Aus dem Leben eines Taschendiebes
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Aus dem Leben eines Taschendiebes
Bericht | Text : Katrin Moser | Fotos: Dieter Schütz/Egon Häbich/pixelio.de Aus dem Leben eines Taschendiebes Der Job ist schwieriger geworden Eine kurze Ablenkung am Kettenkarussell und schon ist es passiert: Handy und Geldbeutel sind weg. ~-Autorin Katrin Moser hat einen ehemaligen Langfinger getroffen – und ihm auf eben diese geschaut. Der Send lockt zahlreiche Menschen auf den Schlossplatz. Und mit vielen Menschen kommen auch viele, die die Masse zu ihrem ganz eigenen Vorteil ausnutzen wollen. „Send, Lichtermarkt und verkaufsoffene Sonntage, das war für mich immer das Paradies. Gute Tage. Viel zu holen.“ Wolfgang Runger (Name geändert) ist ein ruhiger, unauffälliger Mann Mitte 50, gesetzt, graumelierte Haare, gepflegte Erscheinung. Nett und sympathisch wirkt er, wenn er so am Tisch sitzt, die Hände gefaltet, lächelnd. Jemanden, dem man vermutlich ansprechen würde, ob er kurz auf die Tasche aufpassen könne. „Wobei ich das natürlich vollkommen korrekt gemacht hätte“, lacht Runger. „In dem Fall hätte mich ja jemand gesehen und beschreiben können.“ In seiner aktiven Zeit – die seit vier Jahren vorbei sei – war Runger Taschendieb. Mit einem „Kollegen“ war er im Team unterwegs, manchmal auch alleine. „Zu zweit ist es einfacher, aber alleine ist man flexibler“, sagt er. Beim Send und Lichtermarkt waren die beiden schon im fast klassischen Sinne unterwegs. „Einer hat gerempelt, sich groß entschuldigt, ganz nett und zerknirscht – da hat der andere schon die Geldbörse aus der Hosentasche gezogen.“ Aber auch die Fahrgeschäfte machten es den Dieben leicht. „Gerade die ganz flippigen Fahrgeräte, da darf man keine Handtaschen mitnehmen. Die Frauen hatten meist einen bestimmten Platz, wo sie ihre Taschen abgelegt hatten.“ Meist beobachteten die beiden diese Stellen eine ganze Weile. Wenn sie sicher waren, dass das Opfer im Fahrgeschäft war, zogen sie die Tasche aus dem Haufen. „Manchmal hatte der Kollege noch seine Tochter dabei, da war es dann ganz einfach. Tasche aufheben, dem Mädchen in die Hand geben und munter quatschend ganz gelassen weggehen.“ Die Aufklärungsrate bei Taschendiebstahl ist niedrig. Für 2014 gibt die polizeiliche Kriminalstatistik 157 069 Fälle an – die angezeigt wurden. Dazu kommt noch das große Dunkelfeld der nicht angezeigten Diebstähle. Aufgeklärt wurden jedoch nur knappe sechs Prozent der Fälle, was Taschendiebstahl zu dem Kriminaldelikt mit der niedrigsten Aufklärungsquote macht. Auffallend ist, dass die Zahl der Taschendiebstähle in den vergangenen Jahren kontinuierlich zugenommen hat. 2013 lag die registrierte Zahl noch bei 135 617 Fällen. Die Zahlen verwundern Wolfgang Runger nicht. „Wie will man so was auch aufklären? Wenn man mich auf frischer Tat ertappt, ist die Sache klar. Alles andere ist schwer bis unmöglich nachzuweisen, wenn nicht gerade Kameras in der Nähe hängen.“ Auf frischer Tat erwischt wurde auch Runger. „Wir hatten den Rempeltrick abgezogen. Dummerweise stand eine Zivilstreife daneben.“ Runger erzählt davon wie andere vom Aprilscherz des Vorjahres. „Dumm gelaufen eben.“ Einsicht in begangenes Unrecht – nicht wirklich. „Klar, das ist nicht richtig. Andererseits nehme ich ja das, was in einer Überflussgesellschaft da ist. Es gibt klar Leute, da sieht man, dass die nix haben, da nehme ich auch nichts.“ Diese Seite wird gesponsert von Diana und Mark Lütke Schürmann. www.provinzial-online.de/luetke-schuermann-kluemper 10 „Nehmen“ heißt es bei Runger. Diebstahl nennt es der Rest der Gesellschaft. Es gab ein Verfahren, eine Bewährungsstrafe, ein paar mahnende Worte. Das einzig unangenehme war Rungers Familie. „Die wussten auf einmal, was ich so treibe. Und waren natürlich nicht begeistert.“ Wenn Runger alleine unterwegs war, dann bevorzugte er den Stadtplantrick. In einer Stadt, in der es regelmäßig von Touristen wimmelt, fällt ein Mann mit Stadtplan nicht auf. Er fragt jemanden nach dem Weg, das Opfer greift zur Karte, möchte helfen. „Und dann ist es ganz einfach, in die Handtasche oder den Korb zu greifen.“ Dabei immer freundlich bleiben, lächeln, Danke schön, auf Wiedersehen. Ähnlich funktioniert das auch im Supermarkt, „aber irgendwann wurden die Kameras zu gut, da wurde mir das zu riskant“. Insgesamt 30 Jahre war Runger als Taschendieb unterwegs. Sein „Verdienst“, wie er es nennt, war schwankend. Mal kam er auf einige hundert Euro, mal auf einige tausend. Einmal sei ihm ein Autohändler oder Ähnliches untergekommen, der mehrere tausend Euro in bar im Geldbeutel hatte. „Das war ein richtiger Glückstag. Und für mich lohnte sich das, denn ich musste nichts abgeben. Ich war autonom.“ Das hat sich seiner Beobachtung nach in den vergangenen Jahren geändert. Die Diebstähle seien zunehmend organisiert, es seien nicht mehr einzelne Täter, sondern ganze Gruppen. „Gerade in der Weihnachtszeit schießen in der Stadt zahlreiche Menschen aus dem Boden mit Schildern, auf denen sie um eine Spende bitten.“ Was nach harmloser Bettelei aussieht, sei vielmehr organisierter Diebstahl: Sucht ein Spendenwilliger in seiner Börse nach Kleingeld, ziehen die Täter unter dem Schutz des Pappschildes Geldscheine heraus. Auch der Trick mit der Rasierklinge, mit der Taschen von unten aufgeschnitten werden, sei auf Gruppentäter zurückzuführen, meint Runger. „Ich habe nur Dinge genommen, aber nie etwas zerstört“, glaubt er. Vor vier Jahren wurde er erneut erwischt, zusammen mit seinem Kollegen. „Der erzählte dann brav, dass wir das quasi jeden zweiten Tag machen – und schon waren wir in der Schublade schwerer Diebstahl.“ Schwerer Diebstahl ist unter anderem dann der Fall, wenn etwas aus einer Kirche oder verschlossenen Räumen entwendet oder die Hilflosigkeit bestimmter Personen ausgenutzt werde. Und auch dann, wenn der Diebstahl gewerblich begangen wird. Dem Kollegen gibt Runger die Schuld, dass er im Gefängnis landete – sechs Monate. einzelne Gebiete beanspruchen und die seien ungemütlich, wenn jemand in ihrem Bereich wildert. „Ein guter Freund ist da mal heftigst verprügelt worden“, erzählt Runger. Weil er geklaut hat, wo sich gerade eine Bande breitgemacht habe. „Die erkennt man ja gut. Das sind die, die einem Blumen schenken oder mit Kinderbildern herumgehen. Wobei ich persönlich das ja sehr plump finde.“ Obwohl er die Szene im Auge habe, sei er seit dem Knast sauber. Nach dem Gespräch lässt sich ein kurzer Kontrollblick in die Handtasche dann aber doch nicht vermeiden. Sicher ist sicher. # MS_Anz_draußen_42,7x126_sw_RZ.pd Anzeige Der Schaden, der durch Taschendiebstahl entsteht, ist immens. Zum einen ist der Aufwand für die Opfer häufig ärgerlich: Karten sperren, Führerschein neu beantragen, Personalausweis organisieren – und dazu das Geld weg. Die Polizei beziffert den Gesamtschaden C für 2014 auf 45,9 Millionen Euro. Rund 500 Euro, so schätzt die Polizei, kostet M ein Taschendiebstahl das Opfer selbst – ohne Zeitaufwand und Verdienstausfall Y einzubeziehen. Über die Präventionsratschläge kann Runger nur müde lächeln. CM Wertsachen nahe am Körper aufbewahMY – ren, in verschlossenen Innentaschen „machen Sie das mal beim Europafest in CY der Münsteraner Innenstadt, wenn es 30 Grad im Schatten hat“. Sein Tipp: „Nur so CMY viel Geld mitnehmen, wie man wirklich braucht. Und alles, was überflüssig Kist, daheim lassen. Dann spart man sich nachher die Rennerei.“ Heute gibt Wolfgang Runger den Geläuterten. Im Gefängnis habe er gemerkt, dass es so nicht weitergehe. Heute lebe er bescheidener, beziehe nur noch Hartz IV, nehme nichts mehr, was ihm nicht gehöre. Obwohl die Versuchung schon da sei, zumindest dann, wenn wieder jemand mit Geldbeutel in offenem Korb an ihm vorbeimarschiere. Aber insgesamt sei ihm das Gewerbe auch „zu kommerzialisiert“. Banden würden 11