WANN GILT DER ARBEITSMARKT ALS SOZIAL GERECHT? Der

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WANN GILT DER ARBEITSMARKT ALS SOZIAL GERECHT? Der
WANN GILT DER ARBEITSMARKT ALS SOZIAL GERECHT?
Der Einfluss des Unternehmenskontexts auf die Akzeptanz
ertragsabhängiger Entlohnung
Holger Lengfeld und Alexandra Krause
Zusammenfassung: Im Zuge der Dezentralisierung der Tarifpolitik und der Ausweitung ertragsabhängiger Lohnkomponenten hat die Marktlage eines Unternehmens für die Entlohnungspraxis an
Bedeutung gewonnen. Damit tritt ein neues Prinzip der Lohnfindung in den Vordergrund: das
Prinzip der Marktgerechtigkeit. Ihm zufolge hängen Löhne und Gehälter von der Marktsituation
des jeweiligen Unternehmens ab und nicht davon, welche individuellen Anstrengungen am Arbeitsplatz erbracht wurden. Fraglich ist, ob dieses Prinzip auch von den Beschäftigten als gerecht
angesehen wird. Anhand von machttheoretischen Überlegungen und Befunden der Umfrageforschung wird gezeigt, dass sich Beschäftigte erstens dann stärker für lohnbezogene Marktgerechtigkeit aussprechen, wenn in ihrem Unternehmen ein durchsetzungsstarker Betriebsrat existiert. Ursächlich dafür ist, dass ein starker Betriebsrat am ehesten imstande ist, die Ermittlung des unternehmerischen Markterfolgs und die daraus folgenden Verteilungsprozesse zu kontrollieren. Zweitens stimmen die Beschäftigten dem Prinzip der Marktgerechtigkeit zu, wenn sie sich in der Vergangenheit durch das Management fair behandelt fühlten. Unter diesen Umständen vertrauen sie
darauf, zukünftig auch bei einer größeren Abhängigkeit der Entlohnung vom Markterfolg des Unternehmens gerecht behandelt zu werden. Empirische Basis dieser Untersuchung sind Umfragedaten aus einer in 20 deutschen Metallunternehmen durchgeführten standardisierten Beschäftigtenbefragung.
I. Einleitung
Dieser Aufsatz geht der Frage nach, unter welchen Bedingungen Beschäftigte die
Kopplung des eigenen Lohns an die Marktlage ihres Unternehmens für sozial gerecht
halten. Vor rund 20 Jahren wäre diese Frage wahrscheinlich auf verbreitetes Unverständnis gestoßen. Unter den Bedingungen eines weithin funktionierenden deutschen
Tarifvertragsystems schienen die Begriffe „Markt“ und „Gerechtigkeit“ einander geradezu auszuschließen. Denn nicht der Markt, sondern die Gewerkschaften galten als Garanten der Herstellung sozialer Gerechtigkeit (Metcalf et al. 2000; Nollmann und
Strasser 2003; Voos 1997). Die durch den Markt produzierten Ungleichheiten in der
Einkommensverteilung wurden durch die Gewerkschaften korrigiert, indem sie tendenziell egalitäre Einkommensanhebungen innerhalb eines Industriesektors durchsetzten
(Traxler 2003). Zugespitzt formuliert, könnte man sagen: Märkte produzierten Effizienz, Gewerkschaften dagegen (Entlohnungs-)Gerechtigkeit.
Doch was genau bedeutete Gerechtigkeit im überkommenen Tarifvertragsystem?
Die bisherigen Tarifbeziehungen fußten auf verschiedenen Varianten zweier grundleKölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 58, Heft 1, 2006, S. 98–116.
Wann gilt der Arbeitsmarkt als sozial gerecht?
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gender Verteilungsprinzipien: des Leistungs- und des Gleichheitsprinzips (Lengfeld
2004). Diese galten als gerecht, weil sie von beiden Konfliktparteien lange Zeit als unhinterfragte moralische Basis des Verteilungskampfes anerkannt wurden. Auch dann,
wenn sich die Verhandlungspartner ohne externe Hilfe (v.a. Schlichtung) zu keiner Einigung durchringen mochten, waren dem Verhandlungsverhalten Grenzen des moralisch Erträglichen gesetzt, die selten überschritten wurden. Daran lässt sich auch ablesen, dass die Legitimität des Tarifvertrags nicht allein auf seiner Eigenschaft als
„Second Best“-Option der Nutzenmaximierung beruhte, sondern maßgeblich Folge der
Überschneidung wechselseitiger Gerechtigkeitsansprüche war.
Nun ist das deutsche Tarifvertragsystem seit einiger Zeit im Wandel begriffen (vgl.
Streeck 1997). Auf der einen Seite weichen Kollektivvereinbarungen, die für eine breite
Masse an Unternehmen und Beschäftigten verbindlich sind, in zunehmendem Maße
einzelbetrieblich abgeschlossenen Vereinbarungen, durch Öffnungsklauseln ermöglichten Tarifabweichungen und von den Belegschaften teilweise mitgetragenen offenen Tarifbrüchen (vgl. Kohaut und Schnabel 2003; Rehder 2003; Schmidt et al. 2003;
Streeck und Rehder 2003). Auf der anderen Seite ist eine zunehmende Diskussion um
die Relevanz und mögliche Ausweitung ertragsabhängiger Lohnkomponenten zu beobachten (vgl. Backes-Gellner et al. 2002; Wagner et al. 2004). In der Konsequenz bewirken beide Trends eine stärkere Kopplung des Lohns an die jeweilige Marktlage eines
Unternehmens.
Beide Trends sind seit geraumer Zeit bekannt. Weniger bekannt scheint, dass sie
beträchtliche Konsequenzen für die Legitimität der betrieblichen Lohnfindung in sich
bergen. Denn mit der Verschiebung der Verhandlungskompetenz von der Fläche auf
das einzelne Unternehmen ändert sich auch der Maßstab der Verteilungspolitik. Das
Tarifsystem gerät zunehmend unter Druck einer Verteilungsregel, die man als Prinzip
erfolgsabhängiger Vergütung, oder prägnanter, als Prinzip der Marktgerechtigkeit bezeichnen kann: Derjenige Beschäftigte soll am meisten verdienen, dessen Unternehmen
die höchsten Erträge am Markt erzielt. Aus dieser Perspektive ist der Markt Garant eines gerechten Wettbewerbs um wirtschaftlichen Erfolg, und die Teilhabe der Beschäftigten am unternehmerischen Marktrisiko ist legitime Grundlage der Lohnfindung.
Zwar war die Bezahlung in Abhängigkeit vom Markterfolg auch in der bisherigen Entlohnungspraxis keine unbekannte Größe. In dem Maße jedoch, wie das Prinzip erfolgsbezogener Entlohnung in die Kernbereiche der Lohnfindung eindringt, steht damit
auch der Kern der tradierten Vorstellung einer gerechten Entlohnungspraxis zur Disposition: die Korrektur freier Marktlöhne durch tariflich ausgehandelte Entgeltsysteme.
In diesem Beitrag gehen wir der Frage nach, unter welchen Bedingungen die Beschäftigten den Markt als sozial gerechte Institution der Lohnfindung akzeptieren. Um
diese Frage zu beantworten, bedienen wir uns des Instrumentariums der einstellungsanalytischen Gerechtigkeitsforschung. Ihr zufolge sind Präferenzen für Gerechtigkeitsprinzipien keine universalistischen Grundsätze, sondern sie variieren mit den Kontextbedingungen, unter denen Verteilungsprozesse stehen (vgl. statt anderer Deutsch 1975;
Wegener und Liebig 1993). Diesen Befund aufgreifend, folgen wir dem Popperschen
Diktum der Situationslogik und begeben uns auf die Suche nach den strukturellen Bedingungen der individuellen moralischen Akzeptanz einer erfolgsabhängigen Entlohnung.
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Wir gehen davon aus, dass die einzelne Arbeitsorganisation den entscheidenden
Kontext darstellt, in dem die Beschäftigten ihre Präferenz für oder gegen das Prinzip
der Marktgerechtigkeit entwickeln. Das zentrale Kriterium der Festlegung einer von
der Marktlage des Unternehmens abhängigen Entlohnung ist die Definition der aktuellen Marktlage. Das Management verfügt dabei über einen Informationsvorsprung. Unsere These lautet daher, dass zwei in der Struktur der betrieblichen Arbeitsbeziehungen
verankerte Bedingungen für die Akzeptanz erfolgsabhängiger Vergütung durch die Beschäftigten von zentraler Bedeutung sind. Beschäftigte halten das Marktprinzip dann
für gerecht,
– wenn sie über einen Betriebsrat verfügen, der in der Lage ist, die Definition des
Markterfolgs und die daraus resultierenden lohnpolitischen Entscheidungen des Managements effektiv zu kontrollieren.
– wenn sie das frühere arbeitspolitische Verhalten des Managements als gerecht bewerten und darauf vertrauen, dass es seinen Informationsvorsprung bei der Definition
des Markterfolgs nicht zum einseitigen Vorteil gebraucht.
Um diese Thesen plausibel zu machen, gehen wir in drei Schritten vor. Im zweiten Abschnitt beschreiben wir zunächst den Begriff der Marktgerechtigkeit in der Lohnfindung. Anschließend diskutieren wir auf Grundlage machttheoretischer Überlegungen,
wie die Fairness des Managementverhaltens und die Durchsetzungsstärke des Betriebsrats Präferenzen für Marktgerechtigkeit beeinflussen können. Es werden vier Hypothesen abgeleitet, die anschließend im dritten und vierten Abschnitt einer empirischen
Überprüfung unterzogen werden. Den Analysen liegen Daten aus einer Beschäftigtenbefragung zugrunde, die 1999 in 20 Unternehmen der westdeutschen Metallindustrie
durchgeführt wurde. Der abschließende fünfte Abschnitt fasst die Befunde zusammen,
setzt sich mit einigen methodischen Schwierigkeiten auseinander und diskutiert die
Konsequenzen der empirischen Ergebnisse für die Akteure der Tarifpolitik.
II. Marktgerechtigkeit im Unternehmenskontext
1. Erfolgsabhängige Entlohnung und das Prinzip der Marktgerechtigkeit
Wir beginnen mit einer Definition unserer zentralen Begriffe. Als „Marktprinzip“ bezeichnen wir ein Verteilungsprinzip, das die Höhe der Vergütung des Kooperationsertrags zwischen Eigentümer und Beschäftigtenseite von der erwarteten Ertragslage des
einzelnen Unternehmens abhängig macht. Da der Ertrag eine Funktion des erzielten
monetären Erfolgs abzüglich der erbrachten Aufwendungen ist, nimmt das Prinzip der
erfolgsabhängigen Vergütung zugleich Bezug auf die erwartete Lage auf dem Absatzmarkt sowie den Beschaffungsmärkten für Güter und für Arbeitskräfte. Das Kriterium
des wirtschaftlichen Erfolgs schließt daher auch den Fall eines Absatzeinbruchs ein.
Während der Lohn bei schlechter wirtschaftlicher Lage sinkt, steigt er wieder an, wenn
sich das Unternehmen wirtschaftlich erholt. Lohnanpassungen an den wirtschaftlichen
Erfolg des Unternehmens sind also der Sache nach temporär.
Doch wie wird aus dem Marktprinzip eine Gerechtigkeitsnorm? Die Antwort lautet
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schlicht: Wenn es die Menschen als gerecht ansehen.1 Genauer gesagt, gilt das Marktprinzip dann als Gerechtigkeitsnorm, wenn knappe Güter dem zukommen sollen, „der
die Nachfrage effektiv und rentabel erfüllt – unabhängig von den eingebrachten Ressourcen, Bemühungen und erreichten Produktqualitäten“ (Voswinkel 2005: 289; vgl.
auch Berger 2003 sowie Lane 1986). Individuelle Leistung und realisierter Erfolg sind
also weitgehend entkoppelt: Nicht die eigenen Anstrengungen, sondern die durch den
Markt bewerteten Anstrengungen des Kooperationsverbunds Unternehmen entscheiden
über die Höhe der Vergütung.
Damit unterscheidet sich das Marktprinzip grundlegend vom individuellen Leistungsprinzip (Voswinkel 2005). Während dem Markt die Vorstellung der Maximierung
von Erträgen zugrunde liegt, basiert das Prinzip der individuellen Leistung auf der Idee
der Reziprozität (Neckel 2001). Denn dem Leistungsprinzip kommt „immer auch eine
Entschädigungsfunktion für den spezifischen Aufwand zu, der mit einem wirtschaftlichen Ergebnis verbunden war, was die wechselseitigen Ansprüche von Leistungen und
Gegenleistungen begründet“ (Neckel 2001: 260). Genau davon aber muss das Marktprinzip zwingend absehen. Denn würde es die individuellen Aufwendungen mitberücksichtigen, wäre der zentrale Mechanismus der Preisbildung außer Kraft gesetzt, und
man wäre wieder da, wo die moderne Ökonomie ihren Ausgangspunkt genommen hat:
bei einer Tauschwirtschaft, die ihre Allokationsfunktion zugunsten des Tausches gleicher Arbeitswerte eingebüßt hätte.
Ohne Zweifel haben die Beschäftigten auch innerhalb der bisherigen Aushandlungspraxis um Vergütungstarifverträge am Anstieg des wirtschaftlichen Leistungspotentials der jeweiligen Branche partizipiert. Da dieser Leistungszuwachs sowohl aus der
gestiegenen Motivation und Leistung der Beschäftigten als auch aus erfolgreichen Investitionen in technisch-organisatorische Reorganisationen und aus den Marktstrategien
des Unternehmens resultierte, galt auch hier der Markterfolg als Bestimmungsgröße tariflicher Lohnfindung. Und auch hier ging es um Gerechtigkeit, allerdings unter anderen Vorzeichen: Denn im Mittelpunkt der tariflichen Auseinandersetzung stand die gerechte Verteilung der kollektiven Leistungsanteile von Kapital und Arbeit (Kollektivleistungsprinzip; vgl. Lengfeld 2004). Die Orientierung an der im Durchschnitt eines Industriesektors erzielten Leistungssteigerung hatte darüber hinaus eine angleichende
Wirkung auf Löhne und Gehälter, was Ausdruck der Anwendung des Gleichheitsprinzips war.
Wird dagegen der Erfolg des eigenen Unternehmens innerhalb einer Branche zur
zentralen Bestimmungsgröße der individuellen Entlohnung, so wird die Lohnfindung
direkt an das Marktprinzip gekoppelt. Der entscheidende Unterschied zur Teilhabe am
Leistungszuwachs einer Branche ist, dass die Beschäftigten nunmehr einen Teil des unternehmerischen Marktrisikos direkt übernehmen.
Das Marktprinzip unterscheidet sich jedoch nicht nur von den im deutschen Tarif1 Dies bedeutet, dass Gerechtigkeit nicht von vornherein an bestimmte substantielle Prinzipien
gekoppelt ist – etwa im Sinne der Gleichsetzung von Gleichheit und Gerechtigkeit. Dementsprechend kann es aus Sicht der Befragten auch eine Forderung der Gerechtigkeit sein, Güter
oder Lasten möglichst ungleich zwischen Personen zu verteilen, sei es, weil diese unterschiedlich
viel geleistet haben oder weil die Befragten der Ansicht sind, dass bestimmte askriptive Merkmale von Personen zu einer besseren Güterausstattung berechtigen.
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system verankerten Gerechtigkeitsprinzipien, es setzt sie zugleich auch unter Druck. So
verliert der überbetrieblich vereinbarte Sockellohn an Bedeutung, wodurch die Einkommensungleichheit zwischen Beschäftigten derselben Lohn- oder Gehaltsgruppe tendenziell steigt. Ein neues Zurechenbarkeitsproblem entsteht zudem darüber, dass der
Anteil der individuellen Leistung am Kollektivergebnis umso weniger eindeutig bestimmt werden kann, je größer das Unternehmen ist. Die Bedeutung der individuellen
Leistung für eine gerechte Entlohnung wird dadurch in Frage gestellt.
Damit stellt sich die Frage nach der Legitimität dieses Wandels auf der Ebene der
Beschäftigten in den betroffenen Unternehmen. Bewerten sie den verteilungspolitischen
Strukturwandel weg vom Gleichheits- und Leistungsprinzip hin zum Marktprinzip als
gerecht? Dass die Beschäftigten für das Marktprinzip plädieren, ist zunächst deshalb
unwahrscheinlich, weil es ihnen ein deutlich höheres Einkommensrisiko aufbürdet. Darüber hinaus könnte es normative Erwartungen verletzen, die sich auf der Grundlage
des tradierten Entlohnungssystems entwickelt haben. Die Theorie impliziter („psychologischer“) Verträge geht davon aus, dass zwischen Unternehmen und Beschäftigten
über die formellen Vertragsbedingungen hinaus bestimmte implizite Reziprozitätserwartungen bestehen (vgl. Rousseau 1995; Herriot et al. 1997). Massive Änderungen des
Arbeitsverhältnisses wie die Implementierung des Marktprinzips können den Reziprozitätserwartungen der Beschäftigten an die durch den Arbeitgeber garantierte Einkommensstabilität daher zuwiderlaufen und in der Konsequenz als ungerecht wahrgenommen werden.
Global betrachtet, spricht also nicht allzu viel für starke Präferenzen für das Prinzip
der Marktgerechtigkeit. Wir meinen jedoch, dass es diese Präferenzen durchaus gibt.
Warum dies so ist und welche Ursachen dafür verantwortlich sind, zeigt sich im nächsten Abschnitt, in dem wir den betrieblichen Kontext der Einstellungsbildung ins Spiel
bringen.
2. Markt, Information und Macht
Märkte sind, wie allgemein bekannt, selbst für das Management recht undurchsichtige
Veranstaltungen. Informationen über die aktuelle Lage des Unternehmens auf den zentralen Absatz- und Beschaffungsmärkten sind häufig unvollständig sowie zeitverzögert,
und sie variieren je nach eingesetztem Messinstrumentarium. Was für das Management
gilt, trifft für den einzelnen Beschäftigten in besonderem Maße zu. Im Gegensatz zum
manageriellen Experten verfügen weder die Produktionsarbeiterin noch der Sachbearbeiter über autonome Beschaffungswege für Informationen über den Markterfolg des
Unternehmens. Die ihnen zugänglichen Informationen sind in der Regel bereits vom
Management erhoben, ausgewertet und aufbereitet worden.
Damit verfügt das Management über die Definitionsmacht dessen, was Erfolg am
Markt ausmacht. Man kann es das umgekehrte Principal Agent-Problem nennen, mit
dem die Arbeiterinnen und Arbeiter konfrontiert sind. Bekanntlich beschäftigt sich die
Principal Agent-Theorie mit den Kosten der Steuerung des Verhaltens eines Agenten
(etwa ein angestellter Manager bzw. ausführender Beschäftigter) durch den Prinzipal
(Eigentümer) unter der Bedingung latenter oder manifester Interessendivergenz (vgl.
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zum Überblick Ebers und Gotsch 1999: 209ff.). Kern des Steuerungsproblems sind
ungleich verteilte Informationen (Jensen und Meckling 1976). Da der Prinzipal in der
Regel nur Informationen über die Ergebnisse der Anstrengungen seines Agenten, nicht
aber über den vollständigen Leistungsprozess erhält, hat der Agent die Möglichkeit zur
verdeckten Leistungszurückhaltung (Shirking). Im Zentrum der Principal Agent-Theorie steht daher die Suche nach institutionellen, d.h. vertraglichen wie organisationsstrukturellen Arrangements, die dazu geeignet sein können, das Risiko des Shirking zu
minimieren (Eisenhardt 1985, 1989).
Im Lichte des Marktprinzips betrachtet, stellt sich das Shirking-Problem spiegelbildlich dar. In diesem Fall hat das Management das Monopol, Informationen über den
Markterfolg zu erheben. Da die Bestimmung des Markterfolgs entscheidend von den
gewählten betriebswirtschaftlichen Parametern abhängt, ist das Management in der
Lage, die erfolgsabhängigen variablen Bestandteile des Beschäftigtenentgelts zu manipulieren. Dabei muss man nicht in jedem Fall böse Absicht unterstellen. Denn je nachdem, ob z.B. Umsatz-, Kapitalrentabilität oder Cash-Flow-Maße zur Bestimmung herangezogen werden, variiert auch das errechnete Marktergebnis. Die Interpretation dieser Erfolgsparameter setzt zudem betriebswirtschaftliche Kenntnisse voraus, die bei ausführenden Beschäftigten wie bei gewerkschaftlichen Interessenvertretern vergleichsweise
geringer ausgeprägt sind.
Asymmetrien in der Informationsgewinnung über den Markterfolg stellen somit
potentielle Machtasymmetrien in der Festlegung erfolgsbezogener Lohnkomponenten
und letztlich auch in der Verteilung des Kooperationsertrags zwischen Beschäftigten
und Unternehmen dar. Damit ist noch nichts darüber gesagt, in welcher Weise das
Management diese Machtressource faktisch nutzt. Wie jüngere Studien der deutschen
Industrial Relations-Forschung zeigen, können die soziokulturellen Muster des Managementhandelns zwischen Unternehmen erheblich variieren (z.B. Bosch et al. 1999; Kotthoff und Reindl 1990). Einige Geschäftsleitungen setzen auf expressive Kontrolle des
Arbeitsprozesses und auf Strategien zur Senkung des Effektivlohns. In anderen Unternehmen findet man dagegen weitgehende verantwortliche Autonomie am Arbeitsplatz
und zum Teil einen ausgeprägten Konsens zwischen Management und ausführenden
Beschäftigten über die geltenden Lohn-Leistungs-Normen vor.
3. Gegenmacht und Vertrauen
Welche Auswirkungen wird diese Variabilität in der Bestimmung des Markterfolgs auf
Präferenzen für oder gegen das Prinzip der Marktgerechtigkeit nach sich ziehen? Unsere
These ist, dass sich je nachdem, wie das Management seine Macht für lohnpolitische
Zwecke einsetzt, andere Bedingungen für die Kopplung des eigenen Lohns an den Erfolg des Unternehmens als Gerechtigkeitsprinzip ergeben. Wir unterscheiden dabei
zwei Bedingungen: 1. die Mobilisierung von Gegenmacht durch den Betriebsrat, und
2. das Vertrauen, vom Management bei der Bestimmung des Markterfolgs gerecht behandelt zu werden.
Die erste Bedingung besteht darin, dass die Beschäftigten über autonome Machtressourcen verfügen, mittels derer eine einseitige Abwälzung marktbedingter Nachteile auf
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die Beschäftigtenseite verhindert werden kann. Eine dieser Ressourcen ist die Mitbestimmung des Betriebsrats. Denn insbesondere bei der Festlegung betrieblicher Entlohnungsgrundsätze, bei Entscheidungen über Vergaberegeln von Leistungsprämien und
bei der Bestimmung von Arbeitsbewertungsverfahren verfügen Betriebsräte über umfangreiche Mitbestimmungsrechte (§ 87, Abs. 1 Nr. 10 und 11 BetrVG).
Wie man jedoch weiß, fällt die Durchsetzungsfähigkeit eines Betriebsrats seiner jeweiligen Geschäftsleitung gegenüber je nach Unternehmen unterschiedlich hoch aus
(vgl. Kotthoff 1994; Lengfeld 2003). Da durchsetzungsschwache Betriebsräte keine
wirksame Machtressource darstellen, ist nur unter der Bedingung einer durchsetzungsstarken Interessenvertretung zu erwarten, dass sich die Beschäftigten für das Prinzip der
Marktgerechtigkeit aussprechen werden. Denn je durchsetzungsstärker der Betriebsrat
ist, desto effektiver kann er in Verhandlungen mit dem Management darüber wachen,
dass die negativen Folgen der Kopplung von Marktlage und Entlohnung nicht einseitig
zu Lasten der Beschäftigten gehen.
Die zweite Bedingung verweist auf die Bedeutung des Vertrauens der Beschäftigten
darin, dass das Management seine Machtposition nicht zum einseitigen Vorteil der Kapitalseite missbraucht. Die Ursachen dieses Vertrauens sind ohne Zweifel vielfältig (vgl.
zum Überblick Dirks und Ferrin 2001, 2002; Saunders und Thornhill 2003). Einer
der maßgeblichen Gründe scheint jedoch darin zu liegen, dass die Beschäftigten das
Unternehmen als gemeinsames soziales Projekt ansehen, für das über den jeweils eigenen nutzenmaximierenden Zweck hinaus Beiträge zum Wohle des gemeinsamen Fortbestands zu erbringen sind. Damit diese Norm Bestand haben kann, müssen die Beschäftigten die arbeitspolitischen Managemententscheidungen in der Vergangenheit
auch als gerecht bewertet haben. Ist dies der Fall, so werden sie darauf vertrauen, dass
die negativen Folgen der Kopplung des Lohns an die Marktlage des Unternehmens auf
den Absatz- und Beschaffungsmärkten nicht zu ihrem alleinigen Nachteil ist, sondern
von beiden Seiten gemeinschaftlich getragen wird.
Damit können wir unsere Argumentation in zwei Hypothesen zusammenfassen:
H1: Je größer der Einfluss des Betriebsrats auf die arbeitspolitischen Entscheidungen
des Managements ist, desto stärker votieren die Beschäftigten für das Marktprinzip als Kriterium einer gerechten Lohnfindung.
H2: Je gerechter die Beschäftigten das bisherige arbeitspolitische Verhalten des Managements bewerten, desto stärker sprechen sie sich für Marktgerechtigkeit als Kriterium der Lohnfindung aus.
Darüber hinaus sind zwei Interaktionen zwischen den beiden Prädiktoren denkbar. Die
erste Interaktion könnte man als funktionalen Antagonismus bezeichnen. Ihr zufolge
sind die wahrgenommene Gerechtigkeit des Managements und ein starker Betriebsrat
einander ausschließende Determinanten von lohnbezogener Marktgerechtigkeit. Dieser
funktionale Antagonismus ist dann plausibel, wenn ein hoher Grad an wahrgenommener Managementfairness im Unternehmen die Notwendigkeit eines starken Betriebsrats
aus Sicht der Beschäftigten tendenziell ersetzt. In diesem Fall dürfte die Stärke des Betriebsrats ihren signifikanten Einfluss auf die Präferenz für das Marktprinzip verlieren,
wenn zugleich der Einfluss von Managementfairness kontrolliert wird. Ob dem so ist,
lässt sich nur empirisch klären. Daher lautet unsere dritte Hypothese:
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H3: Je gerechter die Beschäftigten das bisherige arbeitspolitische Verhalten des Managements bewerten, desto geringer ist der Effekt der Betriebsratsstärke auf die
Einstellung zur Marktgerechtigkeit.
Eine zweite denkbare Interaktion ist die der wechselseitigen Verstärkung. Die hier zugrunde liegende Annahme ist: Wenn sowohl das Management als fair als auch der Betriebsrat als stark wahrgenommen werden, erhöht sich für den einzelnen Beschäftigten
die Wahrscheinlichkeit, dass er bei der Ermittlung einer vom unternehmerischen
Markterfolg abhängigen Entlohnung nicht benachteiligt wird. Technisch gesprochen,
verstärken sich dann beide Prädiktoren in ihrer Wirkung auf die Einstellung zur
Marktgerechtigkeit. Diesen Zusammenhang formuliert die vierte Hypothese:
H4: Werden sowohl der Betriebsrat als stark als auch das Management als fair wahrgenommen, so erhöht sich die Präferenz für das Prinzip der Marktgerechtigkeit.
III. Daten, Methode und Variablen
1. Daten
Die verwendeten Daten stammen aus einer standardisierten Beschäftigtenbefragung,
die 1999 in 21 tarifgebundenen Unternehmen der Metallindustrie durchgeführt wurde
(vgl. ausführlich Lengfeld und Liebig 2001). Die Unternehmen befanden sich in zwei
traditionellen Industrieregionen im Westen und Südwesten Deutschlands und hatten
zwei Jahre vor Erhebungszeitpunkt mindestens in einer Produktions- oder Montageeinheit teilautonome Gruppenarbeit eingeführt. Die Auswahl der Unternehmen geschah
über ein Screening im Januar 1999, bei dem 4.010 Unternehmen über telefonische
Kurzinterviews zur Einführung von Gruppenarbeit befragt wurden. Aus diesem Pool
wurden 250 Unternehmen mit mehr als 100 Beschäftigten nach dem Kriterium der
Gruppenarbeitseinführung und weiterer Selektionsmerkmale ausgewählt und erneut telefonisch kontaktiert. Davon erklärten sich 21 Unternehmen zur Teilnahme an der Beschäftigtenbefragung bereit.
In jedem dieser Unternehmen wurde mit einem Vertreter der Geschäftsleitung ein
leitfadengestütztes Experteninterview geführt. Weiterhin wurden betriebsstatistische
Merkmale mithilfe eines standardisierten Betriebsfragebogens erhoben. Kern der Untersuchung war die Befragung der von der Gruppenarbeitseinführung unmittelbar betroffenen Arbeiterinnen und Arbeiter einer Abteilung sowie deren unmittelbare Vorgesetzten.2 Außerdem wurden Vertreter des Betriebsrats und des oberen Managements be-
2 Im Rahmen der Akquise stellte sich heraus, dass zum Untersuchungszeitpunkt Gruppenarbeit
in den meisten Unternehmen nicht flächendeckend in Produktion und Montage, sondern lediglich punktuell eingeführt wurde. In diesen Fällen wurden im Rahmen einer „Quasi-Vollerhebung“ alle in Gruppenarbeit tätigen Personen im Unternehmen befragt. Bei Unternehmen
mit mehr als 50 potentiellen Befragten wurde eine Auswahl in der Weise getroffen, dass nur Arbeiter in einer Schicht (oder bei Drei-Schicht-Betrieb: nur Früh- und Mittelschicht) befragt
wurden. In drei weiteren Unternehmen hat die Forschergruppe eine Zufallsauswahl durchgeführt.
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fragt. Insgesamt wurden 685 Arbeiterinnen und Arbeiter, 72 Führungskräfte sowie 37
Betriebsräte und 42 Angehörige des oberen Managements mit Hilfe eines schriftlichen
standardisierten Fragebogens befragt, der in seinem Hauptteil für alle Befragtengruppen identisch war.3
2. Methode
Im Folgenden verwenden wir die Antworten der Arbeiterinnen und Arbeiter sowie ihrer unmittelbaren Vorgesetzten aus 20 Unternehmen.4 Im ersten Schritt bilden wir das
Konstrukt der lohnbezogenen „Marktgerechtigkeit“ unter Rückgriff auf eine Faktorenanalyse (Hauptkomponentenanalyse mit Varimax-Rotation).
Im zweiten Schritt führen wir hierarchische Regressionsmodelle mit der Einstellung
zur Marktgerechtigkeit als abhängige Variable durch. Das Basismodell kontrolliert den
Einfluss von Personenmerkmalen auf die Einstellung zur Marktgerechtigkeit. Modell 2
überprüft, inwiefern die Durchsetzungsmacht des Betriebsrats einen zusätzlichen signifikanten Einfluss auf die Präferenz für Marktgerechtigkeit hat (Hypothese 1). In Modell
3 fügen wir die wahrgenommene Fairness des Managements als Prädiktor hinzu (Hypothese 2). Anhand des Vergleichs der Modelle 2 und 3 überprüfen wir, inwiefern Betriebsratsmitbestimmung und Managementfairness voneinander unabhängige Determinanten der Einstellung zur Marktgerechtigkeit darstellen (Hypothese 3). Modell 4 testet
die Annahme der wechselseitigen Verstärkung beider Faktoren durch die Einführung
eines multiplikativen Interaktionsterms (Hypothese 4). Modell 5 schließlich fügt zwei
Organisationsmerkmale als Kontrollvariablen hinzu.
Da pro Unternehmen mehrere Arbeiter und Vorgesetzte befragt werden, müssen
wir davon ausgehen, dass ein unbeobachteter Einfluss der Organisationszugehörigkeit
auf die Zustimmung der Befragten zum Prinzip der Marktgerechtigkeit besteht. In diesem Fall sind die Modellannahmen der Regressionsanalyse verletzt. Aus diesem Grund
schätzen wir robuste Standardfehler unter Berücksichtigung der Unternehmenscluster
(„Huber-Regression“, vgl. Huber 1967).5
3 Die Organisation der Befragung vor Ort sowie die Dateneingabe und Datenbereinigung erfolgte über ein kommerzielles Befragungsinstitut. Die Arbeiterinnen und Arbeiter sowie deren Führungskräfte erhielten den Fragebogen am Arbeitsplatz. Die in der Regel zu Hause ausgefüllten
Fragebögen wurden nach spätestens vier Tagen durch einen Beauftragten des Umfrageinstituts
am Arbeitsplatz anonym eingesammelt. Die Rücklaufquote betrug insgesamt 73,3 Prozent, wovon 70,3 Prozent auf die Arbeiter, 88,8 Prozent auf die Führungskräfte, 92,5 Prozent auf die
Betriebsräte und 95,5 Prozent auf die Vertreter des oberen Managements entfallen.
4 Da ein Unternehmen keine Angaben zur Kontextvariablen der wirtschaftlichen Lage gemacht
hat, reduziert sich die Zahl der Unternehmen auf 20.
5 Die Modellierung eines hierarchischen Regressionsmodells scheint auf den ersten Blick ungerechtfertigt, da die Modellannahmen der Regression aufgrund der Zwei-Ebenen-Struktur der
Daten (Individual- und Kontextvariablen) grundsätzlich verletzt zu sein scheinen. Sollten CrossLevel-Effekte zwischen den verwendeten Variablen vorliegen, so dass der Effekt der individuumsbezogenen Variablen auf die Akzeptanz des Marktprinzips von der Ausprägung der Kontextvariablen abhängig ist, müsste in der Tat ein Mehrebenenmodell modelliert werden. Aufgrund unserer theoretischen Annahmen gehen wir jedoch für keine der beiden Kontextvariablen
davon aus, dass sie den Einfluss der individuellen Merkmale – vor allem der Einschätzung der
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3. Variablen
Verteilungsprinzipien: Um die Gerechtigkeitseinstellungen der Beschäftigten zum Marktprinzip als Entlohnungskriterium zu erheben, wurden den Befragten eine Reihe von
Items vorgelegt, in denen Kriterien über gerechte Lohnbildung genannt wurden. Sie
waren aufgefordert, auf einer vier-stufigen Rating-Skala (von 1 = sehr gerecht bis 4 =
sehr ungerecht) anzugeben, wie ungerecht oder gerecht der jeweilige Vorschlag aus ihrer Sicht ist. Zu beachten ist, dass es sich dabei nicht um die Bewertung tatsächlich im
Unternehmen geltender Regeln handelt. Die Befragten sollten vielmehr ihre Präferenzen für jene moralischen Regeln ausdrücken, nach denen die Lohnbestimmung im Unternehmen grundsätzlich vorgenommen werden könnte.
In die folgenden Analysen gehen im ersten Schritt vier Entlohnungskriterien ein,
die bei der Gehaltsfindung eine Rolle spielen können, nämlich zwei klassische individuumsbezogene Kriterien, „das Engagement des Einzelnen über das Notwendige hinaus“ und „die individuelle Leistung“, sowie zwei an der Marktsituation orientierte Kriterien, „die aktuelle Lage auf dem Arbeitsmarkt“ und der „wirtschaftliche Erfolg des
ganzen Unternehmens“. Wie eine Faktorenanalyse zeigt (Hauptkomponentenanalyse
mit Varimax-Rotation; siehe Tabelle A1 im Anhang), unterscheiden die Befragten klar
zwischen individuumsbezogenen und marktbezogenen Kriterien. Die beiden marktbezogenen Kriterien fassen wir zum Faktor „Marktgerechtigkeit“ zusammen, der im zweiten Schritt als abhängige Variable der Regressionsmodelle verwendet wird.
Gerechtigkeitsbewertung des Managements: Zur Bestimmung der wahrgenommenen Fairness des Managements messen wir, inwieweit sich die Befragten in einem für sie relevanten arbeitspolitischen Entscheidungsprozess gerecht behandelt fühlten. Die Einführung von Gruppenarbeit, die in allen untersuchten Unternehmen stattgefunden hat, ist
ein geeigneter Testfall: Indem die Arbeitsorganisation verändert wird, ergeben sich
zahlreiche Konflikte, zu deren Lösung das Management verschiedene Wege gehen
kann. Um diesen Prozess nachzuzeichnen, wurden die Befragten gebeten, anhand von
sechs Antwortvorgaben einzuschätzen, in welchem Ausmaß sie sich vom Management
gerecht behandelt fühlten (für Itemformulierungen siehe Tabelle A2 im Anhang). Dieser Indikator misst damit das Ausmaß der „Verfahrensgerechtigkeit“ bei der Einführung
von Gruppenarbeit. Die Items wurden, nach Prüfung ihrer Eindimensionalität mittels
Faktorenanalyse, zu einem Faktor zusammengezogen (Eigenwert = 3.335).
Beteiligung des Betriebsrats an den Entscheidungen des Managements: Analog zu vorangegangenen Studien (z.B. IDE 1981; Kotthoff 1994) wurde das Ausmaß der betrieblichen Mitbestimmung über die Einschätzungen der Befragten eines Unternehmens ermittelt. Dazu wurden die Befragten gebeten, anhand einer vier-stufigen Skala anzugeben, in welchem Ausmaß der Betriebsrat ihres Unternehmens an verschiedenen Entscheidungen der Geschäftsleitung faktisch beteiligt ist. Ausgewählt wurden sieben betriebliche Politikfelder, die den Verhandlungsalltag typischerweise prägen (Itemformulierung siehe Anhang 2). Diese Items wurden mittels Faktorenanalyse zu einem Faktor
Betriebsratsstärke und der Managementfairness – auf die Akzeptanz des Marktprinzips moderiert. Daher beschränken wir uns auf eine Huber-Regression.
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zusammengefasst (Eigenwert = 3.383). Auf diese Weise erhält man für jeden Befragten
ein subjektives Maß für die durchschnittliche Beteiligung des jeweiligen Betriebsrats.6
Kontrollvariablen: Wie wir aus der soziologischen Gerechtigkeitsforschung wissen, sind
Einstellungen zur Gerechtigkeit abhängig vom Alter, dem Geschlecht, dem Bildungsstand, der beruflichen Stellung, der Einkommenshöhe und der Dauer der Betriebszugehörigkeit der Befragten (vgl. z.B. Liebig und Lengfeld 2002; Wegener et al. 2000).
Deshalb werden diese Merkmale in den Regressionsrechnungen berücksichtigt. Aus unserer Fragestellung ergibt sich, dass diese Merkmale jedoch nur den Status von Kontrollvariablen haben. Weiterhin wird berücksichtigt, ob ein Befragter Mitglied in einer
Gewerkschaft ist. Angenommen wird, dass sich Gewerkschaftsmitglieder gegen Marktgerechtigkeit aussprechen, da dieses Verteilungsprinzip, wie in Abschnitt II gezeigt, im
Widerspruch zu den tradierten Gerechtigkeitsprinzipien des Tarifvertrags steht.
Ferner kontrollieren wir die Abhängigkeit der Einstellung zur Marktgerechtigkeit von
der ökonomischen Lage des Unternehmens. Unsere These ist hier: Je besser die wirtschaftliche Situation des Unternehmens, desto größer ist das Interesse der Beschäftigten, ihren Lohn an die Marktlage zu koppeln. Als Indikator für die wirtschaftliche
Lage dient uns die Entwicklung des Personalbestands der letzten drei Jahre in den untersuchten Unternehmen (erhoben mittels CATI-Screeningbefragung mit der Personalleitung des jeweiligen Unternehmens). Dabei unterstellen wir, dass dieser Indikator die
wirtschaftliche Entwicklung auf der Ebene der Wahrnehmungen der Beschäftigten zuverlässiger abbildet als ein abstraktes Maß wie z.B. das der Umsatzentwicklung. Unsere
Annahme ist, dass Beschäftigte, die in Unternehmen mit rückläufigem Personalbestand
tätig sind, das Marktprinzip als ungerecht ablehnen.
Schließlich gibt es Hinweise darauf, dass Präferenzen für Gerechtigkeitsvorstellungen zur Verteilung von Gütern und Lasten mit der Größe des Unternehmens variieren
(vgl. Abraham 2004; Liebig und Lengfeld 2002). Wir nehmen an, dass Beschäftigte
kleinerer Unternehmen Vorstellungen zur Marktgerechtigkeit stärker zustimmen als Beschäftigte größerer Unternehmen. Diese Annahme stützt sich auf Überlegungen aus der
Klein- und Mittelbetriebsforschung. Dort konnte gezeigt werden, dass sich Vertrauensbeziehungen zwischen Management und Beschäftigten eher in kleineren Unternehmen
als in Großunternehmen herausbilden (Kotthoff und Reindl 1990; Hilbert und Sperling 1993).
6 Für diese subjektive Messung spricht vor allem ihre Praktikabilität gegenüber alternativen Messungen. Eine mögliche Alternative wäre, das Ausmaß der Mitbestimmung über die Klassifikation des Forschenden zu rekonstruieren. Weil eine solche Messung das Subjektivitätsproblem jedoch nur von der Ebene der Befragten auf die der Wissenschaftler verschiebt, wurde von dieser
Variante abgesehen. Eine andere Alternative wäre die Messung z.B. über die Zahl der Betriebsvereinbarungen und die Häufigkeit der Verhandlungen zwischen Management und Betriebsrat.
Aber auch diese Messung ist mit Validitätsproblemen behaftet, weil sie wenig über das Ausmaß
der Mitbestimmung, sondern vor allem etwas über den Grad der Formalisierung der Verhandlungsbeziehung aussagt.
Wann gilt der Arbeitsmarkt als sozial gerecht?
109
IV. Ergebnisse
Die Ergebnisse sind in Tabelle 1 wiedergegeben. Blicken wir zunächst auf die soziodemografischen Merkmale in Modell 1. Festzustellen ist ein überraschend starker positiver Alterseffekt, der über alle Modelle stabil bleibt: Je älter ein Befragter ist, desto stärker plädiert er für die Marktabhängigkeit der eigenen Entlohnung. Dieser Befund ist
auf den ersten Blick kontraintuitiv, weil man annehmen würde, dass Ältere eher gegen
das Marktprinzip votierten, weil sie im Falle von betriebsbedingten Kündigungen geringere Wiederbeschäftigungschancen auf dem Arbeitsmarkt hätten. Möglicherweise ist
der positive Alterseffekt auf die Existenz des deutschen Kündigungsschutzes zurückzuführen, der im Falle von betriebsbedingten Kündigungen in der Regel das Alter als
Schutzkriterium definiert.
Weiterhin finden wir einen negativen Effekt der Lohnhöhe, der jedoch nicht in allen Modellen stabil ist. Alle anderen soziodemografischen Merkmale bleiben insignifikant. Interessant daran ist, dass sich die Gewerkschaftsmitglieder unter den Befragten
nicht signifikant gegen die Geltung des Marktprinzips aussprechen. Dieser Effekt an
der Basis der Arbeitsbeziehungen widerspricht offenbar der verbreiteten Annahme, dass
Gewerkschaftsmitglieder der Kopplung des eigenen Lohns an die wirtschaftliche Situation des eigenen Unternehmens sehr skeptisch gegenüber stünden.
Modell 2 zeigt, dass die Präferenz für Marktgerechtigkeit dann zunimmt, wenn die
Beschäftigten ihrer Wahrnehmung nach über einen durchsetzungsstarken Betriebsrat
im eigenen Unternehmen verfügen. Dieser Effekt steht in Einklang mit unserer Hypothese 1, wonach durchsetzungsstarke Betriebsräte eine Instanz zur Kontrolle der Bestimmung des Unternehmenserfolgs darstellen und die Akzeptanz marktabhängiger
Entlohnung daher positiv beeinflussen.
Modell 3 überprüft, inwiefern die wahrgenommene Fairness des Managements die
Präferenz für Marktgerechtigkeit beeinflusst. Im Sinne unserer Hypothese 2 sehen wir
einen positiven Effekt: Je gerechter sich Beschäftigte bei der Einführung von Gruppenarbeit vom Management behandelt fühlten, desto stärker sprechen sie sich für die Geltung des Marktprinzips aus. Der positive Effekt von Verfahrensgerechtigkeit als Indikator für die Existenz von Vertrauen in das Management ist damit ein Hinweis auf die
Gültigkeit unserer Hypothese.
Vergleichen wir nun die t-Werte der Variablen „Beteiligung des Betriebsrats“ im
Übergang von Modell 2 zu Modell 3, so sehen wir, dass der Effekt unter Hinzufügung
des Faktors Managementfairness nur geringfügig zurückgeht. Wir interpretieren diesen
Befund als Widerlegung unserer Hypothese 3, wonach der Effekt der Betriebsratsstärke
auf die Einstellung zur Marktgerechtigkeit dann stark zurückgehen müsste, wenn die
Beschäftigten das bisherige arbeitspolitische Verhalten des Managements als gerecht bewerten. Dieses Resultat deutet darauf hin, dass eine starke Mitbestimmung des Betriebsrats und ein faires Management eigenständige Effekte auf die Präferenz für
Marktgerechtigkeit zeitigen und dass zwischen beiden kein Trade Off bei der Einstellungsbildung existiert.
Modell 4 geht der Frage nach, ob sich der Einfluss der Betriebsratsstärke und der
Managementfairness auf die Präferenz für Marktgerechtigkeit wechselseitig verstärken
(Hypothese 4). Diese Frage wird mittels multiplikativem Interaktionsterm überprüft.
110
Holger Lengfeld und Alexandra Krause
Tabelle 1: Determinanten lohnbezogener Marktgerechtigkeit (lineare Regression)
Modell 1
Modell 2
Modell 3
Modell 4
Modell 5
Alter (in Jahren)
.023***
(4.16)
.021***
(4.01)
.021**
(3.68)
.022**
(3.55)
.020**
(3.39)
Geschlecht (1 = Frauen)
.228
(1.34)
.172
(0.85)
.208
(1.05)
.198
(1.06)
.311
(2.01)
–.069
(–1.63)
–.054
(–1.42)
–.055
(–1.49)
–.058
(–1.69)
–.063
(–2.03)
Position (1 = Führungskraft)
.210
(1.12)
.141
(0.77)
.076
(0.40)
.079
(0.42)
.006
(0.03)
Entlohnung (logarithmiert)
–.498
(–1.94)
–.514*
(–2.30)
–.534*
(–2.41)
–.609*
(–2.59)
–.458
(–2.05)
relative Betriebszugehörigkeit
(in Jahren)
–.315
(–1.24)
–.260
(–1.21)
–.228
(–1.08)
–.225
(–1.07)
–.267
(–1.21)
Gewerkschaftsmitgliedschaft
(1 = Mitglied)
–.066
(–0.76)
–.123
(–1.53)
–.135
(–1.67)
–.145
(–1.70)
–.001
(–0.02)
Personenmerkmale
Bildung (CASMIN)
Arbeitspolitische Merkmale
Ausmaß der Beteiligung des Betriebsrats
.195***
(4.17)
Fairness des Managements
.149**
(3.67)
.159**
(3.60)
.164***
(4.13)
.131*
(2.31)
.132*
(2.46)
.149**
(3.34)
.079
(1.37)
.069
(1.14)
Beteiligung des Betriebsrats
× Managementfairness
Organisationsmerkmale
Personalbestand (1 = rückläufig)
–.252*
(–2.50)
Unternehmensgröße
(Anzahl der Beschäftigten)
–.000***
(–4.02)
R²
.083
.119
.133
.141
.176
Quelle: VGIO-II, N = 356; lineare Regression mit robusten Standardfehlern, geclustert nach Unternehmenszugehörigkeit (20 Unternehmen), t-Werte in Klammern. * pt < .05, ** pt < .01, *** pt < .001.
Wie wir sehen, besitzt der Koeffizient des Interaktionsterms, gemäß Hypothese 4, zwar
das richtige Vorzeichen. Wie jedoch das Ergebnis eines Wald-Tests zeigt, ist der Effekt
klar insignifikant (F = 1.88 mit Prob > F = .1865). Dies bedeutet, dass sich im Falle
des gemeinsamen Auftretens eines starken Betriebsrats und eines fairen Managements
keine über die Einzeleffekte hinausgehende Wirkung auf das Plädoyer für Marktgerechtigkeit ergibt.
Kommen wir nun zu Modell 5, in dem die beiden strukturellen Merkmale der Unternehmen als Kontrollvariablen berücksichtigt werden. Hier zeigen beide Organisationsmerkmale signifikante Effekte in erwarteter Richtung: Je größer das Unternehmen
ist, in dem ein Befragter tätig ist, desto stärker spricht er sich gegen Marktgerechtigkeit
aus. Und: Je größer die Reduktion des Personalbestands in den letzten drei Jahren vor
Erhebungszeitpunkt, desto stärker votieren die Beschäftigten gegen die Geltung des
Marktprinzips als Gerechtigkeitsnorm. Da es sich bei beiden Organisationsmerkmalen
um Kontrollvariablen handelt, interessieren wir uns vor allem für die Stabilität der bei-
Wann gilt der Arbeitsmarkt als sozial gerecht?
111
den Haupteffekte im Übergang von Modell 3 zu Modell 4. Da sich die Haupteffekte
sogar geringfügig erhöhen, interpretieren wir dieses Resultat als Hinweis auf die weitgehende Stabilität unseres Endmodells.
V. Schlussfolgerungen
Zu Beginn dieses Aufsatzes haben wir behauptet, dass das austarierte Normengefüge
des deutschen Tarifvertragsystems unter Druck des lohnbezogenen Marktprinzips gerät.
Demnach hängen Löhne und Gehälter nicht mehr allein von der individuellen Leistung bzw. vom Ergebnis zentraler Branchenverhandlungen bzw. der Einstufung in eine
Vergütungsgruppe ab. Sie werden in zunehmendem Maße durch den aktuellen Erfolg
des eigenen Unternehmens auf den Absatz- und Beschaffungsmärkten bestimmt.
Gefragt wurde, unter welchen Bedingungen Beschäftigte das Marktprinzip als Gerechtigkeitsprinzip annehmen würden. Anhand von machttheoretischen Überlegungen
und Befunden der Umfrageforschung wurde erstens gezeigt, dass sich Beschäftigte dann
stärker für Marktgerechtigkeit aussprechen, wenn in ihrem Unternehmen ein durchsetzungsstarker Betriebsrat existiert. Ursächlich dafür ist, dass ein starker Betriebsrat am
ehesten imstande ist, die Ermittlung des unternehmerischen Markterfolgs und die daraus folgenden Verteilungsprozesse zu kontrollieren. Zweitens wurde die Bedeutung der
wahrgenommenen Fairness des Managementhandelns als relevanter Einflussfaktor dargelegt. Wenn sich die Beschäftigten in der Vergangenheit durch das Management fair
behandelt fühlten, stimmen sie stärker dem Prinzip der Marktgerechtigkeit zu. Unter
diesen Umständen vertrauen sie darauf, zukünftig auch bei einer größeren Abhängigkeit der Entlohnung vom Markterfolg des Unternehmens gerecht behandelt zu werden.
Beide Faktoren zeitigen eigenständige Effekte auf die Präferenzen für Marktgerechtigkeit.
Gleichwohl stoßen die durchgeführten Analysen an methodische Grenzen. Zwei
Einschränkungen sind zu nennen. Erstens dürfen die Ergebnisse der empirischen Analysen, streng genommen, nicht umstandslos auf die Grundgesamtheit der deutschen
Unternehmen mit existierendem Betriebsrat übertragen werden. Denn zum einen wurden nur in Gruppenarbeit tätige Beschäftigte in Metallunternehmen aus zwei deutschen Industrieregionen befragt. Zum anderen konnten diese Unternehmen nicht nach
dem Zufallsprinzip ausgewählt werden, sondern mussten, wie es bei organisationssoziologischen Studien oft der Fall ist, von der Forschergruppe über eine Screeningbefragung direkt akquiriert werden. Trotz dieser Homogenität der Befragtenstichprobe und
des Unternehmenssamples finden wir Hinweise auf die Gültigkeit unserer Hypothesen.
Ob sich diese Befunde auch bei Befragten aus anderen Branchen finden lassen, in denen die Mitbestimmung traditionell weniger stark ausgeprägt ist (z.B. personennahe
Dienstleistungen oder neue Informationstechnologien), können wir aufgrund unseres
Samples nicht beantworten.
Zweitens engt der Erhebungszeitpunkt 1999 die Reichweite der Interpretation der
Befunde ein. Zwar hat es auch schon 1999 starke Dezentralisierungstendenzen der Tarifpolitik als auch ertragsabhängige Entlohnungsformen gegeben; gleichwohl hat dieser
Trend in den letzten Jahren an Dynamik gewonnen. Aufgrund dieser Entwicklung
112
Holger Lengfeld und Alexandra Krause
können wir nicht sicher sein, ob die Befunde auch dann stabil bleiben, wenn die Beschäftigten vertiefte Erfahrungen mit der fortschreitenden Vermarktlichung der betrieblichen Entlohnungssysteme gemacht haben. Diese Frage wäre nur durch Follow UpStudien zu klären.
Behält man diese Einschränkungen im Blick, so kann man aus den Befunden dennoch zwei Schlussfolgerungen für die Strategiebestimmung der tarifpolitischen Akteure
ziehen. Die erste Schlussfolgerung bezieht sich auf die Betriebspolitik der Gewerkschaften. Gehen wir einmal von der wohl realistischen Vorstellung aus, dass die Gewerkschaften die für sie schon aus Effektivitätsgründen missliebige Ausbreitung der erfolgsabhängigen Entlohnung und von temporären Lohnkürzungen im Falle von Absatzeinbrüchen des Unternehmens nicht verhindern können. Um ihre Mitglieder dennoch vor
einseitigen Vorteilsnahmen durch das Unternehmen zu schützen, müssten sie die Betriebsräte nachhaltig stärken. Denn nur, wenn die Betriebsräte stark genug sind, um tarifvertragliche Nach- oder lokale Ersatzverhandlungen mit dem Management um die
Aufteilung des unternehmerischen (Miss-)Erfolgs führen zu können, werden die Gewerkschaften Legitimitätsverluste in den Augen ihrer Mitglieder vermeiden können.
Auch wenn eine in dieser Weise mitgestaltete Dezentralisierung der Tarifpolitik nur
als „Second Best“-Option anzusehen ist und eigene gewerkschaftliche Verhandlungsanstrengungen nicht ersetzen kann, wäre sie doch eine neue Begründung jener klassischen
Schutzfunktionen, die die Aktivitäten der Gewerkschaften seit ihrer Gründung im 19.
Jahrhundert auszeichnete: Schutz vor einseitig zu Lasten der Beschäftigten gehenden
Risiken privatwirtschaftlicher Tätigkeit (vgl. Müller-Jentsch 1997: 85ff.).
Die zweite Schlussfolgerung bezieht sich auf die Strategiewahl der Unternehmensseite. Folgt man unseren Befunden, so werden Unternehmen, die sich aus dem Flächentarifvertrag verabschieden und die Einführung marktbezogener Entlohnungsformen betreiben wollen, nur dann mit moralischer Zustimmung ihrer Beschäftigten
rechnen können, wenn die Entscheidungen des jeweiligen Managements dazu geeignet
sind, Vertrauen zwischen beiden Seiten entstehen oder aufrecht erhalten zu lassen. Da
Gerechtigkeitsbewertungen faktischer Entscheidungs- und Verteilungsprozesse wichtige
Weichensteller von Motivation und Engagement im Arbeitsprozess sind, sollte man
ihre Relevanz für die Effizienz eines Unternehmens daher nicht unterschätzen. Beispielsweise wird ein marktbezogenes Entlohnungssystem, das in ein von instrumentellem Arbeits- und Kontrollverhalten geprägtes Unternehmen hineinverpflanzt wird, keine glückliche Figur machen. Denn auch hier gilt die alte kontingenztheoretische Binsenweisheit: Nicht jede Verteilungsordnung passt zu jedem sozialen Kontext, in den sie
implementiert werden soll.
Schließlich setzt die zunehmende Bedeutung erfolgsabhängiger Entlohnung die tradierten Entlohnungsprinzipien, Leistung und Gleichheit, unter Druck. Sowohl auf der
individuellen als auch auf der betrieblichen Ebene sind daher negative Folgen der Kollision zwischen dem Marktprinzip und den tradierten normativen Erwartungen zu vermuten. Wo die Kollisionspunkte zwischen den Gerechtigkeitsprinzipien nun genau liegen und welche Lösungsstrategien möglich wären, kann nur in zukünftigen empirischen Analysen geklärt werden.
Wann gilt der Arbeitsmarkt als sozial gerecht?
113
Anhang
Tabelle A1: Leistungsgerechtigkeit und Marktgerechtigkeit (Faktorenanalyse)
Leistungsgerechtigkeit
Marktgerechtigkeit
h²
Engagement über das Notwenige hinaus
.856
–.016
.733
Individuelle Leistung
.851
.050
.727
Aktuelle Situation auf dem Arbeitsmarkt
.015
.843
.711
.049
.838
.704
1.498
1.376
Unternehmenserfolg
Eigenwerte
Quelle: VGIO-II; N = 356; Hauptkomponentenanalyse mit Varimax-Rotation.
Tabelle A2: Beschreibung der verwendeten Variablen
Gerechtigkeitseinstellungen
Verteilungsprinzipien
„Jetzt möchten wir Ihnen einige Fragen zur Gerechtigkeit des Einkommens stellen. [...]
“Welchen Einfluss sollten die einzelnen Gesichtspunkte Ihrer Meinung nach grundsätzlich haben, damit das Einkommen gerecht ist? (1 = sollte großen Einfluss haben, 2 =
sollte etwas Einfluss haben, 3 = sollte fast keinen Einfluss haben, 4 = sollte überhaupt
keinen Einfluss haben).
– Engagement über das Notwendige hinaus [Leistungsgerechtigkeit]
– Individuelle Leistung [Leistungsgerechtigkeit]
– Aktuelle Lage auf dem Arbeitsmarkt [Marktgerechtigkeit]
– Wirtschaftlicher Erfolg des ganzen Unternehmens“ [Marktgerechtigkeit]
Operationalisierung: recodiert, Skalierung s. Anhang 1
Gerechtigkeitsbewertung des
Managements
„Wir möchten nun wissen, auf welche Weise die Betroffenen bei der Einführung der
Gruppenarbeit einbezogen wurden (1 = traf voll und ganz zu, 2 = traf etwas zu, 3 = traf
eher nicht zu, 4 = traf überhaupt nicht zu).
– Die Betroffenen wurden mit Respekt und Achtung behandelt.
– Das Engagement der Betroffenen in der Einführungsphase wurde anerkannt und gewürdigt.
– Die Betroffenen wurden in der Einführungsphase gleich behandelt, unabhängig von
ihrer hierarchischen Position.
– Die Betroffenen haben ausreichende Informationen über die Einführung der Gruppenarbeit bekommen
– Die Betroffenen wurden in der Einführungsphase tatkräftig unterstützt.
– Die Betroffenen wurden für ihre neuen Arbeitsanforderungen umfassend qualifiziert.“
Operationalisierung: recodiert, Skalierung mittels Hauptkomponentenanalyse mit Varimax-Rotation
Personenmerkmale
Alter
„Wann sind Sie geboren?“
Operationalisierung: recodiert (1999 – Geburtsjahr)
Geschlecht
„Sind Sie männlich/weiblich?“
Operationalisierung: dichotomisiert (1 = Frauen)
Position
Operationalisierung: 0 = Arbeiter; 1 = Führungskraft
Bildung
CASMIN-Skala
Entlohnung
„Wie hoch ist gegenwärtig Ihr durchschnittliches monatliches Nettoeinkommen, also
nach Abzug von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen?“
Operationalisierung: logarithmiert
114
Holger Lengfeld und Alexandra Krause
Dauer der relativen
Betriebszugehörigkeit
„Seit wann sind Sie bei [Unternehmensname] beschäftigt?“
Operationalisierung: recodiert [(1999 – Eintrittsjahr Unternehmen) / (Alter – Eintrittsalter Erwerbstätigkeit)]
Gewerkschaftsmitgliedschaft
„Sind Sie derzeit Mitglied in einer Gewerkschaft?“
Operationalisierung: dichotomisiert (1 = Mitglied)
Organisationsmerkmale
Beteiligung des
Betriebsrats
„Was glauben Sie: Wie sehr ist der Betriebsrat bei [Unternehmensname] an den folgenden Entscheidungen der Geschäftsleitung tatsächlich beteiligt? (1 = voll und ganz beteiligt, 2 = etwas beteiligt, 3 = eher nicht beteiligt, 4 = gar nicht beteiligt).
– bei der Gestaltung der täglichen Arbeitszeit
– bei der Festlegung des Urlaubsplans
– bei Veränderungen im Arbeitsablauf
– bei der Festsetzung von Entlohnungsrichtlinien über den Tarifvertrag hinaus
– bei Verbesserungen der Arbeitsbedingungen wie Schmutz oder Lärmbelastung
– bei der Frage, ob Überstunden gemacht werden
– bei Entlassungen von Kollegen“
Operationalisierung: recodiert, Skalierung mittels Hauptkomponentenanalyse mit Varimax-Rotation
Unternehmensgröße
„Wie viele Mitarbeiter (Stammpersonal) beschäftigte Ihr Betrieb am 31.12.1998?“
Quelle: schriftlicher Betriebsfragebogen an Personalleitung
Marktlage
„Und wie war die Entwicklung des Personalbestandes in den letzten zwei Jahren? Hat
sich der Personalbestand in Ihrem Unternehmen verringert, ist er gleichgeblieben oder
hat er sich erhöht? (1 = verringert, 2 = gleichgeblieben, 3 = erhöht)“
Operationalisierung: Dichotomisierung (0 = verringert, 1 = gleichgeblieben oder erhöht)
Quelle: CATI-Screeninginterview mit Personalleitung.
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Korrespondenzanschrift: Dr. Holger Lengfeld, Freie Universität Berlin, Institut für Soziologie, Lehrstuhl für Makrosoziologie, Garystraße 55, D-10195 Berlin
E-Mail: [email protected]

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