Autorität heute – Neue Formen, andere Akteure?
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Autorität heute – Neue Formen, andere Akteure?
31. S I N C L A I R - H AU S - G E S P R ÄC H Autorität heute – Neue Formen, andere Akteure? HERAUSGEGEBEN IM AUFTRAG D E R H E R B E R T Q UA N DT-STI F T U N G VON CHRISTOF EICHERT U N T E R M I TA R B E I T V O N S T E P H A N I E H O H N Inhalt 04 Editorial Von Christof Eichert 08 Wegweisung Von Susanne Klatten I. Autorität zwischen Leistung und Zuschreibung: soziologische Erkenntnisse 12 Autorität – Grenzgang ohne Ende. Eine Ortsbestimmung 22 Autorität in Deutschland: Empirische Erkenntnisse der aktuellen Allensbach-Studie Von Gerhard Schulze Von Thomas Petersen II. Politik, Kirche, Gewerkschaften: Traditionelle Autoritäten in der Krise? 40 Die Entkollektivierung der Gesellschaft und die Schwierigkeit, Autorität zu bewahren Von Franz Walter 61 Institutionelle Autoritäten in der Krise – oder: Realismus tut not Von Knut Bergmann 71 Persönliche Autorität: Die Kraft in der Krise? Von Hermann Gröhe III. Autorität des Rechts? Institutionelle Autorität in Deutschland zwischen EuGH und Basisdemokratie 80 Autoritative Rechtsprechung in der Gegenwart Von Udo Di Fabio 91 Die Autorität des Deutschen Bundestags im Spannungsfeld zwischen europäischen Vorgaben und gesellschaftlichen Anforderungen Von Stefan Ruppert IV. Medien-Autoritäten: von Gutenberg bis Wikileaks 104 Neue Medien als Chance zur Demokratisierung 111 Das Netz als fünfte Gewalt im Staate Von Peter Voß Von Markus Beckedahl 02 I N H A LT V. Bürgersinn: Eine Autorität zwischen Erwartung und Möglichkeiten 116 Eine aktive Bürgergesellschaft und ihre neuen Autoritäten Von Hans Fleisch 126 Motivation zu Engagement. Eine persönliche Perspektive Von Astghik Beglaryan Interview 129 Thomas Gauly im Gespräch mit Hermann Gröhe 133 Biografien der Autoren 140 Teilnehmer 142 Übersicht Sinclair-Haus-Gespräche 144 Herbert Quandt-Stiftung 144 Isaak von Sinclair 145 Sinclair-Haus-Gespräche 146 Bildnachweis 147 Impressum Anhang Hintergrund 03 Editorial Worauf ist noch Verlass? Vertrauen – Autorität – Freiheit VON CHRISTOF EICHERT 1. Thema »Autorität heute« Das Thema des Sinclair-Haus-Gesprächs 2011 greift in der Reihe »Worauf ist noch Verlass? Vertrauen – Autorität – Freiheit« ein wichtiges Anliegen in einer sich rasant verändernden Welt auf. Die zeitgleiche Debatte um die Veröffentlichung von geheimen Dokumenten der US-Außenpolitik und die befürchtete Gefährdung staatlicher Autorität durch Wikileaks-Aktivisten unterstreicht die Aktualität dramatisch. Ausgehend von der Überlegung, dass es keine autoritätsfreie Entwicklung, sondern eher eine Verlagerung der tatsächlichen Autorität auf andere, neue Akteure geben wird, zeigt sich der thematische Bezug in der Ausgestaltung des Titels der Publikation, die das Sinclair-Haus-Gespräch dokumentiert: Autorität heute – Neue Formen, andere Akteure? Aus der breiten Palette von denkbaren Feldern der Debatte um alte und neue Autorität erfolgte mit Blick auf die gewünschte Umsetzung von Ergebnissen in die laufende Stiftungsarbeit eine Auswahl. Die Referenten waren von uns gebeten worden, das ihnen anvertraute Thema nach einer kurzen Verortung im Grundsätzlichen und der aktuellen Relevanz vor allem mit Blick in die Zukunft zu beleuchten. Die Leitfragen waren dabei: Wer sind die Träger von Autorität im thematischen Feld, welche Veränderungen sind zu befürchten? Welche Erwartungen werden für die Zukunft formuliert, welche Prognose wird gestellt und welche Handlungsoptionen gibt es für Bürgergesellschaft und Staat? Rechtzeitig zur Tagung lag die von der Stiftung beauftragte empirische Untersuchung des Instituts für Demoskopie (IfD) Allensbach vor. Die leitenden Fragen bei der repräsentativen Studie waren: 04 EDITORIAL • Welche Vorstellungen des Begriffs Autorität herrschen bei der deutschen Bevölkerung vor? • Welche Wertschätzung genießt Autorität als ordnender Faktor in der Gesellschaft? Wird Autorität als notwendig oder als ein veraltetes Prinzip wahrgenommen, das es zu überwinden gilt? • Welches sind die Faktoren, die die Wertschätzung der Autorität durch die Bürger bedingen?1 So wird in der Untersuchung beispielsweise der Frage nachgegangen, in welchen Bereichen Autorität besonders wichtig ist, wo es aus Sicht der Bevölkerung zu viel und an welchen Stellen es zu wenig Autorität gibt, welche Personengruppen oder Organisationen Träger von Autorität sind und welche inhaltlichen Aspekte abseits aller theoretischen Erwägungen mit diesem Begriff verbunden sind. Auch das wechselseitige Verhältnis von Autorität, Freiheit und Vertrauen wird behandelt. Mit einer Neuerung betrat die Stiftung ein sicher auch für vergleichbare Symposien spannendes Neuland: Diskussionen um die Zukunft wichtiger Themen der Gesellschaft dürfen nicht über die nächste Generation erfolgen, sondern stets mit ihr. Deshalb wurden zum Sinclair-Haus-Gespräch zwei »Botschafterinnen der Zukunft« eingeladen, die als Vertreterinnen der Generation der Zwanzig- bis Dreißigjährigen ihren Standpunkt, vor allem aber auch ihre Erwartungen in die Diskussion einbringen sollten. Diese Erwartung hat sich aufs Vortrefflichste erfüllt. 2. Umsetzung der Ergebnisse Die beiden großen Themenfelder der Herbert Quandt-Stiftung als Ableitung aus Leitbild und Wegweisung der Stifterin haben stets den Auftrag, mit den Ergebnissen eines Sinclair-Haus-Gesprächs zu arbeiten. So sollen die wichtigen Beiträge aus den Referaten und der Debatte nachhaltig in die Arbeit der Stiftung einfließen. Für das Themenfeld »Bürger und Gesellschaft« liegt nahe, die Veränderung von Autorität in der Balance zwischen Bürgergesellschaft und Staat zu beleuchten und zum Beispiel zu fragen, wie die Autorität der Bürger gestärkt werden kann, die sich um das Gemeinwesen kümmern und damit Bürgersinn beweisen. Was sind die Wesenskerne einer gesellschaftlich anerkannten Autorität einzelner Menschen? Wie kann die Stiftung einen Beitrag leisten, damit sich solche Menschen auch in Zeiten eines massiven demografischen Wandels etwa in den neuen Bundesländern finden 1 Petersen, Thomas: »Autorität in Deutschland. Eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach.« In: Herbert Quandt-Stiftung (Hg): Gedanken zur Zukunft 20. Bad Homburg 2011. 05 CHRISTOF EICHERT Christof Eichert beim Abendvortrag des Sinclair-Haus-Gesprächs und unterstützen lassen? Der von der Stiftung mitgetragene Ideenwettbewerb für Bürgerstiftungen wird sich auch auf diese Dimension der Autorität erstrecken. Für das Themenfeld »Trialog der Kulturen« liegt die Frage nach den verschiedenen Verständnissen von persönlicher und institutioneller Autorität in den drei großen Kulturkreisen von Christentum, Judentum und Islam auf der Hand. Dies in den Schulwettbewerb, die Journalistengespräche und andere Formate des Trialogs einzubinden, wird eine neue und sehr wichtige Dimension auch der politischen Debatte eröffnen. 3. Persönliche Anmerkungen Das Sinclair-Haus-Gespräch 2011 war für mich das erste große Ereignis in meiner Aufgabe als neuer Vorstand der Herbert Quandt-Stiftung. Einige der Stationen meines Werdegangs sind dabei wunderbare Hintergründe für das diesjährige Thema. Bad Homburg, mein neuer Arbeitsort, kenne ich schon von meiner Zeit als Geschäftsführer der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung. Die Spannung zwischen Rand und Mitte eines Ballungsraums, die Freuden und Leiden der selbstbewussten Bürgerschaft einer ehemaligen Residenz-Stadt im Schatten der Main-Metropole 06 EDITORIAL sind ein interessantes Feld für Fragen nach Zusammenhalt und Solidarität einer Gesellschaft. Wer sich als Stiftung für Bürger und Gesellschaft nützlich machen will, sollte den Menschen und ihren Lebensumständen nahe sein, insbesondere auch in den neuen Bundesländern. Das wollen wir gerne tun, ohne das politische Parkett in der Bundeshauptstadt zu scheuen. Das neu benannte Themenfeld »Bürger und Gesellschaft« mit dem Büro in Berlin unter der Leitung von Roland Löffler wird diese ganz konkrete Arbeit der Stiftung vorantreiben. Das schwäbische Versailles Ludwigsburg und meine Zeit als Oberbürgermeister dort haben mich stark geprägt und vor allem kritisch-neugierig gemacht, was eine Bürgerschaft mit einer vergleichsweise jungen Geschichte aus eigenen Stücken auch ohne Residenz und Garnison, ohne Herzog und König zu leisten vermag. Ich habe auch erlebt, was eine Verwaltung falsch machen kann, wenn sie die Bürgerschaft als Ersatz-Dienstleister eines klammen städtischen Budgets betrachtet und so behandelt. Isny werden nicht alle kennen. In jungen Jahren war ich dort Bürgermeister. Diese kleine Stadt war einst einflussreicher europäischer Fern-Handelsplatz, hatte das Recht, eigene Geld-Münzen zu prägen und gehörte zu den 14 Reichsstädten Deutschlands, die sich der Reformation beim Reichstag zu Speyer im Jahr 1529 angeschlossen hatten. Interessant ist für mich die Suche nach dem kollektiven Gedächtnis einer solch historisch reichen Gesellschaft zu Autoritäten, politischem Einfluss und Spielregeln des Miteinander. Am Beispiel der Stadt Isny gibt es spannende Untersuchungen zur Frage, was die Stadtgesellschaft unbewusst und über Jahrhunderte hinweg prägt, welche Autoritäten willkommen sind, welche Spielregeln benötigt und akzeptiert werden und wie sich dieses kollektive Gedächtnis verändern lässt. Das Sinclair-Haus-Gespräch des Jahres 2011 hat die Herbert Quandt-Stiftung bereichert und großzügig mit Wegweisungen für unsere tägliche Arbeit versehen. Dieses Geschenk nun in den konkreten Projekten und Programmen umzusetzen, ist eine dankbare Aufgabe, der wir uns gerne stellen. 07 Wegweisung V O N S U S A N N E K L AT T E N Mit dem 31. Sinclair-Haus-Gespräch greifen wir die gesellschaftspolitische Leitfrage der Stiftung auf: »Worauf ist noch Verlass?«. Im vergangenen Jahr haben wir über Vertrauen und seine Bedeutung für unsere Gesellschaft nachgedacht. 2011 haben wir uns mit dem Thema »Autorität heute – Neue Formen, andere Akteure« beschäftigt und legen nun die Ergebnisse unserer Überlegungen vor. Das Nachdenken über das Heute und das Morgen, die Beschäftigung mit Fragen zum Zustand unseres Landes und seiner möglichen Entwicklungen – dies ist der rote Faden der Sinclair-Haus-Gespräche. Kaum ein Thema der vergangenen Jahre hat allerdings so tagesaktuelle Bezüge in diesem Jahr wie die Beschäftigung mit der Autorität. Jeder von uns kann zum Thema Autorität eigene Erfahrungen und Erkenntnisse einbringen. Autorität umgibt uns manchmal wie ein schützender Mantel, manchmal auch wie eine enge Jacke. Das Ringen um und mit Autorität – die eigene und eine fremde – begleitet uns in allen unseren Rollen. Als Mutter, als Unternehmerin und in besonderem Maße als engagierte Bürgerin und Stifterin erlebe ich dieses Ringen stets aufs Neue und reflektiere die wechselseitigen Wirkungen. Sie begleiten uns in jeder Phase unseres Lebens in ungezählten Momenten und Anlässen. Am Ende kann uns der Satz von Marie Ebner-Eschenbach helfen: »Das unfehlbare Mittel, Autorität über die Menschen zu gewinnen, ist, sich ihnen nützlich zu machen.«1 1 Ebner-Eschenbach, Marie: Aphorismen. Stuttgart 2002. S. 30 08 WEGWEISUNG Susanne Klatten im Gespräch mit Hans Fleisch (l.) und Thomas Gauly Dies ist ein gutes Motto, ganz besonders für die Herbert Quandt-Stiftung, die sich nützlich für die Veränderungen in diesem Land machen möge. Das Schwerpunktthema – ›Worauf ist noch Verlass? Vertrauen, Autorität, Freiheit‹ – hat nichts von seiner Aktualität und Brisanz verloren. Im Gegenteil, die Stichworte rufen sogleich Bilder und Schlagzeilen aus dem Frühjahr 2011 in Erinnerung: • Die Facebook-Revolutionen in Ägypten, Tunesien, Syrien, Libyen usw. • Das Großprojekt Stuttgart 21, der grüne Höhenflug und ihr Wahlsieger Kretschmann • »Japan und der gesellschaftliche Super-GAU«2 • »Guttenberg und die Erregungsgesellschaft«3 »Vertrauen und das soziale Kapital unserer Gesellschaft« ist der Titel unseres letzten Sinclair-Haus-Gesprächs.4 Es ging uns um das Vertrauen als eine notwendige Bedingung des Zusammenlebens. Greift man dieses Bild auf, dann ist Autorität die notwendige Bedingung für das Funktionieren einer komplexen Gesellschaft. 2 Eine Überschrift in SPIEGEL-Online vom 22.03.2011. Eine Überschrift in der Süddeutschen Zeitung vom 02.03.2011. 4 Herbert Quandt-Stiftung (Hg.):Vertrauen und das soziale Kapital unserer Gesellschaft. Bad Homburg 2011. 3 09 SUS A N N E K L AT T E N Wir haben auch in diesem Jahr besonderen Wert darauf gelegt, Erkenntnisse zu erzielen, die in die Arbeit der Stiftung einfließen können. Um im Bild von Marie Ebner-Eschenbach zu bleiben: Wo und wie kann sich die Herbert Quandt-Stiftung nützlich machen, um zum Beispiel die Autorität von engagierten Bürgern zu sichern und zu stärken? Eine notwendige und wichtige Veränderung unserer Gesprächskultur ist für mich, nicht über junge Menschen, sondern mit ihnen zu diskutieren. Noch nie war die Altersspanne bei einem Sinclair-Haus-Gespräch so groß wie in diesem Jahr. Diese Spanne spiegelt eine Realität in unserem Lande wider, die wir beachten sollten. 10 I. Autorität zwischen Leistung und Zuschreibung: soziologische Erkenntnisse Autorität – Grenzgang ohne Ende Eine Ortsbestimmung VON GERHARD SCHULZE 1. Was ist Autorität? Lassen Sie mich mit der Schilderung einer Situation anfangen, die ich unzählige Male erlebt habe: Ich betrete einen voll besetzten Hörsaal, um meine Vorlesung zu halten. Viele Studenten haben keinen Platz mehr gefunden und sitzen in den aufsteigenden Zwischengängen, auf den Fenstersimsen oder auf dem Fußboden rings um das Pult. Die Luft schwirrt von Reden, Rufen und Lachen. Innerhalb der nächsten Minute muss ich Ruhe herstellen, die Aufmerksamkeit auf meine Person fokussieren und alle Anwesenden für eineinhalb Stunden bei der Stange halten. Es ist klar, dass dies nur mit Autorität geht. Ich muss unmissverständlich zeigen, dass ich jetzt die Führung beanspruche und dass die in Vorlesungen üblichen Regeln gelten. Das klappt auch, aber warum eigentlich? Wäre es nicht viel schöner für die Studenten, sich einfach weiter zu unterhalten und Spaß miteinander zu haben? Würden sie nicht mitspielen, müsste ich schnell das Handtuch werfen. Offenbar wollen die Studenten, dass ich jetzt die Zügel in die Hand nehme; sie brauchen meine Autorität ebenso wie ich selbst. Ob einen die Polizei anhält, um die Papiere zu kontrollieren; ob man als Vorgesetzter Weisungen gibt oder als Untergebener welche empfängt; ob man von seinem Kind etwas fordert, was es nicht einsieht: Unser Alltag führt uns von einer Autoritätserfahrung zur nächsten, meine Vorlesung eingeschlossen. Der Begriff der Autorität sammelt all diese Lebensfülle mit einer einzigen Abstraktion ein. Was ist aus soziologischer Sicht der gemeinsame Nenner der Beispiele, die ich genannt habe? Ich will drei Elemente herausarbeiten. 12 A U T O R I TÄT – G R E N Z G A N G O H N E E N D E Autoritätserfahrungen im Alltag einer Hochschule Erstens ist Autorität, wenn es gut läuft, immer eine Gemeinschaftsleistung. Zwischen Autoritätsinstanz und Autoritätsbetroffenen besteht eine Art unausgesprochener Vertrag. Sein Kern ist der Tausch von guter Führung gegen Gefolgschaft. Keine Gemeinschaft kommt völlig ohne diesen Autoritätsvertrag aus. Es muss jemanden geben, der auf die Einhaltung der Regeln achtet, der die Interessen aller jenseits der Privatinteressen zum Thema macht, der etwas für das Gemeinwohl tut, der für Gerechtigkeit sorgt und die Schwachen schützt. Deshalb stoßen wir in Naturvölkern ebenso auf das Phänomen der Autorität wie in modernen Gesellschaften. Überall gibt es eine Nachfrage nach Autorität; und normalerweise sehen die Menschen ihren Sinn ein. Zweitens ist die universelle Idee der Autorität logisch notwendig mit der Unterscheidung von guter und schlechter Autoritätsausübung gekoppelt. Es stehen Erwartungen im Raum, die erfüllt oder enttäuscht werden können. Schlechte Autoritätsinstanzen sind ihren Aufgaben nicht gewachsen, oder sie missbrauchen ihre Position, um sich Vorteile zu verschaffen und Kritiker mundtot zu machen. Gute Autoritäten dagegen werden respektiert. Sie agieren mit einem kollektiven Vertrauensvorschuss, mit »Legitimität«. Am besten stellt man sich Legitimität als etwas Atmosphärisches vor, als eine Art Betriebsklima zwischen Instanzen und 13 GERHARD SCHULZE Betroffenen. Legitimität ist das Substrat einer fortlaufenden kollektiven Beurteilung jeder Autoritätsinstanz. Drittens braucht Autorität schließlich Machtmittel, um sich gegen Widerstand durchzusetzen. Der Gebrauch dieser Macht gehört zwingend zum Handwerk der Autorität dazu; ohne Macht kann sie ihrer Aufgabe nicht gerecht werden. Aber Macht ist verführerisch. Wer garantiert, dass eine Autoritätsinstanz ihre Macht tatsächlich auch im Sinn der Gemeinschaft einsetzt? Nichts hat so viel Unheil über die Menschen gebracht wie skrupellose oder inkompetente Autoritäten. Die Gesellschaft braucht Autorität, ist aber gleichzeitig durch Autorität bedroht – diese Ambivalenz lässt sich nicht endgültig beseitigen, und deshalb sind Autoritätsbeziehungen immer ein Grenzgang ohne Ende, eine Wanderung zwischen Normalfall und Risikofall, auch hier und heute. 2. Machtmissbrauch. Der Risikofall der Autorität Es geschieht immer wieder, dass der ursprüngliche Sinn von Autorität bis zur Unkenntlichkeit pervertiert wird. Zwar kommt Autorität nicht ganz ohne Macht aus; selbst ich muss in meiner Vorlesung manchmal Druck machen, meist versuche ich es mit Ironie. Mein Machtmonopol besteht im alleinigen Rederecht, und ich nutze es durchaus. Aber auch ich muss aufpassen, dieses Monopol nicht zu missbrauchen. Einer meiner Kollegen ist berüchtigt dafür, immer wieder Studenten öffentlich abzukanzeln und der Lächerlichkeit preiszugeben. Vor ihm haben sie Angst, aber sie achten ihn nicht. Die Legitimität seiner Autorität ist längst zusammengebrochen. In der Geschichte der Autorität entstanden immer wieder Zwangssysteme, in denen es lebensgefährlich war, die Legitimität der Machthaber auch nur in Frage zu stellen. Die kollektive Beurteilung der Autorität wurde verboten. Räuberische Potentaten, blutrünstige Diktatoren, sadistische Lehrer oder Familiendespoten haben den Autoritätsvertrag aufgekündigt; die Unterscheidung zwischen guter und schlechter Autorität kümmert sie nicht. Hier ist der Super-GAU der Autorität eingetreten; sie existiert nicht mehr, weil die Frage nach Rechtfertigung, Geltung, Legitimität gestrichen ist. So war es bei Stalin, Hitler, Saddam Hussein oder Gaddafi. Mit Legitimität fängt es an, mit Machtmissbrauch hört es auf, einen friedlichen Weg zurück gibt es nicht. 3. Wie entsteht Legitimität? Zwei Muster Was aber ist mit dem Normalfall der Autorität? Wie kann Legitimität entstehen? Ich will zunächst ganz allgemein auf diese Frage antworten. Legitimität ist ein positives summarisches Kollektivurteil über die Instanz, sie ist gefühlte gute Autorität. 14 A U T O R I TÄT – G R E N Z G A N G O H N E E N D E Es wird schon alles seine Ordnung haben, denken die Menschen. Sie vertrauen. Viele schauen gar nicht mehr genau hin, weil es ja genügt, wenn ein paar hinschauen. Die rudimentäre Zufriedenheit der meisten beruht oft nur auf dem Hörensagen oder nicht einmal darauf, sondern bloß auf dem Ausbleiben von offensichtlichem Machtmissbrauch. Das grenzt an Inaktivität, Legitimität ist ein positives summarisches nichtsdestoweniger verbirgt sich hier ein permanenter Beurtei- Kollektivurteil. lungsvorgang. Aber nach welchen Gesichtspunkten? Diese Frage zielt auf eine einschneidende Wende in der Kulturgeschichte der Autorität. Wir beurteilen heute Autoritäten nach anderen Maßstäben als in früheren Zeiten. Um diesen Wandel auf den Begriff zu bringen, greife ich auf das theoretische Arsenal von Talcott Parsons zurück, eines Klassikers der Soziologie.1 Von Parsons stammt eine Liste von grundlegenden Merkmalen, nach denen sich alle Gesellschaften beschreiben lassen, die sogenannten pattern variables. Es handelt sich dabei um Alternativen, zwischen denen sich jede Gesellschaft entscheiden muss. Eines dieser Gegensatzpaare eignet sich dazu, den großen Paradigmenwechsel in der Geschichte der Autorität darzustellen – die Dichotomie von Zuschreibung oder Erwerb. Was bedeutet das im Einzelnen? Ich gehe im Folgenden zunächst auf das Paradigma der Zuschreibung ein, dann auf das Paradigma des Erwerbs. 4. Zugeschriebene Autorität Wird Autorität zugeschrieben, so beruht sie auf Merkmalen, auf die man keinen Einfluss hat, etwa Geburt, Geschlecht, Alter oder angenommene übernatürliche Kräfte. Zuschreibungen sind meist an metaphysische oder naturrechtliche Hintergrundvorstellungen gebunden. Der absolute Herrscher hat seine Autorität von Gottes Gnaden; der Mann ist das Oberhaupt der Familie, weil dies der Schöpfungsordnung entspricht; der Schamane hat Autorität, weil er in Dinge eingeweiht ist, die normalen Sterblichen verborgen bleiben. In Autoritätskulturen der Zuschreibung beruht die Geltung von Autorität auf Glauben und Tradition, nicht auf dem Urteil der Betroffenen über die Führungsleistung. Dass die Instanzen legitim sind und dass die Autorität bei ihnen in besten Händen ist, steht a priori fest. Wer sich auflehnt, wird typischerweise streng bestraft, da dies als Verstoß gegen die heilige Ordnung gilt. Ungehorsam ist Sünde. Autoritätskulturen der Zuschreibung scheinen auf den ersten Blick förmlich zur Willkür einzuladen; schließlich sind die Instanzen ja jeder Kritik enthoben. Doch 1 Siehe dazu grundlegend: Parsons, Talcott: The social system. New York 1964. Vgl. auch: Parsons, Talcott: Das System moderner Gesellschaften. Weinheim 20097. 15 GERHARD SCHULZE meist funktionieren sie ganz gut. Warum ist das so? Warum tritt hier der Risikofall der Macht keineswegs immer und sofort ein? Die Erklärung liegt darin, dass die Autoritätsinstanzen in einem metaphysischen Rechtfertigungsverhältnis agieren. Sie müssen nicht bloß Menschen gerecht werden, sondern Gott, der Natur oder den Ahnen. Es geht nicht bloß um ihre irdischen Interessen, es geht um ihr Seelenheil. Diese metaphysisch begründete Erwartung guter Autoritätsausübung hat sich in einer Reihe von Idealfiguren mit großer Suggestivkraft verfestigt. Beispiele sind das Leitbild des weisen Fürsten, der das Wohl seiner Untertanen mehrt; das Leitbild des gerechten Herrn, der seine Schutzbefohlenen gut und gerecht behandelt; das Leitbild des so strengen wie gütigen Familienvaters, der aufopferungsvoll für die Seinen sorgt. Das grundlegende Herrschaftsmodell von Autoritätskulturen der Zuschreibung hat die Form einer Pyramide: An der Spitze steht eine metaphysische oder als gottgleich verehrte Autoritätsinstanz, dann kommen die irdischen Instanzen, die in ihrem Auftrag handeln, und dann die Gehorsamspflichtigen, denen der übergeordnete Wille eigentlich nur weitergegeben wird. 5. Erworbene Autorität Im 18. Jahrhundert wurde das metaphysisch verankerte Autoritätsmodell der Zuschreibung heftig attackiert. »Was ist Aufklärung?«, fragte Kant in einem Aufsatz, der 1784 in der Berlinischen Monatsschrift erschien.2 Hier seine berühmte Antwort: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen.« In diesen Worten klingt ein gänzlich anderes Modell an. Die Zuschreibung von Autorität gilt den Aufklärern als selbstverschuldete Unmündigkeit. An die Stelle blinden Autoritätsglaubens tritt nun die kritische Beurteilung der Instanzen durch die Betroffenen. Dies hört sich zunächst so an, als ob jedem alles erlaubt sei. Sollen denn jetzt alle, denen eine Anordnung, ein Gesetz, ein elterliches Verbot nicht passt, einfach den Gehorsam verweigern können? Das ist mitnichten so gemeint. Kant fordert uns vielmehr zum »öffentlichen Gebrauch der Vernunft« auf, wie er es nennt. Das ist etwas ganz anderes als das, was einem etwa die Emotionen eingeben; oder wohin einen Lust oder Unlust treiben; oder wozu man sich von einer 2 Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift 4/1784. S. 481-494. 16 A U T O R I TÄT – G R E N Z G A N G O H N E E N D E aufgeputschten Menge hinreißen lässt; oder was einem ein charismatischer Politiker suggeriert; oder welchem Irrglauben man wegen einer Fernsehsendung aufsitzt. All das ist das glatte Gegenteil von Aufklärung, es ist nach wie vor selbstverschuldete Unmündigkeit, nur noch schlimmer als vorher, nämlich ohne den mäßigenden Einfluss einer vorgestellten metaphysischen Instanz. An deren Stelle treten im aufgeklärten Denken abstrakte Prinzipien. Sie sind in die Verfassungen vieler moderner Staaten eingeflossen: Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Würde, Chancengleichheit. Jürgen Habermas und anderen zufolge gehören auch Prinzipien der Diskursethik dazu – Logik, Regeln der empirischen Begründung, Rekurs auf Werte, über die Konsens besteht, herrschaftsfreies Argumentieren. In der Diskursethik gibt es keine an Personen gebundene Autorität, beim Argumentieren sind alle gleichgestellt. Nur unter dieser Bedingung des herrschaftsfreien Diskurses kann das Autoritätsmodell der Aufklärung funktionieren. Es hat nicht die Form einer Pyramide, sondern zweier Ebenen. Die eine Ebene kann man als operative Ebene bezeichnen, hier läuft das reale Leben mit seinen Autoritätsbeziehungen ab. Die andere Ebene ist die Metaebene. Von hier aus wird beurteilt, was auf der operativen Ebene abläuft. Hinsichtlich der Gesichtspunkte, nach denen dies erfolgen soll, sind sich der Theorie nach alle Beteiligten einig; über die Niederungen der Praxis wird gleich noch zu reden sein. Im Rahmen öffentlichen Vernunftgebrauchs, orientiert an gemeinsamen Grundsätzen, sind alle permanent dazu aufgefordert, Autorität von der Metaebene aus zu reflektieren. Die Instanzen sollen sich immer wieder legitimieren, indem sie die übergeordneten Prinzipien beachten; die Betroffenen sollen das Tun der Instanzen kritisch verfolgen. Unter diesen Umständen muss Autorität immer wieder neu erworben werden, unter anderem im Rahmen von Wahlen, Parlamentsdebatten, Gerichtsverfahren, Diskursen, Bewerbungsverfahren und Kontrollroutinen. Es geht dabei nicht nur um die Autorität von Legislative, Exekutive und Judikative, es geht durchaus auch um private Autoritätsverhältnisse. Elterliche Gewalt unterliegt beispielsweise der Autoritätskontrolle und kann entzogen werden; Weisungsbefugnisse von Arbeitgebern gegenüber Arbeitnehmern sind durch Regeln begrenzt. Auch meine Ausübung von Autorität im Hörsaal unterliegt der kritischen Beobachtung. Wo auch immer jemand Autorität beansprucht, steht dieser Anspruch unter Vorbehalt. 17 GERHARD SCHULZE 6. Ideal und Wirklichkeit Das hört sich nun zwar alles gut an, aber bei genauerem Nachdenken wird einem schnell klar, dass man dieses Modell nicht eins zu eins in die Praxis umsetzen kann, und zwar gleich aus mehreren Gründen. Ich will nur die wichtigsten nennen: Erstens ist es unmöglich, den Autoritäten ständig auf die Finger zu schauen. Man muss sie machen lassen, man muss ihnen vertrauen, sonst kommt alles zum Erliegen. Gemessen am Modell der zwei Ebenen herrscht immer ein riesiges Kontrolldefizit, das sich nur durch die Selbstkontrolle der Autoritäten vermindern lässt. Zur Ethik der Autorität gehört das »beste Wissen und Gewissen«, das ständige Hin und Her zwischen operativer Ebene und Metaebene im inneren Monolog, ob es sich um Politiker, Unternehmer, Lehrer oder Eltern handelt. Darin liegt eine gewisse Parallele zwischen den Kulturen der zugeschriebenen und der erworbenen Autorität. Hier die Selbstrechtfertigung vor der metaphysischen Instanz, der Natur oder der geheiligten Tradition, dort die Selbstrechtfertigung vor den Regeln. Die häufig gebrauchte Formulierung vom besten Wissen und Gewissen weist auf ein zweites Problem hin: Es ist oft gar nicht klar, wie das Geschehen auf der operativen Ebene der Autoritätsausübung von der Metaebene der Autoritätskontrolle aus zu beurteilen ist. Da gibt es Auslegungsfragen, Ermessensspielräume und Regelungsdefizite. Man kann Autorität nicht nach dem Prinzip einer Die Autoritätsinstanz Gebrauchsanweisung ausüben. Autorität setzt vielmehr immer muss handeln; wer aber handelt, macht auch Kreativität voraus. Autorität muss gestalten; wollte man ihr auch Fehler. diesen Spielraum nicht einräumen, wäre das ihr Ende. Das bedeutet aber auch, dass Irrtümer unvermeidlich sind, ohne dass man deshalb bereits von schlechter Autoritätsausübung sprechen könnte. Die Autoritätsinstanz muss handeln; wer aber handelt, macht auch Fehler. Das beste Wissen und Gewissen der Autoritätsinstanz kann großen Schaden verursachen. Hinterher sind natürlich alle schlauer. Man muss aber unterscheiden zwischen Führungsversagen und Führungsfehlern. Letztere gehören notwendig zur Autorität dazu. Ein drittes Problem ist häufig die Beschränktheit der Optionen, wenn ein Autoritätswechsel erwogen wird. Das klassische Beispiel dafür sind demokratische Wahlen, bei denen sich Stimmberechtigte Alternativen gegenübersehen, die sie alle als etwa gleich schlecht empfinden. Viele Nichtwähler betrachten das ZweiEbenen-Modell der politischen Autorität als blanken Hohn; sie sind Resignierte der Metaebene, die den Versuch eingestellt haben, noch auf die operative Ebene einzuwirken. 18 A U T O R I TÄT – G R E N Z G A N G O H N E E N D E Diese und andere Mängel sollten uns bescheiden machen. Wir leben nicht in der besten aller Welten, wir können nur versuchen, uns ihr anzunähern. Erworbene Autorität kann gewaltig aus dem Ruder laufen. Mit einem bekannten Bonmot hat Winston Churchill die hier angebrachte Skepsis zum Ausdruck gebracht: »Demokratie ist die schlechteste Regierungsform – außer all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.«3 Das Zwei-Ebenen-Modell der Autorität ist lediglich eine Richtungsangabe, kein Fahrplan. Um es mit einem Begriff von Immanuel Kant zu sagen: Das Zwei-Ebenen-Modell ist ein »regulatives Prinzip«, das man immer nur anstreben, nie aber gänzlich verwirklichen kann. 7. Wo stehen wir heute? Die genannten drei Probleme treten wohl überall auf, wo das Zwei-Ebenen-Modell praktiziert wird. Daneben produziert jede demokratisch orientierte Gesellschaft und jede Zeit aber auch noch ihre eigenen Annäherungen und Abweichungen vom regulativen Prinzip, ihre spezifischen Fortschritte und Rückschritte. Welche treten gegenwärtig bei uns besonders hervor? Ich will kurz fünf wichtige Veränderungen beschreiben: Erstens: In der Idee der erworbenen Autorität verbirgt sich ein grundsätzlicher Autoritätsvorbehalt. Autorität ist potenziell gefährlich, deshalb muss sie ständig von der Metaebene aus reflektiert und kontrolliert werden. Wo immer es geht, sollte man ganz auf sie verzichten: So viel Autorität wie nötig, so wenig Autorität wie möglich. In dieser Hinsicht gab es in den letzten Jahrzehnten Fortschritte und Rückschritte. Als Fortschritt bewerte ich die weitgehende Einebnung des Autoritätsgefälles zwischen Mann und Frau und seine Verminderung in Erziehungsverhältnissen. Das Programm einer antiautoritären Erziehung, das im Gefolge der 68er-Bewegung entstand, ging zwar zu weit und wird heute zu Recht kritisch gesehen, es hat jedoch zum Vordringen des Zwei-Ebenen-Modells in pädagogischen Beziehungen beigetragen. Eltern, Lehrer und Professoren sehen sich heute einer massiven Begründungserwartung gegenüber. Das autoritäre Machtwort ist selten geworden: »Das wird jetzt so gemacht, weil ich es sage, und damit Schluss.« Wer heute so redet, verschafft sich keine Autorität mehr, er büßt sie ein. Im genauen Gegensatz dazu steht zweitens das Vordringen von Autorität in Bereiche, die bisher sich selbst überlassen waren. Unser Alltagsleben gerät mehr und mehr in das Fahrwasser einer stillschweigenden Autoritätsunterwerfung ohne sichtbare Instanzen. Der Einzelne bekommt ständig neue Regulierungen zu spüren, aber zu 3 Aus der Rede vor dem britischen Unterhaus am 11.11.1947. 19 GERHARD SCHULZE spät, sie sind ja schon wirksam. Ob es sich um das Bauen handelt, um Lebensmittel, um Steuern, um immer stärker in den Alltag eingreifende Verbote: Wir sehen uns einer voranschreitenden Verrechtlichung und Bürokratisierung gegenüber, einer anonym in unser Leben eingreifenden Autorität, bei der das Zwei-Ebenen-Modell der erworbenen Befugnis außer Kraft gesetzt ist. Man kann sich zwar aufregen, aber es gibt keine Instanz, der man die Legitimität entziehen könnte. Ein drittes Problem sehe ich in der Entwicklung der Medien. Fernsehen und Printmedien als »vierte Gewalt« zu bezeichnen, hat für heutige Medienbeobachter einen zunehmend bitteren Beigeschmack. Im Idealfall sind die Medien zwar ein prädestiniertes Forum für die Beobachtung und Kritik von Autorität. Dem eigenen Anspruch nach verkörpern sie die Metaebene in der Kultur der erworbenen und ständig legitimationsbedürftigen Autorität in höchstem Maße – professionalisiert, organisiert, technisiert und unabhängig. Man muss aber nicht erst ins Italien Berlusconis gehen, um die Medien immer weiter hinter diesem Anspruch zurückbleiben zu sehen. Zu erkennen ist eine zunehmende Vermengung von Meldung und Meinung; eine voranschreitende Politisierung ohne Mandat; eine Emotionalisierung und Personalisierung von Sachdiskussionen; eine Unterdrückung der Ambivalenz von Pro und Contra zugunsten immer größerer Einseitigkeit; ein Wettlauf der Skandalisierung und Vereinfachung. Hier noch von »vierter Gewalt« zu reden, kommt mir immer mehr wie ein Euphemismus vor. Medien sind Autoritätsinstanzen der Metaebene, die selbst keiner Kontrolle unterliegen, es sei denn, sie kontrollieren sich gegenseitig – aber davon ist immer weniger zu erkennen. Eine vierte Beobachtung führt noch einmal zu Kant zurück. Mit seiner Aufforderung zum »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« hat er jeden einzelnen von uns gemeint. Autorität, so sagte ich eingangs, ist eine Gemeinschaftsleistung. Für den Nutzen, den sie stiftet und für den Autorität ist eine Schaden, den sie anrichtet, sind alle verantwortlich, nicht nur die InsGemeinschaftstanzen, sondern auch die Betroffenen. Kant sieht sie nicht als Opfer, leistung. sondern als Akteure, im guten, aber auch im schlechten Sinn. Was würde er heute über die Deutschen sagen? Vermutlich, dass sie mündiger geworden sind, gemessen an den Tiefpunkten in unserer Geschichte. Sie haben an Trittsicherheit auf der Metaebene gewonnen, und viele sind auch bereit, selbst Verantwortung zu übernehmen und Autorität zu beanspruchen, wie sich etwa an ihrem großen und immer noch wachsenden bürgerschaftlichen Engagement erkennen lässt. Fünftens: Gerade die gesteigerte Fähigkeit der Bevölkerung, im Zwei-EbenenModell der Autorität mitzuspielen, führt jedoch auch zu Unruhe und Schwierigkei20 A U T O R I TÄT – G R E N Z G A N G O H N E E N D E ten. Zu beobachten ist eine zunehmende Entfremdung zwischen politischen Autoritäten und Bürgern über alle politischen Lager hinweg. Dies liegt nach meinem Dafürhalten an einem Werteverlust, und zwar nicht etwa in der Bevölkerung, sondern in der politischen Klasse. Was viele Menschen so irritiert, ist die Verwechslung von Autoritätsausübung und Machterhalt. Autoritätsausübung heißt kreatives Führen und Gestalten, Fehlerrisiko inbegriffen. Machterhalt dagegen äußert sich in Parteitaktik, im Kaltstellen von Konkurrenten, im politischen Zickzack-Kurs entsprechend der vermeintlichen Stimmung im Lande und in nichtssagendem Gerede. Die Leitvorstellung des besten Wissens und Gewissens scheint immer weniger durch die politischen Autoritäten eingelöst. 8. Der Grenzgang geht weiter Insgesamt komme ich zu einem gemischten Urteil. Im Privatleben haben sich letzte Reste zugeschriebener Autorität im Verhältnis von Mann und Frau weitgehend aufgelöst, und die Autoritätsverhältnisse in pädagogischen Beziehungen sind dem Zwei-Ebenen-Modell deutlich näher gekommen, vom Kindergarten bis zur Universität. Betroffene beurteilen die Leistungen ihrer Autoritäten und bemessen ihren Respekt danach. Über die Jahrzehnte hinweg sind Autoritätskompetenz und Selbstbewusstsein der Bevölkerung angestiegen. Jenseits der Privatsphäre, in der Öffentlichkeit, beurteile ich den Wandel der Autoritätsverhältnisse dagegen skeptischer. Wir erleben das Vordringen anonymer Autoritäten ohne sichtbare Instanz; wir befremden uns an politischen Autoritäten auf der Suche nach Machterhalt statt nach Gestaltung; wir sehen uns Medien gegenüber, die sich immer mehr als politische Akteure begreifen. Noch genießen die Medien ein Pauschalvertrauen. Es steht ihnen aber ebenso wenig zu wie irgendeiner anderen Autorität. Es liegt in der Verantwortung der Medienkonsumenten, kritischer zu werden und ihnen dieses Vertrauen nur zu gewähren, wenn sie es ihrer Meinung nach verdienen. Der Imperativ, sich seines Verstandes ohne die Leitung anderer zu bedienen, bleibt aktuell. 21 Autorität in Deutschland Empirische Erkenntnisse der aktuellen Allensbach-Studie VON THOMAS PETERSEN Am 12. Juli 2005 gab die damalige CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidatin Angela Merkel der Tageszeitung Die Welt ein Interview. Der Journalist Ansgar Graw eröffnete das Gespräch mit der Aufforderung: »Frau Merkel, verkürzen Sie doch bitte einmal das 38-seitige Regierungsprogramm der Union auf einen Satz.«1 Ein wenig wie dieses Anliegen erscheint die Aufgabe, in Kurzform über die wesentlichen Ergebnisse der Repräsentativumfrage zu berichten, die das Institut für Demoskopie Allensbach im Oktober und November 2010 im Auftrag der Herbert Quandt-Stiftung über die gesellschaftliche Rolle der Autorität durchgeführt hat.2 1. Theoretischer Hintergrund Das Thema Autorität ist außerordentlich sperrig. Allein mit dem Versuch, es theoretisch einigermaßen klar zu fassen, oder auch nur mit dem Versuch, die Frage zu klären, welche Aspekte des Themas sinnvollerweise untersucht werden sollten, könnte man leicht mehrtägige Symposien füllen. Das Thema kann deswegen an dieser Stelle nur in sehr groben Zügen skizziert werden, fragmentarisch und notwendigerweise oberflächlich. Doch es sollte gelingen, einige wesentliche Konturen herauszuarbeiten, einige Aspekte und Forschungsergebnisse anzusprechen, die dazu beitragen können, die Funktion der Autorität in unserer Gesellschaft etwas besser zu verstehen. Den Anlass zu dieser Untersuchung bot bekanntlich der aktuelle thematische Schwerpunkt der Herbert Quandt-Stiftung »Worauf ist noch Verlass? Vertrauen 1 »Da ist überhaupt nichts vage.« In: Die Welt vom 13.07.2005. URL: http://www.welt.de/print-welt/article682253/Da_ist_ueberhaupt_nichts_vage.html (04.04.2011). 2 Petersen, Thomas: »Autorität in Deutschland. Eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach.« In: Herbert Quandt-Stiftung (Hg): Gedanken zur Zukunft 20. Bad Homburg 2011. 22 A U T O R I TÄT I N D E U T S C H L A N D – Autorität – Freiheit«. Der Dreiklang aus Freiheit, Vertrauen und Autorität hat es in sich: Es leuchtet unmittelbar ein, dass alle drei Stichworte für Prinzipien stehen, die in einer freiheitlichen Gesellschaft, besonders dann, wenn sie als repräsentative Demokratie verfasst ist, zumindest potenziell von großer Bedeutung sein müssten, und deshalb fällt es auch leicht, gedankliche Verknüpfungen zwischen den drei Begriffen herzustellen, selbst dann, wenn man sich nicht im Detail mit den verschiedenen Aspekten ihrer Bedeutung befasst: Nur wer ein Mindestmaß an Vertrauen in andere Menschen und ihre Politische Freiheit benötigt sicherlich ein Fähigkeit, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen selbst zu gewisses Maß an Autorigestalten, besitzt, wird das Prinzip der Handlungs- und Ent- tät als Ordnungsprinzip. scheidungsfreiheit des Einzelnen befürworten können und mit ihm letztlich die politische und wirtschaftliche Freiheit.3 Politische Freiheit, in der nicht staatliche Gewalt den Zusammenhalt der Gesellschaft erzwingt, benötigt sicherlich ein gewisses Maß an Autorität als Ordnungsprinzip, wenn sie nicht in Anarchie umschlagen soll. Und die Bereitschaft, einer gesellschaftlichen Autorität zu folgen, sich ihr freiwillig unterzuordnen, kann wahrscheinlich nur jemand entwickeln, der der betreffenden Autorität auch ein Mindestmaß an Vertrauen entgegenbringt. Dass Freiheit, Autorität und Vertrauen also wahrscheinlich irgendwie miteinander verknüpft sind, dürfte einem aufmerksamen Beobachter des öffentlichen Lebens leicht einleuchten. Doch bei der Untersuchung der Frage, wie sich dieser Zusammenhang konkret gestaltet, stößt man rasch auf erhebliche Probleme. Eines besteht darin, dass alle drei Begriffe mehrdeutig sind, wobei sich die Bedeutungen vor allem im Falle des Begriffs der Freiheit in ihrer Konsequenz teilweise sogar widersprechen. Nicht selten wird aber bei öffentlichen Diskussionen um die gesellschaftliche Freiheit, teilweise aber auch bei wissenschaftlichen Abhandlungen zu diesem Thema, nicht sauber zwischen den verschiedenen Bedeutungen getrennt, mit der Folge, dass der Gegenstand unübersichtlich erscheint und die an der Debatte Beteiligten aneinander vorbeireden, weil sie verschiedene mit dem Begriff »Freiheit« verbundene Konzepte vor Augen haben, oft ohne dass ihnen dies bewusst wird. Intensiver untersucht ist das Themenfeld des Vertrauens, wenn auch gelegentlich der Begriff »Vertrauen« selbst dabei eine untergeordnete Rolle spielt. So sind beispielsweise an dieser Stelle die zahlreichen Untersuchungen zum Thema Politikver- 3 Vgl. Petersen, Thomas/Mayer, Tilman: Der Wert der Freiheit. Deutschland vor einem neuen Wertewandel? Freiburg 2005. S. 122-125. 23 THOMAS PETERSEN drossenheit zu nennen, von denen viele dieses Phänomen mit gutem Grund mit dem Rückgang des Institutionenvertrauens in Verbindung bringen, der in den letzten Jahrzehnten in vielen westlichen Ländern zu beobachten war.4 Von allen drei Themen ist aber das der Autorität wahrscheinlich das am schwersten zugängliche. Sucht man in der Geschichte der empirischen Sozialforschung nach Ansätzen, die in einer Grundlagenstudie zu diesem Gegenstand aufgegriffen werden könnten, stößt man zunächst auf die berühmte Studie The Authoritarian Personality von Theodor W. Adorno und Mitarbeitern aus dem Jahr 1950.5 Man könnte auf den ersten Blick annehmen, es sei sinnvoll, sich bei einer Untersuchung zur gesellschaftlichen Autorität methodisch wie inhaltlich von dieser klassischen Arbeit leiten zu lassen, doch das wäre nicht ratsam. Tatsächlich stößt man an dieser Stelle zum ersten Mal auf die zentrale Unterscheidung zwischen »Autorität« und »autoritär«, die für das Verständnis des Phänomens Autorität von zentraler Bedeutung ist: Adornos Studie ist im Nachklang des Dritten Reiches, unter dem Eindruck des Völkermords an den Juden entstanden. Sie beschäftigt sich sehr intensiv mit der Frage, wie es denn möglich war, dass Menschen zu solchen Taten fähig waren. Sie versucht die Persönlichkeitsstruktur zu entschlüsseln und zu beschreiben, welche die Herausbildung der nationalsozialistischen Ideologie befördert hat. Mit teilweise aufwendigen Messmethoden werden etwa die Neigung zu Antisemitismus, Rassenvorurteilen und antidemokratischen Affekten untersucht. Kurz: Es geht um ein autoritäres Weltbild, nicht um gesellschaftliche Autorität wie sie – wertneutral verstanden – auch in freiheitlichen Demokratien vorhanden sein kann, die keine autoritären Züge aufweisen. Ergiebiger ist in dieser Hinsicht eine andere klassische Untersuchung aus dem Jahr 1959 der empirischen Sozialwissenschaften, die Studie The Civic Culture der amerikanischen Politikwissenschaftler Gabriel Almond und Sydney Verba.6 Almond und Verba scheinen sich auf den ersten Blick gar nicht mit dem Thema Autorität zu beschäftigen. Ihr Thema ist die Reife demokratischer Gesellschaften. Mit einer der ersten groß angelegten international vergleichenden Repräsentativbefragungen untersuchten sie die Verankerung der Demokratie in den USA, Großbritannien, 4 Vgl. z. B. Kepplinger, Hans Mathias: Die Demontage der Politik in der Informationsgesellschaft. Freiburg/ München 1998; Niedermayer Oskar: Bürger und Politik. Politische Orientierungen und Verhaltensweisen der Deutschen. Wiesbaden 2005; Noelle-Neumann, Elisabeth/Köcher, Renate (Hg.): Allensbacher Jahrbuch der Demoskopie 1998-2002. Bd. 11. Balkon des Jahrhunderts. München und Allensbach 2002. S. 710-712; Moy, Patricia/Pfau, Michael: With Malice Toward All? The Media and Public Confidence in Democratic Institutions. Westport 2000. 5 Adorno, Theodor W. (u. a.): The Authoritarian Personality. 2 Bde. New York 1950. 6 Almond, Gabriel A./Verba, Sidney: The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations. Princeton 1963. 24 A U T O R I TÄT I N D E U T S C H L A N D Westdeutschland, Italien und Mexiko. Sie identifizierten dabei drei verschiedene Gesellschaftstypen, die durch unterschiedliche Haltungen der Bevölkerung gegenüber ihren Autoritäten geprägt sind. Da ist zum einen die sogenannte »parochiale Gesellschaft«, die Almond und Verba in Teilen Mexikos glaubten erkannt zu haben. Hier gibt es praktisch keinen Kontakt zwischen den Bürgern und dem Staat und seinen Vertretern. Die Regierung, die nationale Politik, dies alles findet außerhalb der realen Lebenswelt der meisten Menschen statt. Das Interesse der meisten Menschen konzentriert sich auf das unmittelbare Umfeld, den eigenen »Pfarrbezirk«. Die zweite Entwicklungsstufe nach Almond und Verba ist die der Subject Political Culture. Hier ist das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern wie das zwischen dem Fürsten und seinen Untertanen, auch dann, wenn das politische System eigentlich nach demokratischen Prinzipien verfasst ist. Die Bürger nehmen sich als eher passive Konsumenten oder Befehlsempfänger gegenüber dem Staat wahr, nicht als aktiver Bestandteil des Gemeinwesens. Sie erwarten, dass die Autoritäten ihnen dienen und sagen, was sie zu tun haben, versuchen aber nicht, diese zu beeinflussen. Elemente einer solchen Subject Political Culture glaubten Almond und Verba in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft gefunden zu haben. An dieser Stelle ist aber die dritte Entwicklungsstufe in Almonds und Verbas System am interessantesten, die Participant Political Culture. Hier sei der Bürger nicht einfach der Gegenstand staatlicher Entscheidungen, sondern fühle sich als Bestandteil des Staatswesens und agiere entsprechend, indem er sich auch aktiv am gesellschaftlichen und politischen Leben beteilige. Mehr oder weniger implizit weisen Almond und Verba darauf hin, dass eine gefestigte, entwickelte Demokratie ohne ein solches Selbstverständnis der Bürger unvollständig wäre, und man muss es sicherlich zum Teil auch dem Zeitklima zuordnen, wenn sie dieses Ideal in erster Linie in den Vereinigten Staaten und Großbritannien verwirklicht sahen. Interessant ist nun das Verhältnis von Autoritäten und Bürgern in diesem Modell. Es wird nicht ausdrücklich darauf hingewiesen, doch offensichtlich sind die gesellschaftlichen Autoritäten in einer solchen Gesellschaft nicht »überwunden« oder gar verschwunden, sondern nur an zusätzliche Legitimationsbedingungen geknüpft. Zu dem Konzept der Participant Political Culture gehört auch die Bereitschaft, demokratische Spielregeln zu akzeptieren, auch Niederlagen, beispielsweise Abstimmungs- oder Wahlniederlagen – hinzunehmen und die Rechtmäßigkeit der demokratisch legitimierten Institutionen und damit letztlich auch ihre Autorität zu respektieren. Dies wiederum setzt eine freiheitliche Grundordnung voraus, und es ist nur möglich, wenn ein Mindestmaß an Vertrauen in das demokratische Prinzip und die staatlichen Institutionen vorhanden ist. Hier begegnet man also dem eingangs erwähnten Dreiklang von 25 THOMAS PETERSEN Autorität, Freiheit und Vertrauen, der den Schwerpunkt der Arbeit der Herbert Quandt-Stiftung bildet. Es würde sich wahrscheinlich lohnen, etwas gründlicher als es an dieser Stelle geschehen kann, der Frage nachzugehen, wann der Begriff »autoritär« Eingang in die deutsche Sprache gefunden hat. Die Unterscheidung zwischen Authoritarianism und Authority, wie er im Englischen geläufig ist, scheint zumindest im Deutschen relativ jungen Datums zu sein. Wahrscheinlich hat Adornos Studie The Authoritarian Personality selbst erheblichen Anteil daran, dass dieser Begriff auf dem Umweg über den Einfluss der Studie auf die Frankfurter Schule und deren Bedeutung für die intellektuelle Debatte in Deutschland in den 1960er Jahren in den allgemeinen Sprachgebrauch einging. Vermutlich hat erst der massive Missbrauch staatlicher Autorität in den großen Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts eine solche Unterscheidung notwendig werden lassen (wenn es auch nahe liegt, erste Anfänge der Entwicklung in der Zeit der bürgerlichen Revolutionen in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts zu suchen). Ansätze dieser Unterscheidung finden sich zwar bereits in der öffentlichen Diskussion um die Reformpädagogik zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, doch scheint sie zunächst nicht die vergleichsweise engen Kreise der Fachdebatte verlassen zu haben.7 In Friedrich Kluges etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache, das in seinem Kern auf das Jahr 1883 zurückgeht, findet sich selbst in der Ausgabe von 1975 der Begriff des Autotitarismus nicht, sondern lediglich ein kurzer Eintrag unter »Autorität« mit dem Verweis, dass der Begriff im deutschen Sprachraum seit dem 16. Jahrhundert geläufig und aus dem lateinischen auctoritas abgeleitet sei. Die Bedeutung sei – in Anlehnung an Cicero – »maßgebliche Persönlichkeit«8. Von Unterdrückung, Machtmissbrauch oder illegitimer Machtausübung ist keine Rede. Der lateinische Begriff der auctoritas verdient eine gesonderte Betrachtung, denn er steht für etwas Schillerndes, kaum Fassbares, das dem heutigen »Autorität« noch immer anhaftet, und das in der vorliegenden Untersuchung von zentraler Bedeutung ist. Am ehesten dringt man zum Kern der Bedeutung des Begriffes vor, wenn man sich den Tatenbericht des ersten römischen Kaisers Augustus vor Augen führt. Dieses Dokument, ursprünglich eine große Steintafel, die im Zentrum Roms aufgestellt worden war, kreist gleichsam um den Schlüsselbegriff der auctoritas und zeigt in einzigartiger Weise die eigenartige Macht und gesellschaftliche Relevanz, die mit der auctoritas und damit auch – abgeschwächt – dem modernen Konzept der Auto7 8 Vgl. Böhm, Winfried: Wörterbuch der Pädagogik. Stuttgart 1994. S. 570-571. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin und New York 1975. S. 42. 26 A U T O R I TÄT I N D E U T S C H L A N D rität verbunden sind. Auctoritas ist der Schlüsselbegriff zur Herrschaft des Augustus, dessen Werdegang zu den erstaunlichsten der Weltgeschichte gehört. Der spätere Augustus war ein Neffe Julius Caesars und von diesem als Erbe eingesetzt worden. In Rom war er zunächst vollkommen unbekannt und wurde von den Staatsmännern nicht ernst genommen. Mit einer scheinbar endlosen Serie von Intrigen, der Manipulation der öffentlichen Meinung, massenhaften Bestechungen, Auftragsmorden und blutigen Bürgerkriegen eroberte er dennoch allmählich, im Verlauf von zwei Jahrzehnten, die Alleinherrschaft. Als er dann endlich alle Macht im Staate in den Händen hielt, errichtete er jedoch nicht etwa eine Terrorherrschaft, sondern legte stattdessen umgekehrt feierlich nahezu alle offiziellen Ämter, die er zuvor mit so brutalen Methoden errungen hatte, nieder (allerdings nicht ohne sich der Verfügungsgewalt über die tatsächlichen Machtmittel zu sichern). Das trug ihm ein so großes Ansehen in der – propagandistisch gleichgeschalteten – Öffentlichkeit ein, dass er schließlich das römische Reich beherrschte, ohne auch nur ein wesentliches Staatsamt innezuhaben. Offiziell als Privatmann gab er den Amtsinhabern Ratschläge, die diese sich selbstverständlich beeilten zu befolgen. Diese Form der Herrschaft beschrieb er in seinem Tatenbericht mit den Worten: »Seit dieser Zeit (nämlich der Rückgabe der Ämter) überragte ich alle an auctoritas, an Amtsgewalt, aber besaß ich nicht mehr als die anderen, die auch ich im Amt zu Kollegen hatte.«9 Der Begriff auctoritas steht hier für eine Herrschaft der öffentlichen Meinung. Er enthält die Komponenten Macht, Ansehen, Würde und Respekt. Wenn Augustus schreibt, er habe alle an auctoritas überragt, bedeutet das, er hat kraft seiner Persönlichkeit geherrscht.10 Ein wesentlicher Faktor der auctoritas liegt darin, dass diese zwar zumindest theoretisch mit aktiver Machtausübung Augustus – auctoritas als Schlüsselbegriff seiner Herrschaft 9 Augustus: Res Gestae Tatenbericht (Monumentum Ancyranum). Lat.-griech. u. dt., übers. u. hrsg. v. Marion Giebel. Stuttgart 1975. 10 Vgl. Petersen, Thomas: PR-Arbeit in der Antike. Wie Augustus zum vielleicht erfolgreichsten Politiker aller Zeiten wurde. München 2005. S. 110. 27 THOMAS PETERSEN vereinbar, aber keineswegs mit ihr identisch ist. Die Hauptkomponente ihrer Wirksamkeit liegt vielmehr in der freiwilligen, mindestens aber bewussten Gefolgschaft. Man kann gleichsam von einer Art passiven Machtausübung sprechen. Wer auctoritas hat, hat es nicht nötig zu befehlen, sondern andere ordnen sich ihm unter. Dieses Verständnis scheint auch dem heutigen Begriff der Autorität zugrunde zu liegen. Beispielhaft sei hierzu der Eintrag »Autorität« in Winfried Böhms »Wörterbuch der Pädagogik« zitiert: »Autorität ist streng zu unterscheiden von Macht und Gewalt. Während diese die faktische Möglichkeit bezeichnen, anderen zu Wer auctoritas hat, hat befehlen und sie zu einem bestimmten Handeln und Verhalten es nicht nötig zu bezu zwingen, setzt jene grundsätzlich die freie Zustimmung desfehlen, sondern andere ordnen sich ihm unter. sen voraus, über den Autorität ausgeübt wird. Macht und Gewalt schränken die Freiheit ein oder negieren sie; die Autorität dagegen respektiert sie ausdrücklich. Autorität meint also die anerkannte Fähigkeit einer Person, einer Gesellschaft oder einer Einrichtung, auf andere einzuwirken um sie einem bestimmten Ziel näherzubringen. Autorität kann sich dabei auf verschiedene Weise begründen: durch gegebenen Sachverstand, durch einen erreichten Status, durch das wahrgenommene Amt.«11 Diese Bedeutung des Begriffes Autorität wurde in den Mittelpunkt der Repräsentativumfrage gestellt, wobei auch der Hinweis auf die Möglichkeit der Anbindung von Autorität nicht allein an die Persönlichkeit eines Menschen, sondern an Status oder Ämter eine gewisse Rolle spielte. 2. Ergebnisse der Untersuchung Die Ergebnisse der Studie sind außerordentlich komplex. Der Fragebogen erfasste eine Vielzahl von Einzelaspekten des Themas Autorität, die hier nicht alle präsentiert werden können. Stattdessen sollen die Hauptbefunde in neun kurzen Stichpunkten zusammengefasst werden: 1. Für die Mehrheit der Deutschen hat der Begriff »Autorität« einen positiven Klang. Häufig genannte spontane Assoziationen waren »Respekt«, »Achtung« und »Vorbild«, aber auch die mit Autorität verbundene Verantwortung wurde von manchen Befragten erwähnt. Häufig waren auch Hinweise auf die öffentliche Ordnung und die Legitimität von Ämtern. Damit wird das Begriffsverständnis von den Komponenten dominiert, die in dem lateinischen Begriff auctoritas angelegt sind. Demgegenüber tritt das Verständnis im Sinne des Autoritären in den Hintergrund. 11 Böhm: Wörterbuch der Pädagogik. S. 60. 28 A U T O R I TÄT I N D E U T S C H L A N D Allerdings gibt es aus Sicht der Bevölkerung keine eindeutige inhaltliche Trennung zwischen diesen beiden Begriffsbedeutungen. Bei einer beträchtlichen Minderheit der Befragten weckt der Begriff »Autorität« negative Assoziationen wie »Machtmissbrauch« oder »Obrigkeitshörigkeit«. Im Alltagsverständnis vermischen sich also die Bedeutungen von »Autorität« und »autoritär«, wobei das erste aber deutlich im Vordergrund steht. In den neuen Bundesländern wird der Begriff »Autorität« positiver aufgefasst als in Westdeutschland. Es liegt nahe, den Grund hierfür in der unterschiedlichen gesellschaftlichen Entwicklung in beiden Landesteilen in den Jahren der Teilung zu suchen. Während die westdeutsche Gesellschaft in den 1960er bis 1980er Jahren von einem tiefgreifenden Wertewandel betroffen war, der teilweise auch mit einer Abwendung von traditionellen Autoritäten verbunden war, gab es in der damaligen DDR keine vergleichbaren Entwicklungen. Anfang der 1990er Jahre ähnelte die Werteorientierung der ostdeutschen Bevölkerung auffallend stark der der westdeutschen Bevölkerung in den 1950er Jahren. Dieser Unterschied in der Sozialisation zwischen Ost- und Westdeutschen ist bis heute in vielen Einstellungsfragen zu spüren, und er spiegelt sich wahrscheinlich auch in der Wahrnehmung des Begriffs »Autorität« (Tabelle 1). 2. Vier Fünftel der Bevölkerung sagen, sie glaubten, dass in einer Gesellschaft Autoritätspersonen notwendig sind (Tabelle 2). Man kann hier von einem gesellschaftlichen Konsens sprechen, der – solange sich die Fragen auf einer allgemeinen, abstrakten Ebene bewegen – so deutlich ist, dass es anders als bei vielen Detailfragen zum Thema Autorität auch kaum Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen Gruppen gibt. 3. Trotz der allgemeinen Zustimmung zur These, eine Gesellschaft benötige Autorität, wird Autorität von der Bevölkerung im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Werten als eher nachrangig angesehen. Unter 19 zur Auswahl gestellten Zielen der Kindererziehung nehmen »Respekt gegenüber Autoritätspersonen«, »sich in eine Ordnung einfügen« und »Gehorsam« die Rangplätze 11, 15 und 17 ein. Es wird deutlich, dass beispielsweise das Ziel des autonomen Denkens und Handelns für die meisten deutschen Vorrang vor dem Respekt gegenüber Autoritäten hat (Grafik 1). Auch bei anderen Fragen zeigt sich: Wirklich wichtig scheint eine Stärkung der Autoritäten nur der älteren Generation zu sein. 4. Der langfristige Trendvergleich deutet darauf hin, dass die Orientierung an Autoritäten in Deutschland – vor allem im Westen – in den letzten Jahrzehnten an Wert29 THOMAS PETERSEN schätzung verloren hat. Viele bürgerliche Tugenden, repräsentiert in der Frage nach den Erziehungszielen, haben nach ihrem Bedeutungsverlust in den 1970er Jahren seit Mitte der 1990er Jahre wieder an Wertschätzung gewonnen. Doch während Ziele wie »Ihre Arbeit ordentlich und gewissenhaft tun« oder »Höflichkeit und gutes Benehmen« heute wieder ebenso häufig als besonders wichtig angesehen werden wie vor dem Beginn des Wertewandels, wird das Ziel, sich in eine Ordnung einzufügen, heute zwar häufiger als in den 1990er Jahren, aber immer noch wesentlich seltener als in den 1960er Jahren als wichtig eingestuft. Obwohl dieses Ziel also von der Renaissance bürgerlicher Tugenden in den letzten eineinhalb Jahrzehnten profitiert hat, hat sich doch auch eine Umgewichtung innerhalb des Wertekanons ergeben, die man als ein Kennzeichen für einen relativen Gewichtsverlust der Autoritätsorientierung deuten kann (Grafik 2). 5. Bei der Frage, in welchen Lebensbereichen Autorität wichtig ist und in welchen weniger, nimmt die Bevölkerung eine sehr differenzierte Haltung ein. Abseits der politischen Sphäre steht ein großer Teil der Bevölkerung autoritären Entscheidungsprinzipien durchaus aufgeschlossen gegenüber. Das gilt für das Wirtschaftsleben, vor allem aber für Alltagssituationen. Auf die direkte Frage, in welchen Lebensbereichen Autoritätspersonen notwendig sind, nennt die Bevölkerung in erster Linie die Schulen, gefolgt vom Berufsleben und der Politik. An letzter Stelle steht der Bereich Religion, Glaubensfragen. Hier sind die Antworten anscheinend von der Überzeugung geleitet, dass das religiöse Bekenntnis Privatsache ist. Der Umstand, dass gerade auch ranghohe Kirchenvertreter als Autoritätspersonen angesehen werden können, tritt demgegenüber in den Hintergrund (Grafik 3). Auffällig ist, dass die Überzeugung, in einem bestimmten Lebensbereich seien Autoritäten notwendig, zuzunehmen scheint, je näher ein Befragter dem betreffenden Lebensbereich steht. 6. Die Strahlkraft des Begriffs »Autorität« setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: Zum einen wird Autorität in einem erheblichen Maße als Persönlichkeitseigenschaft angesehen, zum anderen hängt Autorität auch an Ämtern und Status. Den Anteil der beiden Komponenten an der Gesamtbedeutung kann man versuchen abzuschätzen, indem man mit verschiedenen Frageformulierungen diese Aspekte mal mehr und mal weniger in den Vordergrund schiebt. So wird beispielsweise eine Person, von der man sagt, sie habe Autorität, deutlich weniger positiv beurteilt als eine Person, von der man sagt, sie sei eine Autorität (Tabelle 3). Alles in allem zeigen die Ergebnisse, dass der Anteil, den Amt und Würden zur Bedeutung des Begriffs »Autorität« beitragen, beträchtlich ist. Er ist nicht bestimmend, das persönliche Element scheint zu überwiegen, doch er trägt eine wichtige und charakteristische Komponente zur Begriffsbedeutung bei. 30 A U T O R I TÄT I N D E U T S C H L A N D 7. Fragt man, welche gesellschaftlichen Gruppen Vertrauen verdienen, und welche Gruppen Autorität haben, ergeben sich deutlich unterschiedliche Ranglisten. Gruppen, die mit formaler, legitimierter Macht ausgestattet sind oder zumindest hohe Positionen in der gesellschaftlichen Hierarchie einnehmen, wird mehr Autorität zugeschrieben als ihnen Vertrauen entgegengebracht wird. So Auctoritas funktioniert wird beispielsweise den Vereinen am Wohnort mehr Vertrauen nicht ganz ohne potestas. entgegengebracht als dem Bürgermeister, dem Bürgermeister aber mehr Autorität zugeschrieben als den Vereinen (Grafik 4). Es wird deutlich, dass Autorität nicht allein durch die freiwillige Bereitschaft der Bürger zu erklären ist, denen zu folgen, die sie als Vorbild wahrnehmen, sondern dass auch die Macht der Ämter und Positionen zur Autorität dazugehört, auch wenn in diesem Aspekt nicht der Schwerpunkt liegt. Auctoritas funktioniert nicht ganz ohne potestas. 8. Das allgemeine Bekenntnis zur Notwendigkeit von Autoritäten steht in einem gewissen Widerspruch zur Neigung großer Teile der Bevölkerung, in Fällen, in denen die Orientierung an Autoritäten mit den eigenen Wünschen und Vorstellungen im Konflikt steht, sich zugunsten der eigenen Vorstellungen zu entscheiden. Umgekehrt kann auch die bei allgemein formulierten Fragen bekundete demonstrative Ablehnung von Autoritäten durchaus mit einer klaren Autoritätsorientierung im Alltag einhergehen (Tabelle 4). Das Bekenntnis zu Autoritäten wie auch ihre Ablehnung sind also zum Teil Ausdruck einer prinzipiellen weltanschaulichen Haltung, die mit dem eigenen tatsächlichen Verhalten nicht viel zu tun haben muss. 9. Mit einer Serie von Regressionsanalysen wurde der strukturelle Zusammenhang zwischen Freiheit, Autorität und Vertrauen untersucht. Anstelle des ursprünglich erwarteten engen Beziehungsgeflechts zwischen Freiheit, Autorität und Vertrauen zeigt sich, dass zwar Freiheit und Vertrauen eng miteinander verknüpft sind, jedoch nur vergleichsweise schwache Bindungen beider zur Autorität existieren. Die Begriffe Freiheit und Vertrauen auf der einen Seite und Autorität mit ihren verschiedenen Bedeutungen auf der anderen Seite stehen für offensichtlich für unterschiedliche Konzepte, unterschiedliche Aspekte des Wertesystems der Bevölkerung, die zwar nicht im Konflikt miteinander stehen, jedoch auch nicht zwangsläufig, zumindest nicht untrennbar zusammengehören (Grafik 5). 31 THOMAS PETERSEN Tabelle 1 Assoziationstest Autorität Frage: »Was fällt Ihnen spontan ein, wenn Sie den Begriff ›Autorität’ hören? Bitte nennen Sie mir alles, was Ihnen beim Wort ›Autorität’ einfällt.« (Offene Frage, keine Antwortvorgaben) Bevölkerung insgesamt % Westdeutschland % Ostdeutschland % Verweis auf »Autoritätspersonen«, die etwas zu sagen haben 33 33 31 Positive Assoziationen (z. B. Respekt, Achtung, Vorbild, Ausstrahlung, Verantwortung) 53 52 63 Negative Assoziationen (z. B. Rechthaberei, Autoritätsmissbrauch, Ohnmacht, Verweise auf das 3. Reich) 33 37 17 Macht, Stärke, Durchsetzungsvermögen 15 15 16 Ämter, Behörden, Gesetze, öffentliche Ordnung 13 13 14 Kindererziehung, Eltern-KindVerhältnis 5 5 3 — 152* 914 — 155* 613 — 144* 301 Summe n= * Summe > 100 Prozent wegen Mehrfachnennungen Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 10063 (Oktober/November 2010) 32 A U T O R I TÄT I N D E U T S C H L A N D Tabelle 2 Braucht man Autoritätspersonen? Frage: »Einmal ganz allgemein gefragt: Meinen Sie, dass man in einer Gesellschaft Autoritätspersonen braucht, dass sie notwendig sind, oder meinen Sie das nicht?« Bevölkerung insgesamt % Westdeutschland % Ostdeutschland % Braucht Autoritätspersonen 79 77 85 Meine das nicht 9 10 5 Unentschieden/ Keine Angabe 12 13 10 — 100 914 — 100 613 — 100 301 Summe n= Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 10063 (Oktober/November 2010) Grafik 1 Erziehungsziele Frage: »Wir haben einmal eine Liste zusammengestellt mit verschiedenen Forderungen, was man Kindern für ihr späteres Leben alles auf den Weg geben soll, was Kinder im Elternhaus lernen sollen. Was davon halten Sie für besonders wichtig?« (Listenvorlage) Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 10063 (Oktober/November 2010) 33 THOMAS PETERSEN Grafik 2 Erziehungsziele im Trend Frage: »Wir haben einmal eine Liste zusammengestellt mit verschiedenen Forderungen, was man Kindern für ihr späteres Leben alles auf den Weg geben soll, was Kinder im Elternhaus lernen sollen. Was davon halten Sie für besonders wichtig?« Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen, zuletzt Nr. 10063 (Oktober/November 2010) 34 A U T O R I TÄT I N D E U T S C H L A N D Grafik 3 Die Notwendigkeit von Autoritätspersonen in verschiedenen Lebensbereichen Frage: »Was meinen Sie: In welchen Bereichen ist es besonders wichtig, dass es Autoritätspersonen gibt?« (Listenvorlage) Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 10063 (Oktober/November 2010) Tabelle 3 Wer Autorität hat, ist nicht unbedingt eine Autorität Frage: »Wenn man von jemandem sagt, er sei eine Autorität/habe Autorität, spricht das eher für oder eher gegen ihn?« Gruppe A: »eine Autorität« % Gruppe B: »habe Autorität« % Spricht für ihn 65 54 Spricht gegen ihn 9 16 Unentschieden / Keine Angabe 26 30 Summe n= — 100 914 — 100 450 Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 10063 (Oktober/November 2010) 35 THOMAS PETERSEN Grafik 4 Wem kann man vertrauen – und wer hat Autorität? Frage: »Hier stehen einige Einrichtungen und Berufsgruppen. Bei welchen davon würden Sie sagen ...« (Listenvorlage) Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 10063 (Oktober/November 2010) 36 A U T O R I TÄT I N D E U T S C H L A N D Tabelle 4 Autoritätsunabhängiges Handeln im Beruf Frage an Berufstätige: »Wenn jemand sagt: ›Ich mag es gar nicht, wenn man mir im Beruf nicht ganz genau sagt, was ich tun soll.‹ Geht Ihnen das auch so oder nicht?« Bevölkerung insgesamt Befragte, die sagen, man braucht Autoritätspersonen % % man braucht keine Autoritätspersonen oder »Unentschieden« % Geht mir auch so 21 20 23 Geht mir nicht so 62 64 57 Unentschieden 17 16 20 Summe n= — 100 995 — 100 745 — 100 250 Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 10063 (Oktober/November 2010) Grafik 5 Zusammenfassung Regressionsanalysen: Gegenseitiger Einfluss von Vertrauen, Freiheitsgefühl, politischer und gesellschaftlicher Autoritätsorientierung Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 10063 (Oktober/November 2010) 37 II. Politik, Kirche, Gewerkschaften: Traditionelle Autoritäten in der Krise? Die Entkollektivierung der Gesellschaft und die Schwierigkeit, Autorität zu bewahren V O N F R A N Z WA LT E R Die Dekomposition der alten Milieukerne setzt sich fort. Das zeigten erneute und zuletzt die Landtagswahlen in Hessen und Baden-Württemberg am 27. März 2011. In Baden-Württemberg büßte die CDU 5,2 Prozentpunkte ein. In ihren Kerngruppen, bei den Selbstständigen bzw. Katholiken, aber verlor sie gar sechs bzw. acht Prozentpunkte. Die Sozialdemokraten fielen in Hessen bzw. Baden-Württemberg um 2,1 bzw. 9,9 Prozentpunkte zurück; in ihrem klassischen Kaderbereich aber, bei den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern, sank sie sogar um vierzehn bzw. zwanzig Prozentpunkte ab. Und auch die FDP bilanzierte ihre größten Einbrüche in ihren genuinen Trägerschichten, bei den Selbstständigen. Bei diesen war für die Liberalen in Hessen ein Minus von fünfzehn Prozentpunkten zu verzeichnen.1 Seit Hartz IV schmollen etliche Gewerkschafter mit der SPD. Seit Merkels Abkehr von den Leipziger Parteitagsbeschlüssen hadern Unternehmerverbände mit der CDU. Und als 2010 nicht kam, was die Freien Demokraten 2009 im Bundestagswahlkampf steuerpolitisch versprochen hatten, reagierten die Mittelstandsvereinigungen bitter enttäuscht über die Westerwelle-Partei. Ganz offenkundig lockern und lösen sich in diesen Jahren traditionsträchtige gesellschaftliche Verflechtungen, die Interessen bündelten und als Stifter von Sinn und Zusammenhalt fungierten. Einige Beobachter sehen darin keinen Grund zur Traurigkeit; sie erhoffen sich vielmehr vom Zerfall der überkommen sozial-kulturellen Bindungen eine Neuformierung kreativer Allianzen, die die Beharrungskraft der klassischen parteipolitischen Großformationen und starren Lager aufzusprengen vermochte. 1 Vgl. Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer Stiftung: Landtagswahlen in BadenWürttemberg am 27.3.2011 (http://www.kas.de/wf/doc/kas_22380-544-1-30.pdf?110329145528); und Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer Stiftung: Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz am 27. März 2011 (http://www.kas.de/wf/de/33.22410/) (beide am 05.04.2011). 40 DIE ENTKOLLEKTIVIERUNG DER GESELLSCHAFT 1. Historischer Rückblick Doch schauen wir dafür zunächst historisch zurück, in das letzte Drittel des neunzehnten Jahrhunderts.2 Damals kristallisierten sich die prägenden Konfliktlinien der modernen bürgerlichen Gesellschaft heraus, zwischen Stadt und Land, zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Kirchen und säkularisierter Gesellschaft, zwischen den Konfessionen untereinander. Entlang dieser Cleavages bauten sich die Parteifamilien auf. Um einige dieser Parteien herum entspannten sich zudem noch Netze von Organisationen, Verbänden und Vereinen, welche die Zugehörigen der jeweiligen Konfliktparteien auch lebensweltlich, kulturell, normativ, nicht selten ein Leben lang integrierten. Dazu gehörte ebenfalls noch ein Set von je gruppenspezifischen Ritualen, Kulthandlungen, öffentlichen Inszenierungen, feierlichen Zeremonien und visionär ausgemalten Zukunftsbildern. In den europäischen Industriegesellschaften bezeichnete man die parteibildenden Orte solcher Vergemeinschaftungen als Milieus oder Lager; zuweilen sprach man in diesem Sinne auch von Versäulungen der Gesellschaft. Zusammen jedenfalls waren es Sozialisationsstätten oft für ein ganzes Leben in festen Gruppenzusammenhängen. Es waren diese Vergemeinschaftungen, welche die Konstanz und zähe Lebensdauer der Parteien und unseres Parteiensystems begründeten. Häufig wird gesagt: Die Milieus hätten die Spaltung der Gesellschaft vor 1933 vertieft und dadurch den Kompromiss zwischen den Lagern erschwert.3 Die Weimarer Republik sei am Ende daran zugrunde gegangen, der Nationalsozialismus infolgedessen an die Macht gelangte. So kann man es in zahlreichen gelehrten historiografischen Darstellungen des zwanzigsten Jahrhunderts nachlesen. Man kann die Dinge indes auch ganz anders sehen. Denn in Deutschland gab es zwischen dem späten neunzehnten Jahrhundert und 1933 zwei Milieus par excellence, mit verbindlicher, ja hermetischer Weltanschauung und fest zementierten Organisationsgrundlagen: das organisationszentrierte und das transzendenzorientierte. Aber eben diese beiden Vergemeinschaftungen widerstanden am stärksten den republikgegnerischen Anfeindungen jener Jahre. Diese beiden Großlebenswelten blieben stabil, auch während der Verwerfungen, Krisen und Umbrüche in den frühen dreißiger Jahren. Hier gab es die geringsten Konversionen zum Nationalsozialismus.4 Bei den Liberalen hingegen verhielt es sich anders. Die liberalen Individualisten hatten keine verbindliche normative Idee, keine festen Organisationsgrundlagen, keine 2 Lepsius, Rainer Mario: »Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft.« In: Ritter, Gerhard Albert (Hg.): Die deutschen Parteien vor 1918. Köln 1973. S. 56-80. 3 Siehe unter anderem Tenfelde, Klaus: »Historische Milieus, Erblichkeit und Konkurrenz.« In: Hettling, Manfred/Nolte, Paul (Hg.): Nation und Gesellschaft in Deutschland. München 1996. S. 247-268. 4 Vgl. Walter, Franz: »Milieus und Parteien in der deutschen Gesellschaft. Zwischen Persistenz und Erosion.« In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 46,9/1995. S. 479ff. 41 F R A N Z WA LT E R integrative Lebenswelt, auch keine bewunderten Propheten und Helden, keine mythologisierten Märtyrer oder Heilsgestalten. Die liberalen Bürger brauchten, wollten das alles nicht, denn sie waren individuell selbstbewusste Honoratioren der Gesellschaft, bildeten je für sich Teile des Establishment. Und sie setzten auf den offenen Diskurs, misstrauten den holistischen Narrationen. Für sie gab es keinen Grund, sich in das Refugium eines abgesperrten, ideologisch Die Weimarer verbindlich durchwirkten Milieus zurückzuziehen. Der LiberaRepublik ging unter, weil der durch und lismus war somit politisch offen, gleichsam mustergültig repubdurch säkularisierte, likanisch. Doch eben deshalb fielen die Liberalen den fundaoffene, entheimatete mentalen Modernisierungsschrecken und Pathologien in den Liberalismus in den Modernisierungskrisen 1920er und 1930er Jahren zum Opfer. Ihnen fehlten die Anker auseinanderbrach. des Milieus, auch deren Trostideologien und Transzendenzhoffnung. Die Wähler der bürgerlichen Mitte waren politisch-kulturell ohne Deutungshalt, ohne parteipolitische und organisatorische Vertäuungen, ohne ideelle Bindungen und faszinierende Erlösungsversprechen. So marschierten die liberalen Anhängerschaften immer weiter nach rechts, bis sie sich bei der großen Sammlungsformation der Milieulosen niederließen: den Nationalsozialisten. Kurzum: Die Weimarer Republik ging unter, weil der durch und durch säkularisierte, offene, entheimatete Liberalismus in den Modernisierungskrisen auseinanderbrach. Als rein weltlich-pragmatisches Politikunternehmen wäre auch die katholische Zentrumspartei, die als fortwährende Koalitionspartei in der Mitte des Parlamentarismus permanent elastisch und beweglich agieren musste, in den Jahren der Weimarer Republik wohl ebenso desaströs dezimiert worden wie die Parteien des Liberalismus. Die Zentrumspartei konnte ihre politische Modernität nur dadurch praktizieren, weil sie sich der Legitimitätsreserve der Kirche und der Ersatzstrukturen des katholischen Vereinsmilieus bedienen durfte. Das war der konstitutive Unterschied zu den Liberalen, welche die reine Modernität verkörperten und infolgedessen scheiterten, während die Zentrumspartei ihre Modernität auf vormodernen Plateaus und traditionsgestützten Vergemeinschaftungen gegründet hatte. Klerus und Milieu sorgten für die Kohäsion und Stabilität des politischen Katholizismus, die einen von oben, die anderen von unten. Ohne die höchste Autorität der Kirche jedenfalls hätte alle rhetorische und an Proporzen entlang inszenierte Artistik der Zentrumsführung nicht hingereicht, Linke und Rechte, Monarchisten und Republikaner, Kapitalisten und Arbeiter in ein und demselben politischen Parteizusammenhang beieinander zu halten. Spitzten sich die innerparteilichen Rangeleien zu, dann war allein der Klerus in der Lage, die weltlichen Konflikte im politischen Katholizismus zu entschärfen und durch integrative Formeln aus der dem Politischen entzogenen Heilsbotschaft zu überwölben. 42 DIE ENTKOLLEKTIVIERUNG DER GESELLSCHAFT Das katholische Vereinsmilieu wiederum unterkellerte das locker verknüpfte Interessenkartell der Zentrumspartei von unten. Die Vereine substituierten die Parteistruktur, über die der politische Katholizismus nicht verfügte. Aus den katholischen Laienorganisationen holte sich die Zentrumspartei ihren Nachwuchs, die eher raren Funktionäre, ihre parlamentarischen Akteure. Und in Wahlkampfzeiten mobilisierten diese Vereine das katholische Volk zu den Urnen. Doch sobald der Wahlkampfsonntag vorbei war, zog sich das katholische Volk vom politischen Terrain zurück und überließ den Parteieliten das Feld. Die katholischen Parteiautoritäten hatten durch die politische Indifferenz und die Autoritätsgläubigkeit ihres Vorfeldes einen außerordentlich großen Handlungsraum, den sie schließlich wegen ihrer komplexen Integrations- wie Vermittlungsaufgaben und der beweglichen Bündnispolitik nach links und rechts in den Weimarer Kabinetten auch wirklich benötigten. Kirche und Milieu sicherten die Autorität der Zentrumsführung, sorgten für die Loyalität der Gläubigen gegenüber der Zentrumspartei auch in Zeiten höchst unpopulärer Entscheidungen. Das stabilisierte den politischen Katholizismus, bot ihm einzigartige Freiräume und Handlungsoptionen, ermöglichte ihm moderne parlamentarische Politik. Und es war, in Gestalt der bundesdeutschen Christdemokratie, noch nach 1949 die Voraussetzung für die langen Regierungszeiten der christdemokratischen Kanzlerautoritäten Konrad Adenauer und Helmut Kohl.5 Um es noch ein weiteres Stück zuzuspitzen: Möglich war der moderne Parlamentarismus der Zentrumspartei nur durch die Existenz vormoderner Glaubensbezüge. Die Zentrumspartei konnte sich wechselnde Koalitionsallianzen und schwierige politische Entscheidungen nur deshalb zumuten, weil ihre Anhänger an die Partei über den Glauben, die Religion, den Gehorsamsanspruch der kirchlichen Hierarchie, die Macht einer Jahrhunderte alten Tradition fest gebunden waren. All das, was gut aufgeklärte und kritisch liberale Bildungsbürger oft als katholischen Aberglauben verhöhnten, bildete das Fundament der modernen Volks- und Koalitionspartei: die Heiligenbilder, Kruzifixe, die »Mutter Gottes«-Verehrung, auch die allgegenwärtige Furcht vor Fegefeuer, Teufel und dem Jüngsten Gericht. Aberglaube, Heilsängste, Erlösungsstreben sicherten der katholischen Partei die parlamentarische Aktionsfähigkeit, über die in den 1920er und 1930er Jahren keine andere Partei in dem Maße verfügte. Hinzu kam als theoretische Fundierung die katholische Soziallehre, die weit rezipiert wurde. Ohne vormoderne, ja vordemokratische Voraussetzungen und Kraftquellen funktionierte der moderne Parlamentarismus in 5 Insgesamt hierzu: Walter, Franz: »Katholisches Milieu und politischer Katholizismus in säkularisierten Gesellschaften: Deutschland, Österreich und die Niederlande im Vergleich.« In: Dürr, Tobias/Walter, Franz (Hg.): Solidargemeinschaft und fragmentierte Gesellschaft. Parteien, Milieus und Verbände im Vergleich. Opladen 1999. S. 43-72. 43 F R A N Z WA LT E R diesen Jahrzehnten offenkundig noch nicht. Parteien, die ganz modern jenseits von Milieu und Religion allein über nüchtern definierte Interessen mit ihren Anhängerschaften verwoben waren, brachen in der europäischen Zwischenkriegszeit auseinander, implodierten. Katholische Parteien hier und liberale dort – beide waren Mitte- und Achsenparteien des parlamentarischen Systems. Doch ging der moderne Liberalismus ohne Transzendenzversprechen und Mythen in den Krisenjahren der europäischen Demokratien an dieser Stellung nahezu zugrunde, die katholischen Volksparteien aber, mit ihren traditionellen, farbenprächtigen, bilderreichen und sinnlich inszenierten Kulten aus Weihrauch, Prozessionen, Wallfahrten, Ohrenbeichte und Höllenangst, blieben intakt. 2. Auszehrungsprozesse in Parteien und Organisationen Das meiste davon ist unzweifelhaft Vergangenheit. Zumindest scheint im Hinblick auf die klassischen Kollektivorganisationen die Diagnose schon auf den ersten Blick evident zu sein, da doch die Indizien, die auf eine tiefgreifende Krise hindeuten, erdrückend wirken. Das »goldene Zeitalter« der Großparteien Das »goldene Zeitalter« und Großorganisationen, von Politologen auf die Periode von der Großparteien und 1961 bis 1983 datiert, gehört offenkundig der Vergangenheit an.6 Großorganisationen gehört offenkundig der So sank beispielsweise die Parteiidentifikation in Deutschland Vergangenheit an. zwischen 1981 und 1998 von 81 Prozent auf 64 Prozent. Leidtragende dieser Entwicklung sind vor allem die großen Volksparteien. Hatten in den 1970er Jahren CDU/CSU und SPD noch rund 90 Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten, waren es in den 1990ern nur noch rund 75 Prozent. Schaut man auf die Wahlberechtigten insgesamt, so kam die von Helmut Kohl angeführte CDU/ CSU 1976 auf 46 Prozent aller Wahlberechtigten – und blieb in der Opposition. 2009 hatte sich die CDU/CSU mit rund 23 Prozent aller Wahlberechtigten zu bescheiden und konnte gleichwohl die Kanzlerin stellen. Nimmt man CDU/CSU und SPD – deren Anteil an den Wahlberechtigten ebenfalls von 41,4 Prozent im Jahr 1972 auf 16,1 Prozent 2009 mit Aplomb herunterfiel – zusammen, dann vertreten die beiden »Volksparteien« im gegenwärtigen Bundestag nur noch 39 Prozent der Wahlberechtigten in Deutschland; die schwarz-gelbe Bundesregierung kann sich lediglich auf die Stimmen von einem Drittel aller zur Wahl legitimierten Bürger stützen. Und es schrumpfen die Mitgliederzahlen der früheren Großparteien. In Deutschland büßte etwa die SPD innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte über gut 400.000 Mitglieder ein; seit den 1970er Jahren hat sich der Bestand halbiert. Die CDU verzeichnete 1983 735.000 Mitglieder, Ende 2010 konnte die Bundesgeschäftsstelle nur 6 Vgl. früh schon Wiesendahl, Elmar: »Wie geht es weiter mit den Großparteien in Deutschland?« In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1-2/98. S. 13-28, hier S. 17; vgl. auch Decker, Frank: »Parteien und Parteiensysteme im Wandel.« In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 2/1999. S. 345-361. 44 DIE ENTKOLLEKTIVIERUNG DER GESELLSCHAFT noch 505.000 organisierte Christdemokraten vermelden.7 Gleichzeitig unterminieren auch interne Entwicklungen den Volksparteicharakter der Großparteien. So hat sich ihr sozialer und kultureller Zuschnitt enorm verengt. In ihrer Mitgliedschaft, vor allem aber bei den Funktionären und Mandatsträgern, spiegeln sie immer weniger die Vielfalt gesellschaftlicher Alters-, Berufs- und BildungsDie Parteien haben an gruppen wider. Die Parteien haben an Wurzeln verloren, an Wurzeln verloren, an Flechtwerken und Erfahrungsorten in Gesellschaft und Wirt- Flechtwerken und Erfahin Gesellschaft. Sie bekommen so ihre zunehmende Einsamkeit zu spü- rungsorten schaft und Wirtschaft. ren, ihre Beschränkung allein auf den politischen Raum, auf Ministerbüros und Abgeordnetenzimmer. Politische Macht ist infolgedessen fragil. Verliert man sie, verliert man alles. Die Entgesellschaftung der politischen Repräsentanten, ihre mangelnde Fähigkeit zur massenhaften Sozialisation und Aktionsmobilisierung von Anhängern, macht diese verletzbar, vorsichtig, ängstlich, in Zeiten des Machtverschleißes auch durch Schwäche aggressiv. Unter vergleichbaren Auszehrungsprozessen leiden auch die Kirchen und Gewerkschaften.8 Auch sie verloren in der letzten Dekade zahlreiche Mitglieder. In Deutschland summiert sich der jährliche Schwund der »Amtskirche« seit den späten 1960er Jahren konstant auf über 100.000 Gläubige. Zwischen 1990 und 2010 hatten rund 6,5 Millionen katholische und evangelische Christen ihre Kirchenmitgliedschaft aufgekündigt – was allein die Einwohnerzahl von Ländern wie Dänemark, Norwegen oder Finnland übertraf. Nur noch 18 Leere Kirchenbänke in einer evangelischen Kirche in Prozent der Katholiken unter dreißig Frankfurt/Main Jahren ordnen sich dem Lager der mindestens mittelbar Kirchenverbundenen zu – bei einem Durchschnitt von immerhin noch 55 Prozent in der katholischen Gesamtbevölkerung. Unter den Fünfzig bis 7 8 Vgl. http://www.bpb.de/files/IMO9KZ.pdf (05.04.2011). Vgl. für das katholische Milieu etwa Ziemann, Benjamin: »Das Ende der Milieukoalition. Differenzierung und Fragmentierung der katholischen Sozialmilieus nach 1945.« In: Comparativ, 2/1999. S. 89ff.; für die Gewerkschaften: Ebbinghaus, Bernhard: »Die Mitgliederentwicklung deutscher Gewerkschaften im historischen und internationalen Vergleich.« In: Schroeder, Wolfgang/Weßels, Bernhard (Hg.): Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch. Wiesbaden 2003. S. 174-203. 45 F R A N Z WA LT E R Neunundfünfzigjährigen gibt es heute noch 30 Prozent, denen die christliche Orientierung einer Partei wichtig ist, bei den Sechzehn bis Fünfundzwanzigjährigen sind das weit unter 10 Prozent. Jeder dritte Deutsche ist mittlerweile sowieso konfessionslos. Im europäischen Religionsvergleich liegt Deutschland im Jahr 2008 ganz hinten. In Bundesländern wie Schleswig Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt bezeichnen sich nicht einmal mehr fünf Prozent der repräsentativ befragten Bürger als »gottesgläubig«.9 Auch die Mitgliederentwicklung in den Gewerkschaften weist rasant nach unten. Zwischen 2000 und 2010 verlor der DGB 1.579.543 Mitglieder, davon fielen auf die IG Metall 523.979 und auf ver.di 712.041 Mitglieder, die in dieser Dekade abhanden gingen. Die goldenen Jahre der Gewerkschaften waren die Jahre des Booms und der großindustriellen, fordistischen Produktionsweisen.10 Mit beidem ging es in der ersten Hälfte der 1970er Jahre allmählich vorbei. Seither veränderte sich die Gesellschaft rasant, sie wurde femininer, tertiärer; anstelle serieller Massen- und Billigproduktionen in Großbetrieben der überkommenen Montan-, Bergbau-, Werft- und Textilregionen traten kleinteiligere, hochwertig verarbeitende Betriebe oft mittlerer und kleiner Größe in den neu prosperierenden, eher südlich gelegenen Landesteilen der Republik. Die Gewerkschaften bildeten, im Grunde bis heute, in ihrer Mitglieder- und Organisationsstruktur die soziale wie ökonomische Konstellation der 1960er/70er Jahre ab.11 Weiterhin dominieren Arbeiter, mittlerweile auch Rentner, während die DGB-Gewerkschaften nach wie vor Probleme bei Angestellten und Frauen, den Zugehörigen der Klein- und Mittelbetriebe, auch im Dienstleistungsbereich und bei Personen mit prekären, lange als »atypisch« bezeichneten Arbeitsverhältnissen ausweisen.12 Arbeitsnehmergruppen der modernen Mobilitätssphären, wie Piloten oder Lokomotivführer, sperren sich gegen die altgewerkschaftlichen Integrationsimperative und gründen eigene, elitäre Gewerkschaften mit großer Schlagkraft, weil diese Berufe in verkehrstechnischen Schlüsselpositionen angesiedelt sind, die nicht leicht durch Streikbrecher zu substituieren sind. Seit den 1980er Jahren gelten auch die korporatistischen Strukturen als zunehmend überholt. Als Folge der gesellschaftlichen Entsäulung ist ebenfalls der Korporatismus in eine tiefe Krise geraten, wird das tarifvertragliche Monopol vor allem der Gewerkschaften 9 http://www.stiftungfuerzukunftsfragen.de/uploads/media/209_WasDenDeutschenHeiligIst.pdf (05.04.2011). 10 Vgl. Schroeder, Wolfgang/Weßels, Bernhard: »Das Ende des deutschen Gewerkschaftsmodells?« In: Gewerkschaftliche Monatshefte, 8-9/2003. S. 573ff. 11 Vgl. Legrand, Jupp: »Von der Streik-Niederlage zur Programm-Debatte. Die IG Metall muss mehr als eine gescheiterte Tarifrunde aufarbeiten.« In: Gewerkschaftliche Monatshefte, 8-9/2003. S. 563. 12 Vgl. Lorenz, Robert: »Schwäche aus Stärke.« In: Hensel, Alexander/Kallinich, Daniela/Rahlf, Katharina (Hg.): Parteien, Demokratie und gesellschaftliche Kritik. Stuttgart 2011. S. 274ff. 46 DIE ENTKOLLEKTIVIERUNG DER GESELLSCHAFT zunehmend kritisch hinterfragt und in der Praxis vielfach unterlaufen. Insbesondere Ostdeutschland ist in großen Teilen zu einer tarifvertragsfreien Zone geworden, da dort nur ein Viertel der Beschäftigten tarifvertraglich eingebunden ist. Doch auch im Westen ist mittlerweile lediglich die Hälfte der Erwerbstätigen durch Tarifverträge geschützt und gesichert.13 Für junge Leute sind die DGB-Gewerkschaften in vielerlei Hinsicht nicht sonderlich attraktiv; das Gros der nachwachsenden Kohorten kommt mit den Sozialisationsprozessen und Bildungsbemühungen der Gewerkschaften nicht mehr in Berührung. Die prägenden Konfliktlinien der modernen Industriegesellschaften also, aus denen heraus die Großorganisationen einst entstanden sind, haben sich im Zeitalter von Postmoderne und Postfordismus verflüchtigt: Der Wandel der Beschäftigungsstruktur unterminierte den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit; die gesteigerte soziale und räumliche Mobilität beseitigte die Trennung zwischen Stadt und Land; konfessionelle Spannungen lösten sich in der Säkularisierung auf; die Bildungsexpansion machte die Unterstützungsleistungen von Milieus entbehrlich. Die für die milieubasierten Großkollektive so elementaren homogenen sozialen Netzwerke binden immer kleiner werdende Bevölkerungsgruppen ein. Durch den Aufstieg des Nachwuchses aus den Familien der klassischen Facharbeiterelite in die »neue Mitte« formierte sich eine neue Schicht von jetzt ressourcenstarken Menschen mit akademischen Abschlüssen, die nun nicht mehr das Gehäuse der disziplinierten Organisation benötigen, nicht mehr angewiesen auf den Vormund von Partei- oder Gewerkschaftssekretären sind.14 Darin besteht die Zäsur, die auch auf das Parteiensystem, die Gewerkschaftsbewegung und den Sozialkatholizismus gegenwärtig so massiv umschlägt. In diesem Zusammenhang wird man den Blick ebenfalls auf die veränderte gesellschaftliche Selbst- und Fremdzuordnung der Frauen zu richten haben. Nicht zuletzt durch die Bildungsexpansion in den 1960er Jahren hat sich die Stellung der Frau in der Gesellschaft fundamental gewandelt. In zahlreichen europäischen Ländern bilden Waren Frauen lange Zeit gerade für die hier behandelten Groß- Frauen die Majorität des strukturen – vor allem für Parteien und Kirchen – stabilisie- Elektorats von ökologischen oder libertären rende Faktoren, so ist ihre traditionsgestiftete Organisationslo- Parteien. yalität in den vergangenen Jahren gebröckelt. Das mit engen religiösen Bindungen korrelierende überproportional ausgeprägte Wahlverhalten zugunsten der Konservativen ist heute nicht mehr festzustellen. Im Gegenteil: In 13 Vgl. Brinkmann, Ulrich/Nachtwey, Oliver: »Krise und strategische Neuorientierung der Gewerkschaften.« In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 13-14/2010. S. 1ff., hier S. 2. 14 Siehe auch Walter, Franz: Die SPD. Biographie einer Partei. Reinbek bei Hamburg 2009. S. 279f. 47 F R A N Z WA LT E R zahlreichen europäischen Ländern bilden Frauen die Majorität des Elektorats von ökologischen oder libertären (auch explizit wohlfahrtsstaatlichen) Parteien. Gleichermaßen hat angesichts der steigenden Berufstätigkeit und damit wachsender Autonomie von Frauen der Einfluss der Kirche als Sinnstifter und moralischer Orientierungspunkt nachgelassen.15 Nun könnte man gerade die Entstehung und die in den Folgejahren offenkundige Stabilität der in den 1970er/1980er Jahren neu auftretenden grün-ökologischen Parteien als eine Art zweiter Welle gesellschaftlich moderner Milieubildung deuten. Das grüne Milieu kam historisch spät, tradierte sich nicht in der gleichen Uniformität und Verbindlichkeit über Generationen hinweg wie noch das sozialdemokratische oder katholische. Doch besaß auch die grüne Subkultur in ihren bewegten Anfangsjahren alle entscheidenden Kennzeichen der klassischen Milieustrukturen:16 • Es repräsentierte in den 1970er Jahren mit der Ökologie eine neue gesellschaftliche Spannungslinie. Es gab die soziale Gruppe, die das alles trug, weil sie sich gesellschaftlich anfangs abgedrängt und ausgegrenzt fühlte: die Alternativbewegung zwischen Brokdorf und Mutlangen, fokussiert in den studentischen Vierteln der Universitätsstädte. • Es basierte auf einer von unten begründeten Infrastruktur aus Kinderläden, roten bis ökoesoterischen Buchhandlungen, Bürgerinitiativen, Patientenkollektiven, Selbsthilfegruppen, Biohöfen. • Es schuf eine eigene Symbolik, einen spezifischen Habitus, eigene Gruß- und Anredeformeln, ein genuines Liedgut. • Am Ende gab sich das neue grün-alternative Milieu mit der »taz« noch ein eigenes Selbstverständigungs- und Multiplikationsmedium, gründete schließlich die eigene Parteirepräsentanz, eben die Grünen. Genau deshalb haben sich die Grünen in der bundesdeutschen Republik bemerkenswert fest, dauerhaft und parlamentarisch-gouvernemental erfolgreich im Parteiensystem etablieren können. Dagegen haben Protest- und Neuparteien ohne solche Vergemeinschaftungen im Vorfeld, ohne organisatorische Vernetzungen, ohne gegenwartstranszendierende Leitidee, ohne eine sozialmoralisch verknüpfte Kernanhängerschaft, ohne Mythen und legendenumwobene Autoritäten (in diesem Falle: Petra Kelly oder Joschka Fischer) keine allzu große Beständigkeit und zerfallen nach raschem Aufstieg oft ebenso schnell wieder in ihre sozialkulturellen Einzelteile. 15 16 Hoecker, Beate: Politische Partizipation von Frauen. Ein einführendes Studienbuch. Opladen 1995. Vgl. Veen, Hans-Joachim: »Die Grünen als Milieupartei.« In: Maier, Hans u.a. (Hg.): Politik, Philosophie, Praxis. Stuttgart 1988. S. 254-476; vgl. auch Walter, Franz: Gelb oder Grün. Bielefeld 2010. S. 73f. 48 DIE ENTKOLLEKTIVIERUNG DER GESELLSCHAFT 3. Auswirkungen der postindustriegesellschaftlichen Individualisierung Gleichwohl: Das goldene Zeitalter konsistenter, kollektiv verbindlich assoziierter Milieus und Großlebenswelten dürfte zweifelsohne passé sein. Doch was sagt uns das? Ist das Grund zur Besorgnis oder vielmehr Anlass zur Erleichterung, da dergleichen Eigen- und Sonderkulturen schließlich auch etwas Einhegendes, einen unzweifelhaft antiindividuellen Charakter hatten, oft soziale Absperrungen errichteten und Antagonismen konstituierten, wo gegenseitige Lernprozesse, Öffnungen und kooperativer Konsens angebracht gewesen wären? In der Tat, lange überragte eindeutig – und sicher nicht ohne Recht – die positive Interpretation des gesellschaftlichen Entstrukturierungsprozesses. Man goutierte die sonnigen Seiten der Individualisierung, lebte die Opulenz der Optionen, schätzte und gebrauchte die Möglichkeit des Auszugs aus beengenden, kontrollierenden, zuweilen gar disziplinierungswütigen Assoziationen. Zukunftsforscher skizzierten vor Jahren daher zumeist eine durchaus heitere Aussicht des Zusammenlebens der Menschen im entkollektivierten Futurismus. Die alten Organisationsbindungen seien dort zwar verschwunden, doch an ihre Stelle träten neue Netzwerke, neue Kontaktkreise, nur Hoffnungslosigkeit und Armut. Ein Grund: Die Erosion sozialmoralischer Vergemeinschaftsformen 49 F R A N Z WA LT E R nicht mehr so weit- und breitflächig, über die ganze Biografie erstreckt und ideologisch geschlossen wie einst, sondern je nach eigenem Gusto konfigurierbar, auch lebensabschnittsweise kündbar, durch andere Formen und Werte ersetzbar. Das traf so zu und war fraglos attraktiv – für diejenigen, die über die Ressourcen Bildung, Mobilität, Selbstbewusstsein und Kreativität verfügten. Doch es stellte sich die Frage: Was sollte mit den Habenichtsen und Verlierern der Moderne geschehen, die solche Voraussetzungen nicht besaßen, für die dann Individualisierung tatsächlich Vereinsamung, soziale Isolation und Ratlosigkeit, auch zunehmend Armut oder – neusoziologisch ausgedrückt – Exklusion, jedenfalls Verlorenheit zur Folge hatte? Denn das alte Arbeitermilieu, engmaschig organisiert und lebensweltlich wie normativ homogen, war nun verschwunden. Das industrielle Fundament großbetrieblicher Zusammengehörigkeit und Wohnförmigkeit zerbröselte seit den 1970er Jahren. Die traditionelle und traditionsreiche Arbeiterklasse des sich verabschiedenden industriegesellschaftlichen Jahrhunderts spaltete sich damals auf: Auf der einen Seite in die Verlierer, die zunehmend vereinzelten, sich resigniert aus der früheren Kollektivität zurückzogen.17 Sie verharrten in ihren angestammten Wohnvierteln, die aber Jahr für Jahr mehr von wertgebundenen Arbeiter- zu verwahrlosten Arbeitslosenquartieren deformierten. Auf der anderen Seite standen die Gewinner, die über die Bildungsexpansion jener Reformjahre ihre Aufstiegschancen (nicht selten im öffentlichen Dienst) nutzten und fortstrebten.18 Es hielt sie nicht länger in den überkommenen Werkssiedlungen. Die neuakademischen Aufsteiger aus den Facharbeiterfamilien ließen so die Randständigen des Deindustrialisierungsprozesses zurück, organisierten sie nicht mehr, formten sie nicht mehr kulturell, gaben ihnen keine politische Orientierung und Interpretationen mehr vor, stifteten keinen Sinn, keinen Halt, waren den unteren Schichten des sozialen Unten keine mitnehmende, zielorientierte Autorität mehr. In den Souterrains der Gesellschaft bedeutet der Abschied von den bergenden Lagern jedenfalls nicht das glückliche Entree in ein Reich neuer Möglichkeiten und Chancen. Hier geht die Erosion der sozialmoralischen Vergemeinschaftungen einher mit der Wahrnehmung eigener Überflüssigkeit.19 Die alten Milieus hatten nicht allein Wärme und Nähe geboten, sondern zahlreiche Funktionen und Tätigkeiten im weit gefächerten Organisationssystem, was ihnen Bedeutung und Selbstbewusstsein verschaffte. Mit dem Zerfall der sozialmoralischen und politischen Vergemeinschaftun17 Hierzu und weiter Walter, Franz: Vorwärts oder abwärts? Berlin 2010. S. 12ff. Vgl. auch Solga, Heike/Wagner, Sandra: »Die Zurückgelassenen – die soziale Verarmung der Lernumwelt von Hauptschülerinnen und Hauptschülern.« In: Becker, Rolf/Lauterbach, Wolfgang (Hg.): Bildung als Privileg. Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit. Wiesbaden 2008. S. 191ff. 19 Siehe hierzu unter anderem Kronauer, Martin: Exklusion: die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus. Frankfurt a.M. 2002. 18 50 DIE ENTKOLLEKTIVIERUNG DER GESELLSCHAFT gen ist diese aktivierende, ermutigende und inkludierende Wirkung großflächiger Selbsthilfeorganisationen verloren gegangen. Die postindustriegesellschaftliche Individualisierung ist daher für diejenigen ohne hinreichend eigene Handlungspotenziale und wissensgesellschaftliche Kompetenzen negativ, hoffDie postindustriegesellnungsarm und im Grunde zukunftslos. Natürlich, ein Zurück zu schaftliche Individualiden überkommenen, mitunter abträglich nach innen homogeni- sierung ist für Menschen ohne hinreichend eigene sierenden und nach außen scharf konfrontativen Groß-Lager Handlungspotenziale und wird es nicht geben. Schließlich vollzog sich die Herauslösung wissensgesellschaftliche Kompetenzen im Grunde aus der Kollektivität, die Dekomposition der großorganisatori- zukunftslos. schen Hierarchien seit den 1970er Jahren nicht zufällig. Aber man kann es sich auch nicht zu einfach machen und nun fröhlich und selbstgewiss kurzerhand die »Bürger-« oder »Zivilgesellschaft« als probaten Ersatz für die überkommenen wie verschlissenen Milieus preisen.20 Meist wird dann leichthändig von einer strukturellen Veränderung »zivilen Engagements«21 oder einem »Wandel der Organisationsgesellschaft«22 gesprochen, was derzeit in der Regel unter dem Chiffre der »neuen Ehrenamtlichkeit« gefasst wird.23 Eine Definition der »neuen Formen« der Partizipation liefern Dietlind Stolle und Marc Hooghe.24 Die neuen Beteiligungsformen zeichnen sich nach Auffassung dieser beiden Autoren dadurch aus, dass sie, 1. sich von überlieferten – also formellen wie bürokratischen – Organisationsstrukturen lösen und horizontalere, flexiblere Muster präferieren; 2. sich weniger auf institutionelle Regelungen und Tätigkeitsfelder – wie zum Beispiel Parteien, Politik, Gewerkschaften – begeben; 3. die Mobilisierung für spezifische Ziele oft eher situativ, weniger auf Dauer, dafür rhapsodischer und dabei prononciert emotional betreiben (new, more emotional – driven forms – of protest and mobilization); 20 Siehe hierzu Adloff, Frank: Die Zivilgesellschaft. Theorie und politische Praxis. Frankfurt a.M./New York 2005; Kocka, Jürgen: »Zivilgesellschaft in historischer Perspektive.« In: Forschungsjournal NSB, 2/2003. S. 29-37. 21 Brömme, Norbert/Strasser, Hermann: »Gespaltene Bürgergesellschaft? Die ungleichen Folgen des Strukturwandels von Engagement und Partizipation.« In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 25-26/2001. S. 6-14, hier S. 6. 22 Wollebaek, Dag/Selle, Per: »Generations and Organizational Change.« In: Dekker, Paul/Halman, Loek (Hg.): The Values of Volunteering. Cross-Cultural Perspectives. New York 2003. S. 161-178. 23 Dörner, Andreas/Vogt, Ludgera: »Das Kapital der Bürger.« In: Gegenwartskunde, 1/2001. S. 43ff. 24 Stolle, Dietlind/Hooghe, Marc: Review Article: Inaccurate, Exceptional, One-Sided or Irrelevant? The Debate about the Alleged Decline of Social Capital and Civic Engagement in Western Societies. In: Belgian Journal of Political Science, 35/2004. S. 149-167. 51 F R A N Z WA LT E R 4. in ihrem Charakter weniger verbindlich kollektiv- und gruppenorientiert sind, daher die Partizipation dort zumeist nach den Bedürfnissen und Neigungen des Einzelnen vonstatten geht.25 Der amerikanische Sozialforscher Robert Putnam verhehlt hierzu nicht seine skeptischen Einwände. Die neuen Formen des Engagements, so der Harvard-Soziologe, erwiesen sich häufig zwar als more liberating aber gleichzeitig als less solidaristic, und repräsentieren eine Art Privatisierung des Sozialkapitals.26 In der Tat: Die »neuen Ehrenamtlichen« sind im Unterschied zu den »Altehrenamtlichen« aus Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Arbeitersamariter-Bund oder Rotem Kreuz sehr viel diskontinuierlicher, erratischer, launischer bei der Sache. Kurzum: Zwar vergleicht man die Selbstinitiativen der Bürgergesellschaft oft mit den Organisationen der klassischen Milieus im Umfeld der früheren Weltanschauungsparteien. Doch es war gerade deren Sozialmoral, waren deren transzendentale oder innerweltliche Glaubensüberzeugungen, deren Sinnbotschaften, die diese Vergemeinschaftungen banden, orientierten, leiteten und stabilisierten. Ihr weltanschaulich inspiriertes Organisationsgeflecht war die Grundlage für die Verklammerung von verschiedenen Generationen und verschiedenen Sozialschichten, auch heterogener Regionalkulturen. Wie schon erwähnt: Der religiöse Glaube und die kirchlichen Einrichtungen verknüpften – das sahen wir ebenfalls – im Milieu der katholischen Parteien Junge und Alte, Bauern, Bergarbeiter und Barone; die Weltanschauung und das Freizeitwesen des Sozialismus vereinte im Umfeld der Sozialdemokratie ebenfalls Jugendliche und Veteranen, Facharbeiter, Erwerbslose und jüdische Intellektuelle. Der Verlust von Sozialmoral, Weltanschauung und Glaubensüberzeugungen hat die moderne Gesellschaft zwar ideologisch pazifiziert, hat zur Überwindung der harten Antagonismen der Zwischenkriegsjahre beigetragen. Doch zugleich ist die Desintegration der sowieso Benachteiligten dadurch noch weiter vorangeschritten. Nochmals: In der postweltanschaulichen Gesellschaft steht das »soziale Unten« politisch-kulturell ohne Obdach da. 25 Klages, Helmut: »Individualisierung als Triebkraft bürgerschaftlichen Engagements.« In: Kistler, Ernst/ Priller, Eckhard/Noll, Heinz-Herbert (Hg.): Perspektiven gesellschaftlichen Zusammenhalts: empirische Befunde, Praxiserfahrungen, Messkonzepte. Berlin 1999. S. 101-112; Klages, Helmut: »Bürgerschaftliches Engagementpotential.« In: Politische Studien, 363/1999. S. 46-60; Kühnlein, Irene/Böhle, Fritz: »Motive und Motivationswandel des bürgerschaftlichen Engagements.« In: Enquete-Kommission »Zukunft des Bürgergesellschaftlichen Engagements«, Deutscher Bundestag (Hg.): Bürgerschaftliches Engagement und Erwerbsarbeit (Bd. 9). Opladen 2002. S. 268-297. 26 Putnam, Robert David: »Conclusion.« In: Putnam, Robert David (Hg.): Democracies in Flux: The Evolution of Social Capital in Contemporary Society. New York 2002. S. 393-416, hier S. 412. 52 DIE ENTKOLLEKTIVIERUNG DER GESELLSCHAFT Was aber mag passieren, wenn entscheidende sozialisierende, auch orientierende, ja disziplinierende Assoziationen der Industriegesellschaft und Moderne, welche lange Zeit Regeln gesetzt, Zugehörigkeit vermittelt, Solidaritäten hergestellt haben, in ihren Fundamenten beschädigt sind? Kommt es dann, ohne solche Refugien und Puffer, zum gesellschaftlichen Zusammenprall? Denn schließlich: Wo die Puffer von Strukturen, Institutionen, Repräsentanz und kollektiven sozialmoralischen Verbindlichkeiten fehlen27, pflegt sich nicht selten Unmut auszubreiten, pflegen sich Stimmungen unmittelbar, ungefiltert, aggressiv zu entladen. Indes wer sollte das »Subjekt« des Aufbegehrens sein? Die »neuen Unterschichten« stehen sicher nicht bereit. Die industriegesellschaftliche ArbeiterIm »neuen Unten« klasse war für die kapitalistische Produktion und Mehrwertge- bleiben die einzelnen für winnung ein ganzes Jahrhundert lang unentbehrlich. Deswegen sich, netzwerkunfähig, handlungsgehemmt und war die gewerbliche Arbeiterklasse auch, gewissermaßen von ungehört. 1870 bis 1970, durchaus ressourcenstark, besaß Selbstbewusstsein, verfügte über Organisationsfähigkeit, brachte kluge, ehrgeizige, über den Status quo hinausstrebende Anführer mit ambitionierten Zukunftsideen hervor. Die neuen Unterschichten der Überflüssigen haben davon nichts: Keine kollektive Zusammengehörigkeit, kein Selbstbewusstsein, keine Idee von sich selbst, keine Ressourcen für Organisation, für politische Projekte und für disziplinierte, langfristige Aktionen. Im »neuen Unten« bleiben die einzelnen – gleichsam negativ individualisiert – für sich, netzwerkunfähig, handlungsgehemmt und ungehört.28 Sie mögen in Zeiten weiterer sozialer Verschlechterung zum Katapult für kurzfristig-spontan limitierte antikapitalistische Affekte werden, für strohfeuerartig aufflammende Affekte gegen »die Reichen da oben« in Frage kommen, aber sie avancieren gewiss nicht zu einem politischen Träger des organisierten und zielorientierten Protests. 4. Das junge Wirtschaftsbürgertum Doch nicht nur das neue »Unten«, sondern auch das neue »Oben« hat sich in den letzen Jahren dem Raum von Politik und Parteien entzogen. Das junge Wirtschaftsbürgertum löste sich mehr und mehr aus der politischen Sphäre insgesamt, tolerierte die Zeitstrukturen und Aushandlungsprozesse dort nicht mehr, verachtete den ganzen, ihnen entschieden zu langsamen, schwerfälligen, inkonsistenten politischen Betrieb. Ökonomische und politische Eliten bewegen sich mittlerweile in 27 Vgl. zu dieser Problematik Weinert, Reiner: »Intermediäre Institutionen oder die Konstruktion des »EINEN«.« In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 47/1995. S. 237ff. 28 Vgl. besonders Kronauer, Martin: »»Soziale Ausgrenzung« und »Underclass«: Über neue Formen der gesellschaftlichen Spaltung.« In: Leviathan 1/1997, S. 28ff. 53 F R A N Z WA LT E R unterschiedlichen Kontexten.29 Über Jahrzehnte waren die Berührungen im Alltag vielfältig. Man begegnete sich in den gleichen Vereinen, teilte gemeinsame Geselligkeiten, verschränkte sich zwecks Optimierung der eigenen Karriereaussichten miteinander. In früheren Jahrzehnten konnte es sich für Männer in der Wirtschaft lohnen, zumindest maßvoll politisch aktiv zu sein. Doch das ist Vergangenheit. Die ökonomischen Globalisierungseliten brauchen keine Parteien als Katapult für berufliche Möglichkeiten, als Fundament der Interessendurchsetzung. Im Übrigen verfügen sie nicht über die Zeit für Politik.30 Denn an die Spitze etwa des christdemokratischen Ortsverbandes kommt allein der Local Hero, der ständig anzutreffen, in seiner Stadt allzeit präsent ist. Kaum ein ehrgeiziger CDU/SPD-Nachwuchspolitiker wäre bereit, die Heimatuniversität auch nur für ein Semester zu verlassen, weil man nach halbjährlicher Absenz sich der mühsam zusammengestellten innerparteilichen Hausmacht nicht mehr gewiss sein könnte. Wer in diesen Parteien reüssieren will, kann im außerpolitischen Beruf nicht allzu ambitioniert gefordert sein. Denn Zeit ist für Politik eine entscheidende Quelle von Einfluss- und Machtbildung. Die Person, die es weit bringen will, benötigt Zeit für den Info-Tisch, für die Ortsverbandsversammlungen, die Stadtratssitzung, die zahlreichen Kungelrunden und Kommissionen, für Schützenfeste und Wanderungen mit dem Heimatverein. Jungen Wirtschaftsbürgern fehlt es in der Regel an einem solchen üppigen Zeitbudget. Sie pendeln zwischen den »Wirtschaftsstandorten« mit dem ICE, wenn der christdemokratische Ortsverband die Delegiertenlisten für den nächsten Kreisparteitag präpariert und darauf zum gemütlichen Bier und Körnchen übergeht. So wirkt auch das soziale »Oben« von der Welt des Politischen, von den Orten der sesshaften, auf Konstanz angelegten Milieus entfremdet. Andererseits muss die Entwicklung der letzten vierzig Jahre, mit der sozialen und kulturellen Entbindung als Signum einer Epoche in den modernen westeuropäischen Ländern, nicht linear weitergehen. Der Entzug der Kollektivität öffnete fraglos Räume und erweiterte Möglichkeiten, die vordem schwer denkbar waren. Die Lebensgeschichten der Einzelnen waren weniger von den Prägungen der Sonderkulturen für ein ganzes Leben determiniert, sondern zukunftsoffener, im Prinzip selbstbestimmter als je zuvor. Der Alltag wurde dadurch unzweifelhaft facettenreicher, abwechslungsreicher und – wie es nun häufig hieß – »spannender«. 29 Vgl. hierzu Kohler, Georg: »Über den Freisinn – eine Dekadenzgeschichte.« In: Neue Züricher Zeitung 07.09.2007. 30 Hierzu auch Pfeiffer, Ulrich: »Eine Partei der Zeitreichen und Immobilen.« In: Die Neue Gesellschaft/ Frankfurter Hefte 5/1997. S. 392ff. 54 DIE ENTKOLLEKTIVIERUNG DER GESELLSCHAFT Doch Wechsel und Spannung in Permanenz ist nicht jedermanns Sache, zumal dahinter auch Unsicherheit, Mühsal und Stress lauern und drohen. Die aus den kollektiven Einbettungen entschlüpften Einzelnen müssen sich nun fortwährend selbst entscheiden, ohne noch den Rückhalt und die Orientierungsgewissheit der zurückgelassenen Solidargemeinschaften zu besitzen.31 Es häufen sich die Zeichen dafür, dass die Ära der Entbindungseuphorie, das Zeitalter des Rigorosindividualismus ihren Zenit überschritten hat. In mehreren zeitdiagnostischen Studien der Soziologie, der Psychologie, auch der Zukunfts- und Trendforscher wird so etwas wie ein »Wandel des Wertewandels«32 ausgemacht, zumindest für die nahe Zukunft prognostiziert. 5. Psychologische Folgen der individualisierten Gesellschaft Dann würden wir tatsächlich vor einem Einschnitt stehen. Schon jetzt weisen Erhebungen aus der Jugendforschung darauf hin, dass die Optionsgesellschaft zu Erschöpfungen, zu Rat- und Orientierungslosigkeiten geführt hat. Man muss sich ständig selbst festlegen; verfügt indessen kaum mehr über die Sicherheit eines stabilen Wertfundaments. Psychologen berichten Der individualisierte Mensch empfindet es von einem dramatischen Anstieg neuer »Grübelkrankheiten«33, allmählich nicht allein auch der Burn-out-Symptome,34 mit denen man zu tun bekommt, als tolle Gelegenheit, kreativ, innovativ und wenn man unaufhörlich eigenverantwortlich zu disponieren hat, originär sein zu dürfen. Leitplanken und Maßstäbe dafür seit dem Verlust von Weltanschauungen und Glaubensüberzeugungen allerdings nicht mehr selbstverständlich verfügbar sind. Der individualisierte Mensch empfindet es allmählich nicht allein als tolle Gelegenheit, kreativ, innovativ und originär sein zu dürfen, sondern oft genug als herrischen Zwang, all dies jederzeit sein zu müssen.35 Rundum glücklich befreit wirken etliche der entbundenen Individuen im Herbst der Radikalindividualisierung nicht. Die klinische Psychologie verzeichnet einen 31 Vgl. das Konzept des consumerist syndrom des Soziologen Zygmunt Baumann; Rojek, Chris: »The Consumerist Syndrome in Contemporary Society: An Interview with Zygmunt Bauman.« In: Journal of Consumer Culture, 4,3/2004. S. 291-312. 32 Hradil, Stefan: »Vom Wandel des Wertewandels. Die Individualisierung und einer ihrer Gegenbewegungen.« In: Glatzer, Wolfgang (Hg.): Sozialer Wandel und gesellschaftliche Dauerbeobachtung. Opladen 2002. S. 31ff. 33 Zum Zusammenhang von »Grübeleien« (Rumination) und Depressionen vgl. Ward, Andrew/Lyubomirsky, Sonja/Sousa, Lorie/Nolen-Hoeksema, Susan: »Can’t Quite Commit: Rumination and Uncertainty.« In: Personality and Social Psychology Bulletin, 29,1/2003. S. 96-107. 34 Schwartz, Barry: »Self-Determination, The Tyranny of Freedom.« In: American Psychologist, 55/2000. S. 79ff.; eine (durchaus diskutable) Gegenposition bezieht Veenhoven, Ruut: »Quality-of-Life in Individualistic Society: A Comparison in 43 Nations in the Early 1990’s.« In: Social Indicators Research, 48/1998. S. 157-186. 35 Hierzu besonders: Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt a.M. 2004. 55 F R A N Z WA LT E R Anstieg an Depressionen; die Soziologie bemerkt eine Reorientierung zahlreicher, vor allem auch junger Menschen an Kohäsions-, Ordnungs- und Gemeinschaftswerten; Politologen konstatieren ein komplexitätsreduzierendes Bedürfnis auch gebildeter Bürger nach einfachen politischen Lösungen; die Zukunfts- und Trendforscher melden einen erhöhten Bedarf an Sinn, Identität, auch an heilsstiftenden Gewissheiten. Lässt man sich auch hier auf das oben bereits eingeführte Zyklenparadigma des amerikanischen Historikers Arthur M. Schlesinger ein, dann schwingt das Pendel kultureller und politischer Orientierungen alle dreißig bis vierzig Jahre zurück.36 Neue Generationen erkennen die Schattenseiten und Defizite bislang dominierender normativer Muster; und sie bilden dann neue Einstellungen und politische Präferenzen aus. Auf Phasen des Individualismus folgen Passagen gemeinschaftssuchender Orientierungen. Der dominierende Charakter im jeweiligen Zyklus produziert in Folge rigider Einseitigkeiten regelmäßig Probleme und Defizite, auf welche die nachfolgende Ära ähnlich überschüssig, doch eben in die andere Richtung hin antwortet. Natürlich: Der neue Bedarf kann auch antipluralistische, da komplexitätsmindernde Angebote hervorbringen. Denn, so schon der Religionsphilosoph Ernst Troeltsch: »Die Sehnsucht nach dem Absoluten ist das Ergebnis eines Zeitalters des ›Relativismus‹.«37 Die modernen europäischen Gesellschaften sind jedenfalls nicht durch einen Mangel an Wettbewerb, an Freiheitsräumen, an Individualisierung, an Autonomie charakterisiert. All das war zuletzt und ist weiterhin reichlich vorhanden. Zur Mangelware aber sind, als Folge der Überproduktion von Entbindungswerten im liberalen Wandel der letzten Jahre, die Kohäsionsnormen geworden. Es fehlt vielfach an Sinn, an Zielen, an orientierenden Fluchtpunkten, an Einbettungen, an kollektiven Behausungen, an Stabilitätsstrukturen, an voraussetzungslos verlässlichen Bezügen. Nicht zuletzt deshalb flackern in den letzten zwei Jahren immer wieder die Festlichkeiten der Gemeinschaftsinszenierungen rund um das Brandenburger Tor auf, ebenso die Faszination für zeitweilige politische Heillandsfiguren der Façon Barack Obama oder auch Karl-Theodor zu Guttenberg. Auch das gehört hierher: Ohne Ziele und Sinnperspektiven fehlt die Richtschnur, gleichsam die Grammatik des politischen Handelns. Ziele orientieren, sie motivieren, assoziieren Individuen. Sie verringern – wie ja ebenfalls Vertrauen, wie die 36 Vgl. hierzu und im Folgenden auch Klatt, Johanna/Walter, Franz: »Politik und Gesellschaft am Ende der zweiten Großen Koalition – und was folgt?« In: Butzlaff, Felix/Harm, Stine/Walter, Franz (Hg.): Patt oder Gezeitenwechsel? Deutschland 2009. Wiesbaden 2009. S. 295ff. 37 Troeltsch, Ernst: »Das Neunzehnte Jahrhundert.« In: Troeltsch, Ernst: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie. Gesammelte Schriften Band 4. Tübingen 1925. S. 614ff. 56 DIE ENTKOLLEKTIVIERUNG DER GESELLSCHAFT Autorität, wie Routinen und Rituale – Komplexität, sie ordnen und hierarchisieren das Tun; sie setzen Prioritäten. Sie geben Horizonte vor, stiften die regulative Idee, welche überindividuelle Zusammenschlüsse wohl brauchen, um sich auf Dauer zu stellen und zu legitimieren. Ziellosigkeit dagegen produziert Leere, Ängstlichkeit, den Leerlauf transzendenzloser Gegenwärtigkeit. Wir wissen aus der Soziologie und Sozialpsychologie, dass Menschen nur dann aktiv, zielbewusst und optimistisch handeln können, wenn sie über ein konsistentes Wertesystem verfügen. Fehlt ihnen ein solches Interpretationsdepot oder ist es derangiert, dann machen sich Ängste breit, Hilflosigkeit, Lähmung. Menschen mit einem aus den Fugen geratenen Wertegerüst werden von Zukunftsfurcht gequält, reagieren im besten Fall sozialadaptiv, im schlechteren Fall werden sie politische Beute hemmungsloser Populisten. Wo Ziellosigkeit herrscht, wo das Wertesystem inkonsistent geworden ist und Normen erodieren, dort ist die Handlungsfähigkeit der Menschen (übrigens auch der Parteien) gehemmt, ist der übervorsichtige Konformismus allgegenwärtig, ist ängstlicher Pessimismus der vorherrschende Zug der Zeit.38 Der englische Psychoanalytiker Dylan Evans formulierte es so: »But if idealism without a dose of reality is simply naïve, realism without a dash of imagination is utterly depressing.”39 6. Zur Bedeutung politischer Autorität Und hier ist man unmittelbar bei politischer Autorität, bei Führungskraft.40 Politische Autorität muss wissen, wohin sie will, nur dann kann sie große Bevölkerungsteile auf die großen Märsche mitnehmen. Dafür braucht sie einen langfristigen Blick, Perspektiven, ein überwölbendes Thema, auch Entschlossenheit und Leidenschaft, ja einen Ethos, einen stabilen Überzeugungskern. Politische Führungsautorität und starke – eben sinnträchtige – Überzeugungen gehen eng zusammen. Aber umgekehrt gilt auch: Das Defizit an Sinn unterminiert zugleich die Voraussetzungen politischer Autorität. Der Sinnverlust ist der Ausgangspunkt für die mögliche Implosion der derzeitigen Träger des Politischen. Nun kann man Autorität, Sinn und Leidenschaft nicht dekretieren. Ein Zuviel an Führungskult, Ideologie und stürmischer Unbedingtheit kann gerade in der Politik enorm schaden. Doch muss die deutsche Gesellschaft die Fieberhitze ideologisch aufgeladener Temperamente absehbar durchaus nicht fürchten. Denn in der deutschen Politik ist der Typus der glaubens- oder überzeugungsstarken Kraftnaturen 38 Vgl. Roßteuscher, Sigrid: »Von Realisten und Konformisten.« In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 3/2004. S. 407ff. 39 Evans, Dylan: »The Loss of Utopia.« In: The Guardian, 27.10.2005. 40 Vgl. auch Walter, Franz: Charismatiker und Effizienzen. Frankfurt a.M. 2009. 57 F R A N Z WA LT E R gänzlich verschwunden.41 Nirgendwo, so scheint es zumindest, ist derzeit in der deutschen Republik eine cäsaristische Versuchung der Politik in Sicht. Nochmals: Darüber kann man aus etlichen guten Gründen sicher erleichtert sein. Denn schließlich ist dem Land dadurch bislang der populistische Wählerfischer erspart geblieben. Die Erfahrungen aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts haben den Führerkult des vom Weltgeist bestimmten politischen Leitwolfs bei den Deutschen vernünftigerweise gehörig ernüchtert. Zumal: Aufgeklärt reflexiv geht es zwischen charismatischen Leadern und ihrem Anhang eher nicht zu.42 Oft genug agiert dieser Typus wie ein säkularisierter Religionsstifter; seine Adressaten gerieren sich als hingebungssüchtige Glaubensgemeinschaften. Andererseits sind vermutlich in der Tat nur vorne und oben siedelnde Autoritäten mit konzeptioneller Perspektive und innerem Elan in der Lage, wenigstens für einen historischen Abschnitt politisch tief zu prägen und Menschen sinnvoll zu assoziieren. Allein den ideenmotivierten, überzeugungsgeleiteten Autoritäten mag es auf diese Weise zeitweilig gelingen, Politik mit Sinn und Inspiration zu füllen.43 Das Jetzt transzendierende Autoritäten hinterlassen, wenn sie von der Bühne abtreten, lang anhaltende Orientierungen und bindende Loyalitäten. Ludwig Erhard oder Willy Brandt sind Beispiele dafür.44 Man mag auch Franz-Josef Strauß dazuzählen, von der ganz anderen Seite des politischen Spektrums vielleicht ebenfalls Petra Kelly. Die 1970er Jahre waren ein bemerkenswertes Produktionsjahrzehnt dieses Typus. Auch hier dürfte es wohl so eine Art Zyklus geben: Nach der großen Überfülle kommt regelmäßig die Zeit des Mangels. Das Jahrzehnt, als erbittert über Ostverträge gestritten wurde, die Kernenergie martialisch umkämpft war, die Nachrüstung die Gemüter erhitzte, war ein Jahrzehnt politischer Opulenz. Munterer und kontroverser als in den 1970er Jahren ging es selten in der Politik der Bundesrepublik zu. Programmatische Diskussionen gehörten zum guten Ton; parlamentarische Feldschlachten ebenso. Die Kraftnaturen der damals jüngeren und mittleren bun41 Vgl. Walter, Franz: »Politik ohne Leidenschaft.« In: Internationale Politik, 10/2007. S. 70f. Zum Beziehungsverhältnis von charismatischen Anführern und ihrer Anhängerschaft vgl. Madsen, Douglas/ Snow, Peter Gordon: »The Dispersion of Charisma.« In: Comparative Political Studies, 16,3/1983. S. 337362, insbes. S. 338f.; auch Wehler, Hans-Ulrich: »Das analytische Potential des Charismakonzepts: Hitlers charismatische Herrschaft.« In: Wehler, Hans-Ulrich: Notizen zur deutschen Geschichte. München 2007. S. 78-91. 43 Vgl. grundlegend zunächst Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5., rev. Aufl., Tübingen 1990 (erstmals erschienen 1921), hier S. 140ff. 44 Vgl. Kieseritzky, Wolther: »Wie eine Art Pfingsten … – Willy Brandt und die Bewährungsprobe der zweiten deutschen Republik.« In: Möller, Frank (Hg.): Charismatische Führer der deutschen Nation. München 2004. S. 219-258; Mierzejewski, Alfred C.: Ludwig Erhard. Der Wegbereiter der sozialen Marktwirtschaft. München 2005. S. 279ff. 42 58 DIE ENTKOLLEKTIVIERUNG DER GESELLSCHAFT desdeutschen Generation hatten somit ein Terrain, auf dem sie sich prächtig austoben konnten. Der Rausch mündet indes bekanntlich zumeist in den Katzenjammer. So erlebte man es auch nach dieser euphorischen Phase hochgradiger Politisierung. Seit den frühen 1980er Jahren schwand die Hoffnung auf weitreichende Einflussund Gestaltungsmöglichkeiten durch Politik oder Parteien. In der Generation, die auf Wehner und Strauß folgte, galt das Politische mit seinen ständigen Arrangements, Verhandlungen und Kompromissen nun nicht mehr als Ferment weitreichender gesellschaftlicher Veränderungen. So wandten sich, spätestens nach Schröder und Fischer, die Menschen des Grand Design von der Politik ab. Aber so ist es wohl: Der charismatische Furor birgt etliche Gefahren. Charismatiker versprechen nun einmal, gleichsam den gordischen Knoten durchschlagen zu können. Dadurch wecken sie große Hoffnungen und sammeln Anhänger. Doch wenn das Mirakel ausbleibt, werden sie als Scharlatane von den nunmehr entDer warme Zauber des täuscht-wütenden Jüngern mit Schimpf und Schande aus der Anfangs und die kalte politischen Arena gejagt. Der warme Zauber des Anfangs und Ernüchterung im Abgang bilden eine offendie kalte Ernüchterung im Abgang bilden eine offenkundig kundig unvermeidliche unvermeidliche komplementäre Einheit im charismatischen komplementäre Einheit im charismatischen Auftritt der Politik. Doch das ist es nicht allein, was zur Enttäu- Auftritt der Politik. schung über das Politische geführt hat. Hinzu kam und kommt der Bedeutungsverlust der politischen Hebel generell. Die Attraktivität von Politik indessen lebte stets von substanzieller Macht. Allein wenn der politische Sektor als die Zentralachse für die großen und gezielt eingeleiteten Transformationen der Gesellschaft angesehen wird, zieht er die Kraft- und Kampfnaturen, die Ehrgeizigen und Entschlossenen an. Zwischen 1950 und 1983 war das in einigen Intervallen so, danach nicht mehr. Das Parlament ist gerade für eigenständige Begabungen und gerade in den letzten zwei Jahrzehnten ein denkbar schwieriges Gelände geworden. Das hat viel mit der Mediengesellschaft zu tun, durch welche die Politik gleichsam um ihren Kern gebracht wurde. Denn die hochmoderne Mediengesellschaft fördert und beschleunigt die neoautoritären Züge in der politischen Arena. Parteien und Fraktionen haben keinen Zweifel, heute strikt geschlossen agieren, alle inneren Auseinandersetzungen und Zwistigkeiten schon im Entstehungsstadium eliminieren zu müssen. Andernfalls, so fürchten sie, gelten sie im Kommentar der Journaille und der Nachrichtenmagazine des Fernsehens als unberechenbar, in Streit zerfallen, kurz: als nicht regierungsfähig. Daher sedieren Parteien und Fraktionen sich selbst. Exzentriker werden lieber gar nicht erst aufgestellt; eigenwillige Individualisten zumindest nicht gern gesehen. Infolgedessen hat auch das Parlament an oratorischer Kraft und intellektueller Originalität verloren. 59 F R A N Z WA LT E R Nun spiegeln die Temperamente, Ansprachen, der Charakter und die Persönlichkeit der Polit-Prominenz in aller Regel durchaus so etwas wie die Seelenlage der Bevölkerungsmehrheit. Die Deutschen im Jahre 2011 sind eben nicht mehr so wie in den Jahren 1972. Sie sind erheblich älter geworden, neigen infolgedessen keineswegs zu großen Aufbrüchen, schätzen nicht beunruhigende Polarisierung und inkommode Mobilisierungsappelle. So erscheint die deutsche Gesellschaft auf diese Weise: Ohne hyperventilierende Leidenschaft, ohne wilde Energien, ohne atemberaubende Zukunftsentwürfe. Nichts davon postuliert die Majorität der Nation. Nichts davon liefern auch die Professionellen der Sinnstiftung diesseits des Politischen, die Intellektuellen, Prediger und Kommentatoren also. Die kollektive Stimmung ist anders. Die Autoritäten der alternden Gesellschaft haben nichts mit den jugendlich wirkenden Charismatikern und Tribunen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts gemeinsam. Das mag ja auch die Chance auf eine altersmilde, reflexive Werteorientierung eröffnen, die nicht stürmisch, nicht rechthaberisch, nicht militant, sondern sich eher suchend und nachdenklich, aber doch eindringlich und ernsthaft zurückmelden könnte. 60 Institutionelle Autoritäten in der Krise – oder: Realismus tut not VON KNUT BERGMANN »Das Wort Autorität gehört zu den ältesten politischen Vokabeln, die fast ununterbrochen bis heute in Geltung geblieben sind«, schrieb Theodor Eschenburg, der Doyen der deutschen Politikwissenschaft, vor mittlerweile 35 Jahren in der Vorbemerkung seines Buches »Über Autorität«.1 Diese Aussage – entstanden zu einer Zeit, in der die althergebrachten Autoritäten mehr denn je in unserem Land in Frage gestellt wurden – ist bis heute richtig. Der Begriff, der zweifelsohne antiquiert anmutet, ist etwas aus der Mode gekommen – sein Gehalt beschäftigt unsere Gesellschaft aber noch immer. Die Frage lautet, ob auf die klassischen Autoritäten, in gesellschaftspolitischer Hinsicht etwa Parteien, Gewerkschaften, Kirchen oder auch Einzelpersonen, noch Verlass ist, oder ob sich diese vertrauensstiftenden Ankerpunkte der Gesellschaft in einer Krise befinden. Eine Vielzahl von Befunden deutet darauf hin. Schon Begrifflichkeiten postulieren eine solche Krise: 1992 avancierte der Begriff »Politikverdrossenheit« zum »Wort des Jahres«. Es darf getrost angenommen werden, dass das fünf Jahre danach so ausgezeichnete und seitdem politische Debatten prägende Wort »Reformstau« einen Beitrag zum Entstehen des Phänomens des »Wutbürgers«2 leistete. 1. Autorität und Führung Generell haben wir es seit den »68ern« mit einem auf breiter Front gestörten, wenn nicht sogar gebrochenen Verhältnis zu Autorität im weitesten Sinn zu tun. Seitdem wird es den Autoritäten – vom Elternhaus bis zur Staatsspitze – schwer gemacht; alle Formen der Macht scheinen begründungspflichtiger denn je geworden zu sein. Dazu kommen weitgehende Ansprüche der Bürger an demokratische Beteiligung 1 2 Eschenburg, Theodor: Über Autorität. Frankfurt 1976. S. 9. Es handelt sich hier um die Wortschöpfung eines Journalisten des ehemals als mediale Autorität angesehenen Magazins Der Spiegel, die 2010 zum »Wort des Jahres« gewählt wurde. Vgl. Kurbjuweit, Dirk: »Der Wutbürger.« In: Der Spiegel, 41/2010. S. 26-27. 61 KNUT BERGMANN über Wahlen hinaus, die Forderung nach mehr direkter Demokratie erlebten 2010 in Folge von Stuttgart21 ein mediales Allzeit-Hoch. Demgegenüber wünschen sich viele Menschen nichts sehnlicher als Leitfiguren, die Orientierung bieten in der so unübersichtlich gewordenen Umwelt. Es kommt nicht von ungefähr, dass das Thema politische Führung in den zurückliegenden Jahren wieder zum Gegenstand vieler Debatten – auch beflügelt durch die Herbert Quandt-Stiftung3 – wurde. Doch den öffentlichen Ansprüchen an Autorität und Führung kann kaum eine Person genügen, Institutionen – Parteien, Kirchen, Gewerkschaften – haben es noch schwerer. Gemäß der Devise »Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass« ist dort, wo die Verdrossenheit gegenüber den Politikern besonders groß geworden ist, die Popularität der den Niederungen des politischen Alltagsgeschäftes entzogenen Persönlichkeiten gewachsen. Das zeigen nicht allein die Auflagenrekorde der Bücher von Altkanzler Helmut Schmidt und die anhaltende Beliebtheit von Altbundespräsident Richard von Weizsäcker, sondern selbst das »Phänomen zu Guttenberg« lässt sich so erklären. Letzter legt sogar die These nahe, dass sich viele Deutsche, wenn schon nicht nach royalem Glanz, so doch nach einer Art angeborener Souveränität bei den sie Regierenden sehnen. Auf diese Weise lehrt uns die politische Karriere des Freiherrn, wird sie auch für immer gescheitert sein, was Autoritäten benötigen: Unabhängigkeit – in diesem Falle gepaart mit einem – eigentlich der Gemeinwohlorientierung im Wege stehenden – Hauch von »es nicht nötig zu haben«. 2. Autorität und Sprache Daneben bestätigt der Aufstieg Karl-Theodor zu Guttenbergs, dass in der Bevölkerung der Wunsch nach »klarer Kante«, nach einer Sprache jenseits der politischen Verschleierung besteht und sie dem Gewinn von Autorität zuträglich ist – unabhängig von der Frage, ob des Ex-Verteidigungsministers rhetorische Ankündigungen tatsächlich mit Konzepten unterlegt waren. Sich einer klaren Sprache zu bedienen, sollte allerdings nicht mit einer Neigung zu wohlfeilem Populismus einhergehen. Vielmehr gilt es, die Chiffren der Beliebigkeit, die in alle Bereiche eingesickert sind, wie »Wir sind gut aufgestellt«, »Wir haben Handlungsbedarf« oder »Man muss geeignete Maßnahmen ergreifen«, mit Inhalt zu füllen. Der Nachteil, der insbesondere in der Politik damit einhergehen kann, besteht in der Unzweideutigkeit. So gehört es fast schon zur politischen Grundausbildung, Festlegungen zu vermeiden. Doch um zunächst Vertrauen und in der Folge Autorität zu gewinnen, ist es unumgänglich, sich angreifbar zu machen. Vertrauen ist nach 3 Vgl. Herbert Quandt-Stiftung (Hg.): Mut zur Führung – Zumutungen der Freiheit. Wie wahrheitsfähig ist die Politik? Bad Homburg 2005. 62 I N S T I T U T I O N E L L E A U T O R I TÄT E N I N D E R K R I S E Niklas Luhmann eine riskante Vorleistung.4 Zu ihr kann selbst das menschliche Eingeständnis gehören, erst über Dinge nachdenken zu müssen oder sie sogar schlicht nicht beurteilen zu können. Es leuchtet ein, dass derlei Bekenntnisse von Politikern als zu riskant eingeschätzt werden. Sie kollidieren nicht nur mit der unausgesprochenen Erwartung der Öffentlichkeit (»Wir werden schließlich dafür gewählt, auf alles eine Antwort zu haben«, wie es eine ehemalige Bundesministerin einmal ausdrückte ), sondern auch mit der für Spitzenämter notwendigen Selbsteinschätzung. Es erfordert einerseits viel Souveränität, Unwissen zuzugeben, und andererseits das Zutrauen, dass die Öffentlichkeit solcherlei Ehrlichkeit sogar schätzen könnte. Daran fehlt es zumeist, wie auch an Zeit und Möglichkeit zur nötigen Selbstreflexion in der Mühle des politischen Alltagsgeschäfts. Generell wird dort zu oft über schnell zu erringende Siege, denn über die viel wichtigeren langfristigen Strategien nachgedacht. Erfolge müssen vor der nächsten Wahl erkennbar werden, die Übermacht der Meinungsumfragen führt zu immer kürzeren Denkzyklen. Der Druck, alles operationalisieren zu müssen, engt die Gedankenfreiheit immer mehr ein. Wenn aber für Politiker die Ablehnung durch weite Teile der Bevölkerung sowieso Teil der Arbeitsplatzbeschreibung ist, könnte daraus folgen, sich doch »besser für die richtigen Sachen schlachten zu lassen«, wie es ein hochrangiger Bundespolitiker pointiert formulierte. Langfristig könnte eine solche Einstellung helfen, Autorität zu gewinnen, wie auch der Versuch, mehr über Der Druck, alles operationalisieren zu müssen, strategische Ziele zu führen als mittels taktischer Maßnahmen zu engt die Gedankenfreiregieren. Keine Frage: Das ist viel verlangt in Zeiten des Wut- heit immer mehr ein. bürgers und mit Medien, die vor allem Konflikte transportieren. Widersprüchlichkeiten auf Bürgers Seite selbst in klaren Entscheidungsfragen, werden hingegen eher selten zurückgespielt: Raus aus der Atomkraft – ja sofort, aber steigende Strompreise, mehr Windräder und Überlandleitungen – nein danke. Allerdings wurde auch versäumt, in der laufenden Legislaturperiode die Energiepolitik ausreichend zu erklären. Offenkundig fühlen sich die Menschen genauso bei anderen Themen nicht »mitgenommen«. Der Wutbürger mag also seine Gründe haben – aber seien diese noch so gut, entbinden sie ihn nicht von der Verpflichtung, darüber nachzudenken, was er selbst beitragen und besser machen könnte. Diese Frage muss er sich gefallen lassen. Leider wird sie am »Stammtisch der Moderne«, dem Internet, wo sich besonders gut über politisches Versagertum urteilen lässt, genauso selten gestellt wie in den klassischen Medien; die Publikumsbeschimpfung ist nirgendwo populär. 4 Vgl. Luhmann, Niklas: Vertrauen: ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. Stuttgart 1968. 63 KNUT BERGMANN 3. Autorität und Medien Dass es mittlerweile sehr viel schwieriger geworden ist, Autorität aufzubauen und zu erhalten, ob als Institution, als ihr Repräsentant oder auch als Einzelperson, ist vor allem dem gesellschaftlichen Wandel geschuldet. Die Auflösung der Milieus, die Abkehr von klassischen Familienstrukturen, die Veränderung der Lebens- wie Erwerbsmodelle, begründen einen Teil der Herausforderungen, vor denen gesellschaftliche Institutionen wie Parteien, Gewerkschaften und Kirchen stehen. Franz Walter und andere haben dies alles umfassend aufgearbeitet.5 Hinzu kommt die Digitalisierung unserer Gesellschaft, die vor allem auf das Informationsverhalten enorme Auswirkungen hat. Autorität zu wahren, ist schwieriger geworden in der elektronischen Mediendemokratie, wo die journalistische Gatekeeper-Funktion mühelos umgangen werden kann. Der Blog wir-in-nrw-blog.de beispielsweise trug maßgeblich zum Ansehensverlust von Ministerpräsident Jürgen Rüttgers im Vorfeld der Landtagswahl im bevölkerungsreichsten Bundesland vom Mai 2010 bei.6 Fernab jeder Wertung über die damals dort herrschende politische Kultur trieb diese nordrhein-westfälische Variante von Wikileaks auch manch nachdenklichem Sozialdemokraten den Schweiß auf die Stirn, könnten möglicherweise doch die eigenen Genossen selbst einmal Opfer einer solchen Flut missliebiger Enthüllungen werden. Auch wäre die Entlarvung des Guttenberg’schen Plagiats ohne die Rechercheleistung der vielen nicht vorstellbar gewesen. Zudem sorgt das Internet für eine Nachhaltigkeit, durch die selbst Kleinigkeiten, die sich noch vor zehn Jahren versendet hätten bzw. von denen es keinen Ton und schon gar kein Bild gegeben hätte, zur Gefahr für das Image der Person und die Autorität des Amtes werden. Und selbst wenn es immer schon Journalisten gab, die sich als die besseren Politiker ansahen, gibt es doch Hinweise, dass in der Berliner Republik das Selbstverständnis mancher Medien und ihrer Akteure noch selbstbewusster geworden ist. Doch kann derjenige, der de facto Teil des Systems ist, noch neutrale Vermittlungsinstanz sein? 4. Gradmesser für einen Ansehensverlust des Systems? Interessanterweise stehen die Parteien, obwohl ihr Niedergang publizistisch mehrheitlich schon seit langem beschlossene Sache zu sein scheint, im Vergleich mit den Gewerkschaften und der Kirche noch relativ am besten dar. Das gilt trotz aller organisatorischer Mängel, der Probleme, geeignetes Personal zu rekrutieren, und der generellen Schwierigkeit sich immer weiter verengender Möglichkeiten infolge erschöpfter Haushalte, der Verrechtlichung unseres Lebens und der fortschreiten5 Vgl. hierzu den Beitrag von Franz Walter in diesem Band: Die Entkollektivierung der Gesellschaft und die Schwierigkeit, Autorität zu bewahren. S. 40 6 Vgl. Leyendecker, Hans/Nitschmann, Johannes: »Unterste Schublade.« In: Süddeutsche Zeitung, 22.04.2010. S. 3. 64 I N S T I T U T I O N E L L E A U T O R I TÄT E N I N D E R K R I S E den Entgrenzung der politischen Handlungsräume. Der Mitgliederschwund trifft die Parteien schon finanziell weit weniger als Kirchen und Gewerkschaften, weil sie sich anders finanzieren.7 Wichtiger aber noch ist die Tatsache, dass die Parteien zumindest kurz- und mittelfristig sehr viel weniger aus dem gesellschaftlichen Gefüge wegzudenken sind. Unser politisches System funktioniert nur mit Parteien. Diese Auffassung widerspricht möglicherweise dem Zeitgeist, doch die Politikwissenschaft hat bis heute keine demokratischen Systeme ausmachen können, die ohne Parteien auskommen würden. So schlecht ihr Ansehen, so wenig medial transportabel ist eine wertschätzende Perspektive. Hier ging es stetig bergab: Was bei Richard von Weizsäcker noch als ernste wie populäre Sorge um die Parteien galt, wurde bei anderen, die nicht in diesem Maße die Autorität preußischer Eminenz für sich beanspruchen konnten, als populistisches Bündnis mit den Bürgern gegen die Politik gewertet. Aller Kritik zum Trotz stellt sich bei den Parteien noch sehr viel stärker als bei Kirchen und Gewerkschaften die Frage, ob sinkende Mitgliederzahlen überhaupt das richtige Parameter sind, um den Verfall von Autorität zu belegen. Gleiches gilt für die Wahlbeteiligung, die allerdings bei Kirchen und Gewerkschaften keine Entsprechung hat. Als Gradmesser für das Funktionieren und die Stärke der Demokratie sind die beiden Kriterien jedenfalls nicht ausreichend. Im angelsächsischen Raum wird eine hohe Beteiligung bei Wahlen eher als Krisensymptom gewertet – nur wenn es wirklich um etwas geht, steige die Partizipationsneigung in postindustriellen Wohlstandsgesellschaften mit langer demokratischer Tradition.8 Der Run an die Wahlurne bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg Ende März 2011 mit den Mobilisierungsthemen Stuttgart 21 und der Zukunft der Kernenergie nach Fukushima spricht für diese These. Eindeutig auf die Habenseite unseres demokratischen Systems sind die großen, aber gern übersehenen Integrationserfolge zu verbuchen: Bei der Wahlbeteiligung von Frauen und Männern gibt es kaum mehr Unterschiede, die Rechte von Minderheiten wurden auf breiter Front durchgesetzt. Ein Warnzeichen gibt uns eher die schichtspezifisch unterschiedliche Partizipationsneigung.9 »Unterschicht wählt kaum«, so könnte die bedenklich stimmende Kurzformel lauten. Das Ergebnis des Volksentscheids über die Schulreform in Hamburg im Juli 2010, nicht nur ob ihres 7 Lediglich bei der Linkspartei liegt der von Mitgliedern erbrachte Finanzierungsanteil bei über 25 Prozent, wobei ein Gutteil des eingenommenen Geldes wiederum für die ordnungsgemäße Buchhaltung aufgewendet werden muss. 8 Vgl. Merkel, Wolfgang: »Steckt die Demokratie in einer Krise?« In: Universitas: Orientierung in der Wissenswelt, 4/2010. S. 351-369. 9 Vgl. ebd. 65 KNUT BERGMANN Gegenstandes vielfach als »Klassenkampf« bezeichnet, kann in dieser Hinsicht als Menetekel dienen. Tatsächlich ließe sich aus der – zugegebenermaßen oft nur als zynisch zu bezeichnenden – Berliner Perspektive sogar fragen, welches Interesse Parteien eigentlich an möglichst vielen Mitgliedern und an einer möglichst hohen Wahlbeteiligung haben sollten. Auf den ersten Blick ist das eine seltsame Frage, sind Mitglieder als Kommunikatoren und Mandatsträger doch unverzichtbar, die neben finanziellen Mitteln vor allem viel Zeit einbringen. Im Gegenzug wollen sie jedoch mitreden, ernst genommen, betreut, selbstwirksam sein – wodurch sie wiederum Ressourcen binden. Und die Wahlbeteiligung kann einer Partei eigentlich egal sein, solange diejenigen, die noch wählen gehen, ihr Kreuz nur an der richtigen Stelle machen. Lieber 40 Prozent der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 60 Prozent, als lediglich 33,8 Prozent bei 70,8 Prozent Beteiligung – Ähnlichkeiten zum Ergebnis der Unionsparteien bei der letzten Bundestagswahl wären rein zufällig. Tatsächlich scheinen zumindest die beiden Volksparteien Union und SPD bei Wahlkämpfen weniger darauf abzuzielen, die eigene Klientel zu aktivieren, denn die des Gegners zu demobilisieren. »Asymmetrische Mobilisierung« heißt das in der Sprache der Wahlkampfexperten. Dieses Konzept lag nicht nur dem Bundestagswahlkampf der Union 2009 zugrunde, sondern auch dem der Sozialdemokraten in Nordrhein-Westfalen 2010. In ihrem einstigen Stammland hat die Partei zwar seit der Bundestagswahl 1998, bei der über fünf Millionen Menschen sozialdemokratisch wählten, fast die Hälfte ihrer Urnengänger eingebüßt – bei der Union blieben jetzt aber so viele Getreue zu Hause, dass es für die SPD, wenn auch mühevoll, am Ende reichte. Allerdings hatten gerade einmal 20,2 Prozent der Wahlberechtigten für die Partei der neuen Ministerpräsidentin bei dem Urnengang am 9. Mai 2010 votiert – bei der historisch zweitniedrigsten Wahlbeteiligung in diesem Bundesland von unter 60 Prozent reichte diese karge Marge für immerhin 34,5 Prozent der gültigen Stimmen. Diese Strategie fußt auf der Erkenntnis, dass Wahlen weniger aus eigener Stärke, sondern aufgrund der Schwäche des Gegners gewonnen werden. Auf Dauer wird durch diese Form politischer Gestaltung jedoch die Legitimationsbasis Wahllokal 66 I N S T I T U T I O N E L L E A U T O R I TÄT E N I N D E R K R I S E der jeweiligen Regierungen und – so die Befürchtung vieler Meinungsbildner – des gesamten Systems bedroht. Und Autorität lässt sich mit derlei strategischen Konzepten keinesfalls behaupten. Sicherlich gibt es eine »legitimatorische Untergrenze« hinsichtlich der Wahlbeteiligung wie auch bei den Mitgliedszahlen zumindest der Volksparteien, doch wo sie genau liegt, lässt sich kaum sagen. Auch die Tatsache, dass die Parteien in der Bundesrepublik über weite Strecken keine Massenbewegungen waren, wird beim Klagelied auf den Niedergang dieser partizipativen Dinosaurier oft vergessen. Die CDU der 1960er Jahre verfügte gerade einmal über die Hälfte der aktuellen Mitgliedsschar, und selbst die SPD, die anders als die bürgerliche Konkurrenz historisch eine Massenbewegung war, zählte in ihrer Geschichte auch schon weniger Genossen als heute. Ob Gewerkschaft, Kirchenfreizeitgruppe, Freiwillige Feuerwehr oder Technisches Hilfswerk – heutzutage, wo immer mehr Flexibilität am Arbeits- und mittlerweile auch am Ausbildungsmarkt verlangt wird, ist es für jede Organisation, die auf langfristiges Engagement angewiesen ist, immer schwerer geworden, Aktive hinreichend zu binden. 5. Führung und Partizipation Generell fraglich ist, ob eine Organisation überhaupt Autorität aus einer möglichst großen Mitgliederschar schöpfen kann. Überzeugende Repräsentanten scheinen dafür – wie im Falle von Parteien zusätzlich die Zustimmung bei Wahlen – doch sehr viel wichtiger. Hinterfragt man die Motivation von Menschen, warum sie sich engagieren, werden stets auch soziale Beweggründe genannt. Passend dazu bemerkte der Politologe Helmut Schorr in einem Beitrag mit dem Titel »Die Autorität der Parteien« schon 1982, dass »Autoritäten [...] nur wachsen [können] aus der sorgsamen Pflege zwischenmenschlicher Beziehungssysteme«.10 Wohl wahr, aber gerade für politische Parteien im gelegentlich auch innerparteilichen Machtkampf nur schwerlich umzusetzen. Das wichtigste Motiv für Engagement ist Selbstwirksamkeit – Menschen wollen etwas bewegen. Genau damit tun sich jedoch hierarchische Organisationen schwer. Im politischen Kontext, und das gilt nicht allein für Parteien, sondern dürfte zumindest in Teilen auch auf Gewerkschaften und Kirchen übertragbar sein, beginnt die Furcht vor den Resultaten subsidiärer Meinungsäußerung und dem Handlungsdrang der Mitglieder in unkontrollierte Richtungen schon auf niederer Ebene. 10 Schorr, Helmut: »Die Autorität der Parteien: zur Akzeptanz intermediärer Politik in der Bundesrepublik.« In: Stimmen der Zeit, 4/1982. S. 259-273, hier S. 270. 67 KNUT BERGMANN Die Angst vor Kontroll- und Steuerungsverlusten, vor kommunikativer Dissonanz, dem Verlorengehen der vielbeschworenen »innerparteilichen Geschlossenheit« steht in einem Spannungsverhältnis zu dem Thema Autorität. Nur wer über sie verfügt, wer auf eigene Stärken vertrauen kann, wird bisweilen Das wichtigste Motiv chaotische Vielfalt als etwas Produktives begreifen. Dabei lassen für Engagement ist Selbstwirksamkeit – sich weder Führung noch Meinung dauerhaft autoritär »von Menschen wollen etwas oben« verbreiten und durchsetzen. So nagt die Frage nach der bewegen. Autorität unmittelbar an unserem Führungsverständnis. Das Vorbild des Dirigenten, der seinen Taktstock nur um wenige Zentimeter zu heben braucht, um Großes ins Werk zu setzen, ist vielleicht noch auf den engsten Mitarbeiterkreis, keinesfalls aber auf moderne Gesellschaften übertragbar.11 Viel mehr gilt es, einen Kanon von gemeinsamen Werten zu schaffen, der eine weitgehende Selbststeuerung möglich macht. Dass der hierarchische Ansatz selbst auf der Ebene ganzer Nationen ausgedient hat, zeigte der Vorwahlkampf in den USA 2008. Während es bei Hillary Clinton noch experience to lead im Sinne eines »Nur ich bringe die Erfahrung mit, die Nation zu führen« hieß (was implizit bedeutete: Land und Bürger bedürfen klassischer Führung), lautete die auf die Beteiligung aller setzende Formel von Barack Obama »Yes, we can«. Moderne Führung ist eben ein partizipativer Prozess, der die Geführten in die Verantwortung nimmt.12 Hierbei besteht wiederum eine Schnittmenge zum Begriff der Autorität, der auch als right to impose duties, das Recht, Pflichten aufzuerlegen, zu verstehen ist.13 Nun muten Begrifflichkeiten wie »Rechte« und vor allem »Pflichten« noch anachronistischer an als das Wort Autorität, doch sie spielen in unserer Gesellschaft unbewusst nach wie vor eine große Rolle. Unser Gemeinwesen ist darauf angewiesen, dass möglichst viele Menschen mehr tun als sie müssen, ergo lediglich Steuern zu zahlen. Engagement darüber hinaus ist nötig – und wird von vielen Menschen unter der Chiffre »Zivilgesellschaft« wie selbstverständlich erbracht. 6. Verantwortung teilen Um dieses Engagement zu stärken, ist jedwede gesellschaftliche Organisation gut beraten, sich zu öffnen. Verantwortung zu teilen, lautet wenigstens für die Politik das Erfolgsrezept. Viele Bürger drängen danach, ihr eigenes Umfeld zu gestalten. Für die kommunalen Instanzen darf dies nicht heißen, bürgerschaftliches Engagement als Substitut für den sich zurückziehenden Sozialstaat zu missbrau11 Vgl. Sennett, Richard: Authority. New York 1980. Vgl. Fliegauf, Mark T./Kießling, Andreas/Novy, Leonard: »Leader und Follower – Grundzüge eines inter-personalen Ansatzes zur Analyse politischer Führungsleistung.« In: Zeitschrift für Politikwissenschaft, 4/2008. S. 399-421. 13 Raz, Joseph: The Morality of Freedom. Oxford 1986. S. 29. 12 68 I N S T I T U T I O N E L L E A U T O R I TÄT E N I N D E R K R I S E chen. Ergänzung, nicht Ersatz, lautet die Formel gedeihlicher Kooperation. Ihre Umsetzung verlangt, dass Politik und Verwaltung Verantwortung abgeben, ohne sie jedoch aufzugeben. Ein Beispiel: In Augsburg bieten ehrenamtlich Engagierte überschuldeten Menschen Rat und Tat an. Dadurch werden nicht die zuständigen Ämter und Beratungsstellen ersetzt, sondern es geht um den persönlichen Kontakt, um Hilfe bei der Bewältigung von alltäglichen Problemen und darum, den betroffenen Bürgern den Weg zu fachlicher Hilfe zu bahnen. Das Modell wurde mittlerweile in anderen Kommunen erfolgreich nachgeahmt. Dieses bürgerschaftliche Engagement als »Ersthilfe« ist ein Beispiel für das funktionierende Zusammenspiel von Haupt- und Ehrenamt. Es setzt aber voraus, dass die Verwaltung eigene Grenzen erkennt, Verantwortung delegiert, Engagierte ernst nimmt und letztlich auch für nicht unmittelbar beeinflussbares Handeln die Verantwortung trägt. Falls nämlich etwas schiefläuft, wird mindestens der Sozialstadtrat, in dessen Ressort die Schuldenberatung fällt, den Kopf hinhalten müssen. Hinzu kommen mittlerweile an vielen Orten Verfahren für mehr Beteiligung wie Bürgerforen und institutionalisiertes Community Organizing, die zunächst als Entscheidungshilfen für Verwaltungshandeln dienen können und dazu beitragen, die Lebensqualität zu verbessern. Darüber hinaus eröffnen solche Projekte die Chance, politikferne Milieus einzubinden und damit in die Gesellschaft zurück- oder sogar erstmalig hereinzuholen. Der Soziologe Heinz Bude hat vor einigen Jahren festgestellt, dass Kinder in Problembezirken und mit schwierigem familiären Hintergrund mit ihren selbstverständlich das Gymnasium oder sogar eine Privatschule besuchenden Altersgenossen über keine gemeinsamen Autoritäten mehr verfügen.14 Die einzig übriggebliebenen gemeinsamen ›Helden‹ seien Comedy-Stars, keineswegs aber mehr klassische Autoritäten wie Lehrer, Polizisten oder der Bürgermeister. Um überhaupt eine Vorstellung von einem Gemeinwesen zu entwickeln, dürften solche geteilten Bezugspersonen aber eminent wichtig sein. Projekte wie die Stadtteilbotschafter der Stiftung Polytechnische Gesellschaft Frankfurt am Main könnten hier ein Ansatz sein, gemeinschaftliche Verantwortung zu wecken. Schon dass die genannten Beispiele allesamt auf kommunaler Ebene funktionieren, könnte Anlass sein, die stark bundeszentrierte Sicht des politischen Betriebes wie der Medien in Frage zu stellen. Für den Rückgewinn oder den Aufbau von Autorität sind die kleinen Lebenskreise viel eher geeignet. Auch in der deutschen Politik könnte das »Modell Bürgermeister«, wie es etwa der ehemalige Bürgermeister von Amsterdam, Job Cohen, propagiert, Schule machen. Nicht mehr Parteien, sondern Personen, die in einem überschau- 14 Veranstaltung »Gedanken zur Zukunft« der Herbert Quandt-Stiftung am 17.01.2008 in Berlin: »Bürgerlichkeit zwischen Ideologie und Verheißung.« 69 KNUT BERGMANN baren Zusammenhang ihre Kompetenz bewiesen haben – und je nach Möglichkeit dort schon zu einer charismatischen Führungsfigur avancieren konnten –, werden gewählt. 15 7. Autorität braucht Realismus Gelegentlich wird bei der Frage, wie Autorität überhaupt entsteht, eine Stelle aus dem »kleinen Prinzen« von Antoine de Saint-Exupéry angeführt, wonach sie vor allem auf Vernunft beruhe. Sehr viel seltener wird dagegen der Satz davor zitiert, den ebenfalls der König dem kleinen Prinzen auf dessen Bitte antwortet, der Sonne zu befehlen, unterzugehen: »Man muss von jedem fordern, was er leisten kann.« Für sich genommen, sind zwei Interpretationen dieses Zitates möglich; entweder, dass es legitim ist, von jedem alles zu fordern, was er erbringen kann, oder aber – und so ist die Passage in der Erzählung gemeint –, dass man die Menschen nicht überfordern darf: »Die Autorität beruht vor allem auf der Vernunft. Wenn du deinem Volke befiehlst, zu marschieren und sich ins Meer zu stürzen, wird es revoltieren. Ich habe das Recht, Gehorsam zu fordern, weil meine Befehle vernünftig sind.«16 Das gilt im Übrigen reziprok, für alle Menschen, für Regierte wie Regierende. Wir sollten selbst Menschen, die wir als Autoritäten ansehen, nicht überfordern, sondern eher darüber nachdenken, was wir tatsächlich von ihnen fordern können. Zu hohe Erwartungen sind kontraproduktiv. In der nicht-monarchischen Bundesrepublik wird wohl an keinem Amt so viel über das Thema »Autorität« reflektiert wie an dem des Bundespräsidenten. Gustav Heinemann, der nach Aussage eines seiner Nachfolger »zu einer moralischen und politischen Autorität [wurde], weil er höchste Ansprüche zuerst an sich selber stellte«, hat einmal gesagt, dass die Hand, die mit einem Finger auf jemand anderes zeigt, zuerst mit drei Fingern auf einen selbst deutet.17 Ein wahrer Satz, der für jeden von uns gilt – selbst wenn unser Fingerzeig nur die Sehnsucht nach unbeschädigten wie unangreifbaren Autoritäten widerspiegelt. 15 Wie im Fall von Job Cohen in der Integrations- und Islamdebatte in den Niederlanden nach der Ermordung des Rechtspopulisten Theo van Gogh 2004. 16 Saint-Exupéry, Antoine de: Der kleine Prinz. Deutsche Erstausgabe. Bad Salzig 1950. 17 Rau, Johannes: Ansprache des Bundespräsidenten zum 100. Geburtstag von Gustav Heinemann am 23.07.1999. 70 Persönliche Autorität: Die Kraft in der Krise? VON HERMANN GRÖHE 1. Autorität und offene Gesellschaft Als Politiker über persönliche Autorität in der Politik zu sprechen, ist keine leichte Aufgabe. Ich gestehe offen: Die folgenden Ausführungen sind subjektiv gefärbt, auch wenn ich annehme, dass zahlreiche Kollegen in der Politik den Sachverhalt ähnlich sehen. Doch es ist notwendig, sich immer wieder über Grundfragen der Politik zu verständigen. Bevor ich zu dem komme, was für mich persönliche Autorität in der Politik ausmacht, will ich einen Schritt zurückgehen und die Frage stellen: Autorität und liberale Demokratie, Autorität und offene Gesellschaft – geht das überhaupt zusammen? Oder sind das widerstreitende Konzepte? Leben wir nicht in einer Herrschaft der Gleichen über Gleiche? Taten nicht die Athener ganz recht, als sie ihre Amtsträger auslosten, um gerade persönlicher Autorität im Staat der Gleichen keinen Raum zu geben? »Wo Autorität ist, ist keine Freiheit«, schrieben russische Anarchisten auf ihre Banner, als ihr Idol, der »anarchistische Fürst« Peter Kropotkin, 1921 in Moskau zu Grabe getragen wurde. Autorität und persönliche Freiheit waren auch für sie miteinander nicht vereinbar. Paradoxerweise akzeptierten sie allerdings die Autorität des Verstorbenen. Dieses Beispiel ist ein deutlicher Hinweis, dass die radikale demokratietheoretische Abstraktion am Ende nicht zu halten ist: Wir brauchen Autoritäten in Staat und Politik, auch heute – und zwar von Institutionen wie von Personen. Es ist unerlässlich, dass den Institutionen und Ämtern unserer Republik Autorität und Würde zukommen, dass sie Ansehen genießen, dass ihnen und den Inhabern von Ämtern Respekt und Vertrauen entgegengebracht wird. Dabei sind wir in der Politik als Staatsbürger zwar Gleiche unter Gleichen, aber in einer immer komplexeren Welt können wir nicht immer alles selbst durchdringen. Wir müssen uns doch auch verlassen können auf andere, auf Sachkenntnis und 71 HERMANN GRÖHE Urteilsvermögen von Mitarbeitern und Beamten, die immer wieder für uns und in unserem Namen handeln. Der erste Präsident der Bundesrepublik Deutschland, Theodor Heuss, hat einmal sehr schön gesagt: »Demokratie heißt nicht Massenherrschaft, sondern Aufbau, Sicherung, Bewährung der selbst gewählten Autoritäten.«1 Diese selbst gewählten Autoritäten bilden dann die politische Führungsschicht. Wichtig ist dabei, dass in der offenen Gesellschaft tatsächlich eine offene Elitenrekrutierung gelingt und alle die Chance haben, für das Gemeinwesen Verantwortung zu übernehmen. Es gibt in der Geschichte der Bundesrepublik inzwischen genügend Beispiele für den gelungenen Aufstieg aus den sogenannten kleinen Verhältnissen in politische Spitzenämter, über den zweiten Bildungsweg oder als Zugewanderte. Deshalb müssen wir diese Wege in unserer Gesellschaft weiter offen halten. 2. Autorität und Vertrauen Wir haben in der Finanzkrise – als Finanzinstitute zusammenbrachen und wirtschaftliches Vertrauen erschüttert war – gesehen, wir wichtig es war, dass Angela Merkel und Peer Steinbrück als Bundeskanzlerin und als Bundesfinanzminister die Sparer beruhigen und einen Ansturm auf die Banken verhindern konnten. Wie gelang das? Es lag an der Autorität und der Verlässlichkeit eines wirtschaftlich starken Staates. Aber auch an der über die Jahre erworbenen persönlichen Autorität der beiden Politiker. Hilfreich war sicher auch, dass dort erkennbar die Große Koalition stand: Die beruhigenden Worte kamen aus dem Munde beider großen Volksparteien. Die Überwindung des parteipolitischen Gegensatzes in einer Notlage – das hat noch immer Eindruck auf die Deutschen gemacht. Wir werden in den nächsten Monaten und Jahren sehen, ob eine ähnliche Versicherung in der jetzigen Schuldenkrise eine vergleichbare Autorität entfaltet. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso hat im Namen der Euro-Staaten gesagt: »Wir sind bereit, alles Nötige zu tun, um die finanzielle Stabilität in der Eurozone und der EU zu sichern.«2 Es geht um das Vertrauen der Marktteilnehmer in diese Zusicherung. Es war übrigens nicht nur für mich eine sehr interessante Erfahrung in der Krise, dass auch viele in der Wirtschaft, die bisher staatlicher Einflussnahme sehr skeptisch gegenüber standen, plötzlich vom Staat Hilfe und Rettung erwarte1 2 Vor der Deutschen Demokratischen Partei. Stuttgart, 17.01.1919. Auf dem EU-Gipfel zur Euro-Krise. Brüssel, 17.12.2010. 72 P E R S Ö N L I C H E A U T O R I TÄT: D I E K R A F T I N D E R K R I S E ? Pausengespräche vor dem Sinclair-Haus ten. Auf einmal trauten die Banken einander nur noch, wenn der Staat als Bürge zwischen sie trat. Diese Erfahrung in der Krise hat das Vertrauen der Bürger in den Staat gestärkt. So dass wir jetzt eher aufpassen müssen, dass die Erwartungen an die Leistungsfähigkeit des Staates nicht zu groß werden. Trotzdem können wir feststellen, dass es gegenwärtig um die Autorität unseres Staates grundsätzlich gut bestellt ist. Überhaupt ist bei uns Deutschen traditionell das Vertrauen in Institutionen dieses Staates wie Justiz, Polizei oder Bundeswehr höher als das Vertrauen in Politiker oder Parteien oder in die Politik allgemein. Nun waren es jedoch die Entscheidungen der Politik und von Politikern, die die Weichen gestellt haben, damit Deutschland gut aus der Krise kommt. Mir scheint, dass trotz dieser wirklich erfolgreichen Krisenbewältigung Ansehen und Autorität der Politik insgesamt seither nicht wirklich gewachsen sind. Wie kann es also gelingen, die Autorität von Politik, von Politikern und in besonderem Maße auch von Parteien zu steigern? Ich habe da kein Patentrezept, aber für die Antwort spielt sicherlich die persönliche Autorität eine wichtige Rolle. Denn 73 HERMANN GRÖHE auch wenn wir von Parteien sprechen, verbirgt sich dahinter ja nichts anderes als ein Zusammenschluss von einzelnen Persönlichkeiten und ihrer Autorität, die sich den gleichen Werten und Zielen verpflichtet fühlen. 3. Charisma, Herkunft, Amt Damit sind wir beim Kern der Frage angelangt: Woran macht sich persönliche Autorität, Überzeugungskraft und Souveränität politischer Führung am Ende des Tages fest? Eine Antwort könnte sein, auf Charisma zu setzen. Mein Eindruck ist, dass in Deutschland charismatische Politiker eher mit einer gewissen Skepsis betrachtet werden. Das muss nicht schlecht sein und ist wohl auch historisch bedingt. Es ist deshalb vielleicht kein Zufall, dass die zuweilen spürbare Sehnsucht nach Charisma sich auf ausländische Politiker fokussiert. Zweihunderttausend Besucher pilgerten vor Jahren zur Berliner Siegessäule, um einen amerikanischen Präsidentschaftskandidaten namens Barack Obama sprechen zu hören. Charisma hilft, aber in Deutschland ist es wohl nicht die vorrangige Quelle politischer Autorität. Entsteht persönliche Autorität durch Herkunft? Bewahre! – sind wir schnell bereit zu rufen. Aber halten wir einmal inne. Außerhalb der Politik gibt es zum Beispiel so etwas wie »Traditions-Eliten«: Wir unterstellen, dass wir dem Sohn des geschätzten Hausarztes genauso vertrauen können wie seinem Vater, wenn er dessen Praxis übernimmt. Wir unterstellen, dass der Spross des Familienunternehmens ebenso vorausschauend und verantwortungsvoll handeln wird wie seine Vorfahren. Aber auch in der Politik gibt es Autorität durch Herkunft. Das gilt nicht nur in Amerika, wo uns sofort der Kennedy-Clan einfällt. Es gibt auch für Deutschland Beispiele, wo den Kindern oder Neffen verdienter öffentlicher Personen auf ihrem politischen Weg nicht zu Unrecht ein Grundvertrauen entgegengebracht wird. In der bundespolitisch ersten Reihe wäre an die de Maizières oder die von Weizsäckers zu denken. Aber ich kenne auch eine Reihe von Beispielen in der Landes- und Kommunalpolitik, bei denen durch das Erleben von politischer Verantwortung im Elternhaus ein eigenes Interesse entstanden ist und dies von der Bevölkerung als Vertrauensvorschuss gewürdigt wurde. Also würde ich Herkunft nicht vorschnell aus den möglichen Quellen persönlicher Autorität ausschließen. Autorität kann einem schließlich auch vom Amt zuwachsen, das man bekleidet. Der Amtsträger: da trägt nicht nur eine Person ein Amt, sondern da trägt auch das Amt die Person! Man kann deshalb seine persönliche Autorität und damit zugleich schnell auch die des Amtes ruinieren. Oder man spürt nach Aufgabe des Amtes, dass 74 P E R S Ö N L I C H E A U T O R I TÄT: D I E K R A F T I N D E R K R I S E ? viel Ehrerbietung dem Amt galt und leider weniger der »großartigen« Person, die man zu sein glaubt. Charisma, Herkunft, Amt – das alles kann hineinspielen. Aber im Kern glaube ich, dass Autorität in der offenen Gesellschaft zuallererst hart erarbeitet werden muss. Die offene Gesellschaft hinterfragt Autorität und will von ihrem Anspruch überzeugt sein. Vertrauen gibt es nur gegen einen Leistungsnachweis. Die Bürger müssen an Politikern über einen längeren Zeitraum Sachlichkeit, Integrität, offene Kommunikation wahrnehmen können. Es ist übrigens eine wichtige Erfahrung, dass Autorität vor allem dort entsteht, wo Politiker im unmittelbaren Kontakt zur Bevölkerung stehen, im eigenen Wahlkreis. Hier begegnet man den Bürgern immer wieder und muss sich im Gespräch bewähren und Glaubwürdigkeit einlösen. Über diese Bindung in den Wahlkreisen entsteht ein Korrektiv gegen den Einfluss der Fraktionsführung. 4. Erwartungen der Bürger Aber insgesamt glaube ich: Der Schlüssel für Autorität in der Politik ist das gelingende Wort. Charles de Gaulle hat zwar einmal geschrieben, nichts steigere Autorität mehr als Schweigen. Dem könnte ich zustimmen, wenn damit die Unterlassung einer gewissen Geschwätzigkeit gemeint wäre, die Autorität eher untergräbt. Aber Politik lebt vom authentischen Wort, einem Wort, das als wahrhaft empfunden wird. In der Rede zählt jeder Moment. Wenn Politik lebt vom authentischen Wort, man sich hinstellt, spricht und überzeugt. Wenn man dann tut, einem Wort, das als was man gesagt hat und wenn solche Momente sich häufen. wahrhaft empfunden wird. Dann sammelt sich ein »politisches Kapital« an. Dann gehen die Bürger erst einmal davon aus, dass es so falsch nicht sein könne, was der oder die sagt oder will. Dabei dürfen wir nicht überdrehen. Politik darf sich nicht für alles zuständig erklären. Das entspricht nicht meinem Staats- und Politikverständnis und würde auch nur zu unerfüllbaren Erwartungen und zu anschließenden Enttäuschungen führen. Dieses Autoritätskapital kann sich ansammeln, vor allem in der regelmäßigen direkten Begegnung des Politikers mit den Bürgern. Dort wird die Übereinstimmung von Reden und Handeln leichter sichtbar – oder auch das Gegenteil. Politik gewinnt Autorität, wenn sie nah am Menschen gemacht wird. Es ist meine Erfahrung, dass Politikern vor Ort, im Kontakt mit den Bürgern, viel Respekt entgegengebracht wird, während es gleichzeitig heißt, Politikern im Allgemeinen glaube man nicht. Die Bürger wollen jemanden, der bodenständig und fest im Alltag verankert ist. 75 HERMANN GRÖHE Es täuscht sich auch, wer meint, Autorität durch Anbiederei und falsche Nähe erschleichen zu können. Ganz im Gegenteil: Dies kann auch dadurch gelingen, indem man sich von aller Kumpelhaftigkeit weit fern hält und mit »preußischem Pflicht-Ethos« ohne jede persönliche Allüre seine Arbeit tut. Allerdings ist das nicht jedem gegeben und auch eine Frage des authentischen persönlichen Stils. Allgemein gilt es wohl, die Balance zwischen Distanz und Volksnähe zu wahren. Es ist auch für die Autorität von Politik verheerend, wenn der Eindruck entsteht, sie sei umfragegeleitet. Einschlägig ist die Formel von Franz Josef Strauß, Politik müsse dem Volk aufs Maul schauen, aber nicht nach dem Munde reden. Schwierig wird es aber dadurch, dass die Übergänge fließend sind. Denn ebenso prominent ist die Klage, es kümmere die Politik nicht, was die Bürger dächten. Wir haben im Falle von Stuttgart 21 erlebt, wie verheerend dieser letzte Verdacht für das politische Klima werden kann. Und wir haben gelernt, dass wir unsere Beteiligungsverfahren und die politische Kommunikation verbessern müssen, wenn wir Legitimität und Autorität von Entscheidungen steigern wollen, die formal korrekt zustande gekommen sind. Zumal ja die potenziellen Konflikte um Großprojekte im Zuge einer ehrgeizigen Energiepolitik eher zunehmen werden. Wir müssen also über neue Formen der Bürgerbeteiligung nachdenken: DemoWir haben gelernt, dass kratie lebt davon, dass die Bürger die Verfahren innerlich bejawir unsere Beteiligungsverfahren und die hen und ihnen damit Autorität zuweisen. Die Menschen haben politische Kommunikatiein feines Gespür für Authentizität. Sie wollen niemanden, der on verbessern müssen, wenn wir Legitimität und eine Rolle spielt. Sie wollen niemanden, der sich verbiegt. Die Autorität von EntscheiMenschen schätzen ein Handeln aus persönlichen Lebenserfahdungen steigern wollen. rungen heraus: Ein Beispiel ist die biografische Stimmigkeit in Helmut Kohls Politik, der über eine lange Zeit die Vorstellung eines wiedervereinten Deutschland in einem einigen, freien und friedlichen Europa mit sich trug. Der daran festhielt, auch als die Wiedervereinigung ferner zu rücken schien. Wir sind auch offenbar eher bereit, älteren Politikern Autorität zuzusprechen, die keine politischen Ämter und Mandate mehr innehaben. Man denke nur an Heiner Geißlers Stuttgarter Schlichtung. Ein politisches Leben voller Ecken und Kanten und mancher Schroffheit, aber immer engagiert und spürbar an der Sache und an Werten orientiert: an Freiheit, an Gerechtigkeit, an Solidarität. Oder man denke an Helmut Schmidt, dem viele Menschen eine hohe politische und moralische Autorität zusprechen. Ich bin ferner davon überzeugt, dass man Autorität auch dadurch erwirbt, indem man bereit ist, die eigenen politischen Überzeugungen immer wieder zu überprü76 P E R S Ö N L I C H E A U T O R I TÄT: D I E K R A F T I N D E R K R I S E ? fen und hinzuzulernen. Das gilt gerade für Politiker, die sich am christlichen Menschenbild orientieren und daher um ihre Fehlbarkeit und ihre Irrtumsanfälligkeit wissen. Nehmen wir die aktuelle Debatte um die Kernenergie. Da sage auch ich: Ja ich habe im Herbst 2010 der Laufzeitverlängerung zugestimmt, weil ich das Restrisiko für eine mathematische Größe gehalten habe. Das hat sich durch Fukushima grundlegend verändert. Deshalb glaube ich, es ist richtig, für veränderte Gegebenheiten offen zu sein, statt Scheuklappen aufzusetzen. Schließlich hat Autorität ganz viel damit zu tun, Vorbild zu sein. Politiker müssen sich bewusst sein, dass von ihnen genau das erwartet wird. Dass an Politiker – wie an Eliten insgesamt – ein höherer Maßstab gelegt wird. Ich will meine Skepsis nicht verhehlen. Ich finde es richtig, dass bei uns zum Beispiel das Private des Politikers im Unterschied etwa zu Amerika noch weitgehend tabu ist. Aber Autorität erwächst eben auch daraus, dass man in den Augen der Menschen jenen höheren Ansprüchen eines Vorbildes genügt. 5. Persönliche Autorität in anderen Lebensbereichen Persönliche Autorität von Politikern ist das eine – Autorität der Institution »Partei« das andere. Es muss Parteien wieder besser gelingen, ihren unbezweifelbaren Nutzen für die politische Willensbildung der Bürger deutlich zu machen. In einer Gesellschaft müssen unterschiedliche Bereiche politisch geordnet werden. Es gibt jeweils nicht nur eine mögliche Antwort, aber es gibt eben auch nicht unendlich viele. Dabei ist es hilfreich für den demokratischen Prozess, wenn es Vereinigungen gibt, in denen engagierte und weitgehend gleich gesinnte Bürger sich um eine gemeinsame Position zu zentralen Fragen bemühen. Damit am Ende aus Millionen Einzelmeinungen ein überschaubares politisches Angebot vorgeformt und eine demokratische »Wahl« der Bürger zwischen Programmen und Positionen möglich wird. In modernen Massengesellschaften kann diese notwendige Bündelung von Meinungen anders gar nicht geleistet werden. Nachdem ich nun so viel über Autorität in der Politik gesprochen habe, möchte ich meine Betrachtung gerne erweitern. Denn die Frage von Autorität und auch von Verlust von Autorität betrifft ja nicht nur die politische Sphäre. Als engagierten evangelischen Christen treibt mich der Vertrauensverlust in die beiden großen christlichen Volkskirchen um. Mich besorgt, dass Glaube und Kirche im Leben immer weniger Menschen die heilsame Rolle spielen, die sie spielen könnten. 77 HERMANN GRÖHE Mich besorgt auch die mangelnde Autorität von wirtschaftlichen Eliten. Die Autorität von Banken und Wirtschaft hat durch die Finanzkrise massiv gelitten, durch manche Abgehobenheit und Entkopplung von gesellschaftlicher Verantwortung. Ein Ausweg kann hier wie dort der transparente Umgang mit Fehlern sein und die neue Einmischung in den öffentlichen Diskurs. Ich wünsche mir gerade von den wirtschaftlichen Eliten mehr Sichtbarkeit. Denken Sie nur an die zahlreichen Gesprächsrunden im Fernsehen, in denen immer nur dieselben Gesichter der deutschen Wirtschaft auftreten. Hier würde ich mir wünschen, dass sich die vielen Verantwortungsträger aus der Wirtschaft in den Wind stellen und mitdiskutieren über die Fragen, die unser Gemeinwesen bewegen. 6. Die Rolle der Medien Mich bewegt auch zunehmend die Frage, wie es um die Autorität der Medien bestellt ist. In einer Zeit, in der immer neue Großereignisse in immer kürzeren Abständen auf uns niederprasseln, scheint mir die Orientierungsfunktion von Qualitätsmedien dringender denn je. Das Internet kann diese Aufgabe nicht leisten, das Netz kann anderes: Tausende Dokumente sind auf Plattformen schnell zugänglich gemacht, Millionen Menschen sind schnell erreichbar, der Austausch leicht wie nie. Aber wer ordnet ein, wer zieht die Linien, wer macht das Unvertraute vertraut? – Mir ist es zu wenig, wenn zum Beispiel unter jungen Menschen nur noch den Posts Gleichaltriger Autorität zugestanden wird. Ich kann unseren Qualitätsjournalismus nur ermutigen, auch künftig auf die ureigenen Kompetenzen zu setzen. Wir sind als Gemeinwesen darauf angewiesen. Wir können nicht zulassen, dass auf der Suche nach Vorbildern, nach Autoritäten Formate wie »Deutschland sucht den Superstar« zum Maß der Dinge werden. Vor uns allen liegt also viel Arbeit. 78 III. Autorität des Rechts? Institutionelle Autorität in Deutschland zwischen EuGH und Basisdemokratie Autoritative Rechtsprechung in der Gegenwart V O N U D O D I FA B I O 1. Die Autorität des Bundesverfassungsgerichts Es gibt Institutionen, denen vertraut der Bürger mehr als anderen. Der Bundespräsident, das Bundesverfassungsgericht, Polizei und Bundeswehr führen die Liste derjenigen staatlichen Organisationen an, denen die Deutschen viel Vertrauen entgegenbringen, weit vor der Bundesregierung und ganz weit vor den politischen Parteien. Wenn Vertrauen in eine Organisation über lange Zeit kontinuierlich besteht, wächst Autorität, also jenes verstetigte Ansehen, das dem Wort der Institution besonderes Gewicht verleiht. Für Ferdinand Tönnies wächst Autorität aus der Würde von Stärke und Weisheit, so wie patriarchalische Gesellschaften sich die Rolle des Vaters vorstellten.1 Die etwas modernere Sozialtheorie sieht in der Autorität die Unterstellung der Fähigkeit zu weiteren Erläuterungen, damit kann man aber für unser Thema weniger anfangen.2 Mit folgenden Überlegungen möchte ich der Frage nachgehen, ob die Autorität des Bundesverfassungsgerichts als eines der Verfassungsorgane und als Gericht noch ungeschmälert besteht oder ob sie inzwischen durch die Konkurrenz mit europäischen und internationalen Gerichten, aber auch im Hinblick auf eine allgemeine Institutionenaversion und einer Vorliebe für direktdemokratisches Entscheiden angegriffen ist, das Gericht somit an der Würde verliert, die aus unangefochtener Stärke wächst. Schauen wir zunächst auf die Konkurrenz der hohen Gerichte. In einer Leitentscheidung vom 14. Oktober 2004 hat das Bundesverfassungsgericht recht deutlich eine Zäsur markiert, die als latenter Entwicklungstrend seit Jahrzehnten die europäische Wirklichkeit bestimmt. »Das Grundgesetz erstrebt die Einfügung Deutschlands in 1 2 Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Darmstadt 2005. Erster Abschnitt § 5. Luhmann, Niklas: Soziologie des Risikos. Berlin/New York 1991. S. 126. 80 A U T O R I TAT I V E R E C H T S P R E C H U N G I N D E R G E G E N WA R T die Rechtsgemeinschaft friedlicher und freiheitlicher Staaten, verzichtet aber nicht auf die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität.«3 Der Doppelcharakter dieser Aussage – Wandel durch gegenseitige Öffnung und Beharrung im Prinzipiellen wird anschließend verdeutlicht: »Das Grundgesetz will eine weitgehende Völkerrechtsfreundlichkeit, grenzüberschreitende Zusammenarbeit und politische Integration in eine sich allmählich entwickelnde internationale Gemeinschaft demokratischer Rechtsstaaten. Es will jedoch keine jeder verfassungsrechtlichen Begrenzung und Kontrolle entzogene Unterwerfung unter nichtdeutsche Hoheitsakte.« Den Klang dieser Worte zu bestimmen, hängt von den Ohren ab, die sie vernehmen. Für die einen ist das lediglich die Modernisierung des klassischen Souveränitätsverständnisses, für die anderen ist das der Trotz einer großen Institution des Rechts, die sich längst durch europäische Gerichte wie den Straßburger Menschenrechtsgerichtshof oder den Luxemburger Gerichtshof der Europäischen Union in ihrer Bedeutung gemindert sieht und deshalb auf letzte Worte dort pocht, wo sie schon mittelfristig nichts mehr zu sagen haben wird. Dieser Entscheidung, die das Umgangs- und Sorgerecht des nichtehelichen leiblichen Vaters mit seinem bei Pflegeeltern lebende Kind betraf, war eine andere Entscheidung des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs vorausgegangen, die nicht nur unter juristischen Fachleuten für Aufmerksamkeit gesorgt hatte. Mit dem Urteil über die Persönlichkeitsrechte der Prinzessin Caroline von Monaco hatte der Straßburger Gerichtshof die feinziselierte deutsche Dogmatik zur Abgrenzung der Pressefreiheit von gegenläufigen Ansprüchen auf Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in wesentlichen Teilen für Makulatur erklärt und neue Wertungen verlangt, die seitdem das Presserecht zwar auch nicht wesentlich vereinfacht, aber die Gewichtungen etwas verändert haben. Jahrzehntelang hatte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts seit der Lüth-Entscheidung die Grenzen der Meinungsund Pressefreiheit bestimmt und dabei das demokratische Wertesystem der Republik, nicht selten unter großer öffentlicher Anteilnahme – wie bei Sitzblockaden oder der Strafbarkeit einer Aussage »Soldaten sind Mörder« – konkretisiert. Mit der »Intervention aus Straßburg« musste sich das Gericht auf die neuen Vorgaben einlassen, juristisch gesehen war das eigentlich kein Umbruch, aber Karlsruhe verlor vielleicht doch ein wenig vom Glanz der letzten, rechtsinterpretierenden, dabei wertsetzenden Instanz. Bei der Sicherungsverwahrung ging Straßburg mit dem Verbot der Rückwirkung beinah konfrontativ4 auf eine verfassungsgerichtliche 3 4 BVerfGE 111, 307 (319). Zuletzt mit Kammerurteil vom 14. April 2011 im Fall Jendrowiak gegen Deutschland (Beschwerde-Nr. 30060/04). 81 UDO DI FABIO Entscheidung5 zu und nötigte in Deutschland Gesetzgeber, öffentliche Meinung und das Bundesverfassungsgericht in eine reaktive Position. Zu reagieren hatten deutsche Höchstgerichte schon lange bei der Übernahme von Urteilen des Luxemburger Gerichtshofs, wenn es um den Vertrauensschutz, jene Ikone des Rechtsstaates, um Frauen in der Bundeswehr, um die Vergabe öffentlicher Aufträge oder um das jeweilige Verständnis von Altersdiskriminierung ging. Der Gerichtshof legte das geltende Vertragsrecht in der längeren Entwicklungstendenz eindeutig so aus, dass er in eine immer stärkere Position gelangte, er verschaffte sich seine Autorität gleichsam ein Stück weit auf eigene Rechnung, man spricht insofern von der Selbstautorisierung des Agenten.6 Wie immer auch die juristischen Begründungen für die Entwicklung europäischer Gerichte und nationaler Reservate, für jene starken Worte in Leitentscheidungen und auch die fantasiereichen rechtswissenschaftlichen Gebilde mit ihren Verbundarchitekturen kooperativen Zusammenwirkens, der Öffnung von Staaten und von »lernenden Souveränen«7 ausfielen, das Publikum registrierte vor allem eines: Es ging um die Grenzen der Macht, um den sichtbaren Schwund des Autoritativen im rechtsprechenden System der Staaten Europas. Darin kann man einen natürlichen Vorgang der Machtteilung, der Europäisierung, der Internationalisierung sehen. Vielleicht geht es aber auch um mehr. Womöglich geht es um den Verlust jenes von Jacques Derrida so benannten »mystischen Grundes der Autorität« der Gerichte8: die Wahrheit der Gerechtigkeit. Die Multiplizierung von Wahrheiten und Autoritäten im Netzwerk verbundener Gerichte lässt nicht so sehr an Unumstößlichkeit der einen konsistenten Gerechtigkeit denken, sondern an getaktete Systembeziehungen, Gespräche, Abstimmungen, Harmonisierungen und an Kooperationen. Jede der höchsten Gerichtsbarkeiten der Staaten und die internationalen Gerichte sind durch bestimmte Grundsatznormen gebunden, entfalten deren System und Idee: Die Europäischen Verträge, die Menschenrechtskonvention oder Verfassungstexte. Diese Texte kann man nahe aneinander führen, Richter können sich gleichsam wechselseitig beobachten, aber man sollte nicht die fortbestehenden Unterschiede in den verschiedenen grundlegenden Rechtsprechungsaufträgen kaschieren. 5 BVerfGE 109, 133. Höreth, Marcus: Die Selbstautorisierung des Agenten. Baden-Baden 2008. 7 Frankenberg, Günter: Autorität und Integration. Zur Grammatik von Recht und Verfassung. Berlin 2003. S. 46ff. 8 Derrida, Jacques: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«. Frankfurt/Main. 1991. S. 25. 6 82 A U T O R I TAT I V E R E C H T S P R E C H U N G I N D E R G E G E N WA R T Für staatliche Verfassungsgerichte und ihre Autorität heißt das: Mit dem großen durchdachten System oder mit der politischen und rechtlichen Systemreferenz auf das Volk ist hier nicht viel zu gewinnen, man kann allenfalls stören. Für die herkömmliche Verfassungsrechtsprechung, die über Jahrzehnte hinweg so etwas wie die normative Einheit der funktional differenzierten Gesellschaft verkörpert hat, erscheinen europäische und internationale Judikate manchmal wie Interventionen, mal kann man sich gewiss anpassen, mal aber auch läuft man Gefahr, die Ordnung seines Systems zu verlieren. Seit der Wiederentdeckung des Römischen Rechts und des Naturrechts, die überleiteten in die neuzeitliche Ausdifferenzierung normativer Systeme, insbesondere der Trennung des Rechts von der Moral, sei sie philosophischer, politischer oder religiöser Provenienz, glaubte man an die prinzipielle Wahrheitsfähigkeit, die Vernunft und Widerspruchsfreiheit des Rechts, wobei ein guter Gesetzgeber sich von der Aufgabe der Konsistenz und damit der Gerechtigkeit leiten lassen sollte. Recht als multipel eingesetztes Steuerungsinstrument im Mehrebenensystem entfernt sich von dieser normativen Autoritätsunterstellung, es gewinnt zwar Präsenz, vielleicht sogar Omnipräsenz, verliert aber eigenständige Rationalität. Für den juristischen Insider hat die Sache noch einen anderen Aspekt. Untere Instanzgerichte nutzen das europäische System der Richtervorlage oder auch einzelne Sprüche aus Straßburg, um ihre jeweiligen rechtspolitischen Vorstellungen notfalls auch gegen den Gesetzgeber und die Rechtsprechung der übergeordneten Bundesgerichte durchzusetzen. Der ehemalige BGH-Präsident Hirsch forderte in einer großen Tageszeitung unter Berufung auf europäische Richtlinien und die Rechtsprechung des Luxemburger Gerichtshofs, sich nicht mehr so sehr auf die klassischen Auslegungsmethoden des nationalen Gesetzes zu konzenDer Rechtsstaat wird trieren. Auch das ist kein Umsturz, sondern Teil eines allmählich allgemein hochgehalten, wirkenden Erosionsvorgangs. Gerichte, auch Höchstgerichte aber sein Ansehen sinkt. werden zu Funktionselementen in einem verflochtenen System mit seinen inneren Gesetzmäßigkeiten und Notwendigkeiten, in denen weniger hierarchische Ordnung, sondern mehr politisch-moralische Leitlinien, Rücksichtnahmen oder auch Zufälligkeiten herrschen. Einer Erosion unterliegt der vom Grundgesetz verfasste demokratische und soziale Rechtsstaat, wobei das Gesetz eine eigene überragende Autorität eingenommen hat, aber inzwischen verflüssigt ist und sich zur steten Anpassung genötigt sieht. Der Rechtsstaat wird allgemein hochgehalten, aber sein Ansehen sinkt. Der Wert staatlicher Institutionen gilt nicht mehr so viel wie in den Gründerjahren der zweiten deutschen Republik. Dafür verantwortlich ist nicht nur der neue Stil über funktionale, 83 UDO DI FABIO überstaatlich gespannte und für zivile Akteure geöffnete Netzwerke zu regieren, sondern auch eine Entpolitisierung der öffentlichen Meinung und eine Utilitarisierung republikanischen Gedankenguts. Unter Utilitarisierung ist hier eine Beurteilung politischer Ereignisse aus einer konsumtiv-individualistischen Nützlichkeitsperspektive zu verstehen, die zudem häufig affektuell aufgeladen und stark situationsabhängig ist. 2. Autorität im Prozess der Internationalisierung Für aktuell ausgebildete Juristen ist das alles eine neue, aber durchaus vertraute Wirklichkeit, die es möglichst geschickt zu handhaben gilt. Ihre Kunst besteht im Jonglieren mit den Ebenen und Stimmungen, den neuen Losungen des Unbezweifelbaren. Sie ziehen advokatorisch die Karten, die zu stechen versprechen. Normatives System oder politische Einheit verbunden mit der Autorität eines Parlaments, eines Kanzlers, eines höchsten Gerichts sind dabei im Grunde Forderungen von Gestern. Für die Öffentlichkeit stellt die Sache sich indes eher dar wie eine Abfolge von Hoffnungen und Enttäuschungen. Solange der prinzipiell geschlossen gedachte Nationalstaat des neunzehnten Jahrhunderts das politische Referenzmodell war, konnte man Hoffnungen und Enttäuschungen zwischen den drei Staatsgewalten hin- und herschieben. In diesem Spiel wechselnder Avancen liebte auch die Demokratie Autoritäten, obwohl ihre aufklärerische Öffentlichkeit zur EntAutorität entsteht, wenn zauberung aller Autoritäten tendierte, sich selbst allerdings ausAmt, Person, Situation und Rezeption günstig genommen. Autorität – vielleicht sogar charismatische – entzusammenkommen. steht, wenn Amt, Person, Situation und Rezeption günstig zusammenkommen, wie bei Kanzler Helmut Schmidt in der Stunde der terroristischen Bedrohung. In Frankreich ebenso wie in den USA konzentrierte sich das royale Surrogat im Präsidentenamt, während England der Monarchie repräsentativen Glanz bewahrte, aber an der Suprematie des Parlaments nie einen Zweifel ließ. In Deutschland, dem Land des Rechtsstaats, hatte man zunächst die Autoritätshoffnungen, die vor 1914 auf den Hohenzollern ruhten, mit einer Drift zu französischen, aber auch eigenen militärarchetypischen Vorbildern auf den Reichpräsidenten gelenkt; der – und mit ihm die Weimarer Demokratie – an diesen Hoffnungen und an seinen begrenzten Gaben, in körperlicher, geistiger und moralischer Hinsicht, zerbrach. Nach 1949 schaute man zunächst vielleicht gewohnheitsmäßig auf den Bundespräsidenten, nahm aber schnell dessen konstitutionelle Entmachtung wahr und wurde Kanzlerdemokratie. Aber neben der politischen Autorität des Kanzlers, der führungsstark zu sein hatte, schob sich nach und nach auch wieder die Sehnsucht nach 84 A U T O R I TAT I V E R E C H T S P R E C H U N G I N D E R G E G E N WA R T der pouvoir neutre, jener den Staat und das Gemeinwohl verkörpernden Macht, die über den Parteien steht. Nach der konstitutionellen Lage des Bonner Grundgesetzes ging über Jahrzehnte viel in Richtung Karlsruhe: Die roten Roben als Symbol des letzten Wortes, der abgewogenen Vernunft, als Wächter über eine Verfassung, die auf Volkssouveränität ruht und Wertekompass wurde, die sich zugleich auch anbot, Grundlage eines Patriotismus zu sein, der von Volkstümelei und machtstaatlichem Pathos gereinigt ist.9 Es ist nicht lange her, da konnte man sogar ein Übermaß an institutionellem Vertrauen in das höchste deutsche Gericht diagnostizieren. Übermaß deshalb, weil Gerichte als politische Heilsbringer untauglich sind, Übermaß auch deshalb, weil dem großen Vertrauen auch in den kommunizierenden Röhren der gewaltengeteilten Demokratie ein Misstrauen in andere Organe korrespondiert. Eine solche in der Tendenz überspannte Erwartung konnte im europäischen Netzwerk politischer und rechtlicher Herrschaft natürlich nicht durchgehalten werden, weil längst eine Diskrepanz entstanden war zwischen den modernen nationalstaatlichen Mustern mit ihrem Verfassungspatriotismus, dem Diktum der Volkssouveränität und jenem neuen postmodernen Politikstil eines uneindeutigen Muddling-Through10 im Dickicht der Sachrationalitäten mit ihren schnell wechselnden Alternativlosigkeiten und Verhandlungszwängen. Das moderne Denken wirkt heute unmodern, es sucht die schöpferische, die konzeptionelle Mitte und pflegt insoweit die Autorität des maßgeblichen Entscheidungsträgers. Die nicht so sehr ausgerufene, aber allmählich einsickernde Postmoderne dagegen will keine Mitte. Sie ist gegen konzeptionelle Grenzen, weil sie deren »Be-Grenztheit« fürchtet. Sie will sich konzeptionell alles offen halten, um sich optimale praktische Ergebnisse nicht zu verbauen. Deutlich wurde dies in der Bücher und Gesetzestexte in einem Besprechungszimmassiven, zum Teil schrillen Kritik fast mer des Bundesverfassungsgerichts 9 Sternberger, Dolf: Verfassungspatriotismus. Frankfurt/Main 1990; Müller, Jan Werner: Verfassungspatriotismus. Berlin 2010. 10 Lindblom, Charles: »The Science Of ›Muddling Through‹.« In: Public Administration Review, 19/1959, S. 79-88. 85 UDO DI FABIO der gesamten politischen Klasse am Lissabon-Urteil des BVerfG vom 30. Juni 200911, die dem Gericht in seinem Beharren auf dem Prinzip der Volkssouveränität einen rückwärtsgewandten Nationalismus, ja praktisch Rechtsbeugung vorwarf, wenn es sich den Realitäten der funktionellen europäischen Einigung nicht unterwerfe. Die Autorität des Verfassungsgerichts war einmal sakrosankt. Doch heute werden Gerichte, nicht nur in Ungarn, mit der politischen Ankündigung über ihre Zukunft informiert, dass der Gesetzgeber auch Prozessordnungen ändern und Zuständigkeiten beschneiden könne. 3. Über die Erosion der Autoritäten des Rechts Wohin man schaut, erodieren Autoritäten des Rechts, die Vielfalt der Gerichte und die Komplexität des Gesetzesrechts macht Systematik und Berechenbarkeit unwahrscheinlicher, lassen das Ergebnis immer öfter als Zufall oder politisches Kalkül der Richter erscheinen. Bemerkenswert dabei ist der Umstand, dass es sich nicht einfach um einen Effekt der Hochzonung von Macht und Autorität handelt, sondern um einen politischen und rechtlichen Gestaltwandel. Das passt sich ein in eine große Linie, die alle Organe des Staates erfasst und sogar darüber hinaus die gesamte politisch-normative Organisation der Weltgesellschaft betrifft. Die neuzeitlich so dominante Vorstellung von planvoller schöpferischer Gestaltung der Welt gerät anscheinend zur Chimäre: Niemand weiß, was Rettungsschirme wirklich bewirken, wie Weltfinanzmärkte vernünftig zu regulieren wären ohne überraschende Folgewirkungen. Niemand weiß, was aus der arabischen Revolte wird und wie sich die chirurgischen Hilfeleistungen des Westens entwickeln werden. Niemand weiß, ob der Abschied von der Atomenergie und der Eintritt in die Wendezeit der Nachhaltigkeit gelingt oder sich später als große Illusion mit unbekannten Nebenwirkungen erweist. Solche Ungewissheiten werden seltener als zuvor auf Entscheidungen zurückgeführt, sondern mehr – übrigens der Vormoderne nicht unähnlich – als ein unentrinnbares Schicksal erlebt: Politische Führung, die demokratisch legitimiert, rational versiert und zur verbindlichen Anordnung autorisiert, die einen Plan fassen und konsequent umsetzen kann, verliert hier schon im Ansatz Plausibilität. Das Volk, von dem alle Staatsgewalt ausgeht und in dessen Namen Bundestag, Landtage und ein Gericht wie das Bundesverfassungsgericht entscheiden, neigt wie jeder Souverän, der seine Abenddämmerung wahrnimmt, zum ostentativen Machtspruch, der die gordischen Knoten der Netzwerke aus Politik, Wirtschaft und Recht wenigstens einmal durchschlägt. Plebiszit verspricht Katharsis. Der Neubau eines 11 BVerfGE 123, 267. 86 A U T O R I TAT I V E R E C H T S P R E C H U N G I N D E R G E G E N WA R T Bahnhofs in einer Landeshauptstadt erregt die Gemüter. Jahrelange Planfeststellungsverfahren, Verwaltungs- und Gerichtsverfahren sollten einmal jene »Legitimation durch Verfahren«12 schaffen, die jeden Bürger potenziell beteiligt und ihn institutionell inkludiert, ihm dann jedoch auch Akzeptanz abnötigt, wenn mehrheitlich oder rechtsverbindlich gegen ihn entschieden wird. Aber funktioniert jene formelle entpersönlichte Verfahrensautorität, die Niklas Luhmann 1969 diagnostizierte, auch heute noch? Selbst rechtlich gar nicht vorgesehene, medial gut vermittelte Schlichtungen, die zu Projektauflagen führen, die in einem ordentlichen Verwaltungsverfahren erst einmal implementiert werden müssten, besänftigen nicht den Unmut. Wer dann schließlich doch nach dem Plebiszit ruft, stößt schnell wieder auf das Recht, jenen Wahrer des Rechtsstaats mit seinen Kompliziertheiten. Auch ein Plebiszit artikuliert sich nicht im rechtsfreien Raum. Wer Gesetzesbeschlüsse fassen oder umstoßen, wer verbindliche Regelungen verändern will, der muss sich selbst Regeln unterwerfen, gerät in den institutionellen Sog des formellen Rechts. Vorgeschriebene Beteiligungsquoren für Volksbegehren und Volksentscheide sichern mit dieser Hürde die Wahl- und Entscheidungsverfahren der repräsentativen Demokratie vor den Zufälligkeiten von Aktivistenvoten, die viel weniger Abstimmungsbeteiligung auf die Waage bringen, als die Wahl. Es geht bei den formellen Hürden für das Plebiszit auch um die Wahrung der Autorität der Wahlentscheidung, die im Zentrum der Volksherrschaft steht. Wer heute als Regierung im Blick auf ein einzelnes Projekt die Quoren herabsetzt, sollte wissen, dass er morgen von dieser, seiner Entscheidung eingeholt wird, wenn seine Regierungspolitik von der Opposition mit dem Plebiszit konterkariert wird. Gegen Entscheidungen der gewählten Mehrheit kann man manchmal eben nicht nur Gerichte oder die EU-Kommission anrufen, sondern auch das Volk, wobei gesondert darüber nachzudenken wäre, wer denn das Volk eigentlich ist. Sind es die Bürger einer Landeshauptstadt, die keinen neuen Bahnhof wollen oder die Bürger des ganzen Bundeslandes oder müssten bei einem Projekt, das maßgeblich auch vom Bund mitgetragen und in die europäische Streckenplanung eingebunden ist, nicht noch größere Einheiten befragt werden? Die Vernetzung der europäischen Entscheidungsverfahren lässt sich weder von unten noch von oben, etwa mit der europäischen Bürgerinitiative, so ohne weiteres und so kathartisch wie von manchen erhofft, durchbrechen. Autoritative Entscheidungen bleiben im Mehrebenensystem möglich, sie erzeugen aber einen schalen Nachgeschmack, weil danach im Netzwerk wieder verhandelt 12 Luhmann, Niklas: Legitimation durch Verfahren. Frankfurt/Main 1969. 87 UDO DI FABIO und sich untereinander abgestimmt werden muss. Im Grunde wird immer nur vorläufig und bis zum Auftreten größeren Widerstandes entschieden. Dem Gesetzgeber geht es hier nicht anders als den Gerichten: Der häufig medial vorgegebene Takt beschleunigt sich, Rücksichtnahmen werden größer, wechselnde Lagen nehmen ebenso zu wie Sachzwänge, fiskalische Nöte und moralisches Insistieren, wenn sich Macht und Recht anders nicht mehr medial vermitteln lassen. Bei alldem leidet die Konsistenz rechtlichen Entscheidens, die für manchen die eigentliche Substanz der Gerechtigkeit ist.13 Der Ruf nach dem Plebiszit und die Kritik am repräsentativen Regieren fügt sich nicht nur ein in die neuen Bedingungen funktional vernetzter und strukturell gekoppelter Mechanismen von Wirtschaft, Politik und Wissenschaft.14 Beides geht auch einher mit einer Aversion gegen institutionelle Autoritäten und der Vorliebe für spontane, aber ephemer bleibende Autoritäten. Vieles ist emotionalisiert, legt Wert auf authentische Darstellung in der sichtbar gemachten Wenn immer weniger Einheit von Person und Sache. Das Institutionelle einer parteigeBürger in Parteien arbundenen repräsentativen Demokratie, des sozialen Rechtsstaats beiten, für kommunale Wahlämter kandidieren, ist abstrakt, tief und langfristig wirkend. Schnelle und sichtbare sich in Gewerkschaften Erfolge eines punktuellen Einsatzes, aber auch Moden mit oder Kirchengemeinden binden, dann schwindet schnellen Themenwechseln findet die neue Zivilgesellschaft auf für den maßgeblichen anderen Wegen als in der lebenslangen Kärrnerarbeit eines SPDpolitischen Bereich Legitimation und Autorität. Ortsvereinsvorsitzenden. Die Blüte der Stiftungen, Initiativen, spontane Hilfs- und Spendenbereitschaft sind schöne Zeichen dafür, dass auch in der individualisierten Gesellschaft der Mensch ein soziales Wesen bleibt: Hier übt sich zudem die bürgerliche Selbstverantwortung, eröffnet sich ein Feld für Helden und Autoritäten des Alltags. Nur sollte dabei nicht übersehen werden, dass der Sozialstaat, die Bildung, die Wissenschaft, das Gesundheitssystem, die Mobilität der Gesellschaft nahezu überall zu mehr als neunzig Prozent von politischen Grundsatzentscheidungen, gesetzlichen Regelungen und vor allem Finanztransfers abhängen. Wenn immer weniger Bürger in Parteien arbeiten, für kommunale Wahlämter kandidieren, sich in Gewerkschaften oder Kirchengemeinden in langfristiger institutioneller Perspektive binden, dann schwindet für den maßgeblichen politischen Bereich Legitimation und Autorität. 13 14 Luhmann, Niklas: Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt/Main 1993. S. 214ff. Manin, Bernhard: Kritik der repräsentativen Demokratie. Berlin 2007. 88 A U T O R I TAT I V E R E C H T S P R E C H U N G I N D E R G E G E N WA R T 4. Neue Herausforderungen an die Gerichte Unter den neuen Bedingungen funktionaler Verbundsysteme und der Tendenz zur Bevorzugung spontaner Ordnungsbildungen gegenüber langfristiger institutioneller Ausprägung erscheint Autorität wie eine Chiffre von gestern. Denn das Netzwerk hat keinen steten zentralen Ort und kein Gesicht, das längere Zeit Vertrauen sammeln und in Autorität verwandeln könnte. Das gilt nicht nur, aber auch für Gerichte, auch für das Recht und seine neuzeitliche Prätention, die beide wenigstens für Vernunft, Allgemeinheit15 und die volonté générale stehen. In seinen inzwischen zwanzig Jahre alten Beobachtungen der Moderne hat Niklas Luhmann bereits einen Wandel des politischen Systems diagnostiziert, den das Recht nicht ignorieren kann.16 Er beobachtet dabei, dass die politische Theorie nicht mehr von direkten Begriffen wie Macht, Herrschaft, Souveränität ausgehe, sondern von einer Spiegelung der Politik in der öffentlichen Meinung und einer Interaktion zwischen Regierung und Beobachtung in den Medien, die immer stärker das Zentrum der Politik zu sein scheinen. In der politischen Praxis würde Autorität ersetzt durch eine Politik der Verständigung: Man arbeitet mit ausgehandelten Provisorien, die eine Zeit lang halten. Es geht nicht darum, ob solche Provisorien vernünftig, richtig, rechtmäßig oder dauerhaft sind. Sie geben für den Augenblick Orientierungen. Es wäre sehr leicht, hier Beispiele aus dem noch nicht abgeschlossenen Kapitel der Euro-Rettungsaktionen zu liefern. Stattdessen möchte ich das Autoritätsproblem der Gerichte mit einem anderen Beispiel illustrieren, um zu zeigen, dass die These von einer »Hypermodernisierung« richtig zu sein scheint. Eine Zeit lang hat die öffentliche Meinung die zunehmende Verflechtung der Politik für ein Grundübel der Demokratie gehalten. Der Bürger könne nicht mehr klar Ursache und Wirkung zurechnen, wenn die Ebenen vermischt agierten, könne seine Wahlentscheidung nicht mehr rational und responsiv treffen. Die Entflechtung der Ebenen wurde deshalb zeitweise zum großen Thema und übte so viel Druck aus, dass schließlich eine Verfassungsänderung zwischen Bund und Ländern in der sogenannten Föderalismusreform I vereinbart wurde.17 Das führte dazu, dass der Bund ein ganzes Stück weit seinen goldenen Zügel verlor, mit dem er vorher beim Hochschulbau, bei der Hochschulrahmengesetzgebung oder bei der Schulpolitik Einfluss auf die Kompetenzausübung der Länder genommen hatte. Heute tendiert die öffentliche Meinung zum glatten Gegenteil dieser Einschätzung und hält die strengere Trennung der Ebenen für sachlichen Unfug. Das Problem für ein Gericht 15 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. Bamberg/Würzburg 1807. Kapitel V. C. b. Luhmann, Niklas: Beobachtungen der Moderne. Opladen 1992. S. 121f. 17 52. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006, BGBl I 2034. 16 89 UDO DI FABIO wie das Bundesverfassungsgericht wird sein, dass es in Zukunft die geänderte Verfassung als Maßstab nehmen muss mit ihrer Verstetigung einer ephemeren Meinung der Vergangenheit und womöglich dann für seine Uneinsichtigkeit gescholten wird, weil die strikte Trennung der Ebenen ein normativer Anachronismus sei. Die rasche Reaktion der Tagespolitik auf öffentliche Stimmungen schlägt sich also legislativ nieder und kann von Gerichten, die sich weiter an Gesetz und Recht gebunden fühlen, nicht einfach ignoriert und der geltende Verfassungstext durch neue tagespolitische Einsichten ersetzt werden. Wir sehen also, die Autorität der Gerichte ist nicht verschwunden, neue Mitspieler sind hinzugetreten, aber Gerichtsbarkeit insgesamt wird durch das Bedürfnis nach unmittelbar wirksamer Entscheidung und der Tendenz zur Situationsadäquanz politischen Handelns geschwächt, zumal die öffentliche Meinung Gerichte ebenfalls am Maßstab des gerade für vernünftig Gehaltenen misst. Im selben Augenblick versuchen viele zugleich die Postmodernität des nicht mehr so sehr autoritativ entscheidenden, sondern verhandelnden politischen Systems durch eine Stärkung der Autorität der Gerichte gerade in Wertefragen zu kompensieren. Die verlorene Einheit der Gesellschaft soll in der autoritativen Verkündung letzter Werte, etwa der Würde des Menschen, noch einmal hergestellt werden. Die Verkündung einer zivilgesellschaftlichen Ethik und die Formulierung immer neuer sozio-kultureller Mindeststandards würde aber Gerichte und das Recht auf ein falsches Feld locken, zu einer gefährlichen Moralisierung und Politisierung des Rechtssystems führen. Denn die eigentliche Autorität der Gerichte und des Rechtsstaates liegt in ihrem Eigensinn, methodisch das politisch vorentschiedene Gesetz auf den Einzelfall anzuwenden und die Folgen dafür in die Verantwortungssphäre des politischen Systems zu lozieren. Das klingt verantwortungsscheu, ist aber genau das, was Demokratie und Gewaltenteilung von Gerichten verlangen und was die Substanz ihrer Autorität ausmacht. 90 Die Autorität des Deutschen Bundestags im Spannungsfeld zwischen europäischen Vorgaben und gesellschaftlichen Anforderungen V O N S T E FA N R U P P E R T 1. Einleitung Das Wort Autorität schillert in der Postmoderne. Die Nähe zum Autoritären beschädigt seine Autorität für meinen Hörer. Wohlwollender ist Friedrich Kluges etymologisches Wörterbuch, das als Synonyme die Worte »Ansehen« aber auch »Glaubwürdigkeit nennt.1 Immer wieder wechselt die Zuschreibung von Autorität. Auf der einen Seite steht das eher personale Element: Einzelne, meist mit besonderer Stellung, sozialem Status oder persönlicher Weisheit versehene Menschen genießen Autorität. Auf der anderen Seite steht immer wieder die Autorität von Institutionen. Deren Autorität wiederum speist sich aus sozialer Akzeptanz, besonderer Legitimation und nicht zuletzt aus dem Ansehen der Personen, die für die Institution stehen. Letzteres klingt etwa bei der Gauck- bzw. Birthler- oder Jahnbehörde mit. Die Riester-Rente oder die Hartz IV-Gesetzgebung stellte einen zumindest im zweiten Fall missglückten Versuch dar, die Autorität der Person für die Normakzeptanz nutzbar zu machen. Dem Rechtshistoriker ist die etwas vergessene römisch-rechtliche Bedeutung bis in viele Kodifikationen des neunzehnten Jahrhunderts geläufig: Autorität steht danach für die Garantie, die ein Verkäufer dafür gibt, dass der gekaufte Gegenstand von einer außenstehenden Person wie dem Eigentümer heraus verlangt wird.2 Für den Kontext dieser Tagung ist aber eine etwas andere Verwendung des Begriffs der Autorität, der auctoritas von besonderer Bedeutung. Auch sie stammt aus dem antiken Rom. Die Rechte des römischen Senats, Volksbeschlüsse zu bestätigen und den Magistrat zu beraten, wurden mit dem Begriff der auctoritas bezeichnet. Teilweise wurde das Wort deshalb auch zum Synonym für die Institution des Senats 1 2 Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der Deutschen Sprache. Berlin 1995. S. 69. Vgl. Rabe, Horst: »Art. Autorität.« In: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1. Stuttgart 1972. S. 382-406, hier S. 382. 91 STEFAN RUPPERT selbst. Auch hier ist ihm ein personales Element eigen, beruhte doch die Autorität des Senats wesentlich auf der Herkunft und den Fähigkeiten seiner Mitglieder.3 Der direkte Übergang vom römischen Senat zum Deutschen Bundestag, als dessen Mitglied ich heute dessen Autorität beleuchte, ist zugegeben etwas bemüht. Der Deutsche Bundestag konkurriert, wenn es um Anerkennung geht, qua Verfassungsrecht mit anderen institutionellen Autoritäten in Deutschland. Als Teil der Legislative schneidet das deutsche Parlament in seiner Wahrnehmung als Autorität im Vergleich zu anderen Organen der Judikative und Exekutive leider oftmals schlechter ab. Diese Skepsis hat eine immer wieder angeführte deutsche Tradition, die mit der Bezeichnung von der »Schwatzbude«, aber auch mit theoretischen Konzeptionen der Staatsrechtslehre des neunzehnten Jahrhunderts verbunden ist. In der Staatsrechtslehre des Positivismus, etwa bei Paul Laband, stand der einheitliche staatliche Wille im Zentrum. Dieser wurde wesentlich vom Monarchen mit Hilfe seines bürokratischen Apparats gebildet. Für die Bildung dieses einheitlichen Willens sollte das Parlament lediglich eine Art »rechtsstaatliche« Beschränkung« gewährleisten.4 In diesem Verständnis wird das Parlament also gerade zur autoritätszerstörenden Institution. Konservativeren Staatsrechtslehrern wie Otto Mejer oder Karl Rieker erschien der Reichstag des Kaiserreichs als ausgleichende Institution zwischen Staat und Gesellschaft oder abwertender als Vertretung wirtschaftlicher und sozialer Sonderinteressen gegenüber dem monarchischen Staat.5 Auch hier wird staatliche Autorität eher beschränkt als erzeugt. Auf die Weimarer Staatsrechtslehre mit ihrer durchaus präsenten Skepsis gegenüber dem Parlamentarismus und das Versagen in der deutschen Parlamentsgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts will ich hier nur kurz hinweisen. Der Deutsche Bundestag bezieht seine Autorität zunächst aus dem Grundgesetz. Seine Autorität beruht gerade auf der gelungenen Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative. Dieses weitgehend statische Das reale Ansehen des Element, das auf Normativität beruht, verleiht der Autorität des Deutschen Bundestags ist historischen KonParlaments aber noch keine Ewigkeitsgarantie. Vielmehr ist das junkturen unterworfen. reale Ansehen des Deutschen Bundestags historischen Konjunkturen unterworfen. Das hat Gründe. Zum einen ist die Wahrnehmung des Bundestags innerhalb der deutschen Bevölkerung interessant. Der Frage, ob das deutsche Parlament als Autorität wahrgenommen wird, kann man sich über Umfragewerte 3 Vgl. Rabe: Autorität. S. 383. Vgl. Schönberger, Christoph: Das Parlament im Anstaltsstaat. Zur Theorie parlamentarischer Repräsentation in der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs (1871-1918). Frankfurt am Main 1997. S. 405. 5 Vgl. Schönberger: Parlament im Anstaltsstaat. S. 318, S. 321ff. 4 92 D I E A U T O R I TÄT D E S D E U T S C H E N B U N D E S TA G S nähern. Die geäußerte und veröffentlichte Meinung ergibt aktuell ein wenig schmeichelhaftes Bild. Zu dessen Ergänzung muss aber unbedingt die Wahlbeteiligung mit herangezogen werden. Denn Wahlen sind der eigentliche Indikator für die Legitimität einer Institution. Sie spiegeln das Vertrauen der Wähler in die Institution wider und bringen somit die wahrgenommene Autorität des Bundestags zum Ausdruck. Offensichtlich hat sich der traditionell von der Bevölkerung gewährte Vertrauensbonus für den Deutschen Bundestag im Laufe der Jahre abgeschwächt. Der reine Wahlakt der repräsentativen Demokratie mit seinem recht pauschalen Auftrag, vier Jahre Gesetze zu erlassen und die Regierung zu kontrollieren, scheint entwertet gegenüber Formen der direkten Demokratie, der Teilnahme vor Ort, des Betroffenseins im doppelten Sinne. Als Anhänger der repräsentativen Demokratie bin ich der Auffassung, dass das deutsche Parlament um seine Autorität kämpfen muss, dies aber durch Stärkung, nicht durch Entmachtung. Dem will ich mich zunächst widmen. In einer zweiten Betrachtung geht es um das Verhältnis der Institutionen untereinander. Neben dem Verhältnis von Bundestag und Wahlvolk ist ferner bedeutsam wie Judikative, Exekutive und Legislative sich gegenseitig als Autoritäten wahrnehmen und verstehen. Dieses institutionelle Arrangement ist durch die europäische Integration nachhaltig in Bewegung gekommen. Die bekannten und gut angesehenen Institutionen geraten unter Autoritätskonkurrenzdruck. Das Bauwerk der Verfassung zeigt bemerkenswerte Flexibilität bei dieser Integration ins deutsche Verfassungsleben. Gleichwohl ächzt und knarrt es laut im Gebälk der Verfassungsautorität. Konkret werde ich ein paar Bemerkungen zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts machen.6 Hier wird deutlich, welche Autorität dem Deutschen Bundestag im weiteren europäischen Integrationsprozess zukommen sollte und wie er seine Autorität gegenüber der Exekutive und europäischen Institutionen stärken kann. 2. Institutionelle Autorität des Bundestags aus Sicht der Bevölkerung 2.1 Umfragen als Indikator für wahrgenommene Autorität In einer Zeit, in der Politik stark personalisiert wird, sind Umfragen über die Glaubwürdigkeit und Beliebtheit von Politikern omnipräsent. Wöchentlich werden Ranglisten von deutschen Politikern aufgestellt und medial ausgiebig ausgewertet. Meist geben diese Ranglisten Stimmungsrückkopplungen zum tagespolitischen Geschehen wieder. Weniger häufig zu finden sind hingegen Befragungen zum grund6 BVerfG, 2 BvE 2/08. 93 STEFAN RUPPERT sätzlichen Vertrauen der Bevölkerung in die Institutionen unseres demokratischen Rechtsstaates.7 Die Ergebnisse einiger dieser Erhebungen ergeben historisch gesehen ein teils sehr widersprüchliches Bild. Dies ist einerseits durch unterschiedliche Auffassungen von Vertrauen zu erklären. Andererseits sind die Spannungen zwischen den Erwartungen der Bevölkerung an die entsprechenden Institutionen und der faktischen Wahrnehmung der Autorität ein weiterer Faktor. Auch mediale Politikvermittlung sowie symbolische Selbstdarstellung der Organe verursachen teils Widersprüche und Variationen in den Untersuchungen. Dennoch lassen sich über einen längeren Zeitraum zwei generelle Trends erkennen: Erstens liegt der Bundestag als verfassungsrechtliche Institution im Vertrauen der Bevölkerung auf einem mittleren Rang. Andere Institutionen wie das Bundesverfassungsgericht oder auch Exekutivorgane wie Bundeswehr und Polizei genießen meist höheres Vertrauen als der Bundestag. Auf der anderen Seite schneidet die Bundesregierung in Vertrauensfragen oftmals schlechter ab als das Parlament, ganz zu schweigen von politischen Parteien als verfassungsrechtlich garantierte Institutionen. Zweitens hat das Vertrauen in den Bundestag seit Gründung der Bundesrepublik tendenziell abgenommen. Sprachen in den 1980ern und Anfang der 1990er Jahre noch bis zu drei Viertel der Bevölkerung dem Bundestag als Institution ihr Vertrauen aus, gingen diese Zustimmungswerte danach auf teilweise deutlich unter fünfzig Prozent zurück.8 Leichte Erholungen sind jedoch in der jüngeren Vergangenheit zu beobachten.9 Dennoch ist der Gegensatz zum Vertrauens-Primus der Deutschen, dem Bundesverfassungsgericht, erkennbar. Das höchste deutsche Gericht musste zwar ebenso einen geringfügigen Vertrauensverlust verzeichnen, drei Viertel der Bevölkerung vertrauen der Institution aber nach wie vor.10 Sicherlich sind die Startbedingungen für das Erreichen von Autorität zwischen Bundestag und Bundesverfassungsgericht in einer deutlich entpolitisierten Öffentlichkeit nicht vergleichbar. Der Bundestag übt konkrete gesetzgeberische Gestal- 7 Vgl. u.a. Kunze, Dirk: Die Rezeption parlamentarischer Symbolik in der Bevölkerung. Eine qualitative Studie zur Wahrnehmung des Deutschen Bundestages. Norderstedt 2008. S. 13-20; Patzelt, Werner J.: »Warum verachten die Deutschen ihr Parlament und lieben ihr Verfassungsgericht? Ergebnisse einer vergleichenden demoskopischen Studie.« In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 3/2005, S. 517-538; Schindler, Peter: Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999. Berlin 1999, S. 3462-3541; Schüttemeyer, Suzanne S.: Bundestag und Bürger im Spiegel der Demoskopie. Opladen 1986. 8 Vgl. Schindler: Datenhandbuch zur Geschichte. S. 3534. Infratest Dimap: Vertrauen der Bürger in die Politik gestiegen. URL: http://www.infratest-dimap.de/service/presse/aktuell/vertrauen-der-buerger-in-die-politikgestiegen/ (02.05.2011). 9 Vgl. ebd. 10 Vgl. ebd. 94 D I E A U T O R I TÄT D E S D E U T S C H E N B U N D E S TA G S tungsmacht aus und muss dabei häufig in sehr manifesten Interessenkonflikten entscheiden, die in Teilen der Gesellschaft auf Ablehnung stoßen. Demgegenüber steht die allgemeine Deutungshoheit des Bundesverfassungsgerichts, dessen Entscheidungen meist grundsätzliche verfassungsrechtliche Werte Der Bundestag begeht betreffen und dabei auf den gesellschaftlichen Konsens abzie- einen Fehler, wenn er len.11 In der Mediendemokratie erscheint mir aber zudem eine sich Autorität aus dem merkwürdige Spannung zwischen Öffentlichkeit und Arkanbe- Imitieren Karlsruhes erhofft. Seine Stärke muss reich zu bestehen. Das Urteil aus Karlsruhe ist scheinbar endgül- der Kern der hochpolitig, sein Zustandekommen unterliegt dem Beratungsgeheimnis. tischen Debatte und der Kontrolle der Regierung Die hochkomplexe Organisation des Bundestags und seiner bleiben. Ausschüsse tagt richtigerweise weitgehend öffentlich. Die Vermittlung der Entscheidungswege ist gleichwohl undurchschaubar und wegen des Massengeschäfts auch weitgehend untauglich für die mediale Vermittlung. Die vielen weisen Entscheidungen des Gerichts können das gesetzgeberische Suchen und Finden von teils stark politisierenden, manchmal unpopulären und nicht immer einfachen Lösungen für gesellschaftliche Probleme nicht kompensieren. Allein wegen dieser unterschiedlichen Rollenverteilung wird der autoritative Glanz des höchsten deutschen Gerichts gemessen am Vertrauen der Bevölkerung auch zukünftig kaum vergehen. Der Bundestag beginge aber einen Fehler, wenn er sich Autorität aus dem Imitieren Karlsruhes erhoffte – seine Stärke muss der Kern der hochpolitischen Debatte und der Kontrolle der Regierung bleiben. 2.2 Wahlbeteiligung als Indikator der wahrgenommenen Autorität Als zweiter Indikator soll an dieser Stelle kurz auf die Wahlbeteiligung zum Deutschen Bundestag eingegangen werden. Die direkten Wahlen bringen der zu wählenden Institution Vertrauen. Wahlen sind damit gleichsam ein Gradmesser für die Legitimität und Autorität der betreffenden Institution, gerade in am input orientierten, demokratischen Systemen. Beurteilt man anhand der Wahlbeteiligung die Autorität des Bundestags, so zeigt sich ein positiveres Bild im Vergleich zum vorherigen Befund: Die Beteiligung der Bevölkerung bei den Wahlen zum Bundestag ist mit Ausnahme der letzten Wahl 2009 (70,8 Prozent) relativ konstant im hohen Bereich zwischen rund 78 und 91 Prozent geblieben, freilich mit einem leichten Absinken nach der Wiedervereinigung.12 Damit liegt der Bundestag im internationalen Vergleich der Wahlbeteiligung immer noch im oberen Drittel.13 11 Vgl. Patzelt: Warum verachten. S. 536f. Vgl. Zahlen des Bundeswahlleiters. URL: http://www.bundeswahlleiter.de (02.05.2011). 13 Vgl. Daten des International Institute for Democracy and Electoral Assistance. URL: http://www.idea.int/ (02.05.2011). 12 95 STEFAN RUPPERT Vor allem lohnt aber ein Blick auf innerdeutsche Landtags- und Kommunalwahlen sowie die Wahlbeteiligung zum Europäischen Parlament. Im Vergleich zu anderen Organen war die Beteiligung bei den bundesdeutschen Wahlen stets höher.14 Gravierend ist der Unterschied zum EU-Parlament: Die Wahlbeteiligung bei der Europawahl in Deutschland hat seit 1979 (65,7 Prozent) auf einem im Vergleich zur Bundestagswahl niedrigeren Niveau noch weiter abgenommen (2009: 43,3 Prozent). Dies mag einer generellen Skepsis gegenüber dem politischen System der EU geschuldet sein. Die große Differenz ist mit Sicherheit auch Ausdruck einer unterschiedlichen autoritativen Wahrnehmung des Bundestags und des EU-Parlaments. In der Summe korrigiert der Indikator Wahlbeteiligung demnach das Bild vom Autoritätsverlust des Bundestags etwas, das sich aus den Umfragen zum Vertrauen gegenüber der Institution ergibt. Sitzung des Europaparlaments in Straßburg 3. Institutionelle Autorität des Bundestags im Spiegel des LissabonUrteils des Bundesverfassungsgerichts Das Verhältnis zwischen Legislative und Judikative ist nicht nur vor dem Hintergrund der oben skizzierten Vertrauensfrage interessant. Im Folgenden werde ich das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts als Fallbeispiel verwenden, um deutlich zu machen, dass der Bundestag zur Wahrung seiner Autorität im europäischen Integrationsprozess einmal mehr eines Hinweises aus Karlsruhe bedurfte. Während in der frühen Phase des europäischen Einigungsprozesses die nationalen Parlamente eher marginale Mitspieler im Entscheidungsprozess waren, traten sie mit der Verdichtung zur politischen Union, also mit dem Schritt von der EG zur EU, immer stärker auf die europäische Bühne. Ein großer Schritt für die Beteili14 Vgl. Zahlen des Bundeswahlleiters. 96 D I E A U T O R I TÄT D E S D E U T S C H E N B U N D E S TA G S gungsrechte der nationalen Parlamente vollzog sich mit der Einigung auf den Vertrag von Lissabon, der den nationalen Gesetzgebungsorganen teils weitreichende Befugnisse einräumte.15 Die Bundesländer haben in diesem Prozess über den Bundesrat massiv auf ihren Einfluss auf die europäische Integration bestanden.16 Im Gegensatz dazu war das europapolitische Selbstbewusstsein des Bundestags weniger stark ausgeprägt. Vielmehr war ein Anstoß durch das oberste Verfassungsgericht im Zuge des Lissabon-Urteils notwendig. In seiner Entscheidung hob Karlsruhe bekanntlich eine fortwährende Integrationsverantwortung des Bundestags im europäischen Einigungsprozess hervor.17 Das Bundesverfassungsgericht knüpfte die Ratifizierung des LissabonVertrags an den Erlass eines Gesetzes, in welchem sich die konkret ausgestalteten Instrumente und Mitwirkungsrechte des Bundestags niederschlagen sollten. Diese Konkretisierung der Rolle des Bundestags im europäischen Mehrebenensystem durch das Karlsruher Urteil ist ein bemerkenswerter Vorgang. Der Richterspruch des Bundesverfassungsgerichts hat jedoch unmissverständlich deutlich gemacht, dass Karlsruhe den Bundestag im europäischen Integrationsprozess sehr wohl als Autorität ansieht und ihn deutlich anmahnt, dieser Rolle auch zukünftig zu entsprechen. Im Urteil ist diese Perspektive nicht schwer auszumachen. Das Lissabon-Urteil deshalb pauschal als integrationsfeindlich zu bezeichnen, halte ich für falsch. Die richterliche Entscheidung bietet nicht nur für die Stellung der nationalen Parlamente wie dem Bundestag erhebliche Chancen, sondern durchaus auch für den weiteren Verlauf des Projekts Europa. Die Stärkung der Rolle des Bundestags durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat den autoritativen Vorsprung der Bundesregierung gegenüber dem Parlament im Integrationsprozess etwas abgemildert. Nivellieren konnte sie ihn logischerweise nicht. Als Konsequenz daraus nehmen Parlamentarier und Vertreter der Bundesregierung ihre unterschiedliche Rollenfunktion in europapolitischen Fragen zunehmend ernster. Es erwächst auch unter Angehörigen der gleichen Partei und Fraktion eine freundschaftliche Differenz zwischen Exekutive und Legislative. Die parlamentarische Kontrollfunktion der Regierung kann auch in Fragen der europäischen Integration ausgeübt werden. Diese Stärkung ist aber auch dringend not15 Vgl. Denkinger, Miriam: Die Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages nach dem Vertrag von Lissabon. Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages. Berlin 2010. 16 Vgl. Schorkopf, Frank: »Artikel 23 GG.« In: Dolzer, Rudolf/Graßhof, Karin/Kahl, Wolfgang/Waldhoff, Christian (Hg.): Bonner Kommentar zum Grundgesetz. Bonn 2011. Rdnr. 2ff. 17 Vgl. Schorkopf: Artikel 23. Rdnr. 130. 97 STEFAN RUPPERT wendig, da der bestehende Vorsprung der Exekutiven an Mitwirkungsrechten und Autorität im Integrationsprozess durch einen weiteren Faktor begünstigt wird: dem zunehmend informellen Handeln auf europäischer Ebene. Dieses entzieht sich nicht selten der Kontrolle des Bundestags. Beispielhaft sei an dieser Stelle an eine Äußerung des Bundesfinanzministers erinnert, der vor einiger Zeit in einem Zeitungsinterview verkündete, die informell favorisierten Eurobonds seien im Moment im Bundestag nicht durchsetzbar, das bedürfe noch einiger Monate.18 Diese Aussage steht, bei aller Vorsicht, durchaus auch sinnbildlich für die autoritative Selbstwahrnehmung von Teilen der Exekutive gegenüber der Legislative. Der Deutsche Bundestag wird solchen Tendenzen selbstbewusst entgegentreten müssen, um im europäischen Mehrebenensystem den durch Lissabon gewonnenen Einfluss und die gewonnene Autorität nicht leichtfertig zu verspielen. Die Signale diesbezüglich in der täglichen Parlamentsarbeit sind noch leise aber ermutigend. Als zuständiger Berichterstatter bearbeite ich zurzeit den ersten Evaluationsbericht, der sich mit der Beteiligung des Deutschen Bundestags befasst. Subsidiaritätsrüge und -klage müssen als Instrumente neben anderen deutlich ausgebaut werden. Auch die Kooperation der nationalen Parlamente ist zu stärken, Fristen für parlamentarische Mitwirkung sind zu verlängern, weil sonst gegenüber der beweglicheren Exekutive aus Zeitmangel kein Veto eingelegt werden kann. Das Haushaltsrecht ist hoch zu halten, auch bei der Rettung des Euro. Wer solche Bausteine staatlicher Autorität zerstört, begeht einen großen Fehler. Ich sehe in der Stärkung der nationalen Parlamente im europäischen Integrationsprozess eine Chance für Europa. Nur wenn Institutionen mit Autorität wie die nationalen Parlamente und die Verfassungsgerichte bewahrt bleiben, wird die Integration gelingen. Dem europäischen Wahlrecht fehlt es nach wie vor an Legitimität, die auch nicht durch Elemente direkter Demokratie wie die europäische Bürgerinitiative behoben werden kann. Als Rechtshistoriker, der ich die langen Zeiträume betrachte, wird es mir manchmal angesichts der erwarteten Integrationsgeschwindigkeit schwindelig. Ich sage dies als überzeugter Europäer, dem daran gelegen ist, dass die großartige Idee Europas nicht im Sog schwindender Autorität seiner Institutionen untergeht. 4. Autoritative Anpassungsbemühungen des Deutschen Bundestags Ein letztes Schlaglicht widme ich der Parlamentsreform, auf der Hoffnungen für die Stärkung parlamentarischer Autorität ruhen. Während sich die Bereitschaft zur Wahrung der Integrationsverantwortung des Bundestags in europäischen Angele18 Siehe Interview mit Bundesfinanzminister Schäuble in der Financial Times: »Financial markets do not understand the euro.« URL: http://www.ft.com/cms/s/0/4f522e88-0098-11e0-aa29-00144feab49a. html#axzz1TxBcWpDk (05.12.2010) 98 D I E A U T O R I TÄT D E S D E U T S C H E N B U N D E S TA G S genheiten erst zaghaft zu entwickeln beginnt, ist man in Bezug auf das hiesige Autoritätsverhältnis schon etwas weiter. Fraktionsübergreifend hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass sich die Autorität des Parlaments im politischen System der Bundesrepublik seit 1949 abgeschwächt hat. Abgeordnete müssen in die Lage versetzt werden, eine Kontrollfunktion auszuüben. Parlamentarische Abläufe müssen entschlackt werden. Das verfassungsrechtlich legitimierte Zentrum der Repräsentativdemokratie beginnt sich mit neuen und erstarkten Autoritäten in Politik und Gesellschaft zu messen. Und dies nicht erst seit den Protestbewegungen gegen Stuttgart 21 und das Energiekonzept der Bundesregierung. Ausdruck dieses Prozesses sind eine Reihe von Anpassungsbemühungen und Reformbestrebungen der Parlamentarier, die darauf abzielen, die Autorität des Bundestags zu stärken. Wie das Lissabon-Urteil den Bundestag gestärkt hat, muss der Bundestag seine Verantwortung selbstbewusster wahrnehmen. Die Ideen zu einer Parlamentsreform betreffen notwendigerweise das Verhältnis zur Exekutiven. Bundestagspräsident Norbert Lammert hat schon zur Zeit seines Amtsbeginns im Jahre 2005 einen Satz gesagt, der sinnbildlich für diese Reformvorhaben steht: »Das Parlament ist […] nicht das Vollzugsorgan der Regierung, sondern ihr Auftraggeber.«19 Einige dieser grundsätzlich begrüßenswerten Reformbemühungen will ich kurz benennen: Erstens sollen gesamtgesellschaftlich bedeutsame Gesetzgebungsvorhaben in Zukunft gründlicher im Parlament beraten werden. Hierzu muss der Bundestag auch größeres Selbstbewusstsein gegenüber den Zeitplänen der Bundesregierung zeigen. Ein Durchpeitschen des Gesetzgebungsprozesses, das in der Vergangenheit nicht selten zu beobachten war, fördert sicher nicht die institutionelle Autorität des Parlaments. Zweitens sollen ebenso einige vielleicht liebgewonnene, aber wenig wirkungsvolle Elemente des parlamentarischen Geschäfts überdacht werden. Die Befragung der Bundesregierung ist beispielsweise in ihrer derzeitigen Form Nicht unnötiger Streit, wenig substanzvoll. Abgeordnete versuchen vermeintlich findige aber hochpolitische Fragen zu stellen, die die parlamentarischen Staatssekretäre dann Debatten sind Stärke geschickt zu umgehen versuchen. Eine echte Regierungsbefra- und Autorität des Parlaments. gung nach britischem Vorbild wäre hier eine denkbare Alternative, die auch die Autorität des Bundestags gegenüber der Bundesregierung stärken könnte. Wenn Parlamentarier ihre ureigene Funktion der politischen Debatte nicht leidenschaftlicher ausüben, wird die Autorität weiter sinken. Nicht unnötiger Streit, 19 Hildebrandt, Tina/Schmidt, Thomas E. (2005): Interview mit Norbert Lammert. In: Zeit Online. URL: http://www.zeit.de/2005/43/InterviewLammert (02.05.2011). 99 STEFAN RUPPERT aber hochpolitische Debatten sind Stärke und Autorität des Parlaments. Das schließt den oft negativ bewerteten politischen Kompromiss ausdrücklich ein. Meines Erachtens tritt in manchen Verfassungsgerichtsurteilen gerade der jüngsten Zeit ein fehlendes Verständnis vom politischen Prozess zutage. Der politische Kompromiss ist nicht mit juristischer Dogmatik vergleichbar. Interessengegensätze sind nicht immer logisch auflösbar. Sie führen zu Widersprüchlichkeiten und vorläufigen Lösungen, die bald wieder revidiert werden können. Drittens würden die beiden ersten Schritte auch durch eine Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre positiv begleitet. Ein solcher Reformweg würde das Demokratieprinzip nicht beschneiden. Vielmehr könnte die Arbeit der Parlamentarier von der längeren Amtszeit profitieren und damit auch die Autorität des gesamten Hauses erhöht werden. Parallel zu diesen Überlegungen über eine Parlamentsreform muss der Bundestag ebenso seine Autorität im Verhältnis zur Bürgergesellschaft verbessern. Dies lässt sich am ehesten erreichen, wenn der Bundestag das Agenda-Setting für ein Mehr an Bürgerbeteiligung öffnet. Beispielsweise sollen Petitionen, die innerhalb von zwei Monaten über einhunderttausend Unterstützer finden, in Zukunft in einer Art »Bürgerstunde« im Bundestag und den betroffenen Ausschüssen beraten werden. Setzt sich das Parlament zukünftig mit den Massenpetitionen stärker als bisher auseinander, kann so sicher vermeintlich verloren gegangenes Vertrauen der Bürger in die parlamentarische Institution zurückgewonnen werden. Des Weiteren können sich Bürger durch die Nutzung neuer Medien wie dem Internet an parlamentarischen Diskussionen aktiv beteiligen. Das große Interesse an der Begleitung der sogenannten Internet-Enquete verdeutlicht, dass das Parlament einen guten Weg gegangen ist. Diese beiden Maßnahmen belegen exemplarisch nur erste Schritte einer Öffnung; das Ziel der Stärkung der Bürgerbeteiligung bleibt ein langfristiges Anliegen. 5. Fazit Der Deutsche Bundestag hat als Institution in der Vergangenheit an Autorität verloren. Dieser Befund ergibt sich aus der durch Umfragen ermittelten Wahrnehmung der Bevölkerung, auch wenn die nach wie vor hohe gesellschaftliche Partizipation bei Wahlen zum Bundestag dieses Bild leicht korrigiert. Das Fallbeispiel des Lissabon-Urteils hat gezeigt, dass es ein Konkurrent des Parlaments in der Frage der Anerkennung als Autorität war, nämlich das Bundesverfassungsgericht, der den Bundestag zu einer stärkeren Wahrnehmung seiner Gestaltungsverantwortung im europäischen Integrationsprozess angehalten hat. In diesem Feld hat der Anstoß 100 D I E A U T O R I TÄT D E S D E U T S C H E N B U N D E S TA G S Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Bundestagssitzung in Berlin 101 aus Karlsruhe auch den autoritativen Vorsprung der Bundesregierung gegenüber dem Bundestag, der sich aus den besseren Mitwirkungsmöglichkeiten im europäischen Mehrebenensystem ergibt, teilweise abgemildert. Im Wettstreit mit anderen autoritativen Konkurrenten in der deutschen Gesellschaft haben die Mitglieder der obersten Volksvertretung den Verlust an Vertrauen und Legitimität wahrgenommen. Deshalb ist eine partielle Öffnung der Prozesse des Agenda-Settings und der Gesetzgebung zu beobachten, die den Vertrauensverlust der Gesellschaft gegenüber dem Bundestag wettzumachen versucht. Im Zuge einer zukünftigen Parlamentsreform gilt es auch, die Autorität der Legislative gegenüber der Exekutive zu stärken. IV. Medien-Autoritäten: von Gutenberg bis Wikileaks Neue Medien als Chance zur Demokratisierung VON PETER VOSS 1. Vom schnellen Aufstieg zum rasanten Abstieg Als ich mich erstmals mit dem mir gestellten Thema beschäftigte, bekam ich zunächst einen leichten Schreck. Nicht wegen des Begriffs der Autorität, nicht wegen Wikileaks (obwohl ich ein sehr zurückhaltender Nutzer des Netzes bin), sondern weil ich statt Gutenberg zunächst Guttenberg gelesen und gedacht habe: Auch das noch, wieder einmal dieses Guttenberg-Bashing. Mir ist dann aufgefallen, dass Herr zu Guttenberg für die Frage, was Medien mit der Autorität machen oder wie es Autoritäten in den Medien ergeht, natürlich ein vorzügliches Beispiel wäre. Einerseits kann man die Frage stellen: Wer und was hat ihn gemacht? Waren es die Medien? Andererseits: Wer und was hat ihn gestürzt? Waren es die Medien? War es die politische Klasse? War es das Publikum, das Volk? Oder war er es selbst? Ich denke, die Wahrheit ist, dass ein bisschen von allem stimmt. Karl Theodor zu Guttenberg zeigte Eigenschaften, die weitgehend das abdecken, was wir unter Charisma verstehen, auch die viel zitierte Sehnsucht nach dem Überpolitischen. Er wollte anders sein und wurde anders wahrgenommen als der »Normalfall« des Politikers, der heute gern in die Nähe des Mauschlers, des Winkeladvokaten gerückt wird. Dazu gehörte natürlich auch die Herkunft aus einem Adelshaus – und auch die Gattin stammt aus der Familie von Bismarck. Anscheinend gibt es eine tiefe Adelssehnsucht in Deutschland. Dann wirkte das – nach den heutigen Maßstäben junger Leute – gute Aussehen, auch die geschliffene Rhetorik; Herr zu Guttenberg war in der Lage, spontan komplexe Gedanken druckreif auszudrücken. Auch ein gewisser Schneid wurde ihm zugebilligt. Man kannte seine Chuzpe, Dinge scheinbar offener anzusprechen als andere, zum Beispiel die Frage nach dem Krieg in Afghanistan oder nach der Problematik staatlicher Hilfen für Opel. Er hatte sein Auftreten als Wirtschaftsminister im Falle Opel gekoppelt mit einer – nicht ernst gemeinten – Rücktrittsdrohung und 104 N E U E M E D I E N A L S C H A N C E Z U R D E M O K R AT I S I E R U N G wollte immer schnell beweisen – das war immer das Kalkül –, er sei anders. Vielleicht ist er auch darüber gestürzt. Ein etwas anderes, aber nicht ganz unähnliches Phänomen, wenn auch mit anderen Voraussetzungen und Gründen, erkennen wir übrigens bei Guido Westerwelle. Die Gründe für den schnellen Aufstieg, soweit sie in seiner Person lagen, waren auch die Gründe für den schnellen Sturz von Herrn zu Guttenberg. Was haben die Medien damit zu tun? Zunächst, dass die Medien ihn anfangs hochgejubelt und hochgeschrieben haben, weil er diese offenkundigen oder vermeintlichen Vorzüge hatte. Und die Medien haben ihn dann auch relativ schnell wieder gestürzt. 2. Die Rolle der Medien Bei beiden Bewegungen haben auch die neuen Medien, hat das Netz eine Rolle gespielt. Obwohl Herr zu Guttenberg im Netz eine große Fangemeinde hatte – zahlenmäßig wohl Hunderttausende, die ihn unterstützt haben –, hat die Gruppe der kritischen Bildungsbürger gemeint, dass man sich mit Plagiaten keinen Titel ergattern dürfe. Es waren nur ein paar Zehntausend, aber sie waren wichtig, vor allem als CDU-Klientel. Sie haben eigentlich im Verbund mit der FAZ und anderen Zeitungen bewirkt, dass die Linie, die man zuerst wahrgenommen hatte (»Ist doch alles nicht so schlimm« und »Haben wir nicht alle schon mal irgendwie in der Schule abgeschrieben?«), letztlich überspielt wurde. Solche Phänomene gab es schon öfter. Auch Gerhard Schröder wurde sehr schnell hinauf- und dann wieder heruntergeschrieben. Als er hinaufgeschrieben wurde, hat er sich nicht beklagt; als er heruntergeschrieben wurde, allerdings sehr. Ich will deshalb als erstes die These aufstellen, dass die Medien noch keinen Politiker aus eigener Kraft bedeutend gemacht oder zerstört haben. Sie sind allerdings, wenn man so will, Brand-Beschleuniger. Die Medien handeln mit einem gewissen Meute-Verhalten, positiv oder negativ, keiner will einen Trend verpassen. Sie wittern sozusagen: »Der kommt an. Das ist ein guter Typ. Das ist mal was anderes, das ist erfrischend« und marschieren dann alle in eine Richtung. Es folgen die bekannten Homestories und das Bild formt sich in der Vielzahl von Berichten. Wenn dann ein paar Fehler bekannt werden und man spürt: »Die Stimmung könnte kippen«, dann schwenken die Medien um. Sie verstärken jeweils die Tendenz, aber ich glaube, dass sie diese nicht machen. Kein einzelner Journalist kann sich hinsetzen und sagen: »Ich beschließe jetzt, diesen Politiker groß zu machen.« Dies könnten allenfalls einzelne mächtige Verlagshäuser. Es konnten schon früher Instanzen wie der SPIEGEL oder wie der Springer-Verlag mit Bild viel bewegen, bewirken und auch verhindern. Aber sie können es nicht aus dem Nichts heraus. 105 PETER VOSS Die heutige Medienlandschaft einschließlich des hinzugetretenen Internets und aller seiner Ableger und Varianten führt allerdings zu einer Beschleunigung dieses Prozesses. Das Hochjubeln wie das Herunterschreiben geht sehr viel schneller als etwa zu Zeiten von Konrad Adenauer. Journalisten waren dabei immer auch Akteure im politischen Diskurs, haben sich so verstanden und sind auch so instrumentalisiert worden. Sicher waren und sind es nicht alle, aber viele. Ich will auf Max Weber hinweisen, der die Metapher geprägt hat: »Politik ist das geduldige Bohren dicker Bretter mit Leidenschaft und Augenmaß.« Die eben beschriebene Beschleunigung der medialen Prozesse ist ein Kennzeichen einer Situation, in der es objektiv schwerer wird, eine bestimmte politische Haltung, Linie oder Überzeugung zu bewahren. Dies gilt besonders für große politische Projekte, wenn sie nicht extrem populär sind oder wenn sie nicht umgekehrt wie bei der Abschaltung der Atomkraftwerke Urängste wachrufen. Insofern gibt es aus meiner Sicht hier sehr wohl eine größere Volatilität im Wählerverhalten. Meines Erachtens gilt das auch für die Parteien. Es scheint, dass der »harte Kern« der jeweiligen Wählerschaft mit ihrer Priorität für das, was für sie sozialdemokratisch war oder christlich-demokratisch war, bei den Wahlen enttäuscht wurde. Das kam aber lediglich als Grund für die wachsende Schwäche der Parteien hinzu. Man darf nicht übersehen, dass der jeweilige Bestand an Stammwählern und Mitgliedern insgesamt kleiner geworden ist. Die Zahl der Beeinflussbaren, die Wechselwähler oder Wahlabstinenten, die von Fall zu Fall entscheiden, ist gestiegen und weist auf ein höheres Maß an Volatilität im Wählerverhalten hin. Es ist dann umso problematischer, wenn man den »harten Kern« der Wähler, der ohnehin langsam schmilzt, noch zusätzlich enttäuscht, weil man etwa einen Kurswechsel vornehmen muss und ihn nicht vermitteln kann. Medien sind Verstärker dieser Tendenzen, und das war schon immer so. Doch manche technische Innovationen – und damit komme ich dann wenigstens der guten Ordnung halber auch zu Johannes Gutenberg – sind in ihrer unglaublich umwälzenden Wirkung nur mit inhaltlichen Umbrüchen und Paradigmenwechseln erklärbar. Das gilt für Gutenberg und seine Erfindung der Nicht ein technisches Druckerpresse. Man übersieht leicht, dass kurz nach Gutenbergs Medium, sondern eine mit ihm verbundene Erfindung der Reformator Martin Luther kam. Der Bibelüberradikale, neue Idee setzer Luther wollte, dass jedermann das Wort Gottes unmittelbringt den Paradigmenbar verstehen kann. Dafür brauchte er den Buchdruck. Beides wechsel. zusammen hat eine Kulturrevolution in Gang gesetzt, die wohl auch sonst irgendwann gekommen wäre, aber vermutlich nicht mit dieser Wucht bis hin zum Dreißigjährigen Krieg gewirkt hätte. Es ist nicht die Erfindung eines technischen Mediums alleine, die die Rahmenbedingungen dramatisch verändert, son106 N E U E M E D I E N A L S C H A N C E Z U R D E M O K R AT I S I E R U N G dern auch eine völlig neue Idee, eine Bewegung mit einem radikal anderen Ziel, ein wirklicher Paradigmenwechsel. Dann erst entsteht eine Umwälzung. Fraglich ist, ob das auch für Wikileaks gilt. Wikileaks ist das Werk vor allem von Julian Assange, der sich als Aufklärer in einer Informationsgesellschaft versteht. Die Entwicklung auf dem Feld der neuen Medien, die ganze Diskussion über die sozialen Medien wie Facebook und Twitter drehen sich ja am Ende immer um die Frage: Was bedeuten sie eigentlich für die demokratische Orientierungsfähigkeit von Bürgern? Was bewirkt diese neue Transparenz? Ich sehe die Entwicklung noch sehr ambivalent und traue mir noch nicht zu, sie schon zu beurteilen. Eins ist das Internet für mich jedenfalls nicht: der »Große Bruder« im Sinne George Orwells. Das war eher der alte Volksempfänger unseligen Angedenkens. Das Internet ist zunächst eine riesige Freiheitschance, eine enorme Chance zur Demokratisierung. Jeder wird sein eigener Sender, sein eigener Programmdirektor, sein eigener Journalist und nicht nur Empfänger von Information. Auf Diktaturen kann es »zersetzende« Effekte haben, wenn es diesen nicht gelingt, die Freiheit im Netz zu unterbinden. Was richtet das Netz aber sonst noch an? Bei Wikileaks war ich schon etwas erschrocken, vor allem wegen der Willkür, mit der die medialen Angriffe durchgeführt und geheime Informationen publiziert wurden. Das reicht ja von der Gefährdung von Menschenleben bei Nennung von Namen bestimmter Menschen bis hin zur Frage, warum nur die Amerikaner oder nur Demokratien und nur bestimmte Unternehmen ausgespäht werden, aber etwa China oder der Iran nicht. Der diplomatische Informationsverkehr der amerikanischen Botschaften mit dem ganzen »Berliner Dorfklatsch«, den man da etwa über Guido Westerwelle lesen konnte, war harmlos und uninteressant. Aber wenn ein saudischer König den Amerikanern in Bezug auf den Iran vertraulich empfiehlt: »Schlagt der Schlange den Kopf ab«, dann finde ich die Preisgabe solcher Informationen außerordentlich problematisch. Ohne Zweifel ist zum Beispiel eine erfolgreiche Friedensdiplomatie im Nahen Osten ohne Vertraulichkeit überhaupt nicht möglich. Ich bin mir aber auch ganz sicher, dass ohne das Internet die arabische Revolution nicht so in Gang gekommen wäre. So etwas setzt natürlich auch voraus, dass eine ausreichende Zahl junger Menschen vorhanden ist, die mit den neuen Medien umgehen können. 3. Urheberrecht und Sicherheit Wichtig ist für mich die Frage, wie wir die Balance von Freiheit und Sicherheit in Bezug auf das Netz immer wieder neu austarieren. Da geht es ums Urheberrecht und um persönliche Daten genauso wie um Mobbing, wo eine Art rechtsfreier Raum droht, weil es leicht ist, über einen Server irgendwo in einem fremden Land 107 PETER VOSS eine andere Person niederzumachen. Da sind in der Tat Probleme entstanden, die man nicht bagatellisieren darf. Ich habe noch keine Antwort darauf. Für mich darf es auf jeden Fall keine unterschiedlichen rechtlichen Maßstäbe im Netz und außerhalb des Netzes geben. Wenn eine Verleumdung verfolgt wird, dann muss auch die Verleumdung im Netz verfolgt werden. Oder darf die Polizei hier sagen, sie könne nichts unternehmen, nur weil es sie einige Mühe kostet, den Absender zu ermitteln? Gibt es da etwa schon eine Art von Resignation, weil das Netz so schnell ist und weil es so schwer ist, Täter und missbräuchliche Nutzer aufzuspüren, sodass man in solchen Fällen gleichgültig mit den Achseln zuckt? Die Urheberrechtsfrage zum Beispiel finde ich spannend, weil auch behauptet wird, was einmal öffentlich sei, das sei eben da und jeder dürfe es verwenden. Was bedeutet es denn, wenn sich jeder alles herunterladen kann? Es bedeutet, dass zum Beispiel ein Komponist nicht mehr von seiner Arbeit leben kann. Wir erleben bereits eine kulturelle Veränderung im Netz und durch das Netz, es sei denn, man hält daran fest, das Urheberrecht auch dort durchzusetzen. Vielleicht wird ein künftiges Urheberrecht nicht mehr so streng sein. Ich meine nur, dass es letztlich nicht zweierlei Kriterien des Rechts oder der Anwendung des Rechts und seiner Durchsetzbarkeit geben darf. 4. Neue Trends in der Berichterstattung Wenn man von den Risiken des Netzes redet, droht leicht die Idealisierung und Glorifizierung der klassischen Medien. Der klassische Journalismus, etwa in einer Zeitungsredaktion, die als Institution den Leser entlastet, nimmt für ihn die Auswahl dessen vor, was publikationswürdig ist. Wenn man nun einen Trend zur Verflachung, zur Dramatisierung, zur Emotionalisierung der Berichterstattung wahrnimmt, dann ist dieser Trend nicht nur eine Antwort auf die zunehmende Komplexität aller Sachverhalte und Entscheidungsprozesse, sondern auch bedingt durch eine sich immer noch verschärfende Wettbewerbssituation gerade auch der herkömmlichen Medien. Auch früher gab es schwere doch nicht unbedingt schwierige politische Entscheidungen, etwa über die Westintegration und die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland – es waren schwere Entscheidungen, aber sie waren leicht zu verstehen. Heutige Entscheidungen, wie etwa zur Gentechnologie, sind hochkomplex, sind sehr viel schwerer zu verstehen und deshalb auch schwerer zu vermitteln. Es müsste demnach deutlich mehr recherchiert, also mehr Zeit und Geld in journalistisches Personal investiert werden, doch aus Wettbewerbsgründen werden Redaktionsstellen abgebaut. Journalisten haben damit weniger Zeit und kompen108 N E U E M E D I E N A L S C H A N C E Z U R D E M O K R AT I S I E R U N G sieren den Mangel durch die süffige Story. Nach meiner Einschätzung wird zwar viel besser geschrieben als früher, aber viel weniger recherchiert. Eine Frage wird zu beantworten sein: Wird dieser Mangel kompensiert durch das Netz und die vielen Amateure, die diese Recherche-Arbeit zum Teil übernehmen und zugleich dabei die Presse kritisieren und korrigieren? 5. Politik im Zeitalter des Internets In der Tat wird es unter den Bedingungen der exponentiell wachsenden Vermehrung aller Wissensbestände und damit der wachsenden Komplexität aller politischen Entscheidungsprozesse, der Wechselwirkung zwischen unterschiedlichen Entscheidungsebenen und der stärkeren Vernetzungen objektiv immer schwerer für die Politik, ihre Aufgabe zu erfüllen. Das gleiche gilt für die Medien bei ihrer Aufgabe, die Komplexität im Rahmen ihrer Informationsvermittlung zu reduzieren. Damit wird nachhaltige Politik immer schwieriger. Die Antwort darauf kann nur sein, zu versuchen, von Seiten der Politik alle medialen Möglichkeiten, auch im Internet, zur Legitimierung ihrer Entscheidungen von Vornherein stärker einzubeziehen. Bei Stuttgart 21 beispielsweise hat es die CDU-Landesregierung im letzten Sommer, als die Gegner des Bahnhofsprojekts mit ihren Protestaktionen begonnen haben, ganz einfach versäumt, informationspolitisch gegenzusteuern und dafür vor allem auch das Netz zu nutzen. Aufgebrachte Bürger demonstrieren gegen Stuttgart 21 109 PETER VOSS »Der Bürger« geht nicht früh im Planungsprozess aufs Rathaus und schaut sich dort die Pläne oder das ausgestellte Modell an. Aber wenn die Bagger auf die Baustelle kommen, ist er da. Auch weil das in der Sommerpause passierte, haben die Befürworter des Projekts nicht einmal wahrgenommen, was sich über den Beschleunigungsfaktor Internet an Widerstandsbereitschaft zusammenbraute. Als man aufwachte, änderte sich die Situation. Die Befürworter haben es dann doch noch geschafft, die öffentliche Meinung zu drehen: Nun gibt es in Umfragen in Baden-Württemberg eine knappe Mehrheit für Stuttgart 21. Das Internet wird Politik, Gesellschaft und Medien vor Herausforderungen stellen, die heute noch nicht abschließend beurteilt werden können. Die Politik wird sich auf schnellere Reaktionen aus dem Netz einstellen müssen, die kritischer, direkter, ungefilterter auf Fehlentwicklungen eingehen. Neue Partizipationsmöglichkeiten wären denkbar, wenn die Politik kreativ und sensibel auf die Chance des Internets reagierte. Die neuen Medien ersetzen allerdings nicht eine klare und kluge Sachpolitik – ebenso wenig die gründliche Berichterstattung und Kommentierung durch »klassische Medien«. Diese werden aber unter neuen Druck gesetzt, da die immer gewaltigeren Datenmengen eine journalistische Herausforderung sind. Deshalb ist der sortierende, nachrecherchierende und gewichtende Redakteur nötiger denn je. Auch wenn der subjektive Journalismus durch neue Genres wie Blogs gestärkt wird – klassische journalistische Tugenden und Instrumente verlieren eben nicht an Bedeutung: Kommentar bleibt Kommentar, Nachricht bleibt Nachricht. Es lohnt sich, diese Grundunterscheidung immer wieder jungen Journalisten zu erklären, weil nur so journalistische Professionalität und Objektivität garantiert werden können. Und dies bleibt auch in Zeiten des World Wide Web eine unaufgebbare Aufgabe für die Medien, auf die sich die Gesellschaft verlassen will – und ihnen so Autorität zuspricht. 110 Das Netz als fünfte Gewalt im Staate VON MARKUS BECKEDAHL Das Internet schafft eine neue, vernetzte Öffentlichkeit. Es verändert dadurch bestehende und gewachsene Autoritäten in »der alten Öffentlichkeit«. Schafften es in den vergangenen Jahrzehnten Medienunternehmer mit den notwendigen finanziellen Ressourcen, eine Marke aufzubauen und mit einem journalistischen Medium (Radio, Zeitung oder TV) eine redaktionelle Autorität zu entwickeln, so gibt es jetzt eine starke Konkurrenz. Durch die niedrigschwelligen Zugangsmöglichkeiten ist es heute möglich, mit einem Internetzugang, etwas Kreativität und wenig finanziellem Einsatz eine vergleichbare redaktionelle Autorität aufzubauen. Ein Blog, ein Twitter- oder Facebook-Account oder lediglich eine Mailing-Liste reicht aus, um für eine bestimmte interessierte Gruppe einen Filter, d. h. ein Instrument zu schaffen, das eine vergleichbare Autorität zur Redaktion eines traditionellen journalistischen Mediums besitzt. Diese neuen Werkzeuge im Netz ermöglichen die individuelle Zusammenstellung von Informationen. Die Autorität einer Redaktion verliert dabei als klassischer Informationsfilter an Bedeutung und wird für viele ersetzt durch technische Such-Algorithmen, durch virtuelle Marktplätze und/oder soziale Empfehlungen. Diese neue Autorität entsteht in der Regel durch Leistung und vor allem durch den Aufbau einer Reputation innerhalb einer Zielgruppe. Diese Reputation kann nun in den virtuellen Netzwerken entstehen. Basis des Erfolgs sind dabei oft dieselben Zugangsvoraussetzungen, wie sie eine berufliche, journalistische Karriere auch vorher schon bedurfte: Talent, Gespür für Kunden in Communities und ihre sozialen Codes, intensive Kommunikation und großer Zeit-Aufwand. Durch die vielfältige Konkurrenz steht diese Reputation allerdings jeden Tag zur Disposition. Dies ist eine andere Situation als z. B. für klassische Medien, etwa eine Zeitung, die in der Vergangenheit oftmals durch wenig Konkurrenz eine langfristige Autorität besaß und ausstrahlte. Die Hauptfunktion eines neuen Filters im Netz besteht aus dem Kuratieren, also dem Finden, Einordnen und Aufbereiten von Informationen. Aktuell entsteht hier 111 MARKUS BECKEDAHL eine weitere Veränderung: Die neuen Filter können eigene Inhalte ins Netz bringen, sie können aber alternativ lediglich auf interessante andere Inhalte im Netz verweisen. Auch damit wird traditionelle Autorität in den Medien in Frage gestellt, die an die Reputation der Quelle gebunden ist. Es ist nicht mehr interessant, ob ein Text z. B. in der FAZ oder der SZ steht, wichtig ist, welcher Inhalt dort veröffentlicht wurde und ob dieser für den jeweiligen Informationsfilter interessant ist. Doch bevor das Ende des klassischen Journalismus zu früh ausgerufen wird: Die Inhalte werden auch in Zeiten neuer Filter gebraucht. Die Funktion von Journalismus wird weiterhin noch benötigt, damit Ereignisse bewertet, Informationen recherchiert und verifiziert sowie komplizierte Zusammenhänge Doch bevor das Ende auch zielgruppengerecht erklärt werden können. Aber für diese des klassischen Journajournalistische Aufgaben muss man kein Journalist mehr sein, es lismus zu früh ausgerufen wird: Die Inhalte reicht ein Blog, ein Twitter- oder Facebook-Account und dazu werden auch in Zeiten etwas Talent in der Vermittlung und Medienkompetenz. neuer Filter gebraucht. Traditionelle sogenannte Gatekeeper wie Zeitungs- oder Fernsehredaktionen verlieren ihre Funktion, da man diese Gatekeeper heute leicht umgehen kann. Dies hat Vor- und Nachteile. Auf der einen Seite besteht der Nachteil, dass Mikroöffentlichkeiten entstehen, die nur noch die Inhalte lesen, die ihnen gefallen. Allerdings ist das nicht völlig neu; auch ohne das Netz gab und gibt es viele Menschen, die sich einseitig aus RTL2 und Bild informieren und so nicht dem klassischen Bildungsbürgerideal einer aufgeklärten Öffentlichkeit entsprechen. Der Vorteil liegt auf der anderen Seite in der Freiheit bei der Wahl der Informationsquelle und der Souveränität der Mediennutzer. Sie sind nicht mehr abhängig von wenigen Tageszeitungen, Radio- und TV-Sendern, die für sie die Filterung übernehmen und oft nur einen Massengeschmack treffen. Wer sich z. B. für Sportarten jenseits von Formel 1 und Fußball interessiert, findet neue Autoritäten im Netz in Form von Communities, Informationsportalen und -sendern. Leider wird noch zu wenig in der gesellschaftlichen Debatte berücksichtigt, dass wir zunehmend in Gefahr geraten, uns von solchen Informationsfiltern abhängig zu machen, die auf technischen Suchalgorithmen basieren.1 Diese Gefahr geht mit der Abhängigkeit der Gesellschaft von Plattformen mit Monopolisierungstendenzen wie Facebook als Soziales Netzwerk oder Google als Suchmaschine einher. Diese bilden privatisierte öffentliche Räume mit Allgemeinen Geschäftsbedingungen, Datenschutzrisiken und Sitz in anderen Staaten, was keine gute Basis für die 1 Informatiker bezeichnen das Verfahren zur Durchsuchung eines bestimmten Raumes nach bestimmten Objekten oder Mustern als Suchalgorithmus. Algorithmen werden von Suchmaschinen genutzt, um die Informationen des Netzes zu filtern und dem User in Form eines Rankings zugänglich zu machen. 112 D A S N E T Z A L S F Ü N F T E G E WA LT I M S TA AT E Absicherung der Rechte von zukünftigen Öffentlichkeiten darstellt. Weitere Risiken entstehen in der Personalisierung der sogenannten Social Networks-Streams oder der Suchergebnisse: Wer regelmäßig Google nutzt, liefert der Suchmaschine viele persönliche Informationen, wofür man sich interessiert und in welche Zielgruppe man passt. Daraufhin wird die Suche individuell an den Nutzer angepasst. Dadurch drohen Entwicklungen, dass konservativ denkende Menschen zukünftig vor allem solche personalisierten Inhalte bei der Suche im Netz vorfinden, die auch Soziales Netzwerk Facebook andere konservativ denkende Menschen bevorzugen. Und eher sozialdemokratisch denkende Menschen werden möglicherweise solche Inhalte vorfinden, die ihre vermeintlich ähnlichen Zielgruppen auch schätzen. Eine gesellschaftliche Debatte könnte dadurch erschwert werden, weil sich jeder in einer abgeschotteten, gefilterten Informationsblase befindet. Fazit: Die Autorität der Medien ist im Wandel; das ist zunächst nichts grundsätzlich Schlechtes. Die vierte Macht im Staat kann offensichtlich nicht mehr wie früher ihre Aufgabe erfüllen, eine kritische Öffentlichkeit herzustellen, gesellschaftliche Debatten abzubilden und auf Missstände hinzuweisen. Redaktionen werden personell ausgedünnt, investigative Recherchen sind bei kleiner werdenden Budgets oft nicht mehr finanzierbar. Nun entsteht eine fünfte Macht im Staat und ergänzt im Zusammenspiel mit den traditionellen Medien die gesellschaftliche Kontrollfunktion der Medien. Am Beispiel des GuttenPlag-Wikis in der Plagiatsaffäre rund um Freiherr zu Guttenberg konnte man diese Entwicklung im Frühjahr 2011 anschaulich betrachten. Die Zugangschancen für neue Player in den Reihen der medialen Autoritäten sind im Moment sehr niedrig und das ist gut so. Wir sollten das Innovationsumfeld sichern und die Netzneutralität behalten, d. h. einen offenen und diskriminierungsfreien Zugang zum Netz erhalten. Das Netz ist eine riesige Freiheitschance. Erhalten wir diese Freiheit und Offenheit, sonst kann es als große Kontrollinfrastruktur gegen unsere Freiheit eingesetzt werden. 113 V. Bürgersinn: Eine Autorität zwischen Erwartung und Möglichkeiten Eine aktive Bürgergesellschaft und ihre neuen Autoritäten VON HANS FLEISCH 1. Bürgersinn und Autorität 1.1 Gelebter Gemeinsinn als Quelle von Autorität Die menschliche Soziabilität1 hat verschiedene Erklärungen gefunden, als solche ist sie indes seit jeher unbestritten. Soziabilität erweist sich im Verhalten:2 vor allem in tätigem Gemeinsinn. Gemeinsinn lässt sich definieren als eine Haltung, die die Verantwortung des Einzelnen in der Gemeinschaft zum Inhalt hat.3 Gemeinsinn prägt sich aus in altruistischem Verhalten. Für altruistisches Verhalten werden in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen unterschiedliche Erklärungen diskutiert.4 Über lange Zeit prägend war die These von Ökonomen, die freiwilliges menschliches Verhalten mit der Idee des rational wählenden homo oeconomicus zu erklären versucht haben. Die Spieltheorie hat demgegenüber gezeigt, dass der Mensch sein Verhalten keineswegs jeweils am größtmöglichen individuellen Nutzen ausrichtet, und sie hat damit die Idee verworfen, dass menschliches Verhalten stets davon bestimmt sei, den eigenen Nutzen berechnend (rational choice) zu maximieren. Um am Modell des rational handelnden homo oeconomicus festhalten zu können, haben Ökonomen den Begriff des persönlichen Nutzens erweitert: altruistisches Verhalten produziere für das Individuum einen Nutzen im weiteren Sinne, z. B. soziales Prestige des Handelnden. Aber damit lassen sich vielfache altruistische Verhaltensweisen, die eben kein soziales Prestige 1 Soziabilität bezeichnet die Fähigkeit Einzelner, soziale Beziehungen aufzunehmen und zu pflegen, sich in eine Gemeinschaft einzufügen und wirkungsvoll mit anderen zusammenzuarbeiten. 2 Vgl. dazu aus sozialpsychologischer Perspektive: Forgas, Joseph: Soziale Interaktion und Kommunikation. Weinheim 19994. Insbesondere S. 182ff. 3 Vgl. zum Begriff: Bertelsmann Stiftung, Bertelsmann Forschungsgruppe Politik (Hg.): Gemeinsinn. Gütersloh 2002. S. 30ff. 4 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Weitemeyer, Birgit: »Die Grundlagen des Altruismus und die Rolle des Rechts.« In: Hüttemann, Rainer/Rawert, Peter/Schmidt, Karsten/Weitemeyer, Birgit (Hg): Non Profit Law Yearbook 2007. S. 45ff. 116 E I N E A K T I V E B Ü R G E R G E S E L L S C H A F T U N D I H R E N E U E N A U T O R I TÄT E N mit sich bringen, nicht erklären. Eine andere Erklärung der Ökonomen lautete daraufhin, altruistisches Verhalten produziere ein gutes Gefühl, also einen psychologischen Nutzen. Damit wird die Frage, warum Menschen uneigennützig handeln, aber nur verlagert, nämlich auf den Aspekt, warum das altruistische Verhalten ein gutes Gefühl verursacht. Bei aller Unterschiedlichkeit der Erklärungen dürfte heute weitestgehend unbestritten sein, dass altruistisches Verhalten tief im Menschen verankert ist und zu seinem Wesen gehört. Das könnte auch eine Erklärung für das »gute Gefühl« bei altruistischem Verhalten sein: Wer altruistisch handelt, entfaltet einen seiner Wesenskerne als Mensch. Unbestritten gehören zudem das bloße Zusammensein und das Zusammenagieren mit anderen Menschen, also in der Gemeinschaft, zu den menschlichen Grundbedürfnissen. In der Summe laufen tief verwurzelter Altruismus und fundamentales Bedürfnis nach Gemeinschaft auf uneigennütziges Verhalten des Menschen zugunsten der menschlichen Gemeinschaft hinaus. Uneigennütziges Tun zugunsten der Gemeinschaft, also gelebter Gemeinsinn, ist darum nicht etwas, was von außen an den Menschen herangetragen werden muss oder bloßes Ergebnis Wer altruistisch einer rational-berechnenden Wahl des Menschen in einer handelt, entfaltet einen bestimmten Situation ist, sondern was zu seinem Wesen und sei- seiner Wesenskerne als Mensch. nen grundlegenden Bedürfnissen gehört. Ob und wie dies sich entfalten kann, das hängt indes auch von vielfachen äußeren Faktoren ab. Wer gelebten Gemeinsinn fördern will, sollte sich aber bewusst sein, dass er dabei an ein zutiefst vorhandenes Bedürfnis der Menschen anknüpfen kann. Bedürfnisse haben entscheidenden Einfluss auf menschliches Verhalten. An vorhandene Bedürfnisse anzuknüpfen ist der effektivste Weg, um freiwilliges Verhalten zu beeinflussen. Aber aus einem bestimmten Bedürfnis folgt noch lange nicht ein bestimmtes Verhalten. Welches Verhalten sich aus vorhandenen Bedürfnissen entwickelt, hängt jeweils von verschiedenen Faktoren ab. Andere Menschen sind insofern von überragend einflussreicher Bedeutung.5 Dabei stehen in der Regel verschiedene Alternativen zur Verfügung; das Verhalten kann an diesen oder an jenen Menschen ausgerichtet werden, mit jeweils unterschiedlichem Ergebnis. Von welchen Menschen ich mich freiwillig beeinflussen lasse, ist vor allem eine Frage der Anziehung oder Identifikation. Menschen, die für uns anziehend sind bzw. mit denen wir uns identifizieren, haben größere Chancen auf Beeinflussung unseres freiwilligen Verhaltens. Diese Anziehung oder Identifikation kann, wenn man einmal 5 Forgas: Soziale Interaktion und Kommunikation. S. 249ff. 117 HANS FLEISCH von der naturgegebenen Identifikation des Kleinkindes mit seinen Eltern absieht, zwei unterschiedliche Gründe haben: Wir mögen Leute u.a. wegen ihrer sozialen Eigenschaften (Freundlichkeit, angenehmes Wesen usw.) oder wir respektieren sie, z. B. aufgrund ihrer Kompetenz oder Leistung. Wenn ein Mensch beides besitzt, hat er besonders großes Potenzial, von anderen akzeptiert – »gewählt« – zu werden und beeinflusst damit deren Verhalten. Dabei gibt es zwei Spielarten des Einflusses: Informationseinfluss und normativer Einfluss.6 Vermeintlich affektiv und/oder kognitiv besonders »akzeptable« Menschen wählen wir also vorzugsweise als diejenigen, die unsere Sachurteile, unsere Werturteile und unser freiwilliges praktisches Verhalten beeinflussen: als Autoritäten. Menschen, die sich in der Bürgergesellschaft selbstlos engagieren, sind uns – nicht nur in unserer Kultur und nicht nur aus kulturellen Gründen – tendenziell sympathisch, jedenfalls wenn wir ihre Anliegen für wichtig und richtig halten. Wenn solche Menschen dabei zugleich sachliche Kompetenz für diese Anliegen glaubwürdig kommunizieren, sind sie tendenziell in einem informativen und normativen Beeinflussungsvorteil gegenüber anderen Akteuren, z. B. solchen, die berechnend eigennützig/geizig/gierig und/oder inkompetent zu sein scheinen. Denn Egoismus, Geiz, Gier oder schädliches/schändliches Verhalten sind tendenziell unsympathisch; und das wird dann auch nicht ohne Weiteres aufgewogen durch akzeptierte fachlichsachliche Kompetenz, z. B. bei der erfolgreichen Ausübung einer Führungsposition in Wirtschaft oder Politik. Die Engagierten der Bürgergesellschaft (und ihre Organisationen) haben, soweit sie beide Felder abdecken – a) sympathisch-uneigennützig und b) kompetent – somit ein besonders hohes Potenzial dafür, andere Menschen als Autoritäten bei Fragen, die den öffentlichen Raum betreffen, und bei ihrem diesbezüglichen freiwilligen Verhalten zu beeinflussen. Dies gilt dann umso mehr, wenn die Autoritäten von Alternativen erodiert werden. Wenn bisherige Autoritäten weniger anerkannt werden, z. B. weil ihre Kompetenz oder ihre Gemeinwohlorientierung und/oder ihre menschliche Akzeptabilität zunehmend angezweifelt wird, dann wächst die Chance, dass neue Akteure als Autoritäten an Einfluss gewinnen. Die Chance, dass Leitfiguren und Organisationen der Bürgergesellschaft als Autoritäten ihren Einfluss in Fragen des Gemeinwesens steigern, erhöht sich darum in dem Maße, in dem andere Akteure auf diesem Felde – Parteien, politische Amtsinhaber, Kirche usw. – an Akzeptanz verlieren. Zudem gibt es noch einen Rückkopplungseffekt: Eine gewachsene Identifikation 6 Deutsch, Morton/Gerard, Harold: »A study of normative and informational influence upon individual judgment.« In: Journal of Abnormal and Social Psychology, 51 (3)/1955 S. 629ff. 118 E I N E A K T I V E B Ü R G E R G E S E L L S C H A F T U N D I H R E N E U E N A U T O R I TÄT E N mit positiv bewerteten Institutionen der Zivilgesellschaft kann das Schrumpfen der Autorität anderer zusätzlich befördern. 1.2 Bürgersinn und Motivation zu Engagement Bürgersinn ist Gemeinsinn im öffentlichen Raum. Die Motivierung anderer zu bürgerschaftlichem Engagement, also gelebtem Bürgersinn, ist eine Verhaltensbeeinflussung. Die Steuerung solcher Verhaltensänderung (zu Verhaltensänderung gehört auch Verhaltensstabilisierung) hängt, wie aufgezeigt, wesentlich von a) sozial/menschlicher Identifikation und b) Akzeptanz der entsprechenden sachlichen Kompetenz anderer Akteure für die in Rede stehende Herausforderung, z. B. Beseitigung eines Mangels, ab. Es gibt aber auch weitere Faktoren. Dazu gehören die sogenannten »Hygienefaktoren« und die »Motivatoren«.7 Das Fehlen der Hygienefaktoren ruft Demotivation hervor; ihre Existenz dagegen besitzt keine motivierende Wirkung, da Hygienefaktoren mit der Zeit als selbstverständlich angesehen werden. Die sogenannten Motivatoren hingegen steigern die Motiviertheit oder Zufriedenheit, aber ihr Fehlen demotiviert nicht. Motivatoren haben überwiegend keinen nachhaltigen Effekt, sie wirken eher als Impulse, die wie Strohfeuer durchaus Zündwirkung entfalten können. Um es an Beispielen zu illustrieren: Eine Gehaltserhöhung ist ein Motivator, der eher kurzfristig beflügelt, funktionierende Bürotechnik ist ein Hygienefaktor, deren dauerhaftes Fehlen nachhaltig frustriert. Beim bürgerschaftlichen Engagement ist die Verleihung eines Preises ein Motivator, förderliche Infrastruktur oder regulatorische Rahmenbedingungen oder dauerhaft ausreichende finanzielle Ressourcen für die Verwaltungskosten sind Hygienefaktoren. Wenn eine Motivation, z. B. zu uneigennützigem Verhalten, bereits vorhanden ist, gilt es, das Augenmerk auf die Hygienefaktoren zu lenken. Wenn eine entsprechende Motivation aber gar nicht vorhanden ist, kommt es zunächst auf impulsgebende Motivatoren an. Es wurde oben bereits dargelegt, dass altruistisches Verhalten und Gemeinsinn zum Wesen des Menschen gehören, mithin ist die Motivation zu entsprechendem freiwilligen Verhalten grundsätzlich bei den meisten Menschen bereits vorhanden. Das bedeutet für die Förderung von gelebtem Bürgersinn: • Es kommt erstens darauf an, die grundsätzlich vorhandene Motivation zu steuern, d. h. den vorhandenen Gemeinsinn und ein dementsprechendes Verhalten in der 7 Zwei Faktoren-Theorie, vgl. dazu: Herzberg, Frederick/Mausner, Bernard/Bloch Snyderman, Barbara: The Motivation to Work. New York 19592. Meyers, David G.: Psychologie. Berlin 20082. S. 888f. 119 HANS FLEISCH Ausrichtung so zu beeinflussen, dass sich der Gemeinsinn im öffentlichen Raum, mithin als Bürgersinn, und nicht nur im nahen Sozialraum (Familie etc.) entfaltet. Für diese Steuerung haben vorhandene Autoritäten der Bürgergesellschaft und ihre Kompetenz nach dem oben Gesagten herausragende Bedeutung. Sie gilt es zu stärken: a) durch Sicherung der Hygienefaktoren für ihr Engagement und b) durch Stärkung ihrer Sichtbarkeit und Kompetenz. • Zweitens müssen Gelegenheiten vorhanden sein oder geschaffen werden, damit die vorhandene und in Richtung öffentlicher Raum gelenkte Motivation zu gelebtem Gemeinsinn nicht verpufft; also gilt es, Anknüpfungspunkte und Chancen für Partizipation zu schaffen, auszubauen und zu kommunizieren. • Drittens müssen Schwellen abgebaut werden, die eine Ummünzung der Motivation in praktisches Engagement hindern (das können kognitive, kommunikative, kompetenzielle, finanzielle oder administrative Schwellen sein). • Viertens gilt es, potenzielle Faktoren der späteren Demotivation zu beseitigen, also für das nachhaltige Vorhandensein von entsprechenden Hygienefaktoren zu sorgen. Demgegenüber sind Motivatoren-Impulse eher nachrangig, soweit sie nicht auch sonstige Effekte haben (z. B. ein mit einer Auszeichnung verbundenes Preisgeld, das Verwaltungs- oder Organisationsentwicklungskosten finanziert). 2. Neue Partizipation in unserer Demokratie Der These, dass die Engagementbereitschaft für das gemeine Wohl (auch) hierzulande weit verbreitet ist, für die auch neueste Untersuchungen wie die Freiwilligensurveys sprechen,8 scheinen Krisensymptome unserer repräsentativen Demokratie zu widersprechen. So nimmt die Bereitschaft, sich mitgliedschaftlich in überkommenen Strukturen wie Parteien und Gewerkschaften zu engagieren, laufend ab. Auch die – von temporären Ausnahmen abgesehen – sinkende Wahlbeteiligung kann als Indikator vermeintlich geringerer Bereitschaft, sich für das Gemeinwesen zu interessieren und zu engagieren, herhalten. Dies geht einher mit einem wachsenden Vertrauensverlust gegenüber den Leitinstitutionen unserer Gesellschaft.9 Diese Entwicklung ist vermutlich auch Folge einer Überbetonung der formal in Verfahren legitimierten Repräsentation in unserer Demokratie, die allein für Legitimierung eben nicht aus8 Freiwilligensurvey 2009: URL: http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/ 3._20Freiwilligensurvey-Hauptbericht,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf/ (20.09.2011). 9 Schemmann, Michael: »Vertrauensverlust in politische Institutionen.« In: Schweer, Martin (Hg.): Vertrauen im Spannungsfeld politischen Handelns. Frankfurt am Main 2003. S. 154ff. 120 E I N E A K T I V E B Ü R G E R G E S E L L S C H A F T U N D I H R E N E U E N A U T O R I TÄT E N reicht, und mangelnden sonstigen Partizipationschancen. Und sie hängt mit dem Trend zu Individualisierung und Flexibilisierung sowie Wertewandel und gewachsener Wertschätzung von autonomer Selbstbestimmung zusammen. Demgegenüber gibt es jedoch Phänomene, die Roland Koch auf dem Hessischen Stiftungstag am 5.11.2010 als »stille Revolution« bezeichnet hat: ein Wachsen der Zivilgesellschaft und eine erhöhte Bereitschaft zu bürgerschaftlichem Engagement jenseits der klassischen Institutionen. Zwei Drittel der Bevölkerung sind nach der breiten Definition des Freiwilligensurveys hierzulande freiwillig engagiert oder jedenfalls bereit dazu. Die Auffassung, dass nicht nur der Staat (und die Wirtschaft) für das Gemeinwohl zuständig seien, gewinnt laut Freiwilligensurvey an Popularität. Dementsprechend wuchs und wächst die Zahl zivilgesellschaftlicher Organisationen wie Freiwilligenagenturen, Bürgerstiftungen, Stiftungen, aber auch neue und vom Zweck her neuartige Vereine und informelle bürgerschaftliche Initiativen. Übrigens sind auch dem neuesten Freiwilligensurvey zufolge junge Menschen überdurchschnittlich engagiert, und diese Altersgruppe zeigt dabei wachsende Sympathie für flexible und stärker selbst-bestimmte Aktivitäten. 10 Es gibt darum keine Krise des Bürgersinns in unserer Demokratie, vielmehr haben wir es mit einem Wechsel der prägenden Autoritäten und einem chancenreichen Strukturwandel beim Engagement für das gemeine Wohl im Engagementbereite Menöffentlichen Raum zu tun. Das gesteigerte Bedürfnis nach schen bevorzugen heute Selbstentfaltung ist dabei kein Widerspruch: Vielmehr stärkt es oft andere Organisationsstrukturen als früher. die Bereitschaft zum Engagement, soweit dies als eine Form der Selbstentfaltung eingestuft wird. Engagementbereite Menschen bevorzugen heute oft andere Organisationsstrukturen als früher; und dem entspricht, dass das Übernehmen eines Ehrenamtes an Popularität verliert.11 Es kommt vor dem Hintergrund dieses Wandels darauf an, dass sich überkommene Strukturen und Institutionen anpassen; außerdem gilt es, neue bzw. neuartige Organisationsstrukturen zu entwickeln und ihre Vermehrung zu fördern und sie und ihre prägenden Akteure zu stärken. Zusammenfassend folgt aus dem bisherigen: Für die Stabilisierung und Stärkung gelebten Bürgersinns, mithin bürgerschaftliches Engagement, sind besonders chancenreiche und effektive Ansatzpunkte: 10 11 URL: http://www.bmfsfj.de/BMFSFJ/Service/Publikationen/publikationen,did=165004.html/ (20.09.2011). Vgl. Bertelsmann-Stiftung: Gemeinschaftsfähigkeit in der modernen Gesellschaft. Gütersloh 2002. 121 HANS FLEISCH • die Stärkung und die Förderung der entsprechenden Aktivitäten von Playern der Bürgergesellschaft, die sich um die Hygienefaktoren – wie engagementfreundliches Klima (Wertschätzungskultur) und rechtliche sowie staatsverwaltungsmäßige Rahmenbedingungen – »kümmern« (z. B. den Bundesverband Deutscher Stiftungen12); • die Stärkung der Kompetenz (»Professionalität«) und der Sichtbarkeit von vorhandenen und potenziellen bürgerschaftlichen Autoritäten (z. B. durch Finanzierung von Ratgebern und Fortbildungen); • die Sicherung einer nachhaltigen Basis für die Finanzierung von Verwaltungskosten bürgerschaftlich Engagierter durch entsprechende Zuschussmechanismen (Beispiel: das Programm »Wir für Sachsen«13) sowie durch Unterstützung der Errichtung und des finanziellen Wachstums von engagementfördernden Stiftungen (Beispiel: Initiative Bürgerstiftungen); • die Schaffung, Vermehrung und Stärkung von neuartigen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die lokal Anknüpfungspunkte für Engagement bieten, die thematisch breit aufgestellt sind und die flexible Partizipation in unterschiedlichen Formen und Projekten ermöglichen (Freiwilligenagenturen, Seniorenbüros, Bürgerstiftungen); • die Finanzierung von Transfer-Mechanismen für gelungene Projektansätze in andere Städte oder Regionen; • ferner ist die Finanzierung von entsprechenden Studien und Datenbanken sinnvoll, um die Informationsbasis für Förderentscheidungen weiter zu verbessern. 3. Bürgerstiftungen Den vorgenannten Empfehlungen entspricht es, dass in der Engagementstrategie der Bundesregierung aus dem Jahr 2010 die Förderung einer Kultur der Wertschätzung, die Schaffung von förderlichen Rahmenbedingungen und zudem Stiftungen und insbesondere Bürgerstiftungen hervorgehoben werden.14 Bürgerstiftungen sind Gemeinschaftsstiftungen, die thematisch breiter aufgestellt sind als die meisten anderen Stiftungen, die sich dabei aber auf einen lokal/kommunal begrenzten Raum konzentrieren. Die Förderung des bürgerschaftlichen Engagements als solches gehört typischerweise zu ihren wesentlichen Zwecken. Sie bieten flexible Anknüpfungspunkte für das bürgerschaftliche Engagement auf ganz unterschiedlichen Feldern und in unterschiedlichen Formen. Mehr als bei anderen 12 URL: http://www.stiftungen.org/de/verband.html. URL: http://www.wir-fuer-sachsen.de. 14 URL: http://www.stiftungen.org/de/news-wissen/news/detailseite-news.html?tx_leonhardtfebecm_ pi1[mode]=teaserstart&tx_leonhardtfebecm_pi1[id]=479/ (05.04.2011). 13 122 E I N E A K T I V E B Ü R G E R G E S E L L S C H A F T U N D I H R E N E U E N A U T O R I TÄT E N Der Arbeitskreis Bürgerstiftungen beim Deutschen Stiftungstag 2009 in Hannover Stiftungen gehören auch demokratische Elemente zu ihren Wesensmerkmalen.15 Sie bieten zudem – anders als Vereine – eine Kapitalsammlungsfunktion, und mit dem Wachstum ihres Kapitals bieten sie eine zunehmend bedeutsame und besonders nachhaltige Eigenfinanzierungsquelle dezentraler zivilgesellschaftlicher Aktivitäten. Damit tragen sie zu Stabilität und Nachhaltigkeit bürgerschaftlichen Engagements vor Ort entsprechend modernen Bedürfnissen und zu wichtigen Hygienefaktoren bürgerschaftlichen Engagements bei. Sie bieten zudem die Chance, als themenübergreifende Engagementinfrastruktur die Kooperation der sonstigen Zivilgesellschaft vor Ort zu verbessern und zu bündeln und damit auch als Katalysator für die partizipative Zusammenarbeit mit den staatlichen Akteuren wirken zu können. In Deutschland gibt es Bürgerstiftungen modernen Typs erst seit 1996, mittlerweile sind es rund 250. Die meisten sind noch relativ kapitalschwach, aber die Entwicklung des Kapitalwachstums ist mittelfristig vielversprechend. Und in keinem ande15 URL: http://www.buergerstiftungen.de. 123 HANS FLEISCH ren Land der Welt ist die Entwicklung der Bürgerstiftungsbewegung von gleich hoher Dynamik geprägt.16 Das gilt sowohl für das Wachstum ihrer Zahl als auch ihres Kapitals. Diese besondere Entwicklung lässt sich vor allem mit dem MetaInfrastruktur-Projekt »Initiative Bürgerstiftungen« erklären, das gemeinsam von Stiftungen und dem Bundesfamilienministerium ermöglicht und vom Bundesverband Deutscher Stiftungen getragen wird. Die »Initiative Bürgerstiftungen« (IBS) gilt darum als vorbildlich effektive Engagement-Meta-Infrastruktur. Mit der Förderung der IBS wird das Gesetz der Hebelwirkung von den die IBS fördernden Institutionen berücksichtigt: Nicht einzelne Projekte einzelner Institutionen werden gefördert, sondern es wird indirekt – hebelnd – die Entwicklung ressourcenmobilisierender partizipativer Organisationen und ihre Sichtbarkeit, Kompetenz und Vernetzung gefördert. Die Chancen, die sich mit der »Initiative Bürgerstiftungen« verbinden, sind noch nicht ausgereizt (das gilt auch für das Projekt »Allianz für Bürgersinn«, das die Herbert Quandt-Stiftung ermöglicht und das ein gewichtiges Ergänzungsmodul der IBS ist). Wer gelebten Bürgersinn fördern will, dem bietet sich mit der Heb(el) ung der Potenziale via IBS eine geradezu einzigartige Gelegenheit. Wenn sie genutzt wird, besteht die realistische Chance, dass wir in 10 bis 15 Jahren flächendeckend Bürgerstiftungen im Lande haben, die mit Erträgen aus einem wachsenden Gesamtkapital von dann mehr als einer Milliarde Euro, einem erheblichen Spendenaufkommen und dem umfangreichen Zeiteinsatz Ehrenamtlicher und zigtausend Bürgerstiftern »professionell« gemanagte themenübergreifende Katalysatoren und Finanziers bürgerschaftlichen Engagements haben werden. 4. Fazit Die demokratische Gesellschaft kann nur »funktionieren«, wenn sich neben funktionsfähigen staatlichen Strukturen und Institutionen Menschen für die Gemeinschaft im öffentlichen Raum freiwillig engagieren. Das Potenzial dafür ist hierzulande hervorragend und bei weitem nicht ausgeschöpft. Beiträge zur Hebung dieses Potenzials sind für eine gemeinnützige Stiftung eine Möglichkeit, besonders hebelwirksam zu agieren. Die Stärkung des Stiftungswesens und insbesondere auch der Initiative Bürgerstiftungen gehört dabei zu den zu Recht hervorgehobenen Chancen. Wichtige Ansatzpunkte sind im Übrigen die Stärkung advokatorischer Kräfte zugunsten guter Rahmenbedingungen für bürgerschaftliches Engagement, Stabilisierung und Ausbau der Engagementinfrastruktur und deren Basisfinanzierung, Verbesserung von Transfermechanismen für gelungene Projektansätze sowie Qua16 URL: http://www.stiftungen.org/de/news-wissen/zahlen-daten.html/ (20.09.2011). 124 E I N E A K T I V E B Ü R G E R G E S E L L S C H A F T U N D I H R E N E U E N A U T O R I TÄT E N lifizierungsmaßnahmen. Studien können zur Steigerung der Effektivität entsprechender Aktivitäten beitragen. Mit dem vermehrten bürgerschaftlichen Engagement wachsen neue Autoritäten, die hoch bedeutsam sind für den Zusammenhalt und die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft und die die Schrumpfung der Autorität klassischer Leitinstitutionen kompensieren. Unsere repräsentative Demokratie kann davon noch mehr als bisher profitieren, wenn es neben der Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements zusätzlich gelingt, das Verhältnis zwischen Bürgergesellschaft einerseits und Staat und klassischen Leitinstitutionen andererseits neu zu justieren und neuartige Formen einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe zu organisieren. Das dürfte zudem helfen, den Verlust des Vertrauens in Staat und klassische Leitinstitutionen zu begrenzen. Bürger(schaft)liche Partizipation und Repräsentationsprinzip sind in der Demokratie kein Widerspruch. »Mehr Demokratie wagen« ist, richtig verstanden, keine veraltete Forderung, auch nicht die Befürwortung der stärkeren Entfaltung des Subsidiaritätsprinzips.17 Das Leitbild der aktiven Bürgergesellschaft mit ihren neuen Autoritäten bietet eine chancenreiche Perspektive. 17 Vgl. zur Aktualität des Subsidiaritätsprinzips: Biedenkopf, Kurt/Bertram, Hans/Niejahr, Elisabeth: Starke Familie – Solidarität, Subsidiarität und kleine Lebenskreise. Bericht der Kommission »Familie und demografischer Wandel« im Auftrag der Robert Bosch Stiftung (Hg). Stuttgart 2009. S. 28ff. 125 Motivation zu Engagement Eine persönliche Perspektive V O N A S T G H I K B E G L A R YA N Die Tatsache, dass Engagement aus einer altruistischen Haltung entsteht, unterstreicht die Wichtigkeit der zwischenmenschlichen Ebene. Denn ein Bürger, der sich für eine Sache oder für andere Menschen ehrenamtlich engagiert, erwartet im Grunde nichts weiter als vielleicht ein lobendes Wort oder ein kleines Dankeschön – gleichzeitig fühlt er in sich das zutiefst befriedigende Gefühl, etwas Gutes für das Allgemeinwohl getan zu haben. Es ist ein Geben von Zeit und Leistung in materiellem Sinne und ein Nehmen auf reiner Gefühlsebene. Dabei wird die Motivation, sich zu engagieren mit jedem Schritt gestärkt – irgendwann wird diese »Motivation zum Engagement« zu einer als normal angesehenen Nächstenliebe, die Aufmerksamkeit erfährt. Aus dieser Aufmerksamkeit heraus – wie klein sie auch sein mag – formt sich dann eine gegenseitige Beziehung zwischen Akteur und Empfänger. Ist die Sympathie groß, die einem für sein Engagement von der erreichten Zielgruppe entgegengebracht wird, und wird das Vertrauen bestärkt, das in einen gelegt wurde, dann wird man im Auge des Empfängers zu einer Autorität. Aber vor allem hat Autorität mit Verantwortung zu tun. Nur wenn man als Bürger freiwillig eine Verantwortung übernommen, für andere in guten sowie schlechten Zeiten als Ansprechpartner fungiert und – ganz wichtig – mit seinem Tun nicht enttäuscht hat, dann wird man zu einer Art Leitfigur und ermöglicht, dass sich die Zielgruppe an dieser Verhaltensweise orientieren kann. Ich wurde im Vorfeld des Sinclair-Haus-Gesprächs gefragt, ob ich mich als eine solche Autorität fühle, und ob ich mich aus dem eigenen Engagement allmählich zu einer Person entwickelt habe, der andere folgen. Ich selbst sehe mich nicht so. Für mich persönlich hat das Gefühl der Autorität mit der ersten Bestätigung oder Befürwortung durch eine andere Person zu tun. Sich selbst als Autorität zu betrach126 M O T I VAT I O N Z U E N G A G E M E N T ten, hätte meines Erachtens den Sinn dieser menschlichen Beziehung verfehlt. Denn es kann auch nur einen »Überlegenen« geben, wenn mindestens zwei nebeneinander stehen – ebenso kann sich die Autorität nur dann herausbilden, wenn der eine Mensch den anderen durch seine Ehrlichkeit, Verantwortungsübernahme und Authentizität als eine solche Person wahrnimmt, der sie folgen möchte. Es braucht aber vor allem eine gute Erziehung, um zu einer solchen verantwortungsvollen Person zu werden. Für mich ist der wichtigste und nicht ersetzbare Faktor für ein allgemeinwohlorientiertes Denken und Handeln die Erziehung des Elternhauses. Die Anleitung zum selbstständigen Handeln sollte früh beginnen – es müssen Mut, Zuversicht und Vertrauen in die eigene Kompetenz Die Anleitung zum vermittelt werden. Besonders wichtig für mich ist die durch selbstständigen Liebe und Respekt bestärkte Förderung der Fähigkeit, sich über Handeln sollte früh Enttäuschungen und Niederlagen hinwegsetzen zu können. Es beginnen – es müssen Mut, Zuversicht und muss eine Art »natürliche menschliche Autorität« bei dem eige- Vertrauen in die eigene nen Handeln geprägt werden, die dann im weiteren Lebensver- Kompetenz vermittelt werden. lauf als gesundes Selbstvertrauen wirkt und daraus auch Enthusiasmus für die ein oder andere Sache zulässt. Nichts hält Kinder und Jugendliche mehr zurück, als Zweifel an sich selbst und Angst vor Misserfolg. Mich haben meine Eltern, die ursprünglich aus Armenien stammen, zu Selbstvertrauen erzogen und damit stark gemacht. Natürlich lassen sich junge Menschen auch von engagierten Gleichaltrigen zum Mittun anstecken. Dennoch muss das eigene Elternhaus die Voraussetzung dadurch schaffen, dass es dem Kind die ganze Bandbreite der gesellschaftlichen Wirklichkeit zeigt. Ebenso ist es für mich Aufgabe in der Erziehung, von Anfang an das Miteinander verschiedener sozialer Milieus für selbstverständlich zu betrachten – mehr noch, die Schichten miteinander zu vernetzen, um einen Zusammenhalt in der Gesellschaft zu bilden. Malzirkel für kreative Kinder in Halle/Saale 127 A S TG H I K B EG L A RYA N Über die Jahre hinweg spielen auch die Kindergärten, Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen eine große Rolle für gesellschaftsorientiertes Denken. Die Schule und die Lehrkräfte fördern aber leider oftmals nicht oder nur selten die Vereinbarkeit von Ausbildung und außerschulischem Engagement. Die Entwicklung zum engagierten Menschen bleibt neben den hohen Leistungsforderungen in der Schule zweitrangig. Wenn also gesellschaftliches Engagement langfristig als normal, als etwas Alltägliches und zum Aufwachsen Zugehöriges angesehen werden soll, braucht es neben einer Erziehung durch die Eltern eben auch die Arbeit der Bildungseinrichtungen, die sich an der Förderung des Engagements orientiert. Seien es kleine Aktionen, wie eine schulisch organisierte Aufführung der Theater-AG im Kinderheim, eine Ausstellung des Kunst-Kurses oder ein Benefizkonzert des Schulorchesters im Seniorenheim usw. Es braucht kleine bewusste Schritte, mit denen Kinder und Jugendliche zu eigenem Engagement geleitet werden. Der Kern, der in der Erziehung geformt werden muss, ist das eigene Bewusstsein der jungen Menschen, dass eigenes Tun und daraus entstehende persönliche Autorität wichtig und normal ist. Daneben braucht es sicher auch Rahmenbedingungen, die die Entwicklung von Engagement und Autorität fördern. Wenn das entsprechende Bewusstsein bei jungen Menschen geschaffen ist und es an die Umsetzung geht, ist die Förderung und Unterstützung durch Bereitstellung finanzieller Mittel, professioneller Begleiter, Seminare oder von Material und Einrichtungen wichtig. Andernfalls schlafen alle guten Ansätze wieder ein. Deutschland sollte mit seinen vielen großen und kleinen Stiftungen dabei eigentlich keine Probleme haben, diese Form von Unterstützung zu geben. Schwierig wird es, wenn sich bei vielen deutschen Jugendlichen eine falsche Einstellung zum gesellschaftlichen Engagement und dessen Wert herausbildet. Für eine Änderung müssten auch die Eltern stärker unterstützt werden. Und in den Schulen könnte noch viel mehr geschehen, vor allem bei der Vereinbarkeit von Engagement und Schulalltag. Zusammenfassend sehe ich großes Potenzial bei der heutigen Jugend – und mit der richtigen Vermittlung menschlicher Werte und verschiedener kleiner Motivatoren in Schule und Umfeld wird das Bewusstsein für den eigenen Wert und das daraus entstehende Engagement ganz bestimmt wachsen. Dann wird auch »Autorität« zu einem reflektierten Begriff und der Umgang damit stellt dann aus meiner Sicht kein Problem dar. 128 Thomas Gauly (r.) im Gespräch mit Hermann Gröhe Interview Thomas Gauly sprach mit Hermann Gröhe über persönliche und institutionelle Autorität in Staat und Gesellschaft »Autorität« ist gerade in Deutschland ein schwieriger Begriff, denn sowohl der Nationalsozialismus als auch die DDR haben staatliche und andere Autoritäten missbraucht, mit dem Ziel der Unterdrückung der Freiheit. Wie sehen Sie diesen historisch beladenen Begriff aus der Perspektive eines christdemokratischen Politikers? THOMAS G A U LY : Ich denke, dass wir als Christdemokraten – im Gegensatz etwa zur SPD oder den Grünen – wenig HERMANN GRÖHE: Berührungsängste mit diesem Begriff haben. Wir haben in unserer Partei große Persönlichkeiten mit hoher persönlicher Autorität wie Konrad Adenauer oder Helmut Kohl. Das gilt aber auch auf theoretischer Ebene. Als Demokraten, die auf der Basis des christlichen Menschenbildes Politik gestalten, lassen wir uns vom Prinzip der Subsidiarität leiten: Wir wissen, dass es Aufgaben gibt, die der Bürger alleine nicht lösen kann, sondern für die er staatliche Institutionen und Autoritäten braucht. 129 T H O M A S G A U LY S P R A C H M I T H E R M A N N G R Ö H E Und wir wissen um unsere Fehlbarkeit und unsere Anfälligkeit für Irrtümer. Diese Einsicht bewahrt uns vor ideologischen Heilslehren und einem autoritären Politikverständnis. Persönliche Autorität ist seit jeher ein maßgeblicher Ausdruck von Führung. Diese Form von Autorität leitet sich nicht selten von Eigenschaften wie Kompetenz oder Integrität ab. Welches sind die Werte, die Ihnen bei dem Begriff »persönliche Autorität« einfallen? T H O M A S G A U LY : Mit Kompetenz und Integrität haben Sie schon zwei der wichtigsten Punkte genannt, die es braucht, um persönliche Autorität zu entwickeln. Ich würde sie gerade mit Blick auf Autorität in der Politik um Authentizität ergänzen. Die Bürger wollen – ganz einfach gesagt – Persönlichkeiten, die ehrlich sagen, was sie wollen, die wissen, was sie tun und umsetzen, was sie sagen. Aber auch Charisma und Herkunft können einer Person zu Autorität verhelfen, wenn sie etwa an Richard von Weizsäcker denken. HERMANN GRÖHE: G A U LY : Im öffentlichen Ansehen hat die Autorität von Politikern stark gelitten. In den Medien werden Politiker nicht selten als Versager und Dilettanten dargestellt. Dies führt unweigerlich dazu, dass der Berufsstand als solcher unattraktiv erscheint. Wie können Parteien dazu beitragen, dass die Autorität von Politikern wieder gestärkt wird? THOMAS 130 H E R M A N N G R Ö H E : Zunächst einmal stelle ich fest, dass es einen Unterschied gibt zwischen der öffentlichen, medialen Wahrnehmung und dem, was ich und auch viele andere Politiker im direkten Kontakt mit den Bürgern erleben, gerade bei der Arbeit im Wahlkreis. Hier wird uns Politikern immer wieder Respekt entgegengebracht und zwar dann, wenn man authentisch, ehrlich und nah bei den Sorgen der Bürger ist. Für uns Parteien und Parteipolitiker stellt sich die Aufgabe, erstens diesem Anspruch selbst jeden Tag von Neuem gerecht zu werden und zweitens nach mehr Menschen Ausschau zu halten, die diese Aufgabe ebenfalls übernehmen können. Dazu gehört auch, dass wir offen sind für Querdenker und Leute mit Ecken und Kanten. An diesem Punkt können wir mit Sicherheit noch mehr tun. T H O M A S G A U LY : Welches sind die Auswahlkriterien, um Politiker auf Landesoder Bundesebene zu werden? Brauchen wir andere Auswahlkriterien? H E R M A N N G R Ö H E : Es gibt nach wie vor die klassischen Auswahlkriterien wie Führungsqualität, Leidenschaft für Politik und Parteien und langjähriges Engagement vor Ort. Nicht zu unterschätzen ist auch die Bereitschaft der Kandidaten, ihren bisherigen Beruf und ihr bisheriges Leben zu einem gewissen Grade aufzugeben. Gleichzeitig sind auch Leute mit spannenden Biografien attraktiv. Für fragwürdig halte ich hingegen die Entwicklung, Kandidaten von INTERVIEW »außen« allein aufgrund ihrer Popularität zu gewinnen. T H O M A S G A U LY : Müsste man nicht härter mit den Politikern umgehen, die das Vertrauen der Wähler enttäuschen? Wenn ich mir die Fälle aus der jüngeren Vergangenheit anschaue, in denen Politiker das Vertrauen der Wähler enttäuscht haben, wüsste ich nicht wie härtere Strafen aussehen sollten. Die meisten haben nicht nur Amt und Einfluss, sondern auch ihr Renommee für lange Zeit verloren. Aufgrund der Fallhöhe aus Spitzenämtern sind die damit verbundenen finanziellen Einbußen auch nicht zu unterschätzen, zumal viele ihren ursprünglichen Beruf für die Politik aufgegeben oder unterbrochen haben und nun wieder neu Fuß fassen müssen. Und auch der Familien- und Freundeskreis geht in solchen Momenten durch eine schwere Zeit. HERMANN GRÖHE: Neben der Autorität des einzelnen Politikers ist die Autorität des Amtes, das ein Politiker bekleidet, von Bedeutung. In Ländern wie den USA wird z. B. dem Präsidenten in den Medien aber auch im öffentlichen Leben ein sehr großer Respekt entgegen gebracht. Warum ist dies in Deutschland anders? Ich finde, dieser Vergleich ist nicht ganz passend. Wir haben in Deutschland ein anderes Regierungssystem als die USA: Hier sind Staatsoberhaupt und Regierungschef zwei getrennte Ämter, dort sind sie in einer Person vereint. Und wenn Sie sich nun anschauen, welche Hochachtung und Autorität fast alle unsere Bundespräsidenten genossen haben und genießen und wenn Sie gleichzeitig an das Vokabular der Tea-Party-Bewegung1 gegenüber Präsident Obama denken, lässt sich die Unterscheidung so einfach nicht halten. Gleichwohl lässt sich nicht leugnen, dass die Bürger in Deutschland sicherlich auch aufgrund unserer Geschichte, auch der deutsch-deutschen Geschichte, gewisse Vorbehalte gegenüber staatlichen Autoritäten haben. HERMANN GRÖHE: Diese sind eben auch Ausdruck mangelnden Respekts. Hat die oft zitierte »Krise der Institutionen« nicht zuletzt darin ihren Ursprung? THOMAS G A U LY : T H O M A S G A U LY : 1 Wir haben gerade in der Wirtschafts- und Finanzkrise gesehen, wie nicht nur die Bürger auf die Autorität unseres wirtschaftlich starken Staates gesetzt haben. Nur ihm wurde noch zugetraut, die Krise einzudämmen und zu meistern. Auch auf anderen Feldern wie etwa bei der ArbeitsmarktHERMANN GRÖHE: Die Tea-Party-Bewegung ist eine US-amerikanische populistische Protestbewegung mit rechtslibertären Zügen. Ihre Anhänger setzen sich aus Mitgliedern der Christian Right, Neokonservativen und Libertären zusammen. Die Tea-Party-Bewegung hat 2009 als Reaktion auf Bankenrettungsversuche und Konjunkturpakete im Zusammenhang mit der Finanzkrise damit begonnen, ihre Anhänger gegen Steuerpolitik und andere Maßnahmen der Bundesregierung in Washington zu mobilisieren. Der Name der Bewegung bezieht sich auf die Boston Tea Party von 1773, die als Bezeichnung für einen Akt des Widerstandes gegen die britische Kolonialpolitik im Hafen der Stadt Boston gilt. 131 T H O M A S G A U LY S P R A C H M I T H E R M A N N G R Ö H E förderung wird schnell nach dem Staat gerufen. Es scheint also um dessen Autorität grundsätzlich nicht schlecht zu stehen. Ich sehe auch weniger eine Krise der Institutionen als vielmehr neue Herausforderungen für die sie tragenden Personen. T H O M A S G A U LY : Können Sie ein Beispiel nennen? H E R M A N N G R Ö H E : Nicht erst Stuttgart 21 hat gezeigt, dass wir unsere Beteiligungsverfahren und die politische Kommunikation verbessern und dabei die Institutionen noch stärker als Partner und Kompetenzzentren für die Bürger positionieren müssen. Demokratie kann nicht ohne die Autorität staatlicher Institutionen funktionieren. Gerade in einer komplizierter werdenden Welt sind wir auf das Wissen und das Urteilsvermögen der Verantwortlichen in den Institutionen anDemokratie kann nicht gewiesen. Deshalb ohne die Autorität staatlicher Institutionen funkwar es ja in der tionieren. Debatte um Stuttgart 21 so beunruhigend, dass aufgeklärte Bürger und auch einige Parteien die Entscheidungen von Gerichten und Parlamenten als nicht legitim abgelehnt haben. Erstaunlich war dann übrigens, dass einem Runden Tisch unter Leitung von Heiner Geißler die Legitimität zur Problemlösung zuerkannt wurde, ob- 132 wohl das Gremium und seine Vertreter dafür demokratisch nicht legitimiert waren. Für mich ist jedenfalls klar: Einen solchen Vertrauensbruch zwischen Politik, Institutionen und Bürgern wie bei Stuttgart 21 dürfen wir uns nicht noch einmal erlauben. Dieser »Vertrauensbruch« belastet in Deutschland das Spannungsverhältnis zwischen Bürgern und Politik, Institutionen und politischen Bewegungen. Welche Auswirkungen hat dies auf unser Verständnis von Freiheit und Autorität? THOMAS G A U LY : Das ist eine spannende Frage, die ich mir auch gestellt habe: Passen Autorität, Demokratie und offene Gesellschaft zusammen? Ich bin zu der Überzeugung gekommen, dass Freiheit und Autorität trotz zahlreicher Pervertierungen von Autorität in der Geschichte zusammen passen. Ja, sie bedingen sogar einander: Sie brauchen etwa die Autorität von Polizei und Justiz, um Freiheit zu gewährleisten. Umgekehrt erfahren Autoritäten nur in freien Gesellschaften wirkliche Legitimation und Akzeptanz. Andernfalls sind sie nicht Gleiche unter Gleichen, sondern Erste unter Gleichen und das – so hat die Geschichte oft genug gezeigt – funktioniert auf Dauer nicht. HERMANN GRÖHE: Biografien der Autoren Blogger seit 2002 auf netzpolitik.org über Politik in der digitalen Gesellschaft. Mitgründer der newthinking communications GmbH, einer Berliner Agentur für Open Source Strategien und digitale Kultur. Seit 2007 Veranstalter der re:publica-Konferenzen über Blogs, soziale Medien und die digitale Gesellschaft. Sachverständiger in der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags zu »Netzpolitik und digitale Gesellschaft« und Mitglied des Medienrates der Medienanstalt Berlin-Brandenburg sowie persönliches Mitglied der deutschen UNESCO-Kommission. Lehrbeauftragter für digitale Themen an verschiedenen Hochschulen und ehrenamtlich Vorsitzender von Digitale Gesellschaft e. V., einem Verein zur Förderung von digitalen Bürgerrechten. MARKUS BECKEDAHL: 133 BIOGRAFIEN DER AUTOREN B E G L A R Y A N : Geboren 1991 in Frankfurt am Main. Abitur 2010 an der Bettinaschule in Frankfurt. Seit dem fünften Lebensjahr Klavierunterricht in der Klasse von Vladimir Khachatryan an der Musikschule Frankfurt. Gaststudium bei Professor Karl-Heinz Kämmering an der Musikhochschule Hannover. Preisträgerin nationaler und internationaler Klavierwettbewerbe. 2009 Stipendiatin des Stipendienprogramms »Stadtteilbotschafter« der Stiftung Polytechnische Gesellschaft Frankfurt e. V. Ehrenamtliche Organisation von Mozart-Workshops für Grundschulklassen aus Frankfurt. Oktober 2010 Abschlusskonzert in Form eines Lehrkonzertes für Kinder und Jugendliche in der Alten Oper Frankfurt. Seit 2011 Musikstudium an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover. ASTGHIK Geboren 1972 am Niederrhein. Abitur als Stipendiat an der Schule Schloss Salem. Studium der Politischen Wissenschaften mit den Nebenfächern Psychologie und Öffentliches Recht in Bonn; Promotion 2002 als Stipendiat der Konrad-Adenauer-Stiftung mit einer Arbeit über den Bundestagswahlkampf 1998. 2002/03 Mitarbeiter von Sabine Christiansen, 2004 Geschäftsführer der Stiftung Liberales Netzwerk. Anschließend bis Ende 2009 fünf Jahre Grundsatzreferent und Redenschreiber im Bundespräsidialamt, seit 2010 im Bereich »Presse und Kommunikation« des Deutschen Bundestags. Fellow der Stiftung Neue Verantwortung der Jahrgänge 2009/10 und 2010/11. Seit 2003 Lehraufträge an der Hochschule für Technik und Wirtschaft sowie an der Freien Universität Berlin. KNUT BERGMANN: 134 BIOGRAFIEN DER AUTOREN Geboren 1954 in Walsum (jetzt Duisburg). 1970-1980 Kommunalverwaltungsbeamter (mittlerer Dienst) bei der Stadt Dinslaken. 1982 Erstes Staatsexamen, 1985 Zweites Staatsexamen. 1985-1986 Richter beim Sozialgericht Duisburg. 1987 Promotion in Rechtswissenschaft (Bonn) mit dem Thema »Rechtsschutz im parlamentarischen Untersuchungsverfahren«. 1986-1990 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Öffentliches Recht der Universität Bonn. 1990 Promotion in Sozialwissenschaft (Duisburg) mit dem Thema »Offener Diskurs und geschlossene Systeme«. 1990-1993 Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Öffentliches Recht der Universität Bonn. 1993 Habilitation (Bonn) mit dem Thema »Risikoentscheidungen im Rechtsstaat«. Mai 1993 Universitätsprofessor (C3) an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster. November 1993 Universitätsprofessor (C4) an der Universität Trier. 1997 Universitätsprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2003 Universitätsprofessor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Seit Dezember 1999 Richter des Bundesverfassungsgerichts (Zweiter Senat). U D O D I FA B I O : Geboren 1953 in Bochum. Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in Heidelberg, Erlangen und Freiburg. Promotion zum Thema »Obdachlosigkeit und polizeiliche Intervention«. 1981-1985 tätig als Jurist auf allen Ebenen der baden-württembergischen Landesverwaltung. 1985-2003 parteiloser Bürgermeister in Isny im Allgäu und Reutlingen sowie Oberbürgermeister der Stadt Ludwigsburg. 2003-2007 erst in der Geschäftsleitung der Bertelsmann Stiftung, dann der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung. 2007-2010 Abteilungsleiter im nordrhein-westfälischen Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration. Neben seiner beruflichen Tätigkeit nahm er zahlreiche Funktionen in nationalen Gremien wahr, wie im Bundesjugendkuratorium, im Deutschen Jugendinstitut, beim Bundesministerium für Bildung und Forschung, als Präsident des Deutschen Bibliotheksverbandes, beim Goethe-Institut und im Deutschen Städtetag. Seit Dezember 2010 Vorstand der Herbert Quandt-Stiftung. C H R I S T O F E I C H E R T: 135 BIOGRAFIEN DER AUTOREN H A N S F L E I S C H : Geboren 1958 in Celle. Studium Generale; Studium der Rechtswissenschaften in Tübingen und Göttingen. 1983-1986 Wissenschaftlicher Assistent (Öffentliches Recht) an der Universität Göttingen und nachfolgend bei der Medienkommission der Bundesländer. 1985-1988 Referendariat am OLG Celle. 1987 Promotion im Verfassungsrecht. 1988-1992 Assistent des Vorstands, dann Leiter der Firmenkundenabteilung bei der Allianz Lebensversicherungs-AG, Stuttgart/Hannover. 1993-2002 Geschäftsführer der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung (DSW), Hannover. 2003 Direktor des European Center for Population & Development ECPD, Brüssel. 2004 Mitglied der Geschäftsleitung/Leiter Verwaltung & Finanzen der VolkswagenStiftung, Hannover. Seit 2005 Generalsekretär des Bundesverbandes Deutscher Stiftungen. Partner der CNC AG. Mitglied des Stiftungsrates der Herbert Quandt-Stiftung; zuvor Generalbevollmächtigter der ALTANA AG, Bad Homburg sowie Mitglied des Vorstands der Herbert Quandt-Stiftung, 2000-2002 Sprecher der Familie Herbert Quandt. 1991-1996 Leiter der Stabsstelle »Politischen Planung und Sonderaufgaben« bei der CDU Deutschland, Repräsentant der CDU Deutschland bei der EVP in Brüssel und Straßburg und Berater des Generalsekretärs sowie des damaligen Bundeskanzlers, Dr. Helmut Kohl. In den Jahren davor Referent in der Hochbegabtenförderung der Katholischen Kirche, Ausbildung zum Redakteur, Hospitant und freier Journalist für Tageszeitungen und das ZDF. Studium der Politischen Wissenschaften, Katholischen Theologie sowie der Mittleren und Neuen Geschichte an den Universitäten Mainz und Bonn (M.A. und Promotion). THOMAS 136 G A U LY : BIOGRAFIEN DER AUTOREN H E R M A N N G R Ö H E : Geboren 1961 in Uedem, Kreis Kleve. 1980-1987 Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Köln. 1987 Erste juristische Staatsprüfung, 1993 Zweite juristische Staatsprüfung. Seit 1994 Rechtsanwalt. 1989-1994 Bundesvorsitzender der Jungen Union Deutschlands. Seit 1994 Mitglied des Deutschen Bundestags. 2005-2008 Justiziar der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion. Oktober 2008 bis Oktober 2009 Staatsminister bei der Bundeskanzlerin Angela Merkel. Seit Oktober 2009 Generalsekretär der CDU Deutschlands. Seit 1997 Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), 1997-2009 Mitglied im Rat der EKD. Seit 2001 Mitglied im Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung. Geboren 1962 in Bad Homburg. 1984-1985 Business Studies an der University of Buckingham, BSc. 1988 Studium am International Institute for Management Development, Lausanne, MBA. Seit 1991 selbstständige Unternehmerin. Aufsichtsratsmandate in familiennahen Unternehmen: Stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende der ALTANA AG, Aufsichtsratsmitglied der BMW AG. Aufsichtsratsmitglied der SGL Carbon AG, Aufsichtsratsvorsitzende der UnternehmerTUM GmbH, Garching. Vorsitzende des Stiftungsrates der Herbert Quandt-Stiftung. Mitglied des Hochschulrates der Technischen Universität München. SUSANNE K L AT T E N : T H O M A S P E T E R S E N : Geboren 1968 in Hamburg. Studium der Publizistik, Alten Geschichte und Vor- und Frühgeschichte in Mainz. Promotion zum Thema »Das Feldexperiment in der Umfrageforschung«, Habilitation über das Thema »Die Wirkung von Bildsignalen in der Medienberichterstattung auf die Meinungsbildung der Bevölkerung«. 1990-1993 Journalist beim Südwestfunk-Fernsehen in Mainz, 1993-1999 Wissenschaftlicher Assistent, seit 1999 Projektleiter am Institut für Demoskopie Allensbach. Seit 1996 Lehraufträge an verschiedenen Universitäten, so an der Universität Mainz, der Technischen Universität Dres- 137 BIOGRAFIEN DER AUTOREN den und der Donau-Universität Krems. 2008-2010 Präsident der World Association for Public Opinion Research. Sprecher der Fachgruppe »Visuelle Kommunikation« der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Geboren 1971 in Frankfurt am Main. Studium der Rechtswissenschaften, der Politologie und der Geschichte an der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt am Main. 1998-2000 Doktorand am Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte. 2001 Promotion zum mit dem Thema »Kirchenrecht und Kulturkampf«. 2001 Auszeichnung der Promotion mit der Otto-Hahn-Medaille. 2001-2003 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei BVR Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio. Seit Juli 2003 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-PlanckInstitut für Europäische Rechtsgeschichte. Seit April 2005 Leiter der Max-PlanckForschungsgruppe »Lebensalter und Recht«. Seit September 2009 Mitglied des Deutschen Bundestags (FDP-Fraktion). S T E FA N R U P P E R T: Geboren 1944 in Neustadt/Aisch. Studium der Soziologie in München und ErlangenNürnberg. 1974 Promotion zum Dr. rer. pol. 1978 Habilitation in Soziologie. 1979 Berufung auf den Lehrstuhl für Methoden der empirischen Sozialforschung an der Universität Bamberg. Themenschwerpunkt bei Vorträgen, Beratungen und Veröffentlichungen: Kultureller Wandel. Bücher (Auswahl): Die Erlebnisgesellschaft Frankfurt/Main 2005; Die beste aller Welten. Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert?, München 2003; Die Sünde. Das schöne Leben und seine Feinde, München 2006; Krisen. Das Alarmdilemma, Frankfurt/Main 2011. GERHARD SCHULZE: 138 BIOGRAFIEN DER AUTOREN P E T E R V O S S : Geboren 1941 in Hamburg. 1961-1968 Studium der Germanistik und Anglistik, Soziologie, Jura und Ethnologie an der Universität Göttingen. 1968/1969 Redaktionsvolontär beim Göttinger Tageblatt und bei der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. 19691971 Verantwortlicher Redakteur für das Ressort Lokales beim Göttinger Tageblatt. 1971-1977 Nachrichtenredakteur und Korrespondent beim ZDF. 1978-1981 Wechsel zum Bayerischen Rundfunk als stellv. Redaktionsleiter des ARD-Magazins Report. 1981 Rückkehr zum ZDF als stellv. Redaktionsleiter des heute-journals. 1985-1993 Leiter der ZDF-Hauptredaktion Aktuelles, 1990 auch stellv. Chefredakteur des ZDF. 1993-1998 Intendant des Südwestfunks. März 1998 bis April 2007 Gründungsintendant des Südwestrundfunks. Januar 1999 bis Dezember 2000 Vorsitzender der ARD, danach bis Dezember 2002 stellv. Vorsitzender. Seit Mai 1996 Moderator der »Bühler Begegnungen«, heute »Peter Voß fragt …« (3 SAT). Seit April 1997 Professor an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. September 2001 bis September 2007 Moderator des ARD-Presseclub (im Wechsel mit Fritz Pleitgen). Januar 2003 bis Juli 2007 Mitglied im Verwaltungsrat der Europäischen Rundfunkkommission (EBU). Seit 2009 Präsident der Quadriga Hochschule Berlin. W A L T E R : Geboren 1956 im ostwestfälischen Steinheim. Studium der Geschichte und Sozialwissenschaften in Berlin und Bielefeld. Seit 2000 Professor für Politikwissenschaften der Universität Göttingen. Seit März 2010 Leiter des Instituts für Demokratieforschung an der Universität Göttingen. Letzte Veröffentlichungen: Vorwärts oder abwärts? Zur Transformation der Sozialdemokratie, Berlin 2010; Gelb oder Grün? Kleine Parteiengeschichte der besserverdienenden Mitte in Deutschland, Bielefeld 2010; Entbehrliche der Bürgergesellschaft? Sozial Benachteiligte und Engagement. Bielefeld 2011. FRANZ 139 31. Sinclair-Haus-Gespräch am 07./08.05.2011 in Bad Homburg v. d. H. Teilnehmer Beckedahl, Markus; netzpolitik.org, Berlin Chefredakteur, Beglaryan, Astghik; Studentin, Stadtteilbotschafterin für Hausen 2009/2010, Frankfurt a. M. Bergmann Dr., Knut; Fellow Stiftung Neue Verantwortung, Berlin Bremer, Monika; Pressevolontärin, BürgerAkademikerin, Stiftung Polytechnische Gesellschaft, Frankfurt a. M. Di Fabio Prof. Dr. Dr., Udo; Richter des Bundesverfassungsgerichts, Karlsruhe, Professor für Öffentliches Recht, Universität Bonn, Mitglied des Stiftungsrates der Herbert Quandt-Stiftung, Bonn Eichert Dr., Christof; Vorstand der Herbert Quandt-Stiftung, Bad Homburg 140 Fleisch Prof. Dr., Hans; Generalsekretär des Bundesverbands Deutscher Stiftungen, Berlin Gauly Dr., Thomas; Partner CNC-Communications & Network Consulting AG, Mitglied des Stiftungsrates der Herbert Quandt-Stiftung, Frankfurt a. M. von der Goltz, Graf Hans; Schriftsteller, Ehrenvorsitzender der Sinclair-HausGespräche der Herbert Quandt-Stiftung, München Gröhe, Hermann; Generalsekretär der CDU Deutschlands, Mitglied des Deutschen Bundestags, Berlin Kaehlbrandt Dr., Roland; Vorstandsvorsitzender der Stiftung Polytechnische Gesellschaft, Frankfurt a. M. 31. SI N C L AI R- H AUS - G E S P R ÄC H Klatten, Susanne; Vorsitzende des Stiftungsrates der Herbert Quandt-Stiftung, München Steinberg Prof. Dr., Rudolf; ehem. Präsident der Universität Frankfurt, Stellv. Vorsitzender des Stiftungsrates der Herbert Quandt-Stiftung, Frankfurt a. M. Löffler Dr., Roland; Themenfeldleiter »Bürger und Gesellschaft«, Leiter der Repräsentanz der Herbert Quandt-Stiftung, Berlin Voß Prof. Dr., Peter; Präsident der Quadriga Hochschule Berlin, Intendant a. D. des SWR, Baden-Baden Möhlmann, Sabina; Ministerialdirektorin, Leiterin der Abteilung Inland des Bundespräsidialamts, Berlin Walter Prof. Dr., Franz; Leiter des Instituts für Demokratieforschung, GeorgAugust-Universität Göttingen, Göttingen Petersen PD Dr., Thomas; Projektleiter Institut für Demoskopie Allensbach, Allensbach Weidenfeld Dr., Ursula; freie Journalistin, Potsdam Ruppert Dr., Stefan; Mitglied des Deutschen Bundestags, FDP-Fraktion, Berlin Weigand, Roman; Referent für Presse und Öffentlichkeitsarbeit, Herbert Quandt-Stiftung, Bad Homburg Schäfer Prof. Dr., Hermann; Mitglied des Stiftungsrates der Herbert QuandtStiftung, Bonn von Welck Prof. Dr., Karin; Senatorin a. D., Mitglied des Stiftungsrates der Herbert Quandt-Stiftung, Hamburg Schulze Prof. em. Dr., Gerhard; OttoFriedrich-Universität Bamberg, Bamberg Winnacker Prof. Dr., Ernst-Ludwig; Generalsekretär des Human Frontier Science Program, Mitglied des Stiftungsrates der Herbert Quandt-Stiftung, Straßburg 141 Sinclair-Haus-Gespräche Themen 1. Welt im Umbruch: Können Demokratie und Marktwirtschaft überleben? November 1993 2. Verwildert der Mensch? Voraussetzungen gesellschaftlicher Ordnung April 1994 3. Quo vadis? Deutschland nach einem besonderen Wahljahr Dezember 1994 4. Kulturen im Konflikt – Die Bestimmung Europas März/April 1995 9. Russland – wohin? Dezember 1997 10. Leben – um welchen Preis? April 1998 11. Trialog der Kulturen im Zeitalter der Globalisierung Dezember 1998 12. Vom christlichen Abendland zum multikulturellen Einwanderungsland? April 1999 5. Kultur als Machtinstrument Dezember 1995 13. Die Zukunft des Gewesenen – Erinnern und Vergessen an der Schwelle des neuen Millenniums November 1999 6. Globale Wirtschaft – nationale Sozialpolitik: Wie lange geht das noch gut? April 1996 14. Die stille Revolution – Geschlechterrollen verändern sich April 2000 7. Löst sich die Industriegesellschaft auf? November 1996 15. Kapitalismus ohne Moral? Ethische Grundlagen einer globalen Wirtschaft November 2000 8. Europa nach der Wirtschafts- und Währungsunion April 1997 142 SINCL AIR-HAUS - GESPRÄCHE 16. Europas Verfassung – Eine Ordnung für die Zukunft der Union Mai 2001 25. Unternehmerischer Patriotismus in Zeiten globaler Märkte November 2005 26. Die Zukunft der gesellschaftlichen Mitte in Deutschland Mai 2006 17. Wem gehört der Mensch? November 2001 18. Brücken in die Zukunft – Museen, Musik und darstellende Künste im 21. Jahrhundert April 2002 19. Afrika – der vergessene Kontinent? November 2002 27. Die Mitte als Motor der Gesellschaft – Spielräume und Akteure April 2007 28. Wege zur gesellschaftlichen Mitte – Chancen, Leistung und Verantwortung April 2008 29. Aspekte gesellschaftlicher Mitte in Europa – Annäherungen und Potentiale April 2009 20. Medien in der Krise Mai 2003 21. Jenseits des Staates? »Außenpolitik« durch Unternehmen und NGOs November 2003 22. Gesellschaft ohne Zukunft? Bevölkerungsrückgang und Überalterung als politische Herausforderung Mai 2004 30. Vertrauen und das soziale Kapital unserer Gesellschaft April 2010 31. Autorität heute – Neue Formen, andere Akteure? Mai 2011 23. Mut zur Führung – Zumutungen der Freiheit. Wie wahrheitsfähig ist die Politik? November 2004 24. Europa und Lateinamerika – Auf dem Weg zu strategischer Partnerschaft? April 2005 Roland Kaehlbrandt (l.) und Roland Löffler in die Lektüre vertieft 143 Die Herbert Quandt-Stiftung und die Sinclair-Haus-Gespräche Herbert Quandt-Stiftung Den Bürger stärken – die Gesellschaft fördern Gestiftet als Dank für die Lebensleistung des Unternehmers Dr. Herbert Quandt setzt sich die Herbert Quandt-Stiftung für die Stärkung und Fortentwicklung unseres freiheitlichen Gemeinwesens ein. Ausgangspunkt ihres Handelns in den Satzungsbereichen Wissenschaft, Bildung und Kultur ist entsprechend diesem Vorbild die Initiativkraft des Einzelnen und die Einsatzbereitschaft für Andere. Die Stiftung will mit ihrem Wirken dazu beitragen, das Ideal des eigenständigen Bürgers zu fördern: Sie möchte Menschen anregen, ihre individuellen Begabungen zu entfalten und Verantwortung für sich sowie für das Gemeinwesen zu übernehmen. Die Stiftung ist grundsätzlich operativ tätig in Form von längerfristigen Programmen. Sie greift gesellschaftspolitische Themen auf, erschließt sie in Kooperation mit der Wissenschaft, entwickelt praktikable Lösungsansätze und bringt sie in das Bewusstsein der Öffentlichkeit und der Politik. Sie möchte damit auch die politische Kultur unseres Landes fördern. Je nach Erfordernis setzt die Herbert Quandt-Stiftung auf Bündnisse mit anderen Institutionen und Organisationen, um den gesamtgesellschaftlichen Dialog zu befördern sowie andere zu ermutigen, die Anliegen der Stiftung aufzunehmen und weiterzutragen. Isaak von Sinclair Isaak von Sinclair (1775-1815) war Berater und enger Vertrauter des Landgrafen von Hessen-Homburg, dessen Interessen Sinclair u.a. auf dem Wiener Kongress vertrat. Sinclair war aber nicht nur Beamter und Diplomat, sondern auch Intellektueller und Poet. Seine idealistische Philosophie und die seines Freundeskreises, dem Hegel, Schelling und Hölderlin angehörten, waren von der geistigen und politischen Auseinandersetzung im Gefolge der Aufklärung und der Französischen Revolution geprägt. 144 D I E H E R B E R T Q UA N D T- S TI F T U N G Teilnehmerrunde im Sinclair-Haus Sinclair war Hölderlin insbesondere während dessen schwierigen Lebensphasen ein hilfreicher Freund. Als »edler Freund des Freundes« gewährte Sinclair dem Dichter Zuflucht, finanzierte seinen Lebensunterhalt und kümmerte sich um den Kranken. Sinclair-Haus-Gespräche 1978 erwarb die ALTANA AG das Haus, das den Namen Isaak von Sinclairs trägt. Das dem Bad Homburger Schloss gegenüber gelegene Haus wurde in der Schönheit seiner ursprünglichen Barockform restauriert. Seit 1993 finden hier die Sinclair-Haus-Gespräche statt, in denen die Herbert Quandt-Stiftung internationale Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, Politik und den Kirchen zum Gespräch über die grundlegenden Fragen der Gegenwart mit dem Ziel zusammenführt, gemeinsam trägfähige Ansätze für Problemlösungen zu entwickeln. Die Begegnungen erfolgen in einem geschlossenen Kreis von etwa 25 Teilnehmern und dienen so einem offenen Gedankenaustausch. Die Ergebnisse werden veröffentlicht, um den gewonnenen Erkenntnissen über den Teilnehmerkreis hinaus Resonanz zu verschaffen. 145 Bildnachweis Titel: Sean Gallup S. 3, 6, 9, 73, 129, 133-141, 143, 145: Mirko Krizanovic S. 11, 13, 39, 66, 79, 96, 103: picture alliance/dpa S. 27: picture alliance/imagestate/HIP/Ann Ronan Picture Library S. 45: picture alliance/dpa/dpaweb S. 49, 127: picture alliance/ZB S. 85: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung: Bild-Nr. 4537 S. 101: picture alliance/Sven Simon S. 109: picture alliance/Jürgen Berger S. 113: picture alliance/maxppp S. 115: picture alliance/Süddeutsche Zeitung Photo S. 123: Initiative Bürgerstiftungen 146 Impressum HERAUSGEBER Herbert Quandt-Stiftung Am Pilgerrain 15 61352 Bad Homburg v. d. Höhe www.herbert-quandt-stiftung.de VERLAG Verlag Herder GmbH Hermann-Herder-Str. 4 79104 Freiburg www.herder.de TEXTREDAKTION Dr. Christof Eichert Dr. Roland Löffler Stephanie Hohn L E K T O R AT Stephanie Hohn Eva Lang G E S TA LT U N G S K O N Z E P T Stählingdesign, Darmstadt S AT Z U N D B I L D B E A R B E I T U N G Arnold & Domnick, Leipzig HERSTELLUNG freiburger graphische betriebe · fgb © Herbert Quandt-Stiftung Alle Rechte vorbehalten. November 2011 ISBN 978-3-451-30520-7