den jeweiligen Userbeiträgen enthaltene Darstellung des persönlichen Stellenwertes des Schmerzes beim Tätowieren. Der Artikel „Geliebter Schmerz/ No Pain – No Gain“96 auf Wildcat.de ist eher als Erfahrungsbericht eines langjährigen ‚Szenemitgliedes’ zu lesen, in welchen die persönlichen Eindrücke bezüglich der Veränderungen der ‚Tattoo- und Piercingszene’ innerhalb der letzten 20 Jahre beschrieben werden. Der Autor des Artikels, Finkster, hebt hierbei hervor, dass entgegen der grundlegenden Veränderungen und Erneuerungen im Bereich Body- Modification sich eines für ihn nicht verändert habe: Die Lust am Schmerz. Der Begriff Lust ist meist sexuell konnotiert. Die Aussage von Finkster, er empfinde Lust im Zusammenhang mit Schmerz, könnte demzufolge als masochistische Tendenz verstanden werden. Jedoch grenzt sich Finkster eindeutig von denjenigen ab, die Schmerzen zur sexuellen Stimulation benutzen97: 94 Pöppel, 1982, S. 286. Der Oberflächenschmerz lässt sich in zwei aufeinander folgende Phasen einteilen: auf einen gut lokalisierbaren ‚hellen’ Schmerz schließt nach ca. einer Sekunde ein ‚brennender’ Schmerz an, welcher schwer zu lokalisieren ist und nur langsam abklingt. Vgl. Kasten, 2006, S. 211. 96 http://www.wildcat.de/index.php?view=0c-articleshow&id=4479, [15.05.2010]. 97 Für eine genauere Untersuchung der These, dass die beim Tätowieren entstehenden Schmerzen auch ein sexuelles Lustempfinden hervorrufen können, konnten sich nur sehr wenige aussagekräftige Beispiele finden lassen, daher bleibt dies in der folgenden Analyse unberücksichtigt. 95 24 „Ich hasse Schmerzen und kann mich in keinster Weise in einen Masochisten versetzen, der dabei sexuelle Lust verspürt oder es genießt erniedrigt zu werden.“98 Vielmehr empfinde er die mit dem Tätowieren (oder Piercen) einhergehenden Schmerzen insofern lustvoll, als dadurch Endorphine in ihm geweckt werden würden, die seinen Willen durchzuhalten, stärken würden. Aus neurowissenschaftlicher Sicht lässt sich dieser Aspekt mit der Aktivierung des Belohnungszentrums im Gehirn durch Schmerzreize erklären. Der Psychologe Erich Kasten verweist diesbezüglich auf eine experimentelle Untersuchung von Lino Becerra (et al), in welcher die (Gehirn-)Reaktionen von Probanden auf kurze Temperaturreize an den Händen mit einem Kernspintomographen aufgezeichnet wurden. Hierbei stellten die Wissenschaftler fest, dass das Belohnungszentrum unmittelbar auf den Schmerzreiz reagierte. Das Belohungszentrum antwortet demnach nicht nur bei angenehmer Stimulation, wie z.B. Süßigkeiten naschen oder Sex, mit der Ausschüttung körpereigner, glücksfördernder Hormone, sondern eben auch bei schmerzhaften Reizen. Die körpereigenen Opioiden – hierzu zählen die von Finkster erwähnten Endorphine – führen jedoch nicht nur euphorische Gefühle herbei, sondern können auch die Schmerzwahrnehmung reduzieren, indem sie das absteigende, analgetische Schmerzsystem aktivieren und somit weniger Schmerzinformation an das zentrale Nervensystem vermittelt wird.99 Darüber hinaus körpereigener, fördert das glücksfördernder Belohungszentrum Hormone auch mit der Verhalten, Ausschüttung welches in Erwartung positiver Folgen ausgeführt wird.100 Auch dieser Sachverhalt wird in dem Artikel von Finkster angedeutet. Denn er verbinde Tätowierungen (oder Piercings) neben dem ästhetischen Aspekt, auch mit dem Aspekt, eine neue 98 Finkster, URL: http://www.wildcat.de/index.php?view=0c-articleshow&id=4479, [01.06.2010]. Vgl. Kasten, 2006, S. 329-338. 100 ‚Hochgefühle’ dieser Art werden des Öfteren in Kommentaren beschrieben. So schreibt zum Beispiel der User Hoschte: „Aber es [der Schmerz] gehört dazu...und das Gefühl wenn der Folterknecht sagt das man fertig sei ist jedesmal ein Glücksgefühl welches man gar nicht beschreiben kann.“, URL: http://www.tattooscout.de/component/option,com_forum/Itemid,43/page,viewtopic/t,12657/postd ays,0/postorder,asc/start,15/, [01.06.2010]. Der User Stanair bestätigt in seinem Kommentar das in der vorherigen Aussage beschriebene Gefühl: „wenn ihr ausm tattooladen raus seit bekommt ihr das grinsn eh nich vom gesicht, vor lauter adrenalin und endorphin, […] da is der schmerz ganz schnell verflogen.“, URL: http://www.tattooscout.de/component/option,com_forum/Itemid,43/page,viewtopic/t,12657/postd ays,0/postorder,asc/start,0/, [01.06.2010]. 99 25 Erfahrung zu machen. Seine persönlichen Grenzen auszureizen. Sich selbst – und vermutlich auch seiner Umwelt – zu beweisen, dass er sich seine ‚Errungenschaften’ auf dem Körper durch das Aushalten von Schmerzen verdient hat: „[A]ber da ist noch so ne Art Initiationsritual dabei. Wie bei Eingeborenenstämmen - wenn der Junge/das Mädel durch eine traditionelle Mutprobe oder ein Ritual - in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen wird. Dieses Gefühl etwas neues zu erringen, es sich mit Schmerz "verdienen" zu müssen.“101 Diese Aussage von Finkster deutet neben den äußerlich sichtbaren ‚Errungenschaften’ auch den oftmals mit dem Akt des Tätowierens verbundenen inneren Prozess der Identitätsfindung, -bildung und -bestätigung an.102 Der Psychologe Ernst Pöppel stellt in seinem Buch Lust und Schmerz die These auf, dass sich das Gefühl einer eigenen Identität erst durch das Erleben intensiver Grenzerlebnisse von Schmerz oder Lust entwickeln könne: „Grenzerlebnisse im Schmerz oder in der Lust ermöglichen es uns erst, durch ihren Kontrast zur Wirklichkeit des Alltäglichen unsere Identität in einem psychischen Bezugssystem zu sehen, wobei der Rahmen dieses Bezugssystems durch die ekstatischen Erlebnisse definiert wird.“103 Da es in der Natur des Menschen liege, dieses Bezugssystem der eigenen Identität immer wieder neu bestätigen zu wollen und die alltägliche Monotonie zum Verlust des Gefühls einer eigenen Identität führe, versuche der Mensch der eigenen Entfremdung durch verschiedene Praktiken entgegenzuwirken.104 Der Argumentation von Pöppel folgend, kann auch der Akt des Tätowierens als eine Möglichkeit angesehen werden, die Grenzen jenen Rahmens zu finden oder sogar zu erweitern, innerhalb dessen die eigene Identität bestimmt wird, und dadurch einer Entfremdung entgegenzuwirken, da die mit der Prozedur des Tätowierens einhergehende Empfindung als Grenzerlebnis – sei es lustvoll oder schmerzhaft – aufgefasst werden kann. 101 Finkster, URL: http://www.wildcat.de/index.php?view=0c-articleshow&id=4479, [01.06.2010]. Vgl. Kasten, 2006, S. 234-236, Oettermann, 1979, S. 12; Wolfgang Fritscher, „Lust am Schmerz? (Post)moderne Tattoos zwischen Kunst und Melancholie“, in: Alice Bolterau/Elfriede Wiltschnigg (Hrsg.), Kunstgrenzen. Funktionsräume der Ästhetik in Moderne und Postmoderne, Wien 2001, S. 305-319. 103 Pöppel, 1982, S. 265. 104 Vgl. Pöppel, 1982, S. 263-271. Ernst Pöppel nennt in diesem Zusammenhang Meditation. Er weist aber auch darauf hin, dass die durch das Meditieren hervorgerufenen Grenzerlebnisse vergleichbar seien, mit denen eines überwundenen Schmerzes, eines Orgasmus’ oder eines Trance-Zustandes. 102 26 Dies kommt zum Beispiel in einem weiteren Artikel der Internetseite Wildcat.de zum Ausdruck, in welchem die Userin Hellsleeper666 ihre Meinung bezüglich der Schmerzen beim Tätowieren äußert. Sie persönlich empfinde die durch die Nadelstiche ausgelösten Schmerzen keineswegs als grausam. Viel eher würden diese ein Bewusstsein in ihr hervorrufen, ihren Körper anders zu erleben.105 Eine ähnliche Erfahrung beschreibt auch der User Phoenix: „Aber selbst wenn ich nur ausgehungert und gestresst zu meinen terminen könnte wäre es jede sekunde der agonie wert durchlebt zu werden um an ein neues stück ich zu kommen.“106 In einem weiteren Kommentar verdeutlicht er seine Einstellung der Tätowierung gegenüber: „Man hat eine Tätowierung nicht, in form von Besitz. Man ist tätowiert, im sinne von sein.“107 Diese innere Einstellung beeinflusst anscheinend das persönliche Schmerzempfinden, worauf die Vielzahl derartiger Aussagen hinweist. Immer wieder wird das Argument eingebracht, wenn eine Tätowierung tatsächlich gewollt sei, dann transformiere dieser Wille die Schmerzen in eine angenehme Empfindung.108 Oder anders ausgedrückt, das Gefühl, welches sich nach Verlassen eines Tattoo-Studios einstelle – sich selbst verwirklicht zu haben, sich seiner Identität bewusst geworden zu sein, die eigenen Grenzen überwunden zu haben oder einfach nur ein schönes Hautbild zu besitzen – lasse die Schmerzen vergessen und erfülle den Träger mit Stolz.109 105 Vgl. Hellsleeper666, „Tut das weh?“, URL: http://www.wildcat.de/index.php?view=0carticleshow&id=1400, [15.05.2010]. 106 Phoenix, URL: http://www.tattooscout.de/component/option,com_forum/Itemid,0/page,viewtopic/p,52384/sid,11 70dc812779b752fc55361e31a8bff1/, [01.06.2010]. 107 Phoenix, URL: http://www.tattooscout.de/component/option,com_forum/Itemid,43/page,viewtopic/t,12657/postd ays,0/postorder,asc/start,0/, [01.06.2010]. 108 Vgl. Don Andre: „Als ich mein Tattoo machen ließ, wollte ich es so sehr haben und habe mich dermaßen darauf gefreut, daß ich die "stichelei" nicht wirklich als schmerzhaft empfunden habe. […] Ich habe während der Sitzung versucht den "schmerzhaften Teil" auszublenden (Atmung, ablenken etc.) aber soweit das Gefühl zuzulassen die Nadelstiche als positiven zum Tattoo gehörenden Teil zu empfinden.“, URL: http://www.wildcat.de/index.php?view=0carticleshow&id=4479, [01.06.2010]. KiMiMoOn: „Und wer es unbedingt will, der hällt [sic!] das schon aus“, URL: http://www.tattooscout.de/component/option,com_forum/Itemid,99999999/page,viewtopic/t,1960 /postdays,0/postorder,asc/start,15/, [01.06.2010]. 109 Vgl. saatkraehe: „aber wenn es fertig ist, denkt man nicht mehr an die schmerzen zurück ...“, URL:http://www.tattooscout.de/component/option,com_forum/Itemid,43/page,viewtopic/t,12657/ postdays,0/postorder,asc/start,90/, [01.06.2010]. 27 3.2.3 YouTube – ‘Broadcast Yourself’ YouTube110 kann sinngemäß mit ‚du sendest’ übersetzt werden. Zusammen mit dem Leitspruch ‚Broadcast Yourself’ ergibt sich das Konzept dieser 2005 gegründeten Videoplattform: die Möglichkeit, eigen sowie professionell produziertes Videomaterial im Internet verbreiten zu können. Seit der Gründung im Jahr 2005 zählt YouTube – mittlerweile ein Tochterunternehmen von Google – zu den wohl am meist besuchten Videoplattformen im Internet. Jede Minute werden ca. 20 Stunden Videomaterial ‚hochgeladen’.111 Hierbei reichen die Inhalte von ‚belanglosen’ Erzählungen alltäglicher Erlebnisse der Protagonisten über (teils aufwendig inszenierte) Nachahmungen bekannter Ereignisse der Film- und Musikgeschichte bis hin zu kostbaren Ausschnitten der Film- und Fernsehgeschichte. Für den Film- und Medienwissenschaftler Patrick Vonderau zeichnet sich das Medienphänomen YouTube gerade durch diese Kombination einst getrennter Formate auf einer Plattform aus.112 Für meine Analyse sind vor allem die selbst produzierten Videoclips in Verbindung mit den dazugehörigen Kommentaren relevant, da dies eine Untersuchung individueller sowie kollektiver Deutungen von Schmerz erlaubt. 3.2.4 Schmerz und Authentizität „Der Einzelne drückt seine Schmerzen durch ritualisierte Formen aus, so wie sie den Erwartungen der anderen entsprechen. Wenn aber ein zur Schau getragenes Leiden in keinem Verhältnis zu seiner Ursache zu stehen scheint und den vorgegebenen Rahmen sprengt, kommt der Verdacht des Selbstmitleids oder der Falschheit auf.“113 Kastanie: „Ja es tat weh und trotzdem - ich bin überglücklich und würde es jederzeit wieder tun. Es lohnt sich.“, URL: http://www.tattooscout.de/component/option,com_forum/Itemid,43/page,viewtopic/t,12657/postd ays,0/postorder,asc/start,150/, [01.06.2010]. piet: „Das war Brutal, aber um so stolzer geht man aus dem Studio wenn man das dann durchgezogen hat. Mir ging es jedenfalls so.“, URL: http://www.tattooscout.de/component/option,com_forum/Itemid,43/page,viewtopic/t,12657/postd ays,0/postorder,asc/start,45/, [01.06.2010]. 110 Die deutsche Übersetzung von ‚tube’ lautet unter anderem ‚Kanal’. YouTube kann meiner Ansicht nach sinngemäß als ‚dein Kanal’ verstanden werden, in welchem ‚du’ für den Inhalt verantwortlich bist. 111 Vgl. Ohne Verfasser, YouTube – Alternativen im Netz, 27.04.2009, URL: http://www.focus.de/digital/internet/videoportale-youtube-alternativen-im-netz_aid_393498.html, [13.05.2020]. 112 Vgl. Josef König, „Broadcast Yourself“: Bochumer Medienwissenschaftler erforscht die YouTube Welt, 08.03.2010, URL: http://idw-online.de/pages/de/news358840, [20.05.2010]. 113 LeBreton, 2003, S. 123. 28 Mit „Tätowieren – Ich bin hart und ich bin weich“114 betitelte Diamond of Tears ihren im Januar 2010 auf der Videoplattform YouTube zur Verfügung gestellten Videoclip. Die Auswahl des Titels lässt vermuten, dass sie sich der Brisanz der im Titel enthaltenen konträren Eigenschaften in Bezug auf Schmerz im Kontext der Tätowierung bewusst ist. Dies verdeutlicht sie zudem in einem VideoKommentar, welcher den eigentlichen Videoclip einleitet, indem sie bestimmte Schlüsselbegriffe – „Gelache, Geschreie, Geheule, Beleidigung“115 – anführt. Letzteren rechtfertigt sie mit dem Verweis auf das Erleiden von Schmerzen beim Tätowieren. Entsprechend ihrer einleitenden Worte wirkt Diamond of Tears zu Beginn des Videos eher gefasst. Als sie gefragt wird, wie sie die aktuelle Situation beurteile, erwähnt sie – mit einem leidenden Blick in die Kamera – dass es mehr wehtäte, als beim ersten Mal. Kommentiert dies aber nicht weiter. Es folgen diverse ‚belanglose’ Kommentare und Unterhaltungen; Diamond of Tears beginnt ein Lied anzustimmen. Möglicherweise soll dies der geistigen Ablenkung dienen, um den Schmerz erdulden zu können. Dies scheint bis zu einem gewissen Punkt zu gelingen, doch dann beginnt sie – vermeintlich aus dem Nichts heraus – vor Schmerzen zu schreien und die Tätowiererin zu beleidigen.116 Schwächt diesen emotionalen und verbalen Ausbruch jedoch direkt mit einem Lachen wieder ab.117 Diese scheinbare Paradoxie erweckt bei dem Zuschauer den Eindruck, sie würde die Schmerzen nur vortäuschen, was in folgenden Kommentaren zum Ausdruck kommt: „Also man kann auch n drama draus machn, die stellen tun so gut wie garnicht weh!“118 „meine güte, das kommt voll gefaket rüber. ich glaube in echt tut das gar nicht weh. du tust nur so.“119 „sowas beklopptes hab ich lange nicht gesehen...sinnlose kleine sterne an stellen die eigentlich niemanden schmerzen und sie tut so als wäre das total schlimm...“120 114 http://www.youtube.com/watch?v=hLuw3NyNKLk, [23.05.2010]. Das Video ist auf einer CD im Anhang beigefügt. 115 Ebd. (00:06), [23.05.2010]. 116 Vgl. ebd., (02:55), [23.05.2010]. 117 Der weitere Verlauf des Videoclips ist durch einen ständigen Wechsel des Gefühlszustandes der Protagonistin gekennzeichnet. 118 Tomtom8111,URL: http://www.youtube.com/comment_servlet?all_comments&v=hLuw3NyNKLk, [23.05.2010] 119 dmcc1985, URL: http://www.youtube.com/comment_servlet?all_comments&v=hLuw3NyNKLk, [23.05.2010]. 29 Elaine Scarry, Professorin für englische und amerikanische Literatur an der Harvard Universität, bezeichnet in ihrem Buch The Body in Pain physischen Schmerz als Paradoxon zwischen Zweifel und Gewissheit: „So, for the person in pain, so incontestably and unnegotiably present is it that „having pain“ may come to be thought of as the most vibrant example of what is it to “have certainty”, while for the other person it is so elusive that “hearing about pain” may exist as the primary model of what it is “to have doubt”. Thus pain comes unsharably into our midst as at once that which cannot be denied and that which cannot be confirmed.”121 Für Scarry zeichnet sich physischer Schmerz demzufolge durch die Eigenschaft der Nichtkommunizierbarkeit aus.122 Mit eben jenem Problem in Bezug auf die Kommunizierbarkeit von Schmerz beschäftigt sich auch der Philosoph Ludwig Wittgenstein. Dieser geht davon aus, dass jeder Mensch mit dem Begriff Schmerz eine Empfindung beschreibt, welche aus einem zuvor erlebten Schmerzereignis die individuelle Bedeutung erhält. Schmerz ist demzufolge stets ein subjektives Phänomen. Aus diesem Grund ist eine Anwendung des Begriffs Schmerz auf jemand anderen, der behauptet Schmerz(en) zu empfinden, diffizil, da dessen Empfindung zunächst mit dem subjektiven Sinnes- und Gefühlserlebnis gleichgesetzt wird, welches zuvor als Schmerz bezeichnet wurde. Eben dieser Vergleich stellt das Grundproblem der Kommunizierbarkeit von Schmerz dar, weil dadurch der Andere als „Schmerzopfer“123 vorerst aus dem individuellen Erlebnis ausgeklammert wird. Demnach könne ein subjektiver Schmerzbegriff im Grunde niemals auf die öffentliche Sprache angewandt werden.124 Allerdings lassen sich in der Alltagssprache immer wieder Schmerzäußerungen finden. Diese sind vorwiegend durch Formulierungen wie „als ob“ oder „wie wenn“ geprägt. Die subjektive Empfindung Schmerz wird dadurch mit anderen Gefühls- und Sinneserlebnissen verglichen, sodass Außenstehenden dieses subjektive Gefühl zumindest teilweise vermittelt werden kann. 120 Andykunze, URL: http://www.youtube.com/comment_servlet?all_comments&v=hLuw3NyNKLk, [23.05.2010] 121 Elaine Scarry, The Body in Pain, New York 1985, S. 4. 122 Elaine Scarry bezieht sich in ihrer Untersuchung grundsätzlich auf physischen Schmerz. Sie hebt jedoch hervor, dass psychischer Schmerz sich von physischem Schmerz dadurch unterscheidet, dass er einen Referenten besitzt, dass dieser sich also auf einen wahrnehmbaren Gegenstand oder eine Person bezieht. Vgl. Elaine Scarry, 1985, S. 5. 123 Vgl. Helge Meyer, Schmerz als Bild. Leiden und Selbstverletzung in der Performance Art, Bielefeld 2008, S. 162. 124 Vgl. Helge Meyer, 2008, S. 161f. 30 Karl Markus Michel, Schriftsteller und ehemaliger Mitherausgeber der Kulturund Theoriezeitschrift Kursbuch, bezeichnet den Gebrauch oben genannter Wendungen als „[…] einzigen Ausweg aus der Sprachlosigkeit des Schmerzes“125. Dennoch bleibe der erlebte und gefühlte Schmerz im Individuum verhaftet, da dieser zwar etwas Allgemeines sei, aber dessen Erfahrung ganz individuell. Insofern können die Worte, mit welchen der subjektiv erlebte Schmerz beschrieben wird, immer auch nur die eigenen sein. Michel charakterisiert den Schmerz daher als „Archetypus“126. Demgegenüber scheint das ungehemmte Schreien vor Schmerzen, „das Herausbrüllen der Pein“127 eine Möglichkeit zu sein, den Schmerz von der privaten Ebene zu lösen und somit nach außen zu vermitteln, respektive einen Teil jener Ebene zu verlieren, welchen Elaine Scarry als „Paradebeispiel für Zweifeln“128 bezeichnet hat.129 Interessanterweise wird jedoch jenes ‚Ausschreien’ der Schmerzen von einem Großteil der YouTube-Gemeinschaft als unecht eingestuft. Dies lässt vermuten, dass diejenigen Nutzer, welche die Authentizität von Diamond Of Tears’ Schmerzäußerungen in Frage stellen, sich selbst schon einmal der Prozedur des Tätowierens unterzogen haben und folglich die damit einhergehenden Schmerzen aus eigener Erfahrung beurteilen könnten. Jedoch geben nur sehr wenige User eine derartige Information in ihren Kommentaren über sich preis130 , der Großteil zweifelt lediglich die Echtheit Diamond Of Tears’ Äußerungen an. Vereinzelt erhält die Protagonistin hinsichtlich ihrer Verhaltensweise aber auch Zustimmung von der Gemeinschaft.131 Der Grund dieser konträren Reaktionen mag zum Einen an der polarisierenden Wirkung der Protagonistin an sich liegen – Diamond of Tears ist eine eher umstrittene 125 Karl Markus Michel, Von Engeln, Eulen und Sirenen, Frankfurt am Main 1988, S. 380. Ebd., S. 402. 127 Helge Meyer, 2008, S.131. 128 Scarry, 1985, S. 4. 129 Vgl. Meyer, 2008, S. 130f. 130 Z.B. MemberWinny: „ich selbst hab ein tattoo und finde die schmerzen mehr als nur erträglich“; CherryVanHolland: „Lass dir mal die Rippen tätowieren, dann weisste was Schmerzen sind.“; Desiileiin: „mein Tattoo hat gar nicht weh getan und ich bin auch ganz froh“. URL:http://www.youtube.com/comment_servlet?all_comments&v=hLuw3NyNKLk, [24.05.2010]. 131 Z.B. ChelseaSmile89: „hab selber 2 tattoos und daher weiß ich wie sich der schmerz anfühlt.“; ArInAcW: „ich kenn das mit den schmerzen. hab auch ein [Tattoo] im nacken.“; Akantorkriller: „Aber das tut auch sau weh, da darf man ruhig schreien.“; URL: http://www.youtube.com/comment_servlet?all_comments&v=hLuw3NyNKLk, [24.05.2010]. 126 31 Person innerhalb der ‚YouTube-Community’132 – zum Anderen an den gegensätzlichen Haltungen den Schmerzen beim Tätowieren gegenüber und der daraus resultierenden unterschiedlichen Wahrnehmung von Schmerzen. Der in den Kommentaren enthaltene Zweifel an der Authentizität impliziert nämlich noch einen weiteren Aspekt: Die Bewertung. Der Argumentation des Philosophen Nikos Psarros folgend, können Schmerzäußerungen weder als falsch noch als wahr charakterisiert werden, sondern viel eher als angemessen oder unangemessen, da Schmerzäußerungen für ihn „den Charakter von bewertenden Urteilen“133 haben, welche von dem jeweiligen Kontext und der jeweiligen Situation, in der sie geäußert werden, abhängig sind.134 Ob eine Schmerzäußerung als angemessen oder unangemessen gilt, zeigt sich demzufolge in der anerkennenden bzw. ablehnenden Reaktion der Anderen, welche wiederum von den jeweiligen Bedingungen und Umständen abhängig ist. Dies kann am ehesten anhand der Beziehung zwischen Schmerz und Leiden verdeutlicht werden: Schmerzen zu empfinden ist eng mit einem zuvor subjektiv erlebten Zustand eines Leidens verbunden.135 Die individuelle Bewertung eines konkreten Schmerzerlebnisses ist jedoch immer auch von den soziokulturellen Haltungen diesem gegenüber geprägt. Nikos Psarros nennt dies „Leidensberechtigung“136 . Demnach wird nicht jedem Schmerz dasselbe Maß an Leiden beigemessen, genauso wie nicht jeder Schmerz mit Leiden verbunden wird.137 Auf das genannte Beispiel übertragen würde dies bedeuten, dass die mit dem Akt des Tätowierens einhergehenden Schmerzen die Protagonistin anscheinend nicht zum Leiden ‚berechtigen’. Dies lässt sich aus den Beurteilungen bezüglich der Schmerzen beim Tätowieren – vor allem dieser konkreten Körperstellen – schließen, die in den zahlreichen Kommentaren enthalten sind. So kritisiert zum Beispiel rockawella das Verhalten der Protagonistin mit dem Verweis, sie sei eine „Mimose“ und solle sich nicht so 132 Dies zeigt sich vor allem in den mannigfaltigen Diskussionen rund um die Person Diamond Of Tears zu ihren diversen Videoclips. 133 Nikos Psarros, „Schmerzaussagen als Urteilsformen“, in: e-Journal Philosophie der Psychologie 3 (2005), S. 1-13 (hier S. 9). URL: http://www.jp.philo.at/texte/PsarrosN2.pdf, [17.04.2010]. 134 Vgl. ebd., S. 9. Als Beispiele sind Zahnschmerzen oder Migräne (als angemessen eingestuft) sowie Geburtsschmerzen (als weniger angemessen eingestuft) zu nennen. 135 Vgl. Vermeersch, 2000, S. 386. 136 Psarros, 2005, S. 9. 137 Vgl. ebd., S. 9; LeBreton, 2003, S. 121-124. 32 anstellen, das Tätowieren im Schulterbereich würde schließlich nicht so sehr wehtun.138 Auf eine ähnliche Weise argumentiert auch sinista23, indem sie die Protagonistin als „Weichei“ für das bisschen ‚stechen’ bezeichnet.139 Auch tomtom8111 schätzt die Körperstellen, an denen sich die Protagonistin tätowieren lässt, als weniger schmerzempfindlich ein.140 Darüber hinaus scheint es Körperstellen zu geben, die im Zusammenhang mit dem Akt des Tätowierens eher zum Leiden ‚berechtigen’, wie z.B. die Rippen- oder Unterarmregion.141 Allerdings sind auch diese Körperstellen umstritten. AndreasNemesis widerspricht zum Beispiel der Aussage von Ice90dc, indem er auf seine nahezu schmerzlose Erfahrung im Zusammenhang mit dem Stechen seiner Unterarmtätowierung verweist.142 Zudem deutet er in einem weiteren Kommentar an, dass er während seiner diversen ‚Tattoo-Sitzungen’ ohnehin kaum Schmerzen empfunden habe. Vielmehr liebe er die Nadelstiche, weil diese sich für ihn so anfühlen würden, als ob er gekrault werden würde.143 Die Userin TheSunnybaby08 behauptet sogar, sie sei während ihrer ‚TattooSitzung’ eingeschlafen, da das Stechen einer Tätowierung ihrer Meinung nach harmlos sei.144 Derartige Aussagen lassen vermuten, dass das Ertragen von Schmerzen innerhalb der ‚Tattoo-Szene’ als eine Art Ehrenkodex betrachtet wird. Schmerzen nicht zu thematisieren bzw. diese positiv zu konnotieren scheint der Profilierung zu dienen, worauf folgender Kommentar von dadyone100 hindeutet: 138 Vgl. rockawella, URL: http://www.youtube.com/comment_servlet?all_comments&v=hLuw3NyNKLk, [26.05.2010]. 139 Vgl. sinista23, URL: http://www.youtube.com/comment_servlet?all_comments&v=hLuw3NyNKLk, [26.05.2010]. Bemerkenswerterweise gibt sie jedoch im nächsten Satz zu, dass sie sich während der letzten halben Stunde ihrer ‚Tattoo-Sitzung’ ähnlich verhalten hat wie Diamond Of Tears. 140 Tomtom8111, URL: http://www.youtube.com/comment_servlet?all_comments&v=hLuw3NyNKLk, [26.05.2010]. 141 CherryVanHolland: „Lass dir mal die Rippen tätowieren, dann weisste was Schmerzen sind.“; ice90dc: „[…]aber ich kann dir sagen, lass dich mal am inneren unterarm tätowieren. das sind noch mehr schmerzen.“, URL: http://www.youtube.com/comment_servlet?all_comments&v=hLuw3NyNKLk, [26.05.2010]. 142 Vgl. AndreasNemesis, URL: http://www.youtube.com/comment_servlet?all_comments&v=hLuw3NyNKLk, [26.05.2010]. 143 Vgl. ebd, URL: http://www.youtube.com/comment_servlet?all_comments&v=hLuw3NyNKLk, [26.05.2010]. Ähnlich positive Konnotationen lassen sich unter anderem in den Aussagen von Brina211089 und memberWinny dokumentieren. 144 Vgl. TheSunnybaby08, URL: http://www.youtube.com/comment_servlet?all_comments&v=hLuw3NyNKLk, [26.05.2010]. 33 „Ich hab mir meine Finger stechen lassen, und hab mich nich halb so angestellt.“145 Das Aushalten der Schmerzen scheint diesen User mit Stolz zu erfüllen. Durch seine Aussage grenzt er sich von denjenigen ab, die Schmerzen als unabdingbare Nebenerscheinung des Tätowierens ansehen, sich vor diesen fürchten und im Grunde darauf verzichten könnten. Zudem deutet er an, dass das Stechen seiner Tätowierung ihn eher zum Leiden hätte ‚berechtigen’ dürfen, er dies aber nicht als solches empfunden habe. Der User andykunze betont in seinem Kommentar eine ähnliche Haltung den Schmerzen beim Tätowieren gegenüber. Für ihn sei das Verhalten der Protagonistin ein eindeutiges Anzeichen dafür, dass sie sich aus ‚niederen’ Beweggründen für ihre Tätowierung entschieden habe: „sowas beklopptes hab ich lange nicht gesehen...sinnlose kleine sterne an stellen die eigentlich niemanden schmerzen und sie tut so als wäre das total schlimm...typischer fall von "ich brauch n tattoo um cool zu sein, weiß aber garnicht was" und dann lasse ich am besten die ganze welt an meiner blödheit teilhaben...und ich schreib noch was dazu...verschwendete zeit.“146 Andykunze teilt durch seine Aussage die ‚Gruppe der Tätowierten’ in zwei Hälften ein: diejenigen, die durch ihre Tätowierung ihre Persönlichkeit, ihre Lebenseinstellung ausdrücken, die dadurch ein ‚Statement abgeben’ und mit ihrem jeweiligen Motiv (anscheinend) etwas Konkretes verbinden, demzufolge authentisch wirken und diejenigen, die sich nur des Modetrends wegen tätowieren lassen sowie mit ihrem Motiv (offenbar) nichts Konkretes verbinden und folglich unauthentisch wirken. Letztgenannte ‚Gruppe’ scheint sich gerade durch die eher negative Konnotation von Schmerzen beim Tätowieren auszuzeichnen, da dies wohl als Zeichen für ‚geistige Unreife’ gilt – zumindest unterstellt dies andykunze der Protagonistin.147 Grundsätzlich lässt sich vermuten, dass innerhalb der ‚Tattoo-Szene’ dem Schmerz wohl eine ähnliche Funktion zugeschrieben wird wie der Tätowierung 145 dadyone100, URL: http://www.youtube.com/comment_servlet?all_comments&v=hLuw3NyNKLk, [26.05.2010]. 146 andykunze, URL: http://www.youtube.com/comment_servlet?all_comments&v=hLuw3NyNKLk, [26.05.2010]. 147 Bemerkenswerterweise gibt Diamond Of Tears in einem ihrer Kommentare zu, dass ihr die Schmerzen beim Tätowieren im Grunde gefallen, was als Widerspruch zu dem im Videoclip gezeigten Verhalten gedeutet werden kann. Eventuell spielt sie genau mit diesem Widerspruch, um innerhalb der Gemeinschaft für Aufruhr zu sorgen. 34 an sich: die Grenzziehung zwischen In- und Out-Group.148 Die ‚wahren’ Tätowierten tolerieren die Schmerzen, empfinden diese vielleicht sogar als angenehm oder beruhigend und betrachten diese als notwendige Bedingung für das Erlangen einer Tätowierung149 , wie folgendes Zitat abschließend zeigen soll: „Wer sich für ein Tattoo entscheidet, der trifft […] eine Entscheidung für´s Leben. Dazu gehört nunmal [sic!] der Schmerz […]. Und meiner Meinung ist es so: Wer das eine will, muß das andere mögen :-) Nein, ich bin kein Masochist, aber zur Tätowierung gehört nunmal der Schmerz.“150 148 Vgl. Stephan Oettermann, „Es stärkt das Ego“, in: Der Spiegel 50 (2000), S. 230-232, hier S. 232. URL: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-18032410.html, [15.03.2010]. 149 Dies kommt auch in mehreren Beiträgen in verschiedenen Internetforen zum Ausdruck. So schreibt z. B. ein User: „ein Tattoo ohne Schmerz is kein Tattoo. Man muss es sich verdienen.“, URL:http://www.tattooscout.de/component/option,com_forum/Itemid,43/page,viewtopic/p,34497 1/sid,50336e7e3198cdd6dbebfdea4a7c03d0/, [24.05.2010]. 150 Dicker, URL: http://www.wer-weiss-was.de/theme49/article1167305, [26.05.2010]. 35 4. Schmerz als essentieller Bestandteil der Tätowierung? Ausgehend von den Ergebnissen der Analyse in Kapitel 3 sollen im Folgenden aus kulturhistorischer Perspektive Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Bedeutung von Schmerz im Kontext der Tätowierung aufgezeigt werden. „Der lustvolle Schmerz dient als Ersatz für eine fehlende Initiation und für mangelnde existenzielle Erfahrungen. Er befreit das gesellschaftlich gebundene Wesen aus seinen alltäglichen und geschlechtlichen Zwängen und läßt es eins mit sich werden. In der Konfrontation mit der erzwungenen Grenzerfahrung sucht der Mensch die individuelle Erfahrung, die seine domestizierte Welt verlöschen läßt.“151 Was der Filmwissenschaftler und Publizist Markus Stiglegger in seinem Aufsatz Das Leben ist Schmerz für das Schmerzerleben bei Anhängern des ‚Modern Primitivism’ geltend macht, scheint auch auf einen Großteil der tätowierten Personen zuzutreffen. Obgleich die Beweggründe für eine Tätowierung mit Sicherheit nicht generalisierbar sind, lassen die Aussagen tätowierter Personen in themenspezifischen sowie themenübergreifenden Internetforen, TV- Beiträgen, Zeitschriften und Zeitungsartikeln darauf schließen, dass dem Schmerz eine essentielle Bedeutung für den Akt des Tätowierens beigemessen wird. Der Wissenschaftsjournalist Rainer Topitsch, welcher in seinem Aufsatz Das Fleisch wird zum Wort – zur kulturellen Praxis der Körperbeschriftung152 bereits Ende der 1990er-Jahre eine „neue Lust am Schmerz“ und eine „Popularisierung des Schmerzerlebens“ konstatierte, sieht den vermeintlichen Grund der „Wiederkehr des Schmerzes“ in der Zurückweisung des stellvertretenden Leidens: „Die christliche Sublimierung des Begehrens nach Schmerz, die darin bestand, daß Jesus für uns ans Kreuz genagelt wurde, funktioniert nicht mehr. Die Medien sagen uns, wir können selbst zum "Heiligen", zum Star werden. Wie die Märtyrer und Mystiker möchte man selbst den Schmerz des Durchbohrens und Durchstechens fühlen.“153 Diese Aussage ist m. E. als Überspitzung und unterschwellige Kritik an den medialen Unterhaltungsformaten zu lesen. Dennoch scheinen die Vielzahl von Aussagen tätowierter Personen sowie die sadomasochistisch anmutenden 151 Marcus Stiglegger, Das Leben ist Schmerz. Modern Primitivism auf der Suche nach einer neuen Authentizität, im Internet unter URL: http://www.sterneck.net/ritual/stigleggerschmerz/index.php, [15.05.2010]. 152 Rainer Topitsch, Das Fleisch wird zum Wort – zur kulturellen Praxis der Körperbeschriftung, im Internet unter URL: http://www.medienobservationen.lmu.de/artikel/kunst/Fleisch.html, [09.05.2010]. 153 Ebd., [09.05.2010]. 36 Tattoostudio Namen – wie z.B. House of Pain, Pain Factory, Torture Garden oder Blut und Eisen – anzudeuten, dass es die mit dem Akt des Tätowierens verbundenen Schmerzen zu überwinden, wenn nicht sogar heroisch zu ertragen gilt. Hierbei scheint die Überwindung oder das Ertragen von Schmerzen im Zusammenhang mit der Tätowierung mit einer kommunikativen Funktion versehen zu sein, indem sie dem jeweiligen Umfeld die Leidensfähigkeit, die Willenstärke oder die Entschlossenheit des Trägers mitteilt. Denn eine Tätowierung – aber auch andere körperinvasive Praktiken – wurde und wird stets mit Schmerzen assoziiert.154 Die Erziehungswissenschaftlerin Elisabeth Rohr verweist in diesem Zusammenhang auf die Funktion und Bedeutung der Tätowierung in oralen Gesellschaften. Eingebettet in einen sakralen, rituellen oder sozialen Kontext diente diese Art der Körperkunst neben der Kennzeichnung des sozialen Status auch der Markierung wichtiger Lebensabschnitte sowie des Übergangs von einem sozialen Status in den anderen. Als wichtiger Bestandteil dieser Übergangsrituale versteht Rohr den Akt des Tätowierens, welcher den Initianden bei der psychischen Verarbeitung lebenszyklischer Veränderungen unterstützen sollte. Denn durch die Beschriftung der Haut, welche die Kulturund Literaturwissenschaftlerin Claudia Benthien als „symbolische Fläche“155 zwischen dem Selbst und der Welt bezeichnet, wurde die soziale Identität, die Einbindung des Initianden in die Gemeinschaft sichtbar gemacht. Diese Körperbeschriftung und die dazugehörigen rituellen Handlungen waren stets mit Schmerzen verbunden, denn Statuspassagen wurden als eine Art symbolische Geburt verstanden.156 Rainer Topitsch veranschaulicht diesen Punkt wie folgt: „Auf metaphorische Weise erscheint im Schmerz der Tod, die alte Identität des Initianden stirbt ab. Gleichzeitig macht die Intensität des Schmerzes den neuen sozialen Zustand real.“157 Die soziale Identität wurde demzufolge hauptsächlich über den Körper definiert und unter Schmerzen erlangt. Diese mit Schmerzen verbundene Konstituierung einer (neuen) Identität scheint auch bei der zeitgenössischen Anwendung der 154 Vgl. Beitrag von Hellsleeper666 „Tut das weh?“ , im Internet unter URL: http://www.wildcat.de/index.php?view=0c-articleshow&id=1400, [10.06.2010]. 155 Claudia Benthien, Haut. Literaturgeschichte. Körperbilder. Grenzdiskurse, Hamburg 1999, S. 7. 156 Vgl. Rohr, 2010, S. 228. 157 Topitsch, URL: http://www.medienobservationen.lmu.de/artikel/kunst/Fleisch.html, [09.05.2010]. 37 Tätowierung von essentieller Bedeutung zu sein. So kann eine Tätowierung für den Träger sowohl als Zeichen der eigenen Identität und Individualität verstanden werden, als auch als Zeichen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe.158 In beiden Fällen scheint das Ertragen der Schmerzen den inneren Prozess der Identitätsbildung sowie die stabilisierende Wirkung auf den Gruppenzusammenhalt und auf das einzelne Individuum zu verstärken, vielleicht sogar als dessen Voraussetzung zu gelten. Dies weist Parallelen zu der Anwendung der Tätowierung in traditionellen Gesellschaften auf. So wurde in oralen Gesellschaften die Tätowierung neben der Initiation auch zum Zweck der Identifikation eingesetzt, indem sie das Individuum dauerhaft und unauslöschbar als Mitglied eines ethnischen Kollektivs kennzeichnete. Das Individuum wurde dadurch immer mehr seiner Individualität beraubt und gleichzeitig in ein Gemeinwesen verwandelt. Elisabeth Rohr versteht daher die Tätowierungen oraler Gesellschaften als sichtbare Erinnerungen an die dauerhafte Bindung zwischen dem Individuum und seiner jeweiligen ethnischen Gemeinschaft und dem daraus resultierenden Nutzen für den Einzelnen – wie z.B. Teilhabe an den sozialen Ressourcen – sowie auf den (schmerzhaften) Verzicht der individuellen Freiheiten.159 Dieser (schmerzhafte) Verzicht sei, so Rohr, in traditionellen Gesellschaften unbewusst vollzogen und in den Triumph, die körperlichen Schmerzen ertragen zu haben, umgewandelt worden: „Stolz und Anerkennung waren mithin die Trophäen, die den Schmerz vergessen ließen und die Vergesellschaftungspraxis zu einem affektiv ersehnten und höchst befriedigenden Ereignis stilisierten.“160 Zwar kann die Tätowierung auch in komplexen Gesellschaften als Zeichen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe verstanden werden. Allerdings muss diesbezüglich erwähnt werden, dass die Entscheidung des Individuums, einer bestimmten Gruppe beizutreten, diesem selbst überlassen ist. Dennoch können Tätowierungen – verstanden als Mitgliedszeichen – die Macht der Gruppe über das Individuum dokumentieren. Frank Peter Finke verdeutlicht diesen Punkt anhand der Mitgliedstätowierungen der Rockergruppe Hell’s Angels. Um in diese Vereinigung aufgenommen zu werden, müssten sich die jeweiligen ‚Anwärter’ im Rahmen eines Aufnahmerituals 158 Vgl. Kasten, 2006, S.234f; Finke, 1996, S. 131f. Vgl. Rohr, 2010, S. 228f. 160 Rohr, 2010, S. 229. 159 38 das Mitgliedszeichen eintätowieren lassen. Verstoße ein Mitglied gegen die gruppeninternen Regeln und wird dadurch der Gruppe verwiesen, so müsse die Tätowierung entfernt werden. Sicherlich entspricht dieses extreme Beispiel nicht der Regel, dennoch zeigt es eindeutig, dass die Tätowierung auch heute noch einen Zugehörigkeits- und Abgrenzungscharakter haben kann. Finke weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass auch bei räumlicher Trennung zu der jeweiligen Gruppe der von der Gruppe vermittelte Halt und die Sicherheit – sozialen Ressourcen welche vergleichbar sind mit den oben genannten Gratifikationen traditioneller Gesellschaften – erhalten bleiben.161 Neben den jeweiligen gruppen- spezifischen Gratifikationen (wie z.B. Sicherheit, Halt, Schutz) werden die Entbehrungen der Mitglieder (Investition finanzieller Mittel, Erduldung von Schmerz, Zeitaufwand, Entscheidung für das ganze Leben) zudem durch soziale Anerkennung innerhalb der Gruppe belohnt.162 Auf einer allgemeinen Ebene lässt sich auch ein vermeintlicher Wunsch nach sozialer Anerkennung verzeichnen. Anders lassen sich die unterschiedlichen Formen der Selbstdarstellung tätowierter Personen in Tattoo-Zeitschriften, Tattoo-Internetforen, Online-Communities, Online-Videoportalen oder TVBeiträgen wohl kaum erklären.163 161 Vgl. Finke, 1996, S. 137ff. Tobias Lobstädt, „Tätowierung in der Nachmoderne“, in: Wilfried Breyvogel (Hrsg.), Eine Einführung in Jugendkulturen. Veganismus und Tattoos, Wiesbaden 2005, S. 165-235, hier S. 200f. 163 Z.B. Erfahrungsbericht von SumSum1986, URL: http://www.ciao.de/Fine_Line_Tattoo_Studio_Dusseldorf__Test_8523338, [10.05.2010]. Homepage zur Bewertung von Tattoos, URL: http://www.tattoo-bewertung.de/, [23.05.2010]. Fernsehbericht „Meine Tattoo Story“, URL: http://www.thebiographychannel.de/highlights/meine-tattoo-story.html, [18.05.2010]. 162 39 5. Fazit Die Intention dieser Arbeit bestand darin, anhand exemplarisch ausgewählter Aussagen von tätowierten Personen in unterschiedlichen Medienformaten den individuellen sowie soziokulturellen Stellenwert und die daraus resultierende Deutung von Schmerz im Zusammenhang mit der Kulturtechnik des Tätowierens zu erörtern. Um einen besseren Überblick über die vielfältige mediale Thematisierung und Repräsentation des Begriffspaares ‚Schmerz’ und ‚Tätowierung’ erhalten zu können, habe ich im Vorfeld dieser Arbeit die verschiedenen medialen Formate (TV-Reportagen, selbst erstellte Videoclips, Blogeinträge, Erfahrungsberichte in Internetforen, Zeitschriften, Zeitungsartikel und Spielfilme) dahingehend begutachtet. Da eine umfassende Analyse aller vorhandenen Medienformate den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde, habe ich mich bei meiner Analyse auf zuvor ausgewählte, exemplarische Beispiele konkreter Formate beschränkt. Dabei wurde das mediale Angebot in ‘Offline’- und ‘Online’-Publikationen unterteilt. Vor allem die ‘Online’-Publikationen waren für eine Beantwortung der Fragestellung von besonderer Relevanz, da diese sich durch einen sehr hohen Anteil persönlicher Erfahrungsberichte auszeichnen.164 Diese Arbeit hat gezeigt, dass Schmerz im Zusammenhang mit der Tätowierung ein eher ambivalentes und innerhalb der ‚Tattoo-Szene’ umstrittenes Thema zu sein scheint. Bekanntermaßen zeichnet sich Schmerz durch die Eigenschaft der rein subjektiven Wahrnehmbarkeit aus. Was der Eine als ‚schlimme Qualen’ empfindet, muss der Andere nicht als ebenso ‚qualvoll’ erleben. Denn bei der Schmerzwahrnehmung sind mehrere, individuell geprägte Komponenten beteiligt (Vgl. Kapitel 1.3). Dessen ungeachtet scheint Schmerz gerade im Zusammenhang mit der Tätowierung – einer kulturellen Praktik, welche sich in postmodernen 164 Ich möchte in diesem Zusammenhang auch ausdrücklich darauf hinweisen, dass ich mit dieser Arbeit niemandem eine bestimmte Einstellung den Schmerzen beim Tätowieren gegenüber unterstellen möchte. Mein Bestreben lag viel eher in dem Versuch, die ausgewählten Aussagen und Meinungen unter Einbezug des vorhandenen wissenschaftlichen Kenntnisstandes zu den Themen ‚Schmerz’ und ‚Tätowierung’ zu systematisieren. 40 Gesellschaften einer immer größer werdenden Popularität erfreut – einen besonderer Stellenwert zu haben. In dessen Überwindung (oder Ertragen) vereinigen sich die Willensstärke, die Entschlossenheit und die Leidensfähigkeit des Trägers. Der Schmerz scheint das durch die Tätowierung zum Ausdruck gebrachte Statement noch zu verstärken: ‚Ich bin nicht nur bereit, die Oberfläche meines Körpers permanent zu verändern, sondern ich bin darüber hinaus auch bereit, hierfür Schmerzen aufzunehmen.’ Inwiefern diese Schmerzen als ‚angenehm’, ‚lustvoll’, ‚beruhigend’, ‚erwünscht’ oder als ‚unangenehm’, ‚leidig’, ‚lästig’, ‚grausam’ empfunden werden, lässt sich nicht generell sagen. Analog zu der sehr individuellen Bedeutung, welche eine Tätowierung für den jeweiligen Träger hat, scheint in diesem Zusammenhang auch das Schmerzerleben von einer individuellen Deutung geprägt zu sein. Allerdings muss diesbezüglich erwähnt werden, dass Schmerz immer auch auf einer allgemein kulturellen und subkulturellen Ebene gedeutet wird. Insofern können die mannigfaltigen Aussagen tätowierter Personen, dass es den Schmerz zu ertragen gelte, schließlich sei er der Preis für die Tätowierung, als subkulturelle Deutungen verstanden werden, welche wiederum einen nicht unbedeutenden Einfluss auf die subjektive Schmerzwahrnehmung haben können (Vgl. Kapitel 1.3 und 3.2.4). In dieser Arbeit wurde der Fokus auf die Kulturtechnik des Tätowierens gelegt. Andere – teils schmerzhafte – kulturelle Praktiken (wie z.B. Piercings, Cuttings, Brandings, Skarifizierungen oder Suspension Performances) wurden nicht miteinbezogen. Auch wurden die Rolle des Tätowierers sowie die teils sadomasochistisch anmutenden Performances auf Tattoo Conventions nicht mitberücksichtigt. Um eine möglichst umfassende und genaue Darstellung des Stellenwertes des Schmerzes im Kontext (sub-)kultureller körperinvasiver Praktiken erhalten zu können, sollten die oben genannten Teilbereiche in einer weiterführenden Untersuchung mit eingeschlossen werden. 41 6. 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