EINE ZEITREISE

Transcrição

EINE ZEITREISE
VIA APPIA
ANTICA –
EINE ZEITREISE
Via Appia – das war die wichtigste der berühmten
Kolonialstraßen, die zu Zeiten des römischen Imperiums den
italienischen Stiefel überzogen. Ein TF-Team verfolgte das
antike Pflaster von Rom bis nach Brindisi. Auf der Königin der
Straßen und in ihrem Umfeld erlebten die Enduro-Fahrer
nicht nur die abenteuerliche Geschichte, sondern auch die
nicht minder spannende Gegenwart hautnah
Text und Fotos von Michaela und Udo Staleker
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NICHTS BLIEB DER STRASSE ERSPART
AUCH STUMME STEINE
KÖNNEN GESCHICHTEN
ERZÄHLEN
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Die Trulli-Häuser bei Ostuni sind eine
von vielen Attraktionen an der Via Appia.
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Steil am Fels hoch über der Pontinischen Ebene klebt
Norma. Die Zufahrt hat spektakuläre Kurven (oben).
Monte San Biágio: am Felshang liegendes, malerischbeschauliches Bergdorf auf dem Weg nach Fondi.
Das Original-Pflaster der Via Appia ist
auch für Enduros eine Herausforderung.
DER BELAG ENTZÜCKTE DIE CHRONISTEN
313 V. CHRISTUS: APPIUS
CLAUDIUS STARTETE
DEN GIGANTISCHEN BAU
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Steine, die erzählen: Via Appia, Forum,
Theater und Thermen des antiken Minturnae.
SPUREN VERWEHEN MIT DER ZEIT
KNALLHARTE LEUZITBLÖCKE SCHRIEBEN
VERKEHRSGESCHICHTE
Terracina I: kurvenreiche Auffahrt zum Tempio di
Giove Anxur, einem sehenswerten Heiligtum (oben).
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Terracina II: Passegiata auf der Piazza del Municipio.
Eine Keimzelle der dörflichen Kommunikation (unten).
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ang rein, Kupplung
raus und Vollgas –
nichts wie weg!
Hinter uns summt
und brummt bedrohlich ein
Hornissenschwarm: Zahllose
schwere, futuristische Roller
powern in dichten Pulks bei jedem Ampelstart, setzen Verkehrsregeln hemmungslos außer Kraft und beweisen nachhaltig, dass Wagemut multipliziert mit Nervenkraft zwangsläufig zu Raumgewinn führen
muss.
Arme Via Appia – was ist von
deinen glorreichen Tagen geblieben? Unserer Honda hingegen gefällt diese moderne Form
römischer Wagenrennen, und
so ballert der V-Twin munter
von Ampelstopp zu Ampelstopp. Der morgendliche Berufsverkehr auf der Via Appia
Nuova hinein ins Stadtzentrum
Roms kennt keine Gnade:
schieben, drängeln, schneiden,
hupen, röhren, knattern und
brüllen. Wer bremst, verliert,
also geben alle munter Gas.
Plötzlich spinnt die Twin,
walzt ohne Aufforderung quer
über zwei Spuren, schlingert,
schwankt. Der Hinterreifen ist
platt, unser geplanter Bummel
durch das antike Rom vorerst
zu Ende. Wie alle Götter so bestraft auch der große Zeus kleine Sünden sofort. Na bravo!
Immerhin verspricht eine überdachte Tankstelle am Rande
der Gegenfahrbahn Schatten
beim Montieren.
Als die Schwinge endlich
das Hinterrad freigibt, ziehen
kettenfettverschmierte Hän-
G
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de den einzigen Nagel Roms
aus dem Gummi. »Dove uno
gommista, per favore?« Mitleidige Blicke, verständnisloses
Kopfschütteln. Wer mit geschultertem Hinterrad in bunten Enduro-Klamotten an
Roms Ausfallstraßen entlangstapft, kann nicht ganz richtig
im Kopf sein. Nach eineinhalb
Kilometern endet die »Via dolorosa« in der primitiven Werkstatt von Antonio Panessa. Sein
sympathisches Lächeln verspricht eine baldige Genesung
der verwundeten Enduristenseele. Und tatsächlich – eine
knappe Stunde später taucht
Antonio den vulkanisierten
Schlauch ins Wasserbad und
»Wenn man das glänzende
Pflaster der Via Appia erreicht,
dann umgibt einen die plötzliche Ruhe einer erzwungenen
Langsamkeit, lässt sie einen
eintauchen in eine Dimension,
die unendlich weit entfernt
scheint von jener aufgeregten
und geschwinden Betriebsamkeit, der wir unser Leben unterworfen haben«, beschreibt Vittorio Emiliani seine ersten
Empfindungen und öffnet uns
die Tür zu einem Stück Rom,
wie es beschaulicher kaum vorstellbar scheint. Pinien, Lorbeer und Zypressen säumen
den Wegesrand, hinter meterhohen, efeuberankten Mauern
liegen die Grabmäler berühm-
nate lang hatte der Zensor Appius Claudius in den Jahren 313
bis 312 v. Chr. Zeit, um sich mit
der ersten gepflasterten Straße
seines Staates ein ewiges
Denkmal zu setzen. Er ließ die
Bürger und ihr Vermögen
schätzen, erhob Steuern und
Zölle, besetzte staatliche Ämter, vergab Aufträge für öffentliche Arbeiten. »Sodann ließ er
den größten Teil der nach ihm
benannten appischen Straße
von Rom bis Capua mit festen
Steinen pflastern (...), wobei er
die Anhöhen durchgrub und die
Abgründe und Vertiefungen
ebnete und sämtliche Staatseinkünfte darauf verwendete.«
Die Kosten für das giganti-
Weitere Vergleiche mit bundesdeutschen Autobahnbaustellen erübrigen sich ...
Rast an der Porta Appia.
Gleich hinter dem mächtigen,
von zwei massiven Wehrtürmen bewachten Südtor der Aurelianischen Verteidigungsmauer Roms gibt es ein kühles
Plätzchen für unser Reiseross.
Im Schatten des Drususbogens
darf die Twin auf dem Seitenständer lümmeln und den
Hardcore-Ritt über jahrtausendealtes Kopfsteinpflaster verdauen.
Von wegen »fugenlos zusammengefügt«... Die Trasse,
welche Archäologen im denkmalgeschützten Appia-Regionalpark freilegten und vor
dem Asphalttod bewahrten, ist
heute nur noch ein blasses Abbild dessen, was einst Roms
lebhaft pulsierende Verkehrsader in den Süden Italiens
darstellte. Gute 14 römische
DER BAU LEERTE DIE STAATSKASSE
DIE STEINE WIRKEN
WIE MITEINANDER
VERWACHSEN
verkündet stolz: »No bubbles!«
Ein unscheinbares Hinweisschild mit verwitterten Buchstaben keine 100 Meter von unserer Zwangspause entfernt:
Via Appia Antica. Über den
Appio Pignatelli verlässt die
Enduro die Neuzeit und taucht
hinein in das Reich des römischen Zensors Appius Claudius Caecus. Welch ein Stimmungswandel mit dem Betreten des Parco Regionale
dell’Appia Antica! Nur äußerst
schüchtern dirigiert die Gashand die Enduro über die ersten
geschichtsträchtigen Meter.
ter Persönlichkeiten römischer
Geschichte. Villen, Tore und
Bogen künden von militärischen Eroberungen, vom Handel und Wandel, vom kulturellen Leben entlang einer Straße
der Erinnerungen.
Beinahe wie Frevel mutet es
an, die ältesten Pflastersteine
römischer Straßengeschichte
unter die Stollen zu nehmen.
Schnurgerade führte der erste
Bauabschnitt der zweieinhalb
Jahrtausende alten Appia vom
Herzen Roms zum Fuß der
Albaner Berge und von dort
hinab in die ehemalige Kolonie
Terracina. Militärische, taktische und finanzielle Überlegungen diktierten die Trassenführung, und so folgten die
Meilensteine auf den ersten
132 Meilen bis ins einst feindliche Capua einer logistisch
ökonomischen Route für
Truppenverlegungen und
Nachschub. Die Via
Appia, eine Straße
der Eroberungen.
Nur 18 Mo-
sche Bauvorhaben müssen,
glaubt man dem römischen Geschichtsschreiber Diodor, so
enorm hoch gewesen sein, dass
die ersten zweihundert Kilometer bis Capua die römische
Staatskasse leerten. Man stelle
sich das in der heutigen Zeit
vor: Für die dringend notwendige Erneuerung der A 8 von
Stuttgart nach München muss
Finanzminister Eichel die
Staatskasse plündern. Nicht,
dass er dazu kein Talent hätte,
doch der Vergleich verdeutlicht anschaulich den Stellenwert und das Potenzial damaliger Staatsprojekte. Claudius’
Meisterwerk war allerdings
auch von 1A-Qualität. Sein
Straßenbelag entzückte 900
Jahre später immer noch die
Chronisten des 6. Jahrhunderts:
»Appius ließ die Bruchsteine
zunächst glatt und gleichmäßig
zurichten sowie rechteckig behauen; dann wurden sie so dicht
gesetzt, dass kein Bindemittel
oder dergleichen nötig war; so
fest sind die Steine zusammengefügt und verbunden, daß sie
beim Betrachter den Eindruck
erwecken, nicht miteinander
verfugt, sondern verwachsen
zu sein.« (Prokop von Caesarea) Die Via Appia – ein Beleg
römischer
Ingenieurskunst.
Gaeta: Hafen und Stadtpanorama laden
zu einer kontemplativen Pause (oben).
Wirtschaftsgebäude der Abtei Abbazia di Fossanova, die als gotisches Kleinod gilt (unten).
Fuß (4,15 m) maß die Via
Appia einst, wobei auf jeder
Seite noch gute elf Fuß breite
Fußwege hinzukamen. Wo
früher also locker zwei Kampfwagen nebeneinander Platz
hatten, muss der Tourenfahrer
heute auf etlichen Abschnitten
seiner »Passeggiata Archeologica« mit »Schmalspur« vorlieb nehmen.
Zwischen der Villa der Quintilier und dem Mausoleum der
Caecilia Metella, wo die Appia
mitten durch die Ruinen des
früher befestigten Kastells
Castrum Caetani führt, ist für
alle motorgetriebenen Reisewagen und -rösser unserer Tage äußerste Zurückhaltung angesagt. Körperliche Schmerzen bereiten einem die Schläge,
welche das Enduro-Fahrwerk
wegstecken muss, sobald ich es
wage, den zweiten Gang zu
bemühen. Lange genug hat die
Via Appia Antica still gehalten,
sich platt gemacht, sich überrollen lassen: von Roms Legionären, wenn sie in den Krieg
zogen oder von zumeist siegreicher Schlacht heimkehrten.
Von feindlichen Armeen, die
zuweilen die Stadt belagerten.
Von schweren, eisenbeschlagenen Wagenrädern, die Ausrüstung, Handelsgüter und
Rohstoffe transportierten. Von
Ochsen, Eseln und Pferden, die
Fuhrwerke zogen oder stolze
Reiter in die Levante führten.
Diese Straße hat alles gesehen und will nicht mehr. Wer
sich die Mühe macht, abzusteigen und die antike Trasse ein
paar hundert Meter mit Motorradstiefeln zu beschreiten, dem
zeigen ihre stummen Pflastersteine die Spuren römischer
Vergangenheit: den Aufstieg
Roms zur Weltmacht unter
Caesar und Pompejus. Die Bürgerversammlungen auf dem
Forum Romanum und dem Kapitolshügel. Die Besucherströme zu den Wagenrennen und
Gladiatorenkämpfen im Circus
Maximus und im Kolosseum.
Das Blut der Aufständischen,
die sich unter dem verwegenen
Gladiator Spartakus von Capua
aus gegen Rom erhoben und
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von Marcus Grassus grausam
bestraft wurden, indem er 5000
von ihnen an der Via Appia
kreuzigen ließ. Nichts ist der
Straße erspart geblieben: Triumphe und Niederlagen bis
zum allmählichen Verfall eines
Weltreiches in Kriegen, Intri-
gen, Machtkämpfen und Größenwahn. Stumme Steine können Geschichten erzählen ...
Die Nachmittagssonne senkt
sich über dem Kapitolshügel,
und ihre Strahlen werden endlich milde. Wir haben die Enduro zum historischen Zentrum
Der Drususbogen vor der Porta Appia war
einst Teil eines gewaltigen Aquädukts (o.).
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römischen Kulturlebens gelenkt – schön vorsichtig, mit
beherrschter Gashand und stets
Ausschau haltend nach heimtückisch auf dem Asphalt lauernden Drahtstiften ... Die urbane Verlängerung der Via Appia an den Caracalla-Thermen
Castellaneta, die Heimatstadt des HollywoodIdols Rodolfo Valentino aus den 1920ern (u.).
vorbei über die Porta Capena
hinüber zum Circus Maximus
zu Füßen des Palatin gestattet
keinerlei Atemholen: mitschwimmen, nicht anecken,
sich nicht abdrängen lassen.
Auf dem Weg verweigert die
Appia ihr antikes Pflaster, ist
längst abgetragen, überbaut,
überpflastert oder mit Asphalt
übergossen.
Ohne Luigi Canina wären
selbst fantasievolle Zeitgenossen verloren. Nur mit Hilfe der
Stiche, Aufrisse, Rekonstruktionen und Dokumentationen
dieses römischen Antikenkommissars aus dem 19. Jahrhundert entsteht heute für den Reisenden ein stimmiges Bild der
Häuser, Paläste, Thermen und
Arenen am Rande der Appia.
Auf den Stufen von Michelangelos »Cordonata« hinauf
zur Piazza del Campidoglio
lässt sich trefflich recherchieren und rekonstruieren, was
einmal war. Hier oben – auf der
Balustrade der Kapitolstreppen
– bewachen die monumentalen
Skulpturen von Kastor und Pollux den 1. Meilenstein der Via
Appia, eine Art Geburtsurkunde und Zeugnis ihrer einstigen
Größe.
Sozusagen als Ausgleich zur
Linken entdecken wir auch
noch den besonders schönen 7.
Meilenstein auf der Balustrade,
bevor wir uns zu weiterer Veranschaulichung in das RuinenWirrwarr des Forum Romanum begeben. Die Twin muss
draußen bleiben und sich an der
Piazza Venezia mit den Entartungen der Neuzeit vergnügen: brüllender Verkehrslärm
und Roller fahrende Wespenschwärme, die ihr respektlos
um den Tank summen. »Quo
vadis« – wohin nur führen die
Straßen unserer Zeit?
»Hospes resiste!« – Oh
Fremder, verweile! Bis an den
Fuß der Albaner Berge reichen
die Zuckungen römischer Verkehrskrampfadern, doch wir
wollen die Heimat des AppiaPflasters erkunden, das aus
den bis knapp 1000 Meter
aufragenden Albaner Bergen
stammt. Hier wurden sie gebro-
chen, die knallharten Leuzitblöcke, welche gut 1000 Jahre römische Verkehrsgeschichte schrieben. Selbst nach Jahrhunderten der Vernachlässigung und des Zerfalls weisen
sie auf allen wieder entdeckten, freigelegten und restaurierten Teilstücken noch immer
jenen charakteristischen blaugrauen Glanz auf, welcher der
Trasse eine zeitlose Schönheit
verleiht.
In Aríccia darf die Twin endlich den Blinker setzen und in
wildem Kurventwist die steilen
Flanken des Monte Cavo zum
Kastell von Rocca di Papa hinaufstürmen. Wenn Motorräder
seufzen könnten ... Herrliche
Kühle in grünen Laubtunneln
entschädigt reichlich für urbane Stoßstangenschieberei. Bereits zu Appia-Zeiten liebten
Römer die Zuflucht der Albaner Vulkanberge und errichteten weiß schimmernde Traumvillen an den fruchtbaren Hängen dieser grünen Lunge vor
den Toren der Stadt.
Wer ein vorzügliches Gläschen Frascati genießen möchte, dazu göttlich speisen und
Der italienische Frühling schmückt alte Olivenbäume und lockt auf
jedem Quadratmeter zur entspannenden, selbstvergessenen Rast.
KAISER CALIGULA MOCHTE DEN ORT
ER NUTZTE DIE SCHIFFE
FÜR SEINE BESCHEIDENEN BANKETTE
anschließend eine kühle Nacht
verbringen will, dem sei das
schnuckelige Dreisterne-Hotel
»Al Rifugio« am winzigen Nemi-See empfohlen. Schon der
für seine zarte Seele bekannte
Kaiser Caligula schätzte die
Abgeschiedenheit dieses Ortes
und ließ hier zwei luxuriöse
Schiffe verankern, die er für
seine bescheidenen Feste, Bankette und Empfänge nutzte.
Ein römisches Gelage kann
Nemi heute zwar nicht mehr
bieten, aber in seiner romantischen Altstadt wird einem in
der Pizzeria »Lo Specchio di
Diana« Italiens Nationalspeise ausgewalzt auf immerhin
zwei (!) Tellern serviert,
hauchdünn und knusprig und
wunderbar abgeschmeckt mit
Knoblauch und Oregano. »Una
bella giornata – tante grazie,
Via Appia ...«
Zwischen Cisterna di Latina
und Terracina verläuft die
überteerte und von Pinien beschattete Via Appia strategisch
konsequent bolzengerade, aber
unter tourenfahrerischen Aspekten spannungslos. Historisch-kulturell ergiebiger und
mit weitaus mehr Fahrgenuss
verbunden ist eine Wanderung
am Fuße der Monti Lepini. So
fliegt die Twin auf einer traumhaft verlaufenden Kammroute
ins einst gut befestigte Cori,
das die Römer bereits 200 Jahre vor dem Bau der Via Appia
als Brückenkopf für ihre Vorstöße in die fruchtbare und deshalb begehrte Pontinische Ebene nutzten.
Glockengeläute hallt durch
die engen, mit buckligem
Pflaster belegten steilen Gassen des Ortes, dann erliegt die
Twin einer neuen Faszination:
Die Gipfel der Monti Lepini haben sich mit verspielten Cumulus-Wolken geschmückt und
laden zum Tanz. Steil windet
sich eine spektakuläre Kurvenund Kehrentrasse hinauf nach
Norma, dessen Häuser derart
exponiert am Felsrand kleben,
dass man ihnen im wahrsten
Sinne des Wortes «unter den
Rock» schauen kann.
Als letzte Augenweide am
Appia-Rand lockt die sonnen-
vergoldete Fassade der Abtei
von Fossanova, deren riesiges
Rosettenfenster als Musterbeispiel gotisch-zisterziensischer
Architektur gilt und Kenner
zum Zungenschnalzen bringt.
Ein paar Gasstöße weiter öffnet
sich bereits der Hafen von Terracina, Ziel und Endpunkt des
ältesten und bedeutendsten
Abschnitts unseres antiken
Leitfadens. Hier gibt es die drei
wichtigen Ks einer jeden Reise:
Küche, Kultur und Campingplätze. Einen gilt es besonders
zu loben: Drei Kilometer östlich der Stadt macht der »Camping Romantico« seinem Namen alle Ehre.
Spuren verwehen, überwachsen und zerfließen mit dem
Strom der Zeit. »Mors tua, vita
mea« – Dein Tod, mein Leben.
Straßenspuren sind Wegspuren,
die in Vergessenheit geraten,
wenn sie nicht mehr begangen
werden. Über die Jahrhunderte
bekommt die Via Appia durch
veränderte Siedlungsschwerpunkte, Versumpfung der Pontinischen Ebene und den allmählichen Zusammenbruch
der römischen Straßenverwaltung ab dem 5. Jahrhundert
n. Chr. immer größere Zahnlücken und verliert ihre Pflastersteine. Spätestens mit der Besetzung Capuas durch die Langobarden Ende des 6. Jahrhunderts bricht Roms infrastruktu-
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relles Rückgrat zusammen –
seine Konsularstraßen zerfallen und werden funktionsuntüchtig, dienen als Steinbrüche
für andere Bauprojekte und geraten schließlich in Vergessenheit. Wer heute den Asphalt der
historischen Appia-Route un-
ter die Räder nimmt, braucht
scharfe Augen und gute literarische Wegweiser, um auf antike Reste zu stoßen.
Terracina überrascht mit einem solchen Relikt auf der
kleinen, intimen Piazza del
Municipio im Centro Storico
Montescaglioso: Rast an der Porta San
Angela mit weitem Ausblick ins Land (o.).
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seiner Oberstadt. Völlig losgelöst vom Trubel des Hafens
und der weitläufigen Strandpromenade kann man hier oben
einen Spaziergang auf freigelegten Appiasteinen machen,
die das einstige Forum Aemilianum überqueren, und die
Auf dem Monte Corvino liegt die Abtei Abbazia
di Valvisciolo mit dem filigranen Kreuzgang (u.).
wunderschönen Mosaiken des
mittelalterlichen Doms bewundern. Terracinas antikes Pflaster hat schon Tausende von
Touristen-Schuhen gespürt,
manche gehörten berühmten
Trägern: So notierte Dichterfürst Goethe in den Tagebüchern seiner »Italienischen
Reise« nach mühsamer Anfahrt: »Desto erfreulicher und
erwünschter war uns die Felsenlage von Terracina, und
kaum hatten wir uns daran
vergnügt, als wir das Meer
gleich davor erblickten ...«
Auch die XRV ist auf Spurensuche gegangen und hat die
Panoramastraße hinauf zum
Tempel des Iuppiter Anxur entdeckt. Hoch über Terracina
thronen auf dem Gipfel des
Monte S. Angelo weithin sichtbar noch zwölf Pfeilerarkaden
und Reste eines befestigten
Mauerrings, der einst Sullas
Marsch auf Rom aufhalten sollte. Die Twin lässt sich allerdings durch gar nichts aufhalten, sondern genießt hörbar mit
temperamentvollen Gasstößen
die kurvenreiche Anfahrt zum
Bergpanorama.
Noch mehr davon bietet eine
Appia-Tour ins Hinterland
Terracinas. Wie eine Seenlandschaft blinken die ehemaligen
Sümpfe der Stadt in der Mittagshitze. In den steilen Gassen
des Bergdorfes Monte San Biágio meint man die Zeit ticken
zu hören, so still ist es. In saftiges Grün mit bunten Blumenwiesen mündet die kleine Passstraße nach Itri an den Flanken
der Monti Aurunci. Und halt –
da war doch was ...! Rechter
Hand der Bergstraße verläuft
offensichtlich noch eine Trasse, kaum wahrnehmbar, halb
versunken im Grün. Keinerlei
Hinweis auf der 200.000er-Generalkarte, doch eine kleine,
geschotterte Zufahrt am Ende
der Passstraße beseitigt jeden
Zweifel.
Wir haben die archäologischen Reste der Grabungen im
so genannten S.-Andrea-Graben erreicht und können mit der
Enduro endlich wieder über antikes Appia-Pflaster poltern.
DER WEG EXISTIERT NICHT WIRKLICH
DER WEG ENTSTEHT
ERST, WENN MAN IHN
BESCHREITET
Inzwischen allerdings holt sich
die Natur zurück, was Lorenzo
Quilicis vor Jahren freilegte
und kartographisch festhielt.
Die Zwischenräume der lückenhaften Trasse sind mit
Gras und kleinen Büschen verwachsen, und herrlich bunte
Blumenteppiche bereiten ein
erneutes Vergessen vor.
Ein fahrerisches »Schmankerl« sei noch verraten: Wer im
burgbewehrten Itri den kleinen
Abzweig nach Sperlonga findet, wird mit einer Bergtour der
Extraklasse und mit herrlichen
Ausblicken belohnt. Mit seinen
weiß gekalkten Häusern lockt
das auf einem Felssporn thronende Städtchen Sperlonga
zum Gassenbummel, und seine
weißen Strände versprechen
Abkühlung und Entspannung
bei einem Bad im Meer.
Wir beschließen, im Castrum
der alten römischen Kolonie
die Abendsonne zu erwarten.
Die Tempelsäulen an der perfekt erhaltenen Straßendecke
der Via Appia werfen lange
Schatten, und auf den Stufen
des einst 4500 Besucher fassenden Theaters lässt sich mühelos nachvollziehen, wie römisches Stadtleben wohl ausgesehen haben mag. Götterdämmerung live – anschaulich
angerichtet von Jupiter, Juno
und Minerva. Das Glück der
Spurensucher ist – wie so oft –
allerdings von kurzer Dauer.
Am Horizont, von den Bergen
her kommend, zieht Besorgnis
erregend eine schwarze Wetterwand auf. Eine Stunde später lässt Jupiter Blitze zucken
und öffnet die Himmelsschleusen. Die Twin rollt in die Campania ein – pudelnass und etwas
traurig, denn von nun an soll es
immer schwieriger werden, die
Fährte unseres antiken Leitfadens aufzunehmen ...
Selbst Kaiser Traian war es
in Benevento zu feucht, als wir
ihn unter seinem reichlich mit
historischen Szenen verzierten
Triumphbogen zum Interview
baten. Nur kurz und knapp erläuterte er sein Großprojekt einer alternativen Appia-Route,
die als Via Appia Traiana in die
Geschichte einging und mit
Das Amphitheater von Santa Maria Capua Vetere ist
das zweitgrößte in Italien nach dem Kolosseum (oben).
ihren nur 60 Meilensteinen einen wesentlich kürzeren Weg
an die Adria nach Bari ermöglichte. Man ist feucht-verschnupft und empfiehlt sich mit
wehender Tunika. Gegen die
Götter sind selbst Caesaren
machtlos ...
Wir nehmen, was kommt,
und halten die Twin auf Kurs.
Gegen feuchte Witterung helfen nur Bäder, und so statten
wir den Thermen des antiken
Aeclánum gute 15 Meilensteine hinter Benevento einen Besuch ab. Gleich anschließend
zieht die Route dramatisch steil
hinauf auf den Passo di Mirabella. Einer Kammstraße gleich
arbeitet sich die Via Appia ins
normannische Melfi vor. Dort
tauchen erste Sonnenstrahlen
den Vulkanhügel des örtlichen
Kastells in ein pastellfarbenes
Grün. Pardon, Jupiter, wir haben gewonnen!
Die verbleibenden Edelsteine am Wegesrand der Via Appia Antica sind gezählt. Der alte Handels- und Verkehrsknotenpunkt Venosa beherbergt
im nahen Parco Archeologico
gleich mehrere davon: Die Ruinen der Abtei SS. Trinità wecken romantische Gefühle, und
die freigelegten Mosaikböden
der angrenzenden Ausgrabungsstätte aus dem 1. und 2.
Jahrhundert n. Chr. zählen zu
den schönsten Süditaliens. Als
die Twin die Grenze nach Apu-
lien überschreitet, reißt die Sonne immer größere Löcher in
den Regenhimmel und durchflutet unsere Enduro-Jacken
mit einer wohligen Wärme.
Und als die Strahlen der
Nachmittagssonne die zerklüfteten Tuffhöhlen der Felsenstadt Gravina in mildes, crèmefarbenes Licht tauchen, sind
wir mit den Göttern wieder
restlos im Reinen. Die Fensterrosette der staufischen Kathedrale von Altamura legen wir
noch in unser Schatzkästchen,
dann hält die XRV unerbittlich
auf Brindisi zu. Es gilt, der Via
Appia Antica das letzte Geleit
zu geben. Direkt am Hafen findet sich eine Art Epilog für die
Königin der Straßen: zwei Säulen mit kunstvollen Kapitellen,
welche jahrhundertelang das
Ende der ersten römischen
Konsularstraße markierten. Eine von ihnen steht noch heute
und piekst keck in den blauen
Himmel Apuliens.
Mit den Pflastersteinen sind
der Via Appia nun auch die Geschichten ausgegangen. Was
dem Reisenden bleibt, ist der
Blick hinaus aufs Meer – in die
Ferne der Levante. Wir sitzen
noch lange auf der Hafentreppe, schauen den ablegenden
Schiffen zu, träumen und begreifen, was A. Machado meinte, als er schrieb: »Der Weg
existiert nicht, er entsteht erst,
wenn man ihn beschreitet.«
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DOKUMENTATION
Cisterna
Cori
Sezze
A
Priverno
P
Terracina
Fondi
Formia
Minturno
Cascano
I
Capua
Caserta
N
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50 km
Frascati
Velletri
N
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Rom
N
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mit dem Wagen oder dem Boot
reisen konnte. Mit dem Bau der
Via Appia Traiana von Benevento nach Bari verkürzte er die Reise an die Adria um 28 römische
Meilen, was damals einer Tagesreise gleichkam. Die militärischen Niederlagen Roms gegen
die Langobarden im 6. Jh. n.
Chr. und der daraufhin einsetzende Zusammenbruch der römischen Straßenverwaltung leiteten
den endgültigen Niedergang der
Via Appia ein. Mit dem Untergang des weströmischen Reiches
verglühte auch der Stern der
»Regina viarum« – der wahren
Königin aller Straßen.
E
Allgemeines: Gegen Ende des
4. Jhs. v. Chr. begann von Rom
aus die Eroberung und Kolonisierung Süditaliens, zeitgleich
startete der römische Zensor
Appius Claudius das wohl nachhaltigste Straßenbauprogramm
der Antike. So führte er die Via
Appia vom Forum Romanum
ausgehend zunächst über die
Stadtgrenzen Roms hinaus in die
Albaner Berge. Von dort aus
schnurgerade durch die Pontinische Ebene in den Hafen der
Kolonie Terracina. Dann eine
Weile entlang der Küste, bis die
Appia mit Minturnae das Tor zur
römischen Kolonie Campania
erreichte. Nach dem 2. Samnitischen Krieg (326-304 v. Chr.)
konnte die militärische »Schnellstraße« bis nach Capua ausgebaut werden, das Rom lange den
Weg in den Süden versperrt
hatte. Mit jeder weiteren militärischen Eroberung Roms verlängerte sich auch die Via Appia
Antica. Über Benevento und
Venosa durchquerte sie alsbald
die Region Apulien und erreichte
mit Tarent und Brindisi zwei
militärisch wichtige Brückenköpfe an der Adriaküste. Von
hier aus erschloss sich den
Römern der Seeweg nach Griechenland und in die Levante. Die
Eroberung des Ostens konnte
beginnen.
Mit dem Ausbau bis Brindisi
191 v. Chr. erreichte die Via
Appia Antica eine Gesamtlänge
von stolzen 364 römischen Meilen, was etwa 540 Kilometern
entspricht. Eine exakte Vermessung und Markierung durch
Meilensteine sowie eine verlässliche Pflege und Instandhaltung
durch in Sektoren aufgeteilte
antike »Straßenbauämter« trugen
dazu bei, die Trasse bis ins 6. Jh.
hinein als bedeutendste römische
Handels- und Militärstraße zu
erhalten. Straßenstrategisch geradezu revolutionär dachte der
römische Kaiser Traian, der zwischen 98 und 112 n. Chr. Änderungen an der Streckenführung
vornahm. So baute er zwischen
Forum Appii und Terracina auf
einer Länge von 19 Meilen einen
parallel zur Straße verlaufenden
schiffbaren Kanal, so dass man
DIE DETAILS MACHEN DEN UNTERSCHIED
VIA APPIA
Benevento
Montemiletto
Mirabella
Rionero
inVulture
Rocchetto
Scalo
Melfi
Venosa
Gravina in
Pùglia
Matera
Montescalioso
Altamura
Laterza
Castellaneta
Massafra
Tarent
N
Reiseregionen: Die Via Appia Antica führt durch die italienischen Regionen Latium, Kampanien, Basilikata und Apulien.
Die deutlichsten Spuren und die
am besten erhaltenen Abschnitte
der Appia finden sich noch im
Stadtgebiet Roms und wurden
nach Jahrhunderten der Verwahrlosung endlich durch die Schaffung eines Parco Regional dell´
Appia Antica vor weiterer Zerstörung geschützt. Außerhalb
Roms ist Latium noch weitgehend touristisches Brachland.
Die Mittelmeerküste der Region
ist flach und bietet mit der
fruchtbaren Pontinischen Ebene
einen Gegensatz zu den vulkanisch geprägten Gebirgen des
Hinterlandes, den Albaner
Bergen sowie den Monti Lepini
und Aurunci. Am Wegesrand der
Via Appia liegen antike kulturelle Zentren wie Cori, Norba, Ninfa, Terracina und Minturnae, die
erst kurz vor dem Bau der Appia
kolonisiert wurden.
Mit Kampanien beginnt der
Mezzogiorno Italiens. Die bemerkenswertesten Appia-Spuren
und Beweise römischer Blüte
finden sich im kampanischen
Hinterland bei Benevento und im
Amphitheater Santa Maria Capua
Vetere, wo man bereits den
Sog der Millionenstadt Neapel
spürt. Eine Fahrt durch die entlegene und dünn besiedelte Gebirgslandschaft des Appennino
Campano zwischen den Thermen
von Aeclánum und dem Stauferkastell von Melfi zählt zu den
eindrücklichsten Abschnitten
dieser Reise.
Hier schneidet die Via Appia
den nördlichen Teil der Basilikata, einer wenig bekannten
Region Italiens mit ursprünglicher Naturlandschaft. Lohnend
ist ein Abstecher in den Nationalpark um den Monte Vulture.
Die Tuffsteinhöhlen der
Felsenstadt Gravina sind das
Eingangstor der Via Appia zur
Region Apulien. Die Gebirge
ebnen sich zu einer weit und
sanft geschwungenen Flach- und
Hügellandschaft.
Latiano
Brindisi
Klima und Reisezeit: Da
große Abschnitte der Via Appia
im Mezzogiorno Italiens liegen,
empfehlen sich vor allem das
Frühjahr sowie der Früh- und
Spätsommer mit motorradgerechten Reisetemperaturen.
Anreise: Alle Wege führen
bekanntlich nach Rom, doch für
Tourenfahrer aus Germanien
führt der Weg am einfachsten
über die bekannten Alpenverbindungen Gotthard-, St. Bernadino- und Brennerpass, je nach
Startpunkt in Deutschland.
Unterkunft: Entlang der Reiseroute findet man Hotels und
Pensionen in ausreichender
Menge, allerdings nur wenige
Campingplätze. Vor allem in den
Albaner Bergen, die sich als
Ausgangspunkt für Rom-Exkursionen anbieten, und in den dünn
besiedelten Gebieten Kampaniens und der Basilikata gibt es
kaum Plätze. Empfehlungen:
Hotel Monte Artemisio, Via
dei Laghi, 00040 Nemi-Velletri,
Tel. 06/9634206 und 06/9631330,
[email protected].
Hotel Al Rifugio, Via Nemorense 30, 00040 Nemi-Roma,
Tel. 06/93659026,
[email protected].
Camping Villaggio Romantico,
Via Flacca, 04019 Terracina,
Tel. 0773/727620, [email protected].
Camping Parco Naturale Europa, Lago Grande di Monticchio,
Tel. 0972/731008/716287,
[email protected].
Literatur und Karten: Ivana
Della Portella (Hrsg.), »Via Appia«; Konrad Theiss Vlg, 38 Euro.
DuMont »Italien – Der Süden«;
DuMont Reiseverlag, 22,50 Euro.
Spirallo Reiseführer »Rom«,
Falk Verlag, 4,95 Euro.
Merian »Rom«, Hoffmann &
Campe.
ADAC Spezial »Rom«,
ADAC Verlag.
HB Bildatlas »Rom«, HB Verlagsgesellschaft.
Generalkarten »Latium
(Extra 9)«, »Apulien (Extra 11)«,
»Campania – Basilikata (Extra
12)«; Maßstab 1:200.000; Mairs
Geographischer Verlag; je 7,50
Euro (sehr detailgenau).
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