Verlieren lernen - Spiele-Autoren

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Verlieren lernen - Spiele-Autoren
Süddeutsche Zeitung
SZ Wochenende
15.03.2014
München Seite V2/9, Bayern Seite V2/9, Deutschland Seite V2/9
Verlieren lernen
Vor 100 Jahren erfand der Tüftler Josef Friedrich Schmidt
„Mensch ärgere Dich nicht“. Millionen misslingt das bis heute
VON JOHANN OSEL
Heinz-Rüdiger hat es nicht leicht in dieser Familie. „Mensch ärgere Dich nicht“ wird
gespielt, mit Vater und Mutter an dem kleinen Küchentisch. Der Junge hat wenig Lust
dazu, will partout nicht mehr würfeln. „Dann würfel’ halt ich für dich“, entscheidet der
Vater, würfelt nur eine Eins. „Ha, jetzt bist gleich draußen.“ Als der Sohn frustriert die
Spielfiguren umwirft, folgt eine Ohrfeige, „Du Rotzlöffel“, raunzt der Vater und bietet
eine weitere pädagogische Meisterleistung. Das Brettspiel werde in den ItalienUrlaub mitgenommen, droht er: „Und dann wird so lang gespielt, bis du den Ernst von
dem Spiel begreifst!“ Mehr als 30 Jahre alt ist dieser Sketch von Gerhard Polt.
Gleichbleibend amüsant, und gleichbleibend aus dem Leben gegriffen. „Mensch
ärgere Dich nicht“ – der Imperativ, den das Brettspiel verlangt, wird nur selten
eingehalten.
Die Landeskriminalämter führen keine Statistiken über gesellschaftsspielbedingte
Gewalt. Sollten sie besser mal. Ein Blick in Polizeimeldungen der vergangenen
Jahre, zwei Beispiele: Da mussten Polizisten in Unterfranken bei einem Rentnerpaar
und deren Sohn deeskalierend eingreifen. Laut Protokoll hatte die 72-jährige Frau
ihrem Gatten einen Würfel abgenommen – „wegen der Chancengleichheit“. Nach
einem Zornesausbruch des Bestohlenen folgte die Flucht der Frau aus der Wohnung,
sie wählte den Notruf. In Kaiserslautern zückte ein 51-Jähriger beim „Mensch ärgere
Dich nicht“ gar ein Küchenmesser, seine Lebensgefährtin wurde verletzt.
Ratgeberforen im Internet sind voll von derlei Situationen: Erwachsene Männer
knallen sich Würfelbecher an die Köpfe; Mütter und Töchter, Brüder und Schwestern,
Großeltern und Enkel verteidigen ihre Regelauslegungen, als ginge es um Leben
und Tod; in frischen Partnerschaften kommt das wahre Ich des Anderen zum
Vorschein; Eltern fragen sich, warum ihre Sprösslinge nicht verlieren können,
erkundigen sich nach therapeutischer Hilfe.
Eine Runde „Mensch ärgere Dich nicht“, schreibt ein junger Mann in einem Portal,
„kann mich wütender machen als jeder Ego-Shooter“. Ein simples Brett, ein paar
bunte Figürchen sowie Würfel übertreffen demnach das Aggressionspotenzial eines
digitalen Massenmords am Computer. Dabei sollten Brettspiele eigentlich das
Gegenteil bieten, kluge Unterhaltung oder zumindest Ablenkung. So notierte der
Schriftsteller August Strindberg 1893: „Das Brettspiel wird als Blitzableiter im Hause
eingeführt, die gefährliche Unterhaltung wird durch das Klappern der Würfel ersetzt.“
Meyers Konversationslexikon aus dem Jahr 1905 definiert die meisten
Gesellschaftsspiele als „Ruhespiele“ – und zwar „zur Schärfung der Aufmerksamkeit,
zur Betätigung von Witz und Geistesgegenwart“.
Und die Erfindung des „Mensch ärgere Dich nicht“-Spiels war auch konkret so
gedacht – zur Beruhigung dreier lebhafter Burschen. Vor hundert Jahren ist das Spiel
in größeren Mengen in die Öffentlichkeit gelangt, die Herstellerfirma sieht das Jahr
1914 daher als das offizielle Geburtsjahr. Der Münchner Kaufmann Josef Friedrich
Schmidt hatte einige Jahre zuvor bereits das Brettspiel ausgetüftelt, um seine Söhne
zu Hause in der kleinen Wohnung im Zaum zu halten. Bei denen kam das Konstrukt
aus einem Hutkarton und Holzteilchen gut an, für weitere selbst gebastelte
Exemplare fand Schmidt aber keine Abnehmer.
War die Spieleherstellung etwa nicht das richtige Geschäftsfeld für ihn? Hatte er
doch in den Vorjahren so einiges probiert, war als Marktstandbetreiber angemeldet,
versuchte sich angeblich in der Herstellung neuer chemischer Tinkturen, handelte mit
Spirituosen. Doch Schmidt, ein gebürtiger Oberpfälzer, blieb hartnäckig, ließ Anfang
1914 einige Tausend Exemplare von „Mensch ärgere Dich nicht“ professionell
fabrizieren – und schickte diese dann, nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als
Spende an Kriegslazarette.
Das war nichts Ungewöhnliches: Damals wurde die Bevölkerung zu sogenannten
Liebesgaben für die Front aufgerufen – Stricksocken, Süßwaren, Bücher, Spiele,
andere nützliche Dinge. Bei aller Mildtätigkeit, die man dem Münchner Kaufmann
zugutehalten kann, ist die Spende wohl auch als Werbemaßnahme zu sehen. Als
solche zeigte sie eine formidable Wirkung:
Soldaten fanden Freude an dem Spiel, Schmidt meldete einen Verlag als Gewerbe
an, das Spiel wurde bekannter. Nach der Rückkehr der Soldaten gelangte das Spiel
endgültig in die Wohnstuben. Schon 1920 hatte Schmidt nach Firmenangaben eine
Million Spiele verkauft. Laut dem Hersteller geht das Spiel heute noch jedes Jahr
400 000 Mal über die Ladentheke, seit der Erfindung insgesamt mehr als 90 Millionen
Mal.
Die Idee war freilich nicht völlig neu, Schmidt vereinfachte die Regeln älterer Spiele,
konzentrierte sich aufs Wesentliche: die Figuren aus den Startfeldern in die
Häuschen bringen, würfeln, ziehen, gegnerische Figuren rauswerfen. Ein flotter
Name und die auffällig rote Verpackung mit einem erbosten Männchen machten das
Produkt komplett. Das 1896 in England auf den Markt gebrachte „Ludo“ darf als
Vorläufer gelten, schon dieses Spiel ähnelte aber dem mehr als 2000 Jahre alten
indischen „Pachisi“.
Spielgeschichte ist ja auch Kulturgeschichte: Verwandte Formen des späteren
Backgammon wurden bereits in der Antike gespielt, später kamen Mühle und Schach
dazu, im Mittelalter Würfelspiele wie „Puff“, aus dem tatsächlich der Begriff für ein
Bordell entstanden sein soll. Doch hatte das Spielen – stand es doch im Gegensatz
zur harten Arbeit – stets den Ruch des Unehrenhaften. Der Straßburger Dichter
Sebastian Brant schrieb Ende des 15. Jahrhunderts: „Spiel mag gar selten sin on
Sünd, ein Spieler ist nicht Gottes Fründ, die Spieler sind des Teufels Kind.“ Und
lange hielt sich diese Haltung gegenüber Spielsteinen, Brettern, Karten und Würfeln.
Der Kulturhistoriker Johannes Scherr blickte Mitte des 19. Jahrhunderts in seiner
„Deutschen Kultur- und Sittengeschichte“ zurück auf das Zeitalter der Reformation.
Dabei benennt er verschiedene Wertigkeiten von Vergnügungen: „Zu niederem
Zeitvertreib lockten Brettspiel, Würfel und Karten, zu edlerem die Gesangübungen
und dramatischen Darstellungen.“ Gleichwohl berichten Quellen wie der sächsische
Pfarrer Georg Wesenigk (1618–1688): „ja auch grosse herren schämen sich heutigen
tages des spiel-brettes nicht.“
Brettspiele waren lange Zeit eher Erwachsenen vorbehalten. Als im 18. Jahrhundert
Gesellschaftsspiele beim aufstrebenden Bürgertum Mode wurden, wussten die
Spieler sich klar von den niederen Spieltrieben einfacher Stände abzugrenzen. In
einer Sammlung von Spielanleitungen aus dieser Zeit – mit dem Namen „Frohe
Runde, zur Erheiterung und Unterhaltung gebildeter Kreise“ – schreibt der
Herausgeber: Er habe Spiele ausgewählt, „welche bei einer gewissen Einfachheit
doch eine allgemeine dauernde Geistesregung, einen Elektrophor zu Witzfunken (…)
in sich fassen.“ Und der Lehrer und Literat Gustav Schwab berichtet aus dem
Innenleben einer klösterlichen Schule: „Zugleich wurde ängstlich darauf gesehen,
daß die fröhliche Erquickung der Zöglinge in ehrbaren, christlichen und klösterlichen
Schranken eingeschlossen bleibe.“ Was „nur ehrliche Ergötzungen wie Musik und
eine selten
genug gestattete Promenade“ erlaubte, „und nicht nur Karten und Würfel, wie billig,
sondern auch das Brettspiel waren verboten.“
Zwei Entwicklungen – abgesehen von der Möglichkeit der industriellen Produktion
von Spielen – änderten diese Haltung allmählich: die Entdeckung der Kindheit und
die Entdeckung der Freizeit. Etwa vom Jahr 1860 an wurde klarer zwischen
Arbeitszeit und Freizeit unterschieden, unterstützt durch die gewerkschaftliche
Bewegung. Auf einen gesetzlich geregelten „Normalarbeitstag“, wie ihn
Sozialdemokraten gefordert hatten, konnte man sich zwar bis Ende des Kaiserreichs
nicht einigen. „Wer empfindet nicht das Bedürfnis zu helfen, wenn er den Arbeiter
gegen den Schluss des Arbeitstages müde und ruhebedürftig nach Hause kommen
sieht“, sagte Otto von Bismarck 1884 in einer Rede – um sogleich zu ergänzen, dass
eine gesetzliche Begrenzung der Arbeitszeit unmöglich sei. In vielen Städten,
Branchen und Fabriken aber konnte ein Zwölf- oder gar Zehnstundentag erreicht
werden.
Hinzu kam eben: Die Kindheit wurde erst im 19. Jahrhundert wirklich als eigener
Lebensabschnitt definiert. Doch der Nachwuchs solle schon auch was dabei lernen,
dachte vor allem das Bürgertum. Reisespiele kamen auf den Markt, die geografische
Kenntnisse vermitteln sollten. 1884 erschien „Reise um die Erde“, nach Motiven des
Buchs von Jules Verne. Dessen Verleger Otto Maier aus Ravensburg warb mit dem
Motto: „Ernst und Scherz aufs Glücklichste vereint.“ Bald folgten Lernspiele,
Quartette und Bastelkästen im Sortiment.
„Fast jedes Spiel ist eigentlich ein Lernspiel“, sagt Ulrich Blum. Er ist Vorsitzender
der Spiele-Autoren-Zunft, eines Vereins von Entwicklern mit mehr als 400
Mitgliedern. Dabei müsse es nicht um Lernen im Sinne von Schulwissen gehen –
sondern um strategisches Denken, um Entscheidungsfindung und soziale
Interaktion. Auch das wütende Abräumen des Spielfelds könne man dazu zählen.
Doch zurück zur Entstehung von „Mensch ärgere Dich nicht“. Warum wurde das
Spiel vom Jahr 1914 an zum Erfolg, während Erfinder Schmidt in den Vorjahren noch
auf den Prototypen sitzenblieb? Der Schriftsteller Klaus Ungerer hat dies vor einigen
Jahren in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu erklären versucht, mit der
Weltuntergangsstimmung der Zeit, mit den Erfahrungen des Krieges: „Kein Spiel der
Könige war dies mehr, keiner Figur und keiner Karte wurde hier der feste Platz in
einer ständischen Ordnung zugewiesen, der Pöppel, der nun übers Brett gescheucht
wurde, er war gesichtslos, wie es die Verfügungsmasse Mensch in Krieg,
Kapitalismus, Sozialismus und Faschismus nun einmal ist, die Repräsentanz des Ich
auf dem Spielfeld fand sich in keine Märchenfassade mehr eingeordnet.“ Bei aller
Metaphorik dieser Analyse: die aufgehobenen Hierarchien des Spiels könnten
tatsächlich sein Erfolgsgeheimnis sein. Zu erwähnen ist natürlich auch der Gedanke
der Schadenfreude beim Rauswerfen anderer Figuren.
Für Josef Friedrich Schmidt jedenfalls war die Idee der Durchbruch. Mit dem Erfolg
von „Mensch ärgere Dich nicht“ wuchs sein Unternehmen. Andere Spiele wurden
hergestellt, Quartette, Webstühle für Kinder, Baukästen – Produkte auch im Sinne
eines pädagogischen Spielanspruchs. 1936 machte sich Schmidts ältester Sohn in
Nürnberg mit einer eigenen Fabrik selbständig. Im Zweiten Weltkrieg wurden die
Produktionsstätten beider Unternehmen zerstört, 1948 zunächst als selbständige
Betriebe wieder aufgebaut, sie fusionierten dann im Jahr 1970. In den 80er-Jahren
entwickelte sich die Firma zum zweitgrößten Hersteller Deutschlands, 1997
allerdings kam es zum Konkurs. Seitdem gehört Schmidt Spiele zur Berliner BlatzGruppe, zu deren beliebtesten Spielen immer noch „Mensch ärgere Dich nicht“ zählt.
Auf dem Spielemarkt von heute sieht man oft hochkomplexe Brettwelten, mit
Regelbüchern dick wie ein kleiner Roman. „Das ist aber nur der eine Trend“, sagt
Spiele-Erfinder Blum. Der andere gehe zu reduzierten, übersichtlichen Spielen, die
man schnell und unkompliziert beginnen könne – dabei brauche es aber immer
„einen gewissen Pfiff“. Josef Friedrich Schmidt hat diesen vor hundert Jahren
entdeckt.
Letzte Frage an den Experten Blum: Soll man als Eltern seine Kinder beim Spiel
rauswerfen, sich etwa verhalten wie Gerhard Polt im Sketch? Oder die Kleinen
absichtlich gewinnen lassen? 40 Prozent der Väter und Mütter können laut einer
Umfrage ihren Nachwuchs nicht verlieren sehen und schummeln bei Spielen zu
dessen Gunsten. „Das kommt auf das Alter der Kinder an, und auf die Eltern. Nicht
jeder kann es ertragen, wenn das Kind eine Stunde in der Ecke schmollt“, sagt Blum.
Durchgängig gewinnen lassen – das hält er für problematisch, rät lieber zu
Hilfestellungen, welcher Zug gerade am besten sei: „Verlieren-Lernen gehört als
Komponente zum Spiel unbedingt dazu.“ Und im Zweifelsfall ja auch das Ärgern.