Autorität heute – Neue Formen, andere Akteure?

Transcrição

Autorität heute – Neue Formen, andere Akteure?
31. S I N C L A I R - H AU S - G E S P R ÄC H
Autorität heute –
Neue Formen,
andere Akteure?
HERAUSGEGEBEN IM AUFTRAG
D E R H E R B E R T Q UA N DT-STI F T U N G
VON CHRISTOF EICHERT
U N T E R M I TA R B E I T V O N S T E P H A N I E H O H N
Inhalt
04
Editorial
Von Christof Eichert
08
Wegweisung
Von Susanne Klatten
I. Autorität zwischen Leistung und Zuschreibung: soziologische
Erkenntnisse
12
Autorität – Grenzgang ohne Ende. Eine Ortsbestimmung
22
Autorität in Deutschland: Empirische Erkenntnisse der aktuellen Allensbach-Studie
Von Gerhard Schulze
Von Thomas Petersen
II. Politik, Kirche, Gewerkschaften: Traditionelle Autoritäten
in der Krise?
40
Die Entkollektivierung der Gesellschaft und die Schwierigkeit, Autorität zu
bewahren
Von Franz Walter
61
Institutionelle Autoritäten in der Krise – oder: Realismus tut not
Von Knut Bergmann
71
Persönliche Autorität: Die Kraft in der Krise?
Von Hermann Gröhe
III. Autorität des Rechts? Institutionelle Autorität in Deutschland
zwischen EuGH und Basisdemokratie
80
Autoritative Rechtsprechung in der Gegenwart
Von Udo Di Fabio
91
Die Autorität des Deutschen Bundestags im Spannungsfeld zwischen europäischen
Vorgaben und gesellschaftlichen Anforderungen
Von Stefan Ruppert
IV. Medien-Autoritäten: von Gutenberg bis Wikileaks
104
Neue Medien als Chance zur Demokratisierung
111
Das Netz als fünfte Gewalt im Staate
Von Peter Voß
Von Markus Beckedahl
02
I N H A LT
V. Bürgersinn: Eine Autorität zwischen Erwartung und Möglichkeiten
116
Eine aktive Bürgergesellschaft und ihre neuen Autoritäten
Von Hans Fleisch
126
Motivation zu Engagement. Eine persönliche Perspektive
Von Astghik Beglaryan
Interview
129
Thomas Gauly im Gespräch mit Hermann Gröhe
133
Biografien der Autoren
140
Teilnehmer
142
Übersicht Sinclair-Haus-Gespräche
144
Herbert Quandt-Stiftung
144
Isaak von Sinclair
145
Sinclair-Haus-Gespräche
146
Bildnachweis
147
Impressum
Anhang
Hintergrund
03
Editorial
Worauf ist noch Verlass? Vertrauen – Autorität – Freiheit
VON CHRISTOF EICHERT
1. Thema »Autorität heute«
Das Thema des Sinclair-Haus-Gesprächs 2011 greift in der Reihe »Worauf ist
noch Verlass? Vertrauen – Autorität – Freiheit« ein wichtiges Anliegen in einer
sich rasant verändernden Welt auf. Die zeitgleiche Debatte um die Veröffentlichung von geheimen Dokumenten der US-Außenpolitik und die befürchtete
Gefährdung staatlicher Autorität durch Wikileaks-Aktivisten unterstreicht die
Aktualität dramatisch.
Ausgehend von der Überlegung, dass es keine autoritätsfreie Entwicklung, sondern
eher eine Verlagerung der tatsächlichen Autorität auf andere, neue Akteure geben
wird, zeigt sich der thematische Bezug in der Ausgestaltung des Titels der Publikation, die das Sinclair-Haus-Gespräch dokumentiert: Autorität heute – Neue Formen,
andere Akteure?
Aus der breiten Palette von denkbaren Feldern der Debatte um alte und neue Autorität erfolgte mit Blick auf die gewünschte Umsetzung von Ergebnissen in die laufende Stiftungsarbeit eine Auswahl. Die Referenten waren von uns gebeten worden,
das ihnen anvertraute Thema nach einer kurzen Verortung im Grundsätzlichen
und der aktuellen Relevanz vor allem mit Blick in die Zukunft zu beleuchten. Die
Leitfragen waren dabei:
Wer sind die Träger von Autorität im thematischen Feld, welche Veränderungen
sind zu befürchten? Welche Erwartungen werden für die Zukunft formuliert, welche Prognose wird gestellt und welche Handlungsoptionen gibt es für Bürgergesellschaft und Staat?
Rechtzeitig zur Tagung lag die von der Stiftung beauftragte empirische Untersuchung des Instituts für Demoskopie (IfD) Allensbach vor. Die leitenden Fragen bei
der repräsentativen Studie waren:
04
EDITORIAL
• Welche Vorstellungen des Begriffs Autorität herrschen bei der deutschen Bevölkerung vor?
• Welche Wertschätzung genießt Autorität als ordnender Faktor in der Gesellschaft? Wird Autorität als notwendig oder als ein veraltetes Prinzip wahrgenommen, das es zu überwinden gilt?
• Welches sind die Faktoren, die die Wertschätzung der Autorität durch die Bürger bedingen?1
So wird in der Untersuchung beispielsweise der Frage nachgegangen, in welchen
Bereichen Autorität besonders wichtig ist, wo es aus Sicht der Bevölkerung zu viel
und an welchen Stellen es zu wenig Autorität gibt, welche Personengruppen oder
Organisationen Träger von Autorität sind und welche inhaltlichen Aspekte abseits
aller theoretischen Erwägungen mit diesem Begriff verbunden sind. Auch das wechselseitige Verhältnis von Autorität, Freiheit und Vertrauen wird behandelt.
Mit einer Neuerung betrat die Stiftung ein sicher auch für vergleichbare Symposien
spannendes Neuland: Diskussionen um die Zukunft wichtiger Themen der Gesellschaft dürfen nicht über die nächste Generation erfolgen, sondern stets mit ihr. Deshalb wurden zum Sinclair-Haus-Gespräch zwei »Botschafterinnen der Zukunft«
eingeladen, die als Vertreterinnen der Generation der Zwanzig- bis Dreißigjährigen
ihren Standpunkt, vor allem aber auch ihre Erwartungen in die Diskussion einbringen sollten. Diese Erwartung hat sich aufs Vortrefflichste erfüllt.
2. Umsetzung der Ergebnisse
Die beiden großen Themenfelder der Herbert Quandt-Stiftung als Ableitung aus
Leitbild und Wegweisung der Stifterin haben stets den Auftrag, mit den Ergebnissen eines Sinclair-Haus-Gesprächs zu arbeiten. So sollen die wichtigen Beiträge aus
den Referaten und der Debatte nachhaltig in die Arbeit der Stiftung einfließen.
Für das Themenfeld »Bürger und Gesellschaft« liegt nahe, die Veränderung von
Autorität in der Balance zwischen Bürgergesellschaft und Staat zu beleuchten und
zum Beispiel zu fragen, wie die Autorität der Bürger gestärkt werden kann, die
sich um das Gemeinwesen kümmern und damit Bürgersinn beweisen. Was sind die
Wesenskerne einer gesellschaftlich anerkannten Autorität einzelner Menschen? Wie
kann die Stiftung einen Beitrag leisten, damit sich solche Menschen auch in Zeiten
eines massiven demografischen Wandels etwa in den neuen Bundesländern finden
1
Petersen, Thomas: »Autorität in Deutschland. Eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach.« In:
Herbert Quandt-Stiftung (Hg): Gedanken zur Zukunft 20. Bad Homburg 2011.
05
CHRISTOF EICHERT
Christof Eichert beim Abendvortrag des Sinclair-Haus-Gesprächs
und unterstützen lassen? Der von der Stiftung mitgetragene Ideenwettbewerb für
Bürgerstiftungen wird sich auch auf diese Dimension der Autorität erstrecken.
Für das Themenfeld »Trialog der Kulturen« liegt die Frage nach den verschiedenen Verständnissen von persönlicher und institutioneller Autorität in den drei
großen Kulturkreisen von Christentum, Judentum und Islam auf der Hand. Dies
in den Schulwettbewerb, die Journalistengespräche und andere Formate des Trialogs einzubinden, wird eine neue und sehr wichtige Dimension auch der politischen
Debatte eröffnen.
3. Persönliche Anmerkungen
Das Sinclair-Haus-Gespräch 2011 war für mich das erste große Ereignis in meiner
Aufgabe als neuer Vorstand der Herbert Quandt-Stiftung. Einige der Stationen meines Werdegangs sind dabei wunderbare Hintergründe für das diesjährige Thema.
Bad Homburg, mein neuer Arbeitsort, kenne ich schon von meiner Zeit als
Geschäftsführer der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung. Die Spannung zwischen
Rand und Mitte eines Ballungsraums, die Freuden und Leiden der selbstbewussten Bürgerschaft einer ehemaligen Residenz-Stadt im Schatten der Main-Metropole
06
EDITORIAL
sind ein interessantes Feld für Fragen nach Zusammenhalt und Solidarität einer
Gesellschaft. Wer sich als Stiftung für Bürger und Gesellschaft nützlich machen
will, sollte den Menschen und ihren Lebensumständen nahe sein, insbesondere auch
in den neuen Bundesländern. Das wollen wir gerne tun, ohne das politische Parkett
in der Bundeshauptstadt zu scheuen. Das neu benannte Themenfeld »Bürger und
Gesellschaft« mit dem Büro in Berlin unter der Leitung von Roland Löffler wird
diese ganz konkrete Arbeit der Stiftung vorantreiben.
Das schwäbische Versailles Ludwigsburg und meine Zeit als Oberbürgermeister
dort haben mich stark geprägt und vor allem kritisch-neugierig gemacht, was eine
Bürgerschaft mit einer vergleichsweise jungen Geschichte aus eigenen Stücken auch
ohne Residenz und Garnison, ohne Herzog und König zu leisten vermag. Ich habe
auch erlebt, was eine Verwaltung falsch machen kann, wenn sie die Bürgerschaft als
Ersatz-Dienstleister eines klammen städtischen Budgets betrachtet und so behandelt.
Isny werden nicht alle kennen. In jungen Jahren war ich dort Bürgermeister.
Diese kleine Stadt war einst einflussreicher europäischer Fern-Handelsplatz, hatte
das Recht, eigene Geld-Münzen zu prägen und gehörte zu den 14 Reichsstädten
Deutschlands, die sich der Reformation beim Reichstag zu Speyer im Jahr 1529 angeschlossen hatten. Interessant ist für mich die Suche nach dem kollektiven Gedächtnis
einer solch historisch reichen Gesellschaft zu Autoritäten, politischem Einfluss und
Spielregeln des Miteinander. Am Beispiel der Stadt Isny gibt es spannende Untersuchungen zur Frage, was die Stadtgesellschaft unbewusst und über Jahrhunderte
hinweg prägt, welche Autoritäten willkommen sind, welche Spielregeln benötigt
und akzeptiert werden und wie sich dieses kollektive Gedächtnis verändern lässt.
Das Sinclair-Haus-Gespräch des Jahres 2011 hat die Herbert Quandt-Stiftung bereichert und großzügig mit Wegweisungen für unsere tägliche Arbeit versehen. Dieses
Geschenk nun in den konkreten Projekten und Programmen umzusetzen, ist eine
dankbare Aufgabe, der wir uns gerne stellen.
07
Wegweisung
V O N S U S A N N E K L AT T E N
Mit dem 31. Sinclair-Haus-Gespräch greifen wir die gesellschaftspolitische Leitfrage der Stiftung auf: »Worauf ist noch Verlass?«. Im vergangenen Jahr haben
wir über Vertrauen und seine Bedeutung für unsere Gesellschaft nachgedacht. 2011
haben wir uns mit dem Thema »Autorität heute – Neue Formen, andere Akteure«
beschäftigt und legen nun die Ergebnisse unserer Überlegungen vor.
Das Nachdenken über das Heute und das Morgen, die Beschäftigung mit Fragen
zum Zustand unseres Landes und seiner möglichen Entwicklungen – dies ist der
rote Faden der Sinclair-Haus-Gespräche. Kaum ein Thema der vergangenen Jahre
hat allerdings so tagesaktuelle Bezüge in diesem Jahr wie die Beschäftigung mit der
Autorität.
Jeder von uns kann zum Thema Autorität eigene Erfahrungen und Erkenntnisse
einbringen. Autorität umgibt uns manchmal wie ein schützender Mantel, manchmal auch wie eine enge Jacke. Das Ringen um und mit Autorität – die eigene
und eine fremde – begleitet uns in allen unseren Rollen. Als Mutter, als Unternehmerin und in besonderem Maße als engagierte Bürgerin und Stifterin erlebe
ich dieses Ringen stets aufs Neue und reflektiere die wechselseitigen Wirkungen.
Sie begleiten uns in jeder Phase unseres Lebens in ungezählten Momenten und
Anlässen.
Am Ende kann uns der Satz von Marie Ebner-Eschenbach helfen:
»Das unfehlbare Mittel, Autorität über die Menschen zu gewinnen, ist, sich ihnen
nützlich zu machen.«1
1
Ebner-Eschenbach, Marie: Aphorismen. Stuttgart 2002. S. 30
08
WEGWEISUNG
Susanne Klatten im Gespräch mit Hans Fleisch (l.) und Thomas Gauly
Dies ist ein gutes Motto, ganz besonders für die Herbert Quandt-Stiftung, die sich
nützlich für die Veränderungen in diesem Land machen möge.
Das Schwerpunktthema – ›Worauf ist noch Verlass? Vertrauen, Autorität, Freiheit‹ – hat nichts von seiner Aktualität und Brisanz verloren. Im Gegenteil, die Stichworte rufen sogleich Bilder und Schlagzeilen aus dem Frühjahr 2011 in Erinnerung:
• Die Facebook-Revolutionen in Ägypten, Tunesien, Syrien, Libyen usw.
• Das Großprojekt Stuttgart 21, der grüne Höhenflug und ihr Wahlsieger Kretschmann
• »Japan und der gesellschaftliche Super-GAU«2
• »Guttenberg und die Erregungsgesellschaft«3
»Vertrauen und das soziale Kapital unserer Gesellschaft« ist der Titel unseres letzten Sinclair-Haus-Gesprächs.4 Es ging uns um das Vertrauen als eine notwendige
Bedingung des Zusammenlebens. Greift man dieses Bild auf, dann ist Autorität die
notwendige Bedingung für das Funktionieren einer komplexen Gesellschaft.
2
Eine Überschrift in SPIEGEL-Online vom 22.03.2011.
Eine Überschrift in der Süddeutschen Zeitung vom 02.03.2011.
4
Herbert Quandt-Stiftung (Hg.):Vertrauen und das soziale Kapital unserer Gesellschaft. Bad Homburg 2011.
3
09
SUS A N N E K L AT T E N
Wir haben auch in diesem Jahr besonderen Wert darauf gelegt, Erkenntnisse zu
erzielen, die in die Arbeit der Stiftung einfließen können. Um im Bild von Marie
Ebner-Eschenbach zu bleiben: Wo und wie kann sich die Herbert Quandt-Stiftung
nützlich machen, um zum Beispiel die Autorität von engagierten Bürgern zu sichern
und zu stärken?
Eine notwendige und wichtige Veränderung unserer Gesprächskultur ist für mich,
nicht über junge Menschen, sondern mit ihnen zu diskutieren. Noch nie war die
Altersspanne bei einem Sinclair-Haus-Gespräch so groß wie in diesem Jahr. Diese
Spanne spiegelt eine Realität in unserem Lande wider, die wir beachten sollten.
10
I. Autorität zwischen Leistung
und Zuschreibung: soziologische
Erkenntnisse
Autorität – Grenzgang ohne Ende
Eine Ortsbestimmung
VON GERHARD SCHULZE
1. Was ist Autorität?
Lassen Sie mich mit der Schilderung einer Situation anfangen, die ich unzählige
Male erlebt habe: Ich betrete einen voll besetzten Hörsaal, um meine Vorlesung
zu halten. Viele Studenten haben keinen Platz mehr gefunden und sitzen in den
aufsteigenden Zwischengängen, auf den Fenstersimsen oder auf dem Fußboden
rings um das Pult. Die Luft schwirrt von Reden, Rufen und Lachen. Innerhalb der
nächsten Minute muss ich Ruhe herstellen, die Aufmerksamkeit auf meine Person
fokussieren und alle Anwesenden für eineinhalb Stunden bei der Stange halten. Es
ist klar, dass dies nur mit Autorität geht. Ich muss unmissverständlich zeigen, dass
ich jetzt die Führung beanspruche und dass die in Vorlesungen üblichen Regeln
gelten.
Das klappt auch, aber warum eigentlich? Wäre es nicht viel schöner für die Studenten, sich einfach weiter zu unterhalten und Spaß miteinander zu haben? Würden
sie nicht mitspielen, müsste ich schnell das Handtuch werfen. Offenbar wollen die
Studenten, dass ich jetzt die Zügel in die Hand nehme; sie brauchen meine Autorität
ebenso wie ich selbst.
Ob einen die Polizei anhält, um die Papiere zu kontrollieren; ob man als Vorgesetzter Weisungen gibt oder als Untergebener welche empfängt; ob man von seinem
Kind etwas fordert, was es nicht einsieht: Unser Alltag führt uns von einer Autoritätserfahrung zur nächsten, meine Vorlesung eingeschlossen. Der Begriff der Autorität sammelt all diese Lebensfülle mit einer einzigen Abstraktion ein.
Was ist aus soziologischer Sicht der gemeinsame Nenner der Beispiele, die ich
genannt habe? Ich will drei Elemente herausarbeiten.
12
A U T O R I TÄT – G R E N Z G A N G O H N E E N D E
Autoritätserfahrungen im Alltag einer Hochschule
Erstens ist Autorität, wenn es gut läuft, immer eine Gemeinschaftsleistung. Zwischen
Autoritätsinstanz und Autoritätsbetroffenen besteht eine Art unausgesprochener
Vertrag. Sein Kern ist der Tausch von guter Führung gegen Gefolgschaft. Keine
Gemeinschaft kommt völlig ohne diesen Autoritätsvertrag aus. Es muss jemanden
geben, der auf die Einhaltung der Regeln achtet, der die Interessen aller jenseits
der Privatinteressen zum Thema macht, der etwas für das Gemeinwohl tut, der
für Gerechtigkeit sorgt und die Schwachen schützt. Deshalb stoßen wir in Naturvölkern ebenso auf das Phänomen der Autorität wie in modernen Gesellschaften.
Überall gibt es eine Nachfrage nach Autorität; und normalerweise sehen die Menschen ihren Sinn ein.
Zweitens ist die universelle Idee der Autorität logisch notwendig mit der Unterscheidung von guter und schlechter Autoritätsausübung gekoppelt. Es stehen
Erwartungen im Raum, die erfüllt oder enttäuscht werden können. Schlechte
Autoritätsinstanzen sind ihren Aufgaben nicht gewachsen, oder sie missbrauchen
ihre Position, um sich Vorteile zu verschaffen und Kritiker mundtot zu machen.
Gute Autoritäten dagegen werden respektiert. Sie agieren mit einem kollektiven
Vertrauensvorschuss, mit »Legitimität«. Am besten stellt man sich Legitimität als
etwas Atmosphärisches vor, als eine Art Betriebsklima zwischen Instanzen und
13
GERHARD SCHULZE
Betroffenen. Legitimität ist das Substrat einer fortlaufenden kollektiven Beurteilung jeder Autoritätsinstanz.
Drittens braucht Autorität schließlich Machtmittel, um sich gegen Widerstand
durchzusetzen. Der Gebrauch dieser Macht gehört zwingend zum Handwerk der
Autorität dazu; ohne Macht kann sie ihrer Aufgabe nicht gerecht werden. Aber
Macht ist verführerisch. Wer garantiert, dass eine Autoritätsinstanz ihre Macht tatsächlich auch im Sinn der Gemeinschaft einsetzt? Nichts hat so viel Unheil über
die Menschen gebracht wie skrupellose oder inkompetente Autoritäten. Die Gesellschaft braucht Autorität, ist aber gleichzeitig durch Autorität bedroht – diese Ambivalenz lässt sich nicht endgültig beseitigen, und deshalb sind Autoritätsbeziehungen
immer ein Grenzgang ohne Ende, eine Wanderung zwischen Normalfall und Risikofall, auch hier und heute.
2. Machtmissbrauch. Der Risikofall der Autorität
Es geschieht immer wieder, dass der ursprüngliche Sinn von Autorität bis zur
Unkenntlichkeit pervertiert wird. Zwar kommt Autorität nicht ganz ohne Macht
aus; selbst ich muss in meiner Vorlesung manchmal Druck machen, meist versuche ich es mit Ironie. Mein Machtmonopol besteht im alleinigen Rederecht, und ich
nutze es durchaus. Aber auch ich muss aufpassen, dieses Monopol nicht zu missbrauchen. Einer meiner Kollegen ist berüchtigt dafür, immer wieder Studenten
öffentlich abzukanzeln und der Lächerlichkeit preiszugeben. Vor ihm haben sie
Angst, aber sie achten ihn nicht. Die Legitimität seiner Autorität ist längst zusammengebrochen.
In der Geschichte der Autorität entstanden immer wieder Zwangssysteme, in denen
es lebensgefährlich war, die Legitimität der Machthaber auch nur in Frage zu stellen.
Die kollektive Beurteilung der Autorität wurde verboten. Räuberische Potentaten,
blutrünstige Diktatoren, sadistische Lehrer oder Familiendespoten haben den Autoritätsvertrag aufgekündigt; die Unterscheidung zwischen guter und schlechter Autorität kümmert sie nicht. Hier ist der Super-GAU der Autorität eingetreten; sie existiert nicht mehr, weil die Frage nach Rechtfertigung, Geltung, Legitimität gestrichen
ist. So war es bei Stalin, Hitler, Saddam Hussein oder Gaddafi. Mit Legitimität fängt
es an, mit Machtmissbrauch hört es auf, einen friedlichen Weg zurück gibt es nicht.
3. Wie entsteht Legitimität? Zwei Muster
Was aber ist mit dem Normalfall der Autorität? Wie kann Legitimität entstehen?
Ich will zunächst ganz allgemein auf diese Frage antworten. Legitimität ist ein positives summarisches Kollektivurteil über die Instanz, sie ist gefühlte gute Autorität.
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A U T O R I TÄT – G R E N Z G A N G O H N E E N D E
Es wird schon alles seine Ordnung haben, denken die Menschen. Sie vertrauen.
Viele schauen gar nicht mehr genau hin, weil es ja genügt, wenn ein paar hinschauen.
Die rudimentäre Zufriedenheit der meisten beruht oft nur auf dem Hörensagen
oder nicht einmal darauf, sondern bloß auf dem Ausbleiben von
offensichtlichem Machtmissbrauch. Das grenzt an Inaktivität, Legitimität ist ein
positives summarisches
nichtsdestoweniger verbirgt sich hier ein permanenter Beurtei- Kollektivurteil.
lungsvorgang. Aber nach welchen Gesichtspunkten? Diese Frage
zielt auf eine einschneidende Wende in der Kulturgeschichte der Autorität. Wir
beurteilen heute Autoritäten nach anderen Maßstäben als in früheren Zeiten.
Um diesen Wandel auf den Begriff zu bringen, greife ich auf das theoretische
Arsenal von Talcott Parsons zurück, eines Klassikers der Soziologie.1 Von Parsons
stammt eine Liste von grundlegenden Merkmalen, nach denen sich alle Gesellschaften beschreiben lassen, die sogenannten pattern variables. Es handelt sich dabei um
Alternativen, zwischen denen sich jede Gesellschaft entscheiden muss. Eines dieser
Gegensatzpaare eignet sich dazu, den großen Paradigmenwechsel in der Geschichte
der Autorität darzustellen – die Dichotomie von Zuschreibung oder Erwerb. Was
bedeutet das im Einzelnen? Ich gehe im Folgenden zunächst auf das Paradigma der
Zuschreibung ein, dann auf das Paradigma des Erwerbs.
4. Zugeschriebene Autorität
Wird Autorität zugeschrieben, so beruht sie auf Merkmalen, auf die man keinen
Einfluss hat, etwa Geburt, Geschlecht, Alter oder angenommene übernatürliche
Kräfte. Zuschreibungen sind meist an metaphysische oder naturrechtliche Hintergrundvorstellungen gebunden. Der absolute Herrscher hat seine Autorität von
Gottes Gnaden; der Mann ist das Oberhaupt der Familie, weil dies der Schöpfungsordnung entspricht; der Schamane hat Autorität, weil er in Dinge eingeweiht ist, die
normalen Sterblichen verborgen bleiben.
In Autoritätskulturen der Zuschreibung beruht die Geltung von Autorität auf
Glauben und Tradition, nicht auf dem Urteil der Betroffenen über die Führungsleistung. Dass die Instanzen legitim sind und dass die Autorität bei ihnen in besten Händen ist, steht a priori fest. Wer sich auflehnt, wird typischerweise streng
bestraft, da dies als Verstoß gegen die heilige Ordnung gilt. Ungehorsam ist Sünde.
Autoritätskulturen der Zuschreibung scheinen auf den ersten Blick förmlich zur
Willkür einzuladen; schließlich sind die Instanzen ja jeder Kritik enthoben. Doch
1
Siehe dazu grundlegend: Parsons, Talcott: The social system. New York 1964. Vgl. auch: Parsons, Talcott:
Das System moderner Gesellschaften. Weinheim 20097.
15
GERHARD SCHULZE
meist funktionieren sie ganz gut. Warum ist das so? Warum tritt hier der Risikofall
der Macht keineswegs immer und sofort ein? Die Erklärung liegt darin, dass die
Autoritätsinstanzen in einem metaphysischen Rechtfertigungsverhältnis agieren.
Sie müssen nicht bloß Menschen gerecht werden, sondern Gott, der Natur oder den
Ahnen. Es geht nicht bloß um ihre irdischen Interessen, es geht um ihr Seelenheil.
Diese metaphysisch begründete Erwartung guter Autoritätsausübung hat sich in
einer Reihe von Idealfiguren mit großer Suggestivkraft verfestigt. Beispiele sind das
Leitbild des weisen Fürsten, der das Wohl seiner Untertanen mehrt; das Leitbild
des gerechten Herrn, der seine Schutzbefohlenen gut und gerecht behandelt; das
Leitbild des so strengen wie gütigen Familienvaters, der aufopferungsvoll für die
Seinen sorgt.
Das grundlegende Herrschaftsmodell von Autoritätskulturen der Zuschreibung hat
die Form einer Pyramide: An der Spitze steht eine metaphysische oder als gottgleich
verehrte Autoritätsinstanz, dann kommen die irdischen Instanzen, die in ihrem
Auftrag handeln, und dann die Gehorsamspflichtigen, denen der übergeordnete
Wille eigentlich nur weitergegeben wird.
5. Erworbene Autorität
Im 18. Jahrhundert wurde das metaphysisch verankerte Autoritätsmodell der
Zuschreibung heftig attackiert. »Was ist Aufklärung?«, fragte Kant in einem Aufsatz, der 1784 in der Berlinischen Monatsschrift erschien.2 Hier seine berühmte Antwort: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten
Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne
Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn
die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung
und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen.«
In diesen Worten klingt ein gänzlich anderes Modell an. Die Zuschreibung von
Autorität gilt den Aufklärern als selbstverschuldete Unmündigkeit. An die Stelle
blinden Autoritätsglaubens tritt nun die kritische Beurteilung der Instanzen durch
die Betroffenen. Dies hört sich zunächst so an, als ob jedem alles erlaubt sei. Sollen denn jetzt alle, denen eine Anordnung, ein Gesetz, ein elterliches Verbot nicht
passt, einfach den Gehorsam verweigern können? Das ist mitnichten so gemeint.
Kant fordert uns vielmehr zum »öffentlichen Gebrauch der Vernunft« auf, wie er
es nennt. Das ist etwas ganz anderes als das, was einem etwa die Emotionen eingeben; oder wohin einen Lust oder Unlust treiben; oder wozu man sich von einer
2
Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift 4/1784. S. 481-494.
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A U T O R I TÄT – G R E N Z G A N G O H N E E N D E
aufgeputschten Menge hinreißen lässt; oder was einem ein charismatischer Politiker
suggeriert; oder welchem Irrglauben man wegen einer Fernsehsendung aufsitzt. All
das ist das glatte Gegenteil von Aufklärung, es ist nach wie vor selbstverschuldete
Unmündigkeit, nur noch schlimmer als vorher, nämlich ohne den mäßigenden Einfluss einer vorgestellten metaphysischen Instanz.
An deren Stelle treten im aufgeklärten Denken abstrakte Prinzipien. Sie sind in
die Verfassungen vieler moderner Staaten eingeflossen: Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Würde, Chancengleichheit. Jürgen Habermas und anderen
zufolge gehören auch Prinzipien der Diskursethik dazu – Logik, Regeln der empirischen Begründung, Rekurs auf Werte, über die Konsens besteht, herrschaftsfreies
Argumentieren. In der Diskursethik gibt es keine an Personen gebundene Autorität, beim Argumentieren sind alle gleichgestellt. Nur unter dieser Bedingung des
herrschaftsfreien Diskurses kann das Autoritätsmodell der Aufklärung funktionieren. Es hat nicht die Form einer Pyramide, sondern zweier Ebenen. Die eine Ebene
kann man als operative Ebene bezeichnen, hier läuft das reale Leben mit seinen
Autoritätsbeziehungen ab. Die andere Ebene ist die Metaebene. Von hier aus wird
beurteilt, was auf der operativen Ebene abläuft. Hinsichtlich der Gesichtspunkte,
nach denen dies erfolgen soll, sind sich der Theorie nach alle Beteiligten einig; über
die Niederungen der Praxis wird gleich noch zu reden sein.
Im Rahmen öffentlichen Vernunftgebrauchs, orientiert an gemeinsamen Grundsätzen, sind alle permanent dazu aufgefordert, Autorität von der Metaebene aus zu
reflektieren. Die Instanzen sollen sich immer wieder legitimieren, indem sie die
übergeordneten Prinzipien beachten; die Betroffenen sollen das Tun der Instanzen
kritisch verfolgen.
Unter diesen Umständen muss Autorität immer wieder neu erworben werden,
unter anderem im Rahmen von Wahlen, Parlamentsdebatten, Gerichtsverfahren,
Diskursen, Bewerbungsverfahren und Kontrollroutinen. Es geht dabei nicht nur
um die Autorität von Legislative, Exekutive und Judikative, es geht durchaus auch
um private Autoritätsverhältnisse. Elterliche Gewalt unterliegt beispielsweise der
Autoritätskontrolle und kann entzogen werden; Weisungsbefugnisse von Arbeitgebern gegenüber Arbeitnehmern sind durch Regeln begrenzt. Auch meine Ausübung von Autorität im Hörsaal unterliegt der kritischen Beobachtung. Wo auch
immer jemand Autorität beansprucht, steht dieser Anspruch unter Vorbehalt.
17
GERHARD SCHULZE
6. Ideal und Wirklichkeit
Das hört sich nun zwar alles gut an, aber bei genauerem Nachdenken wird einem
schnell klar, dass man dieses Modell nicht eins zu eins in die Praxis umsetzen kann,
und zwar gleich aus mehreren Gründen. Ich will nur die wichtigsten nennen:
Erstens ist es unmöglich, den Autoritäten ständig auf die Finger zu schauen. Man
muss sie machen lassen, man muss ihnen vertrauen, sonst kommt alles zum Erliegen. Gemessen am Modell der zwei Ebenen herrscht immer ein riesiges Kontrolldefizit, das sich nur durch die Selbstkontrolle der Autoritäten vermindern lässt. Zur
Ethik der Autorität gehört das »beste Wissen und Gewissen«, das ständige Hin und
Her zwischen operativer Ebene und Metaebene im inneren Monolog, ob es sich um
Politiker, Unternehmer, Lehrer oder Eltern handelt. Darin liegt eine gewisse Parallele zwischen den Kulturen der zugeschriebenen und der erworbenen Autorität.
Hier die Selbstrechtfertigung vor der metaphysischen Instanz, der Natur oder der
geheiligten Tradition, dort die Selbstrechtfertigung vor den Regeln.
Die häufig gebrauchte Formulierung vom besten Wissen und Gewissen weist auf
ein zweites Problem hin: Es ist oft gar nicht klar, wie das Geschehen auf der operativen Ebene der Autoritätsausübung von der Metaebene der Autoritätskontrolle aus
zu beurteilen ist. Da gibt es Auslegungsfragen, Ermessensspielräume und Regelungsdefizite. Man kann Autorität nicht nach dem Prinzip einer
Die Autoritätsinstanz
Gebrauchsanweisung ausüben. Autorität setzt vielmehr immer
muss handeln; wer
aber handelt, macht
auch Kreativität voraus. Autorität muss gestalten; wollte man ihr
auch Fehler.
diesen Spielraum nicht einräumen, wäre das ihr Ende. Das
bedeutet aber auch, dass Irrtümer unvermeidlich sind, ohne dass man deshalb bereits
von schlechter Autoritätsausübung sprechen könnte. Die Autoritätsinstanz muss
handeln; wer aber handelt, macht auch Fehler. Das beste Wissen und Gewissen der
Autoritätsinstanz kann großen Schaden verursachen. Hinterher sind natürlich alle
schlauer. Man muss aber unterscheiden zwischen Führungsversagen und Führungsfehlern. Letztere gehören notwendig zur Autorität dazu.
Ein drittes Problem ist häufig die Beschränktheit der Optionen, wenn ein Autoritätswechsel erwogen wird. Das klassische Beispiel dafür sind demokratische
Wahlen, bei denen sich Stimmberechtigte Alternativen gegenübersehen, die sie
alle als etwa gleich schlecht empfinden. Viele Nichtwähler betrachten das ZweiEbenen-Modell der politischen Autorität als blanken Hohn; sie sind Resignierte
der Metaebene, die den Versuch eingestellt haben, noch auf die operative Ebene
einzuwirken.
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A U T O R I TÄT – G R E N Z G A N G O H N E E N D E
Diese und andere Mängel sollten uns bescheiden machen. Wir leben nicht in der besten aller Welten, wir können nur versuchen, uns ihr anzunähern. Erworbene Autorität kann gewaltig aus dem Ruder laufen. Mit einem bekannten Bonmot hat Winston Churchill die hier angebrachte Skepsis zum Ausdruck gebracht: »Demokratie
ist die schlechteste Regierungsform – außer all den anderen Formen, die von Zeit zu
Zeit ausprobiert worden sind.«3 Das Zwei-Ebenen-Modell der Autorität ist lediglich
eine Richtungsangabe, kein Fahrplan. Um es mit einem Begriff von Immanuel Kant
zu sagen: Das Zwei-Ebenen-Modell ist ein »regulatives Prinzip«, das man immer
nur anstreben, nie aber gänzlich verwirklichen kann.
7. Wo stehen wir heute?
Die genannten drei Probleme treten wohl überall auf, wo das Zwei-Ebenen-Modell
praktiziert wird. Daneben produziert jede demokratisch orientierte Gesellschaft
und jede Zeit aber auch noch ihre eigenen Annäherungen und Abweichungen vom
regulativen Prinzip, ihre spezifischen Fortschritte und Rückschritte. Welche treten
gegenwärtig bei uns besonders hervor? Ich will kurz fünf wichtige Veränderungen
beschreiben:
Erstens: In der Idee der erworbenen Autorität verbirgt sich ein grundsätzlicher Autoritätsvorbehalt. Autorität ist potenziell gefährlich, deshalb muss sie ständig von der
Metaebene aus reflektiert und kontrolliert werden. Wo immer es geht, sollte man
ganz auf sie verzichten: So viel Autorität wie nötig, so wenig Autorität wie möglich.
In dieser Hinsicht gab es in den letzten Jahrzehnten Fortschritte und Rückschritte.
Als Fortschritt bewerte ich die weitgehende Einebnung des Autoritätsgefälles zwischen Mann und Frau und seine Verminderung in Erziehungsverhältnissen. Das
Programm einer antiautoritären Erziehung, das im Gefolge der 68er-Bewegung
entstand, ging zwar zu weit und wird heute zu Recht kritisch gesehen, es hat jedoch
zum Vordringen des Zwei-Ebenen-Modells in pädagogischen Beziehungen beigetragen. Eltern, Lehrer und Professoren sehen sich heute einer massiven Begründungserwartung gegenüber. Das autoritäre Machtwort ist selten geworden: »Das
wird jetzt so gemacht, weil ich es sage, und damit Schluss.« Wer heute so redet,
verschafft sich keine Autorität mehr, er büßt sie ein.
Im genauen Gegensatz dazu steht zweitens das Vordringen von Autorität in Bereiche, die bisher sich selbst überlassen waren. Unser Alltagsleben gerät mehr und mehr
in das Fahrwasser einer stillschweigenden Autoritätsunterwerfung ohne sichtbare
Instanzen. Der Einzelne bekommt ständig neue Regulierungen zu spüren, aber zu
3
Aus der Rede vor dem britischen Unterhaus am 11.11.1947.
19
GERHARD SCHULZE
spät, sie sind ja schon wirksam. Ob es sich um das Bauen handelt, um Lebensmittel,
um Steuern, um immer stärker in den Alltag eingreifende Verbote: Wir sehen uns
einer voranschreitenden Verrechtlichung und Bürokratisierung gegenüber, einer
anonym in unser Leben eingreifenden Autorität, bei der das Zwei-Ebenen-Modell
der erworbenen Befugnis außer Kraft gesetzt ist. Man kann sich zwar aufregen, aber
es gibt keine Instanz, der man die Legitimität entziehen könnte.
Ein drittes Problem sehe ich in der Entwicklung der Medien. Fernsehen und Printmedien als »vierte Gewalt« zu bezeichnen, hat für heutige Medienbeobachter einen
zunehmend bitteren Beigeschmack. Im Idealfall sind die Medien zwar ein prädestiniertes Forum für die Beobachtung und Kritik von Autorität. Dem eigenen
Anspruch nach verkörpern sie die Metaebene in der Kultur der erworbenen und
ständig legitimationsbedürftigen Autorität in höchstem Maße – professionalisiert,
organisiert, technisiert und unabhängig. Man muss aber nicht erst ins Italien Berlusconis gehen, um die Medien immer weiter hinter diesem Anspruch zurückbleiben
zu sehen. Zu erkennen ist eine zunehmende Vermengung von Meldung und Meinung; eine voranschreitende Politisierung ohne Mandat; eine Emotionalisierung und
Personalisierung von Sachdiskussionen; eine Unterdrückung der Ambivalenz von
Pro und Contra zugunsten immer größerer Einseitigkeit; ein Wettlauf der Skandalisierung und Vereinfachung. Hier noch von »vierter Gewalt« zu reden, kommt
mir immer mehr wie ein Euphemismus vor. Medien sind Autoritätsinstanzen der
Metaebene, die selbst keiner Kontrolle unterliegen, es sei denn, sie kontrollieren sich
gegenseitig – aber davon ist immer weniger zu erkennen.
Eine vierte Beobachtung führt noch einmal zu Kant zurück. Mit seiner Aufforderung zum »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«
hat er jeden einzelnen von uns gemeint. Autorität, so sagte ich eingangs, ist eine
Gemeinschaftsleistung. Für den Nutzen, den sie stiftet und für den
Autorität ist eine
Schaden, den sie anrichtet, sind alle verantwortlich, nicht nur die InsGemeinschaftstanzen, sondern auch die Betroffenen. Kant sieht sie nicht als Opfer,
leistung.
sondern als Akteure, im guten, aber auch im schlechten Sinn. Was
würde er heute über die Deutschen sagen? Vermutlich, dass sie mündiger geworden
sind, gemessen an den Tiefpunkten in unserer Geschichte. Sie haben an Trittsicherheit auf der Metaebene gewonnen, und viele sind auch bereit, selbst Verantwortung
zu übernehmen und Autorität zu beanspruchen, wie sich etwa an ihrem großen und
immer noch wachsenden bürgerschaftlichen Engagement erkennen lässt.
Fünftens: Gerade die gesteigerte Fähigkeit der Bevölkerung, im Zwei-EbenenModell der Autorität mitzuspielen, führt jedoch auch zu Unruhe und Schwierigkei20
A U T O R I TÄT – G R E N Z G A N G O H N E E N D E
ten. Zu beobachten ist eine zunehmende Entfremdung zwischen politischen Autoritäten und Bürgern über alle politischen Lager hinweg. Dies liegt nach meinem
Dafürhalten an einem Werteverlust, und zwar nicht etwa in der Bevölkerung, sondern in der politischen Klasse. Was viele Menschen so irritiert, ist die Verwechslung
von Autoritätsausübung und Machterhalt. Autoritätsausübung heißt kreatives Führen und Gestalten, Fehlerrisiko inbegriffen. Machterhalt dagegen äußert sich in Parteitaktik, im Kaltstellen von Konkurrenten, im politischen Zickzack-Kurs entsprechend der vermeintlichen Stimmung im Lande und in nichtssagendem Gerede. Die
Leitvorstellung des besten Wissens und Gewissens scheint immer weniger durch die
politischen Autoritäten eingelöst.
8. Der Grenzgang geht weiter
Insgesamt komme ich zu einem gemischten Urteil. Im Privatleben haben sich letzte
Reste zugeschriebener Autorität im Verhältnis von Mann und Frau weitgehend
aufgelöst, und die Autoritätsverhältnisse in pädagogischen Beziehungen sind dem
Zwei-Ebenen-Modell deutlich näher gekommen, vom Kindergarten bis zur Universität. Betroffene beurteilen die Leistungen ihrer Autoritäten und bemessen ihren
Respekt danach. Über die Jahrzehnte hinweg sind Autoritätskompetenz und Selbstbewusstsein der Bevölkerung angestiegen.
Jenseits der Privatsphäre, in der Öffentlichkeit, beurteile ich den Wandel der Autoritätsverhältnisse dagegen skeptischer. Wir erleben das Vordringen anonymer Autoritäten ohne sichtbare Instanz; wir befremden uns an politischen Autoritäten auf der
Suche nach Machterhalt statt nach Gestaltung; wir sehen uns Medien gegenüber, die
sich immer mehr als politische Akteure begreifen.
Noch genießen die Medien ein Pauschalvertrauen. Es steht ihnen aber ebenso wenig
zu wie irgendeiner anderen Autorität. Es liegt in der Verantwortung der Medienkonsumenten, kritischer zu werden und ihnen dieses Vertrauen nur zu gewähren,
wenn sie es ihrer Meinung nach verdienen. Der Imperativ, sich seines Verstandes
ohne die Leitung anderer zu bedienen, bleibt aktuell.
21
Autorität in Deutschland
Empirische Erkenntnisse der aktuellen Allensbach-Studie
VON THOMAS PETERSEN
Am 12. Juli 2005 gab die damalige CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidatin
Angela Merkel der Tageszeitung Die Welt ein Interview. Der Journalist Ansgar
Graw eröffnete das Gespräch mit der Aufforderung: »Frau Merkel, verkürzen Sie
doch bitte einmal das 38-seitige Regierungsprogramm der Union auf einen Satz.«1
Ein wenig wie dieses Anliegen erscheint die Aufgabe, in Kurzform über die wesentlichen Ergebnisse der Repräsentativumfrage zu berichten, die das Institut für
Demoskopie Allensbach im Oktober und November 2010 im Auftrag der Herbert
Quandt-Stiftung über die gesellschaftliche Rolle der Autorität durchgeführt hat.2
1. Theoretischer Hintergrund
Das Thema Autorität ist außerordentlich sperrig. Allein mit dem Versuch, es theoretisch einigermaßen klar zu fassen, oder auch nur mit dem Versuch, die Frage
zu klären, welche Aspekte des Themas sinnvollerweise untersucht werden sollten,
könnte man leicht mehrtägige Symposien füllen. Das Thema kann deswegen an
dieser Stelle nur in sehr groben Zügen skizziert werden, fragmentarisch und notwendigerweise oberflächlich. Doch es sollte gelingen, einige wesentliche Konturen
herauszuarbeiten, einige Aspekte und Forschungsergebnisse anzusprechen, die
dazu beitragen können, die Funktion der Autorität in unserer Gesellschaft etwas
besser zu verstehen.
Den Anlass zu dieser Untersuchung bot bekanntlich der aktuelle thematische
Schwerpunkt der Herbert Quandt-Stiftung »Worauf ist noch Verlass? Vertrauen
1
»Da ist überhaupt nichts vage.« In: Die Welt vom 13.07.2005. URL: http://www.welt.de/print-welt/article682253/Da_ist_ueberhaupt_nichts_vage.html (04.04.2011).
2
Petersen, Thomas: »Autorität in Deutschland. Eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach.« In:
Herbert Quandt-Stiftung (Hg): Gedanken zur Zukunft 20. Bad Homburg 2011.
22
A U T O R I TÄT I N D E U T S C H L A N D
– Autorität – Freiheit«. Der Dreiklang aus Freiheit, Vertrauen und Autorität hat
es in sich: Es leuchtet unmittelbar ein, dass alle drei Stichworte für Prinzipien
stehen, die in einer freiheitlichen Gesellschaft, besonders dann, wenn sie als repräsentative Demokratie verfasst ist, zumindest potenziell von großer Bedeutung sein
müssten, und deshalb fällt es auch leicht, gedankliche Verknüpfungen zwischen
den drei Begriffen herzustellen, selbst dann, wenn man sich nicht im Detail mit
den verschiedenen Aspekten ihrer Bedeutung befasst: Nur wer
ein Mindestmaß an Vertrauen in andere Menschen und ihre Politische Freiheit
benötigt sicherlich ein
Fähigkeit, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen selbst zu gewisses Maß an Autorigestalten, besitzt, wird das Prinzip der Handlungs- und Ent- tät als Ordnungsprinzip.
scheidungsfreiheit des Einzelnen befürworten können und mit
ihm letztlich die politische und wirtschaftliche Freiheit.3 Politische Freiheit, in der
nicht staatliche Gewalt den Zusammenhalt der Gesellschaft erzwingt, benötigt
sicherlich ein gewisses Maß an Autorität als Ordnungsprinzip, wenn sie nicht in
Anarchie umschlagen soll. Und die Bereitschaft, einer gesellschaftlichen Autorität
zu folgen, sich ihr freiwillig unterzuordnen, kann wahrscheinlich nur jemand entwickeln, der der betreffenden Autorität auch ein Mindestmaß an Vertrauen entgegenbringt.
Dass Freiheit, Autorität und Vertrauen also wahrscheinlich irgendwie miteinander verknüpft sind, dürfte einem aufmerksamen Beobachter des öffentlichen
Lebens leicht einleuchten. Doch bei der Untersuchung der Frage, wie sich dieser
Zusammenhang konkret gestaltet, stößt man rasch auf erhebliche Probleme. Eines
besteht darin, dass alle drei Begriffe mehrdeutig sind, wobei sich die Bedeutungen vor allem im Falle des Begriffs der Freiheit in ihrer Konsequenz teilweise
sogar widersprechen. Nicht selten wird aber bei öffentlichen Diskussionen um die
gesellschaftliche Freiheit, teilweise aber auch bei wissenschaftlichen Abhandlungen zu diesem Thema, nicht sauber zwischen den verschiedenen Bedeutungen
getrennt, mit der Folge, dass der Gegenstand unübersichtlich erscheint und die
an der Debatte Beteiligten aneinander vorbeireden, weil sie verschiedene mit dem
Begriff »Freiheit« verbundene Konzepte vor Augen haben, oft ohne dass ihnen
dies bewusst wird.
Intensiver untersucht ist das Themenfeld des Vertrauens, wenn auch gelegentlich
der Begriff »Vertrauen« selbst dabei eine untergeordnete Rolle spielt. So sind beispielsweise an dieser Stelle die zahlreichen Untersuchungen zum Thema Politikver-
3
Vgl. Petersen, Thomas/Mayer, Tilman: Der Wert der Freiheit. Deutschland vor einem neuen Wertewandel?
Freiburg 2005. S. 122-125.
23
THOMAS PETERSEN
drossenheit zu nennen, von denen viele dieses Phänomen mit gutem Grund mit dem
Rückgang des Institutionenvertrauens in Verbindung bringen, der in den letzten
Jahrzehnten in vielen westlichen Ländern zu beobachten war.4
Von allen drei Themen ist aber das der Autorität wahrscheinlich das am schwersten
zugängliche. Sucht man in der Geschichte der empirischen Sozialforschung nach
Ansätzen, die in einer Grundlagenstudie zu diesem Gegenstand aufgegriffen werden könnten, stößt man zunächst auf die berühmte Studie The Authoritarian Personality von Theodor W. Adorno und Mitarbeitern aus dem Jahr 1950.5 Man könnte
auf den ersten Blick annehmen, es sei sinnvoll, sich bei einer Untersuchung zur
gesellschaftlichen Autorität methodisch wie inhaltlich von dieser klassischen Arbeit
leiten zu lassen, doch das wäre nicht ratsam. Tatsächlich stößt man an dieser Stelle
zum ersten Mal auf die zentrale Unterscheidung zwischen »Autorität« und »autoritär«, die für das Verständnis des Phänomens Autorität von zentraler Bedeutung
ist: Adornos Studie ist im Nachklang des Dritten Reiches, unter dem Eindruck des
Völkermords an den Juden entstanden. Sie beschäftigt sich sehr intensiv mit der
Frage, wie es denn möglich war, dass Menschen zu solchen Taten fähig waren. Sie
versucht die Persönlichkeitsstruktur zu entschlüsseln und zu beschreiben, welche
die Herausbildung der nationalsozialistischen Ideologie befördert hat. Mit teilweise
aufwendigen Messmethoden werden etwa die Neigung zu Antisemitismus, Rassenvorurteilen und antidemokratischen Affekten untersucht. Kurz: Es geht um
ein autoritäres Weltbild, nicht um gesellschaftliche Autorität wie sie – wertneutral
verstanden – auch in freiheitlichen Demokratien vorhanden sein kann, die keine
autoritären Züge aufweisen.
Ergiebiger ist in dieser Hinsicht eine andere klassische Untersuchung aus dem Jahr
1959 der empirischen Sozialwissenschaften, die Studie The Civic Culture der amerikanischen Politikwissenschaftler Gabriel Almond und Sydney Verba.6 Almond
und Verba scheinen sich auf den ersten Blick gar nicht mit dem Thema Autorität
zu beschäftigen. Ihr Thema ist die Reife demokratischer Gesellschaften. Mit einer
der ersten groß angelegten international vergleichenden Repräsentativbefragungen
untersuchten sie die Verankerung der Demokratie in den USA, Großbritannien,
4
Vgl. z. B. Kepplinger, Hans Mathias: Die Demontage der Politik in der Informationsgesellschaft. Freiburg/
München 1998; Niedermayer Oskar: Bürger und Politik. Politische Orientierungen und Verhaltensweisen
der Deutschen. Wiesbaden 2005; Noelle-Neumann, Elisabeth/Köcher, Renate (Hg.): Allensbacher Jahrbuch
der Demoskopie 1998-2002. Bd. 11. Balkon des Jahrhunderts. München und Allensbach 2002. S. 710-712;
Moy, Patricia/Pfau, Michael: With Malice Toward All? The Media and Public Confidence in Democratic
Institutions. Westport 2000.
5
Adorno, Theodor W. (u. a.): The Authoritarian Personality. 2 Bde. New York 1950.
6
Almond, Gabriel A./Verba, Sidney: The Civic Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations.
Princeton 1963.
24
A U T O R I TÄT I N D E U T S C H L A N D
Westdeutschland, Italien und Mexiko. Sie identifizierten dabei drei verschiedene
Gesellschaftstypen, die durch unterschiedliche Haltungen der Bevölkerung gegenüber ihren Autoritäten geprägt sind. Da ist zum einen die sogenannte »parochiale
Gesellschaft«, die Almond und Verba in Teilen Mexikos glaubten erkannt zu haben.
Hier gibt es praktisch keinen Kontakt zwischen den Bürgern und dem Staat und
seinen Vertretern. Die Regierung, die nationale Politik, dies alles findet außerhalb
der realen Lebenswelt der meisten Menschen statt. Das Interesse der meisten Menschen konzentriert sich auf das unmittelbare Umfeld, den eigenen »Pfarrbezirk«.
Die zweite Entwicklungsstufe nach Almond und Verba ist die der Subject Political Culture. Hier ist das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern wie das zwischen
dem Fürsten und seinen Untertanen, auch dann, wenn das politische System eigentlich nach demokratischen Prinzipien verfasst ist. Die Bürger nehmen sich als eher
passive Konsumenten oder Befehlsempfänger gegenüber dem Staat wahr, nicht als
aktiver Bestandteil des Gemeinwesens. Sie erwarten, dass die Autoritäten ihnen dienen und sagen, was sie zu tun haben, versuchen aber nicht, diese zu beeinflussen.
Elemente einer solchen Subject Political Culture glaubten Almond und Verba in der
westdeutschen Nachkriegsgesellschaft gefunden zu haben.
An dieser Stelle ist aber die dritte Entwicklungsstufe in Almonds und Verbas System
am interessantesten, die Participant Political Culture. Hier sei der Bürger nicht einfach der Gegenstand staatlicher Entscheidungen, sondern fühle sich als Bestandteil
des Staatswesens und agiere entsprechend, indem er sich auch aktiv am gesellschaftlichen und politischen Leben beteilige. Mehr oder weniger implizit weisen Almond
und Verba darauf hin, dass eine gefestigte, entwickelte Demokratie ohne ein solches Selbstverständnis der Bürger unvollständig wäre, und man muss es sicherlich
zum Teil auch dem Zeitklima zuordnen, wenn sie dieses Ideal in erster Linie in den
Vereinigten Staaten und Großbritannien verwirklicht sahen. Interessant ist nun das
Verhältnis von Autoritäten und Bürgern in diesem Modell. Es wird nicht ausdrücklich darauf hingewiesen, doch offensichtlich sind die gesellschaftlichen Autoritäten
in einer solchen Gesellschaft nicht »überwunden« oder gar verschwunden, sondern
nur an zusätzliche Legitimationsbedingungen geknüpft. Zu dem Konzept der Participant Political Culture gehört auch die Bereitschaft, demokratische Spielregeln zu
akzeptieren, auch Niederlagen, beispielsweise Abstimmungs- oder Wahlniederlagen – hinzunehmen und die Rechtmäßigkeit der demokratisch legitimierten Institutionen und damit letztlich auch ihre Autorität zu respektieren. Dies wiederum
setzt eine freiheitliche Grundordnung voraus, und es ist nur möglich, wenn ein Mindestmaß an Vertrauen in das demokratische Prinzip und die staatlichen Institutionen vorhanden ist. Hier begegnet man also dem eingangs erwähnten Dreiklang von
25
THOMAS PETERSEN
Autorität, Freiheit und Vertrauen, der den Schwerpunkt der Arbeit der Herbert
Quandt-Stiftung bildet.
Es würde sich wahrscheinlich lohnen, etwas gründlicher als es an dieser Stelle
geschehen kann, der Frage nachzugehen, wann der Begriff »autoritär« Eingang in
die deutsche Sprache gefunden hat. Die Unterscheidung zwischen Authoritarianism
und Authority, wie er im Englischen geläufig ist, scheint zumindest im Deutschen
relativ jungen Datums zu sein. Wahrscheinlich hat Adornos Studie The Authoritarian Personality selbst erheblichen Anteil daran, dass dieser Begriff auf dem Umweg
über den Einfluss der Studie auf die Frankfurter Schule und deren Bedeutung für
die intellektuelle Debatte in Deutschland in den 1960er Jahren in den allgemeinen Sprachgebrauch einging. Vermutlich hat erst der massive Missbrauch staatlicher Autorität in den großen Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts eine solche
Unterscheidung notwendig werden lassen (wenn es auch nahe liegt, erste Anfänge
der Entwicklung in der Zeit der bürgerlichen Revolutionen in der ersten Hälfte des
neunzehnten Jahrhunderts zu suchen). Ansätze dieser Unterscheidung finden sich
zwar bereits in der öffentlichen Diskussion um die Reformpädagogik zu Anfang
des zwanzigsten Jahrhunderts, doch scheint sie zunächst nicht die vergleichsweise
engen Kreise der Fachdebatte verlassen zu haben.7 In Friedrich Kluges etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache, das in seinem Kern auf das Jahr 1883
zurückgeht, findet sich selbst in der Ausgabe von 1975 der Begriff des Autotitarismus nicht, sondern lediglich ein kurzer Eintrag unter »Autorität« mit dem Verweis,
dass der Begriff im deutschen Sprachraum seit dem 16. Jahrhundert geläufig und
aus dem lateinischen auctoritas abgeleitet sei. Die Bedeutung sei – in Anlehnung
an Cicero – »maßgebliche Persönlichkeit«8. Von Unterdrückung, Machtmissbrauch
oder illegitimer Machtausübung ist keine Rede.
Der lateinische Begriff der auctoritas verdient eine gesonderte Betrachtung, denn er
steht für etwas Schillerndes, kaum Fassbares, das dem heutigen »Autorität« noch
immer anhaftet, und das in der vorliegenden Untersuchung von zentraler Bedeutung ist. Am ehesten dringt man zum Kern der Bedeutung des Begriffes vor, wenn
man sich den Tatenbericht des ersten römischen Kaisers Augustus vor Augen führt.
Dieses Dokument, ursprünglich eine große Steintafel, die im Zentrum Roms aufgestellt worden war, kreist gleichsam um den Schlüsselbegriff der auctoritas und zeigt
in einzigartiger Weise die eigenartige Macht und gesellschaftliche Relevanz, die mit
der auctoritas und damit auch – abgeschwächt – dem modernen Konzept der Auto7
8
Vgl. Böhm, Winfried: Wörterbuch der Pädagogik. Stuttgart 1994. S. 570-571.
Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin und New York 1975. S. 42.
26
A U T O R I TÄT I N D E U T S C H L A N D
rität verbunden sind. Auctoritas ist der Schlüsselbegriff zur Herrschaft des Augustus,
dessen Werdegang zu den erstaunlichsten der Weltgeschichte gehört.
Der spätere Augustus war ein Neffe Julius Caesars und von diesem als Erbe eingesetzt worden. In Rom war er zunächst vollkommen unbekannt und wurde von den
Staatsmännern nicht ernst genommen. Mit einer scheinbar endlosen Serie von Intrigen, der Manipulation der öffentlichen Meinung, massenhaften Bestechungen, Auftragsmorden und blutigen Bürgerkriegen eroberte er dennoch allmählich, im Verlauf
von zwei Jahrzehnten, die Alleinherrschaft. Als er dann endlich alle Macht im Staate
in den Händen hielt, errichtete er jedoch nicht etwa eine Terrorherrschaft, sondern
legte stattdessen umgekehrt feierlich nahezu alle offiziellen Ämter, die er zuvor mit
so brutalen Methoden errungen hatte, nieder (allerdings nicht ohne sich der Verfügungsgewalt über die tatsächlichen Machtmittel zu sichern). Das trug ihm ein so großes Ansehen in der – propagandistisch gleichgeschalteten – Öffentlichkeit ein, dass
er schließlich das römische Reich beherrschte, ohne auch nur ein wesentliches Staatsamt innezuhaben. Offiziell als Privatmann gab er den Amtsinhabern Ratschläge, die
diese sich selbstverständlich beeilten zu
befolgen. Diese Form der Herrschaft
beschrieb er in seinem Tatenbericht mit
den Worten: »Seit dieser Zeit (nämlich
der Rückgabe der Ämter) überragte ich
alle an auctoritas, an Amtsgewalt, aber
besaß ich nicht mehr als die anderen, die
auch ich im Amt zu Kollegen hatte.«9
Der Begriff auctoritas steht hier für eine
Herrschaft der öffentlichen Meinung.
Er enthält die Komponenten Macht,
Ansehen, Würde und Respekt. Wenn
Augustus schreibt, er habe alle an auctoritas überragt, bedeutet das, er hat kraft
seiner Persönlichkeit geherrscht.10
Ein wesentlicher Faktor der auctoritas
liegt darin, dass diese zwar zumindest
theoretisch mit aktiver Machtausübung
Augustus – auctoritas als Schlüsselbegriff seiner
Herrschaft
9
Augustus: Res Gestae Tatenbericht (Monumentum Ancyranum). Lat.-griech. u. dt., übers. u. hrsg. v. Marion
Giebel. Stuttgart 1975.
10
Vgl. Petersen, Thomas: PR-Arbeit in der Antike. Wie Augustus zum vielleicht erfolgreichsten Politiker aller
Zeiten wurde. München 2005. S. 110.
27
THOMAS PETERSEN
vereinbar, aber keineswegs mit ihr identisch ist. Die Hauptkomponente ihrer Wirksamkeit liegt vielmehr in der freiwilligen, mindestens aber bewussten Gefolgschaft.
Man kann gleichsam von einer Art passiven Machtausübung sprechen. Wer auctoritas hat, hat es nicht nötig zu befehlen, sondern andere ordnen sich ihm unter. Dieses
Verständnis scheint auch dem heutigen Begriff der Autorität zugrunde zu liegen.
Beispielhaft sei hierzu der Eintrag »Autorität« in Winfried Böhms »Wörterbuch der
Pädagogik« zitiert: »Autorität ist streng zu unterscheiden von Macht und Gewalt.
Während diese die faktische Möglichkeit bezeichnen, anderen zu
Wer auctoritas hat, hat
befehlen und sie zu einem bestimmten Handeln und Verhalten
es nicht nötig zu bezu zwingen, setzt jene grundsätzlich die freie Zustimmung desfehlen, sondern andere
ordnen sich ihm unter.
sen voraus, über den Autorität ausgeübt wird. Macht und Gewalt
schränken die Freiheit ein oder negieren sie; die Autorität dagegen respektiert sie ausdrücklich. Autorität meint also die anerkannte Fähigkeit einer
Person, einer Gesellschaft oder einer Einrichtung, auf andere einzuwirken um sie
einem bestimmten Ziel näherzubringen. Autorität kann sich dabei auf verschiedene
Weise begründen: durch gegebenen Sachverstand, durch einen erreichten Status,
durch das wahrgenommene Amt.«11
Diese Bedeutung des Begriffes Autorität wurde in den Mittelpunkt der Repräsentativumfrage gestellt, wobei auch der Hinweis auf die Möglichkeit der Anbindung
von Autorität nicht allein an die Persönlichkeit eines Menschen, sondern an Status
oder Ämter eine gewisse Rolle spielte.
2. Ergebnisse der Untersuchung
Die Ergebnisse der Studie sind außerordentlich komplex. Der Fragebogen erfasste
eine Vielzahl von Einzelaspekten des Themas Autorität, die hier nicht alle präsentiert werden können. Stattdessen sollen die Hauptbefunde in neun kurzen Stichpunkten zusammengefasst werden:
1. Für die Mehrheit der Deutschen hat der Begriff »Autorität« einen positiven
Klang. Häufig genannte spontane Assoziationen waren »Respekt«, »Achtung«
und »Vorbild«, aber auch die mit Autorität verbundene Verantwortung wurde von
manchen Befragten erwähnt. Häufig waren auch Hinweise auf die öffentliche Ordnung und die Legitimität von Ämtern. Damit wird das Begriffsverständnis von den
Komponenten dominiert, die in dem lateinischen Begriff auctoritas angelegt sind.
Demgegenüber tritt das Verständnis im Sinne des Autoritären in den Hintergrund.
11
Böhm: Wörterbuch der Pädagogik. S. 60.
28
A U T O R I TÄT I N D E U T S C H L A N D
Allerdings gibt es aus Sicht der Bevölkerung keine eindeutige inhaltliche Trennung
zwischen diesen beiden Begriffsbedeutungen. Bei einer beträchtlichen Minderheit
der Befragten weckt der Begriff »Autorität« negative Assoziationen wie »Machtmissbrauch« oder »Obrigkeitshörigkeit«. Im Alltagsverständnis vermischen sich
also die Bedeutungen von »Autorität« und »autoritär«, wobei das erste aber deutlich
im Vordergrund steht.
In den neuen Bundesländern wird der Begriff »Autorität« positiver aufgefasst als
in Westdeutschland. Es liegt nahe, den Grund hierfür in der unterschiedlichen
gesellschaftlichen Entwicklung in beiden Landesteilen in den Jahren der Teilung
zu suchen. Während die westdeutsche Gesellschaft in den 1960er bis 1980er Jahren
von einem tiefgreifenden Wertewandel betroffen war, der teilweise auch mit einer
Abwendung von traditionellen Autoritäten verbunden war, gab es in der damaligen DDR keine vergleichbaren Entwicklungen. Anfang der 1990er Jahre ähnelte
die Werteorientierung der ostdeutschen Bevölkerung auffallend stark der der westdeutschen Bevölkerung in den 1950er Jahren. Dieser Unterschied in der Sozialisation zwischen Ost- und Westdeutschen ist bis heute in vielen Einstellungsfragen zu
spüren, und er spiegelt sich wahrscheinlich auch in der Wahrnehmung des Begriffs
»Autorität« (Tabelle 1).
2. Vier Fünftel der Bevölkerung sagen, sie glaubten, dass in einer Gesellschaft Autoritätspersonen notwendig sind (Tabelle 2). Man kann hier von einem gesellschaftlichen Konsens sprechen, der – solange sich die Fragen auf einer allgemeinen, abstrakten Ebene bewegen – so deutlich ist, dass es anders als bei vielen Detailfragen
zum Thema Autorität auch kaum Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen
Gruppen gibt.
3. Trotz der allgemeinen Zustimmung zur These, eine Gesellschaft benötige Autorität, wird Autorität von der Bevölkerung im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen
Werten als eher nachrangig angesehen. Unter 19 zur Auswahl gestellten Zielen der
Kindererziehung nehmen »Respekt gegenüber Autoritätspersonen«, »sich in eine
Ordnung einfügen« und »Gehorsam« die Rangplätze 11, 15 und 17 ein. Es wird
deutlich, dass beispielsweise das Ziel des autonomen Denkens und Handelns für die
meisten deutschen Vorrang vor dem Respekt gegenüber Autoritäten hat (Grafik 1).
Auch bei anderen Fragen zeigt sich: Wirklich wichtig scheint eine Stärkung der
Autoritäten nur der älteren Generation zu sein.
4. Der langfristige Trendvergleich deutet darauf hin, dass die Orientierung an Autoritäten in Deutschland – vor allem im Westen – in den letzten Jahrzehnten an Wert29
THOMAS PETERSEN
schätzung verloren hat. Viele bürgerliche Tugenden, repräsentiert in der Frage nach
den Erziehungszielen, haben nach ihrem Bedeutungsverlust in den 1970er Jahren
seit Mitte der 1990er Jahre wieder an Wertschätzung gewonnen. Doch während
Ziele wie »Ihre Arbeit ordentlich und gewissenhaft tun« oder »Höflichkeit und
gutes Benehmen« heute wieder ebenso häufig als besonders wichtig angesehen werden wie vor dem Beginn des Wertewandels, wird das Ziel, sich in eine Ordnung
einzufügen, heute zwar häufiger als in den 1990er Jahren, aber immer noch wesentlich seltener als in den 1960er Jahren als wichtig eingestuft. Obwohl dieses Ziel also
von der Renaissance bürgerlicher Tugenden in den letzten eineinhalb Jahrzehnten
profitiert hat, hat sich doch auch eine Umgewichtung innerhalb des Wertekanons
ergeben, die man als ein Kennzeichen für einen relativen Gewichtsverlust der Autoritätsorientierung deuten kann (Grafik 2).
5. Bei der Frage, in welchen Lebensbereichen Autorität wichtig ist und in welchen
weniger, nimmt die Bevölkerung eine sehr differenzierte Haltung ein. Abseits der
politischen Sphäre steht ein großer Teil der Bevölkerung autoritären Entscheidungsprinzipien durchaus aufgeschlossen gegenüber. Das gilt für das Wirtschaftsleben, vor
allem aber für Alltagssituationen. Auf die direkte Frage, in welchen Lebensbereichen Autoritätspersonen notwendig sind, nennt die Bevölkerung in erster Linie die
Schulen, gefolgt vom Berufsleben und der Politik. An letzter Stelle steht der Bereich
Religion, Glaubensfragen. Hier sind die Antworten anscheinend von der Überzeugung geleitet, dass das religiöse Bekenntnis Privatsache ist. Der Umstand, dass
gerade auch ranghohe Kirchenvertreter als Autoritätspersonen angesehen werden
können, tritt demgegenüber in den Hintergrund (Grafik 3). Auffällig ist, dass die
Überzeugung, in einem bestimmten Lebensbereich seien Autoritäten notwendig,
zuzunehmen scheint, je näher ein Befragter dem betreffenden Lebensbereich steht.
6. Die Strahlkraft des Begriffs »Autorität« setzt sich aus zwei Komponenten zusammen: Zum einen wird Autorität in einem erheblichen Maße als Persönlichkeitseigenschaft angesehen, zum anderen hängt Autorität auch an Ämtern und Status.
Den Anteil der beiden Komponenten an der Gesamtbedeutung kann man versuchen
abzuschätzen, indem man mit verschiedenen Frageformulierungen diese Aspekte
mal mehr und mal weniger in den Vordergrund schiebt. So wird beispielsweise eine
Person, von der man sagt, sie habe Autorität, deutlich weniger positiv beurteilt als
eine Person, von der man sagt, sie sei eine Autorität (Tabelle 3). Alles in allem zeigen
die Ergebnisse, dass der Anteil, den Amt und Würden zur Bedeutung des Begriffs
»Autorität« beitragen, beträchtlich ist. Er ist nicht bestimmend, das persönliche Element scheint zu überwiegen, doch er trägt eine wichtige und charakteristische Komponente zur Begriffsbedeutung bei.
30
A U T O R I TÄT I N D E U T S C H L A N D
7. Fragt man, welche gesellschaftlichen Gruppen Vertrauen verdienen, und welche
Gruppen Autorität haben, ergeben sich deutlich unterschiedliche Ranglisten. Gruppen, die mit formaler, legitimierter Macht ausgestattet sind oder zumindest hohe
Positionen in der gesellschaftlichen Hierarchie einnehmen, wird mehr Autorität
zugeschrieben als ihnen Vertrauen entgegengebracht wird. So
Auctoritas funktioniert
wird beispielsweise den Vereinen am Wohnort mehr Vertrauen nicht ganz ohne potestas.
entgegengebracht als dem Bürgermeister, dem Bürgermeister
aber mehr Autorität zugeschrieben als den Vereinen (Grafik 4). Es wird deutlich,
dass Autorität nicht allein durch die freiwillige Bereitschaft der Bürger zu erklären
ist, denen zu folgen, die sie als Vorbild wahrnehmen, sondern dass auch die Macht
der Ämter und Positionen zur Autorität dazugehört, auch wenn in diesem Aspekt
nicht der Schwerpunkt liegt. Auctoritas funktioniert nicht ganz ohne potestas.
8. Das allgemeine Bekenntnis zur Notwendigkeit von Autoritäten steht in einem
gewissen Widerspruch zur Neigung großer Teile der Bevölkerung, in Fällen, in
denen die Orientierung an Autoritäten mit den eigenen Wünschen und Vorstellungen im Konflikt steht, sich zugunsten der eigenen Vorstellungen zu entscheiden.
Umgekehrt kann auch die bei allgemein formulierten Fragen bekundete demonstrative Ablehnung von Autoritäten durchaus mit einer klaren Autoritätsorientierung im Alltag einhergehen (Tabelle 4). Das Bekenntnis zu Autoritäten wie auch
ihre Ablehnung sind also zum Teil Ausdruck einer prinzipiellen weltanschaulichen Haltung, die mit dem eigenen tatsächlichen Verhalten nicht viel zu tun haben
muss.
9. Mit einer Serie von Regressionsanalysen wurde der strukturelle Zusammenhang
zwischen Freiheit, Autorität und Vertrauen untersucht. Anstelle des ursprünglich
erwarteten engen Beziehungsgeflechts zwischen Freiheit, Autorität und Vertrauen
zeigt sich, dass zwar Freiheit und Vertrauen eng miteinander verknüpft sind, jedoch
nur vergleichsweise schwache Bindungen beider zur Autorität existieren. Die
Begriffe Freiheit und Vertrauen auf der einen Seite und Autorität mit ihren verschiedenen Bedeutungen auf der anderen Seite stehen für offensichtlich für unterschiedliche Konzepte, unterschiedliche Aspekte des Wertesystems der Bevölkerung,
die zwar nicht im Konflikt miteinander stehen, jedoch auch nicht zwangsläufig,
zumindest nicht untrennbar zusammengehören (Grafik 5).
31
THOMAS PETERSEN
Tabelle 1
Assoziationstest Autorität
Frage:
»Was fällt Ihnen spontan ein, wenn Sie den Begriff ›Autorität’ hören? Bitte
nennen Sie mir alles, was Ihnen beim Wort ›Autorität’ einfällt.« (Offene
Frage, keine Antwortvorgaben)
Bevölkerung
insgesamt
%
Westdeutschland
%
Ostdeutschland
%
Verweis auf »Autoritätspersonen«, die etwas zu sagen haben
33
33
31
Positive Assoziationen (z. B.
Respekt, Achtung, Vorbild,
Ausstrahlung, Verantwortung)
53
52
63
Negative Assoziationen
(z. B. Rechthaberei, Autoritätsmissbrauch, Ohnmacht, Verweise
auf das 3. Reich)
33
37
17
Macht, Stärke, Durchsetzungsvermögen
15
15
16
Ämter, Behörden, Gesetze,
öffentliche Ordnung
13
13
14
Kindererziehung, Eltern-KindVerhältnis
5
5
3
—
152*
914
—
155*
613
—
144*
301
Summe
n=
* Summe > 100 Prozent wegen Mehrfachnennungen
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 10063 (Oktober/November 2010)
32
A U T O R I TÄT I N D E U T S C H L A N D
Tabelle 2
Braucht man Autoritätspersonen?
Frage:
»Einmal ganz allgemein gefragt: Meinen Sie, dass man in einer Gesellschaft
Autoritätspersonen braucht, dass sie notwendig sind, oder meinen Sie das
nicht?«
Bevölkerung
insgesamt
%
Westdeutschland
%
Ostdeutschland
%
Braucht Autoritätspersonen
79
77
85
Meine das nicht
9
10
5
Unentschieden/
Keine Angabe
12
13
10
—
100
914
—
100
613
—
100
301
Summe
n=
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 10063 (Oktober/November 2010)
Grafik 1
Erziehungsziele
Frage:
»Wir haben einmal eine Liste zusammengestellt mit verschiedenen Forderungen, was man Kindern für ihr späteres Leben alles auf den Weg geben soll,
was Kinder im Elternhaus lernen sollen. Was davon halten Sie für besonders
wichtig?« (Listenvorlage)
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 10063 (Oktober/November 2010)
33
THOMAS PETERSEN
Grafik 2
Erziehungsziele im Trend
Frage:
»Wir haben einmal eine Liste zusammengestellt mit verschiedenen Forderungen, was man Kindern für ihr späteres Leben alles auf den Weg geben soll,
was Kinder im Elternhaus lernen sollen. Was davon halten Sie für besonders
wichtig?«
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfragen, zuletzt Nr. 10063 (Oktober/November 2010)
34
A U T O R I TÄT I N D E U T S C H L A N D
Grafik 3
Die Notwendigkeit von Autoritätspersonen in verschiedenen Lebensbereichen
Frage:
»Was meinen Sie: In welchen Bereichen ist es besonders wichtig, dass es Autoritätspersonen gibt?« (Listenvorlage)
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 10063 (Oktober/November 2010)
Tabelle 3
Wer Autorität hat, ist nicht unbedingt eine Autorität
Frage:
»Wenn man von jemandem sagt, er sei eine Autorität/habe Autorität, spricht
das eher für oder eher gegen ihn?«
Gruppe A:
»eine Autorität«
%
Gruppe B:
»habe Autorität«
%
Spricht für ihn
65
54
Spricht gegen ihn
9
16
Unentschieden /
Keine Angabe
26
30
Summe
n=
—
100
914
—
100
450
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 10063 (Oktober/November 2010)
35
THOMAS PETERSEN
Grafik 4
Wem kann man vertrauen – und wer hat Autorität?
Frage:
»Hier stehen einige Einrichtungen und Berufsgruppen. Bei welchen davon
würden Sie sagen ...« (Listenvorlage)
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 10063 (Oktober/November 2010)
36
A U T O R I TÄT I N D E U T S C H L A N D
Tabelle 4
Autoritätsunabhängiges Handeln im Beruf
Frage an Berufstätige: »Wenn jemand sagt: ›Ich mag es gar nicht, wenn man mir im
Beruf nicht ganz genau sagt, was ich tun soll.‹ Geht Ihnen das auch so oder nicht?«
Bevölkerung
insgesamt
Befragte, die sagen,
man braucht
Autoritätspersonen
%
%
man braucht
keine Autoritätspersonen oder
»Unentschieden«
%
Geht mir auch so
21
20
23
Geht mir nicht so
62
64
57
Unentschieden
17
16
20
Summe
n=
—
100
995
—
100
745
—
100
250
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 10063 (Oktober/November 2010)
Grafik 5
Zusammenfassung Regressionsanalysen:
Gegenseitiger Einfluss von Vertrauen, Freiheitsgefühl, politischer und gesellschaftlicher Autoritätsorientierung
Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage Nr. 10063 (Oktober/November 2010)
37
II. Politik, Kirche, Gewerkschaften:
Traditionelle Autoritäten in der
Krise?
Die Entkollektivierung der Gesellschaft und die
Schwierigkeit, Autorität zu bewahren
V O N F R A N Z WA LT E R
Die Dekomposition der alten Milieukerne setzt sich fort. Das zeigten erneute und
zuletzt die Landtagswahlen in Hessen und Baden-Württemberg am 27. März 2011.
In Baden-Württemberg büßte die CDU 5,2 Prozentpunkte ein. In ihren Kerngruppen, bei den Selbstständigen bzw. Katholiken, aber verlor sie gar sechs bzw. acht
Prozentpunkte. Die Sozialdemokraten fielen in Hessen bzw. Baden-Württemberg
um 2,1 bzw. 9,9 Prozentpunkte zurück; in ihrem klassischen Kaderbereich aber,
bei den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern, sank sie sogar um vierzehn bzw.
zwanzig Prozentpunkte ab. Und auch die FDP bilanzierte ihre größten Einbrüche
in ihren genuinen Trägerschichten, bei den Selbstständigen. Bei diesen war für die
Liberalen in Hessen ein Minus von fünfzehn Prozentpunkten zu verzeichnen.1
Seit Hartz IV schmollen etliche Gewerkschafter mit der SPD. Seit Merkels Abkehr
von den Leipziger Parteitagsbeschlüssen hadern Unternehmerverbände mit der
CDU. Und als 2010 nicht kam, was die Freien Demokraten 2009 im Bundestagswahlkampf steuerpolitisch versprochen hatten, reagierten die Mittelstandsvereinigungen bitter enttäuscht über die Westerwelle-Partei. Ganz offenkundig lockern
und lösen sich in diesen Jahren traditionsträchtige gesellschaftliche Verflechtungen,
die Interessen bündelten und als Stifter von Sinn und Zusammenhalt fungierten.
Einige Beobachter sehen darin keinen Grund zur Traurigkeit; sie erhoffen sich vielmehr vom Zerfall der überkommen sozial-kulturellen Bindungen eine Neuformierung kreativer Allianzen, die die Beharrungskraft der klassischen parteipolitischen
Großformationen und starren Lager aufzusprengen vermochte.
1
Vgl. Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer Stiftung: Landtagswahlen in BadenWürttemberg am 27.3.2011 (http://www.kas.de/wf/doc/kas_22380-544-1-30.pdf?110329145528); und Hauptabteilung Politik und Beratung der Konrad-Adenauer Stiftung: Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz am 27.
März 2011 (http://www.kas.de/wf/de/33.22410/) (beide am 05.04.2011).
40
DIE ENTKOLLEKTIVIERUNG DER GESELLSCHAFT
1. Historischer Rückblick
Doch schauen wir dafür zunächst historisch zurück, in das letzte Drittel des neunzehnten Jahrhunderts.2 Damals kristallisierten sich die prägenden Konfliktlinien der
modernen bürgerlichen Gesellschaft heraus, zwischen Stadt und Land, zwischen
Kapital und Arbeit, zwischen Kirchen und säkularisierter Gesellschaft, zwischen
den Konfessionen untereinander. Entlang dieser Cleavages bauten sich die Parteifamilien auf. Um einige dieser Parteien herum entspannten sich zudem noch Netze
von Organisationen, Verbänden und Vereinen, welche die Zugehörigen der jeweiligen Konfliktparteien auch lebensweltlich, kulturell, normativ, nicht selten ein Leben
lang integrierten. Dazu gehörte ebenfalls noch ein Set von je gruppenspezifischen
Ritualen, Kulthandlungen, öffentlichen Inszenierungen, feierlichen Zeremonien
und visionär ausgemalten Zukunftsbildern. In den europäischen Industriegesellschaften bezeichnete man die parteibildenden Orte solcher Vergemeinschaftungen
als Milieus oder Lager; zuweilen sprach man in diesem Sinne auch von Versäulungen der Gesellschaft. Zusammen jedenfalls waren es Sozialisationsstätten oft für
ein ganzes Leben in festen Gruppenzusammenhängen. Es waren diese Vergemeinschaftungen, welche die Konstanz und zähe Lebensdauer der Parteien und unseres
Parteiensystems begründeten.
Häufig wird gesagt: Die Milieus hätten die Spaltung der Gesellschaft vor 1933 vertieft und dadurch den Kompromiss zwischen den Lagern erschwert.3 Die Weimarer
Republik sei am Ende daran zugrunde gegangen, der Nationalsozialismus infolgedessen an die Macht gelangte. So kann man es in zahlreichen gelehrten historiografischen Darstellungen des zwanzigsten Jahrhunderts nachlesen. Man kann die Dinge
indes auch ganz anders sehen. Denn in Deutschland gab es zwischen dem späten
neunzehnten Jahrhundert und 1933 zwei Milieus par excellence, mit verbindlicher,
ja hermetischer Weltanschauung und fest zementierten Organisationsgrundlagen:
das organisationszentrierte und das transzendenzorientierte. Aber eben diese beiden Vergemeinschaftungen widerstanden am stärksten den republikgegnerischen
Anfeindungen jener Jahre. Diese beiden Großlebenswelten blieben stabil, auch
während der Verwerfungen, Krisen und Umbrüche in den frühen dreißiger Jahren.
Hier gab es die geringsten Konversionen zum Nationalsozialismus.4
Bei den Liberalen hingegen verhielt es sich anders. Die liberalen Individualisten hatten keine verbindliche normative Idee, keine festen Organisationsgrundlagen, keine
2
Lepsius, Rainer Mario: »Parteiensystem und Sozialstruktur. Zum Problem der Demokratisierung der deutschen Gesellschaft.« In: Ritter, Gerhard Albert (Hg.): Die deutschen Parteien vor 1918. Köln 1973. S. 56-80.
3
Siehe unter anderem Tenfelde, Klaus: »Historische Milieus, Erblichkeit und Konkurrenz.« In: Hettling,
Manfred/Nolte, Paul (Hg.): Nation und Gesellschaft in Deutschland. München 1996. S. 247-268.
4
Vgl. Walter, Franz: »Milieus und Parteien in der deutschen Gesellschaft. Zwischen Persistenz und Erosion.«
In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 46,9/1995. S. 479ff.
41
F R A N Z WA LT E R
integrative Lebenswelt, auch keine bewunderten Propheten und Helden, keine
mythologisierten Märtyrer oder Heilsgestalten. Die liberalen Bürger brauchten,
wollten das alles nicht, denn sie waren individuell selbstbewusste Honoratioren der
Gesellschaft, bildeten je für sich Teile des Establishment. Und sie setzten auf den
offenen Diskurs, misstrauten den holistischen Narrationen. Für sie gab es keinen
Grund, sich in das Refugium eines abgesperrten, ideologisch
Die Weimarer
verbindlich durchwirkten Milieus zurückzuziehen. Der LiberaRepublik ging unter,
weil der durch und
lismus war somit politisch offen, gleichsam mustergültig repubdurch säkularisierte,
likanisch. Doch eben deshalb fielen die Liberalen den fundaoffene, entheimatete
mentalen Modernisierungsschrecken und Pathologien in den
Liberalismus in den
Modernisierungskrisen
1920er und 1930er Jahren zum Opfer. Ihnen fehlten die Anker
auseinanderbrach.
des Milieus, auch deren Trostideologien und Transzendenzhoffnung. Die Wähler der bürgerlichen Mitte waren politisch-kulturell ohne Deutungshalt, ohne parteipolitische und organisatorische Vertäuungen, ohne ideelle Bindungen und faszinierende Erlösungsversprechen. So marschierten die liberalen
Anhängerschaften immer weiter nach rechts, bis sie sich bei der großen Sammlungsformation der Milieulosen niederließen: den Nationalsozialisten. Kurzum: Die Weimarer Republik ging unter, weil der durch und durch säkularisierte, offene, entheimatete Liberalismus in den Modernisierungskrisen auseinanderbrach.
Als rein weltlich-pragmatisches Politikunternehmen wäre auch die katholische
Zentrumspartei, die als fortwährende Koalitionspartei in der Mitte des Parlamentarismus permanent elastisch und beweglich agieren musste, in den Jahren der
Weimarer Republik wohl ebenso desaströs dezimiert worden wie die Parteien des
Liberalismus. Die Zentrumspartei konnte ihre politische Modernität nur dadurch
praktizieren, weil sie sich der Legitimitätsreserve der Kirche und der Ersatzstrukturen des katholischen Vereinsmilieus bedienen durfte. Das war der konstitutive
Unterschied zu den Liberalen, welche die reine Modernität verkörperten und infolgedessen scheiterten, während die Zentrumspartei ihre Modernität auf vormodernen Plateaus und traditionsgestützten Vergemeinschaftungen gegründet hatte.
Klerus und Milieu sorgten für die Kohäsion und Stabilität des politischen Katholizismus, die einen von oben, die anderen von unten. Ohne die höchste Autorität der
Kirche jedenfalls hätte alle rhetorische und an Proporzen entlang inszenierte Artistik der Zentrumsführung nicht hingereicht, Linke und Rechte, Monarchisten und
Republikaner, Kapitalisten und Arbeiter in ein und demselben politischen Parteizusammenhang beieinander zu halten. Spitzten sich die innerparteilichen Rangeleien
zu, dann war allein der Klerus in der Lage, die weltlichen Konflikte im politischen
Katholizismus zu entschärfen und durch integrative Formeln aus der dem Politischen entzogenen Heilsbotschaft zu überwölben.
42
DIE ENTKOLLEKTIVIERUNG DER GESELLSCHAFT
Das katholische Vereinsmilieu wiederum unterkellerte das locker verknüpfte Interessenkartell der Zentrumspartei von unten. Die Vereine substituierten die Parteistruktur, über die der politische Katholizismus nicht verfügte. Aus den katholischen
Laienorganisationen holte sich die Zentrumspartei ihren Nachwuchs, die eher raren
Funktionäre, ihre parlamentarischen Akteure. Und in Wahlkampfzeiten mobilisierten diese Vereine das katholische Volk zu den Urnen. Doch sobald der Wahlkampfsonntag vorbei war, zog sich das katholische Volk vom politischen Terrain
zurück und überließ den Parteieliten das Feld. Die katholischen Parteiautoritäten
hatten durch die politische Indifferenz und die Autoritätsgläubigkeit ihres Vorfeldes einen außerordentlich großen Handlungsraum, den sie schließlich wegen ihrer
komplexen Integrations- wie Vermittlungsaufgaben und der beweglichen Bündnispolitik nach links und rechts in den Weimarer Kabinetten auch wirklich benötigten.
Kirche und Milieu sicherten die Autorität der Zentrumsführung, sorgten für die
Loyalität der Gläubigen gegenüber der Zentrumspartei auch in Zeiten höchst unpopulärer Entscheidungen. Das stabilisierte den politischen Katholizismus, bot ihm
einzigartige Freiräume und Handlungsoptionen, ermöglichte ihm moderne parlamentarische Politik. Und es war, in Gestalt der bundesdeutschen Christdemokratie,
noch nach 1949 die Voraussetzung für die langen Regierungszeiten der christdemokratischen Kanzlerautoritäten Konrad Adenauer und Helmut Kohl.5
Um es noch ein weiteres Stück zuzuspitzen: Möglich war der moderne Parlamentarismus der Zentrumspartei nur durch die Existenz vormoderner Glaubensbezüge.
Die Zentrumspartei konnte sich wechselnde Koalitionsallianzen und schwierige
politische Entscheidungen nur deshalb zumuten, weil ihre Anhänger an die Partei
über den Glauben, die Religion, den Gehorsamsanspruch der kirchlichen Hierarchie, die Macht einer Jahrhunderte alten Tradition fest gebunden waren. All das,
was gut aufgeklärte und kritisch liberale Bildungsbürger oft als katholischen Aberglauben verhöhnten, bildete das Fundament der modernen Volks- und Koalitionspartei: die Heiligenbilder, Kruzifixe, die »Mutter Gottes«-Verehrung, auch die allgegenwärtige Furcht vor Fegefeuer, Teufel und dem Jüngsten Gericht. Aberglaube,
Heilsängste, Erlösungsstreben sicherten der katholischen Partei die parlamentarische Aktionsfähigkeit, über die in den 1920er und 1930er Jahren keine andere Partei in dem Maße verfügte. Hinzu kam als theoretische Fundierung die katholische
Soziallehre, die weit rezipiert wurde. Ohne vormoderne, ja vordemokratische Voraussetzungen und Kraftquellen funktionierte der moderne Parlamentarismus in
5
Insgesamt hierzu: Walter, Franz: »Katholisches Milieu und politischer Katholizismus in säkularisierten Gesellschaften: Deutschland, Österreich und die Niederlande im Vergleich.« In: Dürr, Tobias/Walter, Franz
(Hg.): Solidargemeinschaft und fragmentierte Gesellschaft. Parteien, Milieus und Verbände im Vergleich.
Opladen 1999. S. 43-72.
43
F R A N Z WA LT E R
diesen Jahrzehnten offenkundig noch nicht. Parteien, die ganz modern jenseits von
Milieu und Religion allein über nüchtern definierte Interessen mit ihren Anhängerschaften verwoben waren, brachen in der europäischen Zwischenkriegszeit auseinander, implodierten. Katholische Parteien hier und liberale dort – beide waren
Mitte- und Achsenparteien des parlamentarischen Systems. Doch ging der moderne
Liberalismus ohne Transzendenzversprechen und Mythen in den Krisenjahren der
europäischen Demokratien an dieser Stellung nahezu zugrunde, die katholischen
Volksparteien aber, mit ihren traditionellen, farbenprächtigen, bilderreichen und
sinnlich inszenierten Kulten aus Weihrauch, Prozessionen, Wallfahrten, Ohrenbeichte und Höllenangst, blieben intakt.
2. Auszehrungsprozesse in Parteien und Organisationen
Das meiste davon ist unzweifelhaft Vergangenheit. Zumindest scheint im Hinblick
auf die klassischen Kollektivorganisationen die Diagnose schon auf den ersten Blick
evident zu sein, da doch die Indizien, die auf eine tiefgreifende Krise hindeuten,
erdrückend wirken. Das »goldene Zeitalter« der Großparteien
Das »goldene Zeitalter«
und Großorganisationen, von Politologen auf die Periode von
der Großparteien und
1961 bis 1983 datiert, gehört offenkundig der Vergangenheit an.6
Großorganisationen
gehört offenkundig der
So sank beispielsweise die Parteiidentifikation in Deutschland
Vergangenheit an.
zwischen 1981 und 1998 von 81 Prozent auf 64 Prozent. Leidtragende dieser Entwicklung sind vor allem die großen Volksparteien. Hatten in den
1970er Jahren CDU/CSU und SPD noch rund 90 Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten, waren es in den 1990ern nur noch rund 75 Prozent. Schaut man auf
die Wahlberechtigten insgesamt, so kam die von Helmut Kohl angeführte CDU/
CSU 1976 auf 46 Prozent aller Wahlberechtigten – und blieb in der Opposition. 2009
hatte sich die CDU/CSU mit rund 23 Prozent aller Wahlberechtigten zu bescheiden
und konnte gleichwohl die Kanzlerin stellen. Nimmt man CDU/CSU und SPD –
deren Anteil an den Wahlberechtigten ebenfalls von 41,4 Prozent im Jahr 1972 auf
16,1 Prozent 2009 mit Aplomb herunterfiel – zusammen, dann vertreten die beiden
»Volksparteien« im gegenwärtigen Bundestag nur noch 39 Prozent der Wahlberechtigten in Deutschland; die schwarz-gelbe Bundesregierung kann sich lediglich
auf die Stimmen von einem Drittel aller zur Wahl legitimierten Bürger stützen.
Und es schrumpfen die Mitgliederzahlen der früheren Großparteien. In Deutschland büßte etwa die SPD innerhalb der letzten zwei Jahrzehnte über gut 400.000
Mitglieder ein; seit den 1970er Jahren hat sich der Bestand halbiert. Die CDU verzeichnete 1983 735.000 Mitglieder, Ende 2010 konnte die Bundesgeschäftsstelle nur
6
Vgl. früh schon Wiesendahl, Elmar: »Wie geht es weiter mit den Großparteien in Deutschland?« In: Aus
Politik und Zeitgeschichte, 1-2/98. S. 13-28, hier S. 17; vgl. auch Decker, Frank: »Parteien und Parteiensysteme im Wandel.« In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 2/1999. S. 345-361.
44
DIE ENTKOLLEKTIVIERUNG DER GESELLSCHAFT
noch 505.000 organisierte Christdemokraten vermelden.7 Gleichzeitig unterminieren auch interne Entwicklungen den Volksparteicharakter der Großparteien. So hat
sich ihr sozialer und kultureller Zuschnitt enorm verengt. In ihrer Mitgliedschaft,
vor allem aber bei den Funktionären und Mandatsträgern, spiegeln sie immer weniger die Vielfalt gesellschaftlicher Alters-, Berufs- und BildungsDie Parteien haben an
gruppen wider. Die Parteien haben an Wurzeln verloren, an Wurzeln verloren, an
Flechtwerken und Erfahrungsorten in Gesellschaft und Wirt- Flechtwerken und Erfahin Gesellschaft. Sie bekommen so ihre zunehmende Einsamkeit zu spü- rungsorten
schaft und Wirtschaft.
ren, ihre Beschränkung allein auf den politischen Raum, auf
Ministerbüros und Abgeordnetenzimmer. Politische Macht ist infolgedessen fragil.
Verliert man sie, verliert man alles. Die Entgesellschaftung der politischen Repräsentanten, ihre mangelnde Fähigkeit zur massenhaften Sozialisation und Aktionsmobilisierung von Anhängern, macht diese verletzbar, vorsichtig, ängstlich, in Zeiten des Machtverschleißes auch durch Schwäche aggressiv.
Unter vergleichbaren Auszehrungsprozessen leiden auch die Kirchen und
Gewerkschaften.8 Auch sie verloren in
der letzten Dekade zahlreiche Mitglieder. In Deutschland summiert sich der
jährliche Schwund der »Amtskirche«
seit den späten 1960er Jahren konstant
auf über 100.000 Gläubige. Zwischen
1990 und 2010 hatten rund 6,5 Millionen
katholische und evangelische Christen
ihre Kirchenmitgliedschaft aufgekündigt – was allein die Einwohnerzahl von
Ländern wie Dänemark, Norwegen
oder Finnland übertraf. Nur noch 18
Leere Kirchenbänke in einer evangelischen Kirche in
Prozent der Katholiken unter dreißig Frankfurt/Main
Jahren ordnen sich dem Lager der mindestens mittelbar Kirchenverbundenen zu – bei einem Durchschnitt von immerhin
noch 55 Prozent in der katholischen Gesamtbevölkerung. Unter den Fünfzig bis
7
8
Vgl. http://www.bpb.de/files/IMO9KZ.pdf (05.04.2011).
Vgl. für das katholische Milieu etwa Ziemann, Benjamin: »Das Ende der Milieukoalition. Differenzierung
und Fragmentierung der katholischen Sozialmilieus nach 1945.« In: Comparativ, 2/1999. S. 89ff.; für die
Gewerkschaften: Ebbinghaus, Bernhard: »Die Mitgliederentwicklung deutscher Gewerkschaften im historischen und internationalen Vergleich.« In: Schroeder, Wolfgang/Weßels, Bernhard (Hg.): Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch. Wiesbaden 2003.
S. 174-203.
45
F R A N Z WA LT E R
Neunundfünfzigjährigen gibt es heute noch 30 Prozent, denen die christliche Orientierung einer Partei wichtig ist, bei den Sechzehn bis Fünfundzwanzigjährigen
sind das weit unter 10 Prozent. Jeder dritte Deutsche ist mittlerweile sowieso konfessionslos. Im europäischen Religionsvergleich liegt Deutschland im Jahr 2008 ganz
hinten. In Bundesländern wie Schleswig Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und
Sachsen-Anhalt bezeichnen sich nicht einmal mehr fünf Prozent der repräsentativ
befragten Bürger als »gottesgläubig«.9
Auch die Mitgliederentwicklung in den Gewerkschaften weist rasant nach unten.
Zwischen 2000 und 2010 verlor der DGB 1.579.543 Mitglieder, davon fielen auf die
IG Metall 523.979 und auf ver.di 712.041 Mitglieder, die in dieser Dekade abhanden
gingen. Die goldenen Jahre der Gewerkschaften waren die Jahre des Booms und
der großindustriellen, fordistischen Produktionsweisen.10 Mit beidem ging es in der
ersten Hälfte der 1970er Jahre allmählich vorbei. Seither veränderte sich die Gesellschaft rasant, sie wurde femininer, tertiärer; anstelle serieller Massen- und Billigproduktionen in Großbetrieben der überkommenen Montan-, Bergbau-, Werft- und
Textilregionen traten kleinteiligere, hochwertig verarbeitende Betriebe oft mittlerer
und kleiner Größe in den neu prosperierenden, eher südlich gelegenen Landesteilen der Republik. Die Gewerkschaften bildeten, im Grunde bis heute, in ihrer Mitglieder- und Organisationsstruktur die soziale wie ökonomische Konstellation der
1960er/70er Jahre ab.11 Weiterhin dominieren Arbeiter, mittlerweile auch Rentner,
während die DGB-Gewerkschaften nach wie vor Probleme bei Angestellten und
Frauen, den Zugehörigen der Klein- und Mittelbetriebe, auch im Dienstleistungsbereich und bei Personen mit prekären, lange als »atypisch« bezeichneten Arbeitsverhältnissen ausweisen.12 Arbeitsnehmergruppen der modernen Mobilitätssphären,
wie Piloten oder Lokomotivführer, sperren sich gegen die altgewerkschaftlichen
Integrationsimperative und gründen eigene, elitäre Gewerkschaften mit großer
Schlagkraft, weil diese Berufe in verkehrstechnischen Schlüsselpositionen angesiedelt sind, die nicht leicht durch Streikbrecher zu substituieren sind. Seit den 1980er
Jahren gelten auch die korporatistischen Strukturen als zunehmend überholt. Als
Folge der gesellschaftlichen Entsäulung ist ebenfalls der Korporatismus in eine tiefe
Krise geraten, wird das tarifvertragliche Monopol vor allem der Gewerkschaften
9
http://www.stiftungfuerzukunftsfragen.de/uploads/media/209_WasDenDeutschenHeiligIst.pdf
(05.04.2011).
10
Vgl. Schroeder, Wolfgang/Weßels, Bernhard: »Das Ende des deutschen Gewerkschaftsmodells?« In: Gewerkschaftliche Monatshefte, 8-9/2003. S. 573ff.
11
Vgl. Legrand, Jupp: »Von der Streik-Niederlage zur Programm-Debatte. Die IG Metall muss mehr als eine
gescheiterte Tarifrunde aufarbeiten.« In: Gewerkschaftliche Monatshefte, 8-9/2003. S. 563.
12
Vgl. Lorenz, Robert: »Schwäche aus Stärke.« In: Hensel, Alexander/Kallinich, Daniela/Rahlf, Katharina
(Hg.): Parteien, Demokratie und gesellschaftliche Kritik. Stuttgart 2011. S. 274ff.
46
DIE ENTKOLLEKTIVIERUNG DER GESELLSCHAFT
zunehmend kritisch hinterfragt und in der Praxis vielfach unterlaufen. Insbesondere Ostdeutschland ist in großen Teilen zu einer tarifvertragsfreien Zone geworden, da dort nur ein Viertel der Beschäftigten tarifvertraglich eingebunden ist. Doch
auch im Westen ist mittlerweile lediglich die Hälfte der Erwerbstätigen durch Tarifverträge geschützt und gesichert.13 Für junge Leute sind die DGB-Gewerkschaften in vielerlei Hinsicht nicht sonderlich attraktiv; das Gros der nachwachsenden
Kohorten kommt mit den Sozialisationsprozessen und Bildungsbemühungen der
Gewerkschaften nicht mehr in Berührung.
Die prägenden Konfliktlinien der modernen Industriegesellschaften also, aus denen
heraus die Großorganisationen einst entstanden sind, haben sich im Zeitalter von
Postmoderne und Postfordismus verflüchtigt: Der Wandel der Beschäftigungsstruktur unterminierte den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit; die gesteigerte
soziale und räumliche Mobilität beseitigte die Trennung zwischen Stadt und Land;
konfessionelle Spannungen lösten sich in der Säkularisierung auf; die Bildungsexpansion machte die Unterstützungsleistungen von Milieus entbehrlich. Die für die
milieubasierten Großkollektive so elementaren homogenen sozialen Netzwerke
binden immer kleiner werdende Bevölkerungsgruppen ein. Durch den Aufstieg
des Nachwuchses aus den Familien der klassischen Facharbeiterelite in die »neue
Mitte« formierte sich eine neue Schicht von jetzt ressourcenstarken Menschen mit
akademischen Abschlüssen, die nun nicht mehr das Gehäuse der disziplinierten
Organisation benötigen, nicht mehr angewiesen auf den Vormund von Partei- oder
Gewerkschaftssekretären sind.14 Darin besteht die Zäsur, die auch auf das Parteiensystem, die Gewerkschaftsbewegung und den Sozialkatholizismus gegenwärtig so
massiv umschlägt.
In diesem Zusammenhang wird man den Blick ebenfalls auf die veränderte gesellschaftliche Selbst- und Fremdzuordnung der Frauen zu richten haben. Nicht zuletzt
durch die Bildungsexpansion in den 1960er Jahren hat sich die
Stellung der Frau in der Gesellschaft fundamental gewandelt. In zahlreichen europäischen Ländern bilden
Waren Frauen lange Zeit gerade für die hier behandelten Groß- Frauen die Majorität des
strukturen – vor allem für Parteien und Kirchen – stabilisie- Elektorats von ökologischen oder libertären
rende Faktoren, so ist ihre traditionsgestiftete Organisationslo- Parteien.
yalität in den vergangenen Jahren gebröckelt. Das mit engen
religiösen Bindungen korrelierende überproportional ausgeprägte Wahlverhalten
zugunsten der Konservativen ist heute nicht mehr festzustellen. Im Gegenteil: In
13
Vgl. Brinkmann, Ulrich/Nachtwey, Oliver: »Krise und strategische Neuorientierung der Gewerkschaften.«
In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 13-14/2010. S. 1ff., hier S. 2.
14
Siehe auch Walter, Franz: Die SPD. Biographie einer Partei. Reinbek bei Hamburg 2009. S. 279f.
47
F R A N Z WA LT E R
zahlreichen europäischen Ländern bilden Frauen die Majorität des Elektorats von
ökologischen oder libertären (auch explizit wohlfahrtsstaatlichen) Parteien. Gleichermaßen hat angesichts der steigenden Berufstätigkeit und damit wachsender
Autonomie von Frauen der Einfluss der Kirche als Sinnstifter und moralischer Orientierungspunkt nachgelassen.15
Nun könnte man gerade die Entstehung und die in den Folgejahren offenkundige
Stabilität der in den 1970er/1980er Jahren neu auftretenden grün-ökologischen Parteien als eine Art zweiter Welle gesellschaftlich moderner Milieubildung deuten.
Das grüne Milieu kam historisch spät, tradierte sich nicht in der gleichen Uniformität und Verbindlichkeit über Generationen hinweg wie noch das sozialdemokratische oder katholische. Doch besaß auch die grüne Subkultur in ihren bewegten
Anfangsjahren alle entscheidenden Kennzeichen der klassischen Milieustrukturen:16
• Es repräsentierte in den 1970er Jahren mit der Ökologie eine neue gesellschaftliche Spannungslinie. Es gab die soziale Gruppe, die das alles trug, weil sie sich
gesellschaftlich anfangs abgedrängt und ausgegrenzt fühlte: die Alternativbewegung zwischen Brokdorf und Mutlangen, fokussiert in den studentischen Vierteln der Universitätsstädte.
• Es basierte auf einer von unten begründeten Infrastruktur aus Kinderläden, roten
bis ökoesoterischen Buchhandlungen, Bürgerinitiativen, Patientenkollektiven,
Selbsthilfegruppen, Biohöfen.
• Es schuf eine eigene Symbolik, einen spezifischen Habitus, eigene Gruß- und Anredeformeln, ein genuines Liedgut.
• Am Ende gab sich das neue grün-alternative Milieu mit der »taz« noch ein eigenes Selbstverständigungs- und Multiplikationsmedium, gründete schließlich die
eigene Parteirepräsentanz, eben die Grünen.
Genau deshalb haben sich die Grünen in der bundesdeutschen Republik bemerkenswert fest, dauerhaft und parlamentarisch-gouvernemental erfolgreich im Parteiensystem etablieren können. Dagegen haben Protest- und Neuparteien ohne solche Vergemeinschaftungen im Vorfeld, ohne organisatorische Vernetzungen, ohne
gegenwartstranszendierende Leitidee, ohne eine sozialmoralisch verknüpfte Kernanhängerschaft, ohne Mythen und legendenumwobene Autoritäten (in diesem Falle:
Petra Kelly oder Joschka Fischer) keine allzu große Beständigkeit und zerfallen nach
raschem Aufstieg oft ebenso schnell wieder in ihre sozialkulturellen Einzelteile.
15
16
Hoecker, Beate: Politische Partizipation von Frauen. Ein einführendes Studienbuch. Opladen 1995.
Vgl. Veen, Hans-Joachim: »Die Grünen als Milieupartei.« In: Maier, Hans u.a. (Hg.): Politik, Philosophie,
Praxis. Stuttgart 1988. S. 254-476; vgl. auch Walter, Franz: Gelb oder Grün. Bielefeld 2010. S. 73f.
48
DIE ENTKOLLEKTIVIERUNG DER GESELLSCHAFT
3. Auswirkungen der postindustriegesellschaftlichen
Individualisierung
Gleichwohl: Das goldene Zeitalter konsistenter, kollektiv verbindlich assoziierter Milieus und Großlebenswelten dürfte zweifelsohne passé sein. Doch was sagt
uns das? Ist das Grund zur Besorgnis oder vielmehr Anlass zur Erleichterung, da
dergleichen Eigen- und Sonderkulturen schließlich auch etwas Einhegendes, einen
unzweifelhaft antiindividuellen Charakter hatten, oft soziale Absperrungen errichteten und Antagonismen konstituierten, wo gegenseitige Lernprozesse, Öffnungen
und kooperativer Konsens angebracht gewesen wären?
In der Tat, lange überragte eindeutig – und sicher nicht ohne Recht – die positive
Interpretation des gesellschaftlichen Entstrukturierungsprozesses. Man goutierte die
sonnigen Seiten der Individualisierung, lebte die Opulenz der Optionen, schätzte und
gebrauchte die Möglichkeit des Auszugs aus beengenden, kontrollierenden, zuweilen
gar disziplinierungswütigen Assoziationen. Zukunftsforscher skizzierten vor Jahren
daher zumeist eine durchaus heitere Aussicht des Zusammenlebens der Menschen
im entkollektivierten Futurismus. Die alten Organisationsbindungen seien dort zwar
verschwunden, doch an ihre Stelle träten neue Netzwerke, neue Kontaktkreise, nur
Hoffnungslosigkeit und Armut. Ein Grund: Die Erosion sozialmoralischer Vergemeinschaftsformen
49
F R A N Z WA LT E R
nicht mehr so weit- und breitflächig, über die ganze Biografie erstreckt und ideologisch geschlossen wie einst, sondern je nach eigenem Gusto konfigurierbar, auch
lebensabschnittsweise kündbar, durch andere Formen und Werte ersetzbar. Das traf
so zu und war fraglos attraktiv – für diejenigen, die über die Ressourcen Bildung,
Mobilität, Selbstbewusstsein und Kreativität verfügten. Doch es stellte sich die Frage:
Was sollte mit den Habenichtsen und Verlierern der Moderne geschehen, die solche
Voraussetzungen nicht besaßen, für die dann Individualisierung tatsächlich Vereinsamung, soziale Isolation und Ratlosigkeit, auch zunehmend Armut oder – neusoziologisch ausgedrückt – Exklusion, jedenfalls Verlorenheit zur Folge hatte?
Denn das alte Arbeitermilieu, engmaschig organisiert und lebensweltlich wie normativ homogen, war nun verschwunden. Das industrielle Fundament großbetrieblicher
Zusammengehörigkeit und Wohnförmigkeit zerbröselte seit den 1970er Jahren. Die
traditionelle und traditionsreiche Arbeiterklasse des sich verabschiedenden industriegesellschaftlichen Jahrhunderts spaltete sich damals auf: Auf der einen Seite in die
Verlierer, die zunehmend vereinzelten, sich resigniert aus der früheren Kollektivität
zurückzogen.17 Sie verharrten in ihren angestammten Wohnvierteln, die aber Jahr für
Jahr mehr von wertgebundenen Arbeiter- zu verwahrlosten Arbeitslosenquartieren
deformierten. Auf der anderen Seite standen die Gewinner, die über die Bildungsexpansion jener Reformjahre ihre Aufstiegschancen (nicht selten im öffentlichen Dienst)
nutzten und fortstrebten.18 Es hielt sie nicht länger in den überkommenen Werkssiedlungen. Die neuakademischen Aufsteiger aus den Facharbeiterfamilien ließen so
die Randständigen des Deindustrialisierungsprozesses zurück, organisierten sie nicht
mehr, formten sie nicht mehr kulturell, gaben ihnen keine politische Orientierung
und Interpretationen mehr vor, stifteten keinen Sinn, keinen Halt, waren den unteren
Schichten des sozialen Unten keine mitnehmende, zielorientierte Autorität mehr.
In den Souterrains der Gesellschaft bedeutet der Abschied von den bergenden Lagern
jedenfalls nicht das glückliche Entree in ein Reich neuer Möglichkeiten und Chancen. Hier geht die Erosion der sozialmoralischen Vergemeinschaftungen einher mit
der Wahrnehmung eigener Überflüssigkeit.19 Die alten Milieus hatten nicht allein
Wärme und Nähe geboten, sondern zahlreiche Funktionen und Tätigkeiten im weit
gefächerten Organisationssystem, was ihnen Bedeutung und Selbstbewusstsein verschaffte. Mit dem Zerfall der sozialmoralischen und politischen Vergemeinschaftun17
Hierzu und weiter Walter, Franz: Vorwärts oder abwärts? Berlin 2010. S. 12ff.
Vgl. auch Solga, Heike/Wagner, Sandra: »Die Zurückgelassenen – die soziale Verarmung der Lernumwelt
von Hauptschülerinnen und Hauptschülern.« In: Becker, Rolf/Lauterbach, Wolfgang (Hg.): Bildung als
Privileg. Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit. Wiesbaden 2008. S. 191ff.
19
Siehe hierzu unter anderem Kronauer, Martin: Exklusion: die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus. Frankfurt a.M. 2002.
18
50
DIE ENTKOLLEKTIVIERUNG DER GESELLSCHAFT
gen ist diese aktivierende, ermutigende und inkludierende Wirkung großflächiger
Selbsthilfeorganisationen verloren gegangen. Die postindustriegesellschaftliche Individualisierung ist daher für diejenigen ohne hinreichend eigene Handlungspotenziale und wissensgesellschaftliche Kompetenzen negativ, hoffDie postindustriegesellnungsarm und im Grunde zukunftslos. Natürlich, ein Zurück zu schaftliche Individualiden überkommenen, mitunter abträglich nach innen homogeni- sierung ist für Menschen
ohne hinreichend eigene
sierenden und nach außen scharf konfrontativen Groß-Lager Handlungspotenziale und
wird es nicht geben. Schließlich vollzog sich die Herauslösung wissensgesellschaftliche
Kompetenzen im Grunde
aus der Kollektivität, die Dekomposition der großorganisatori- zukunftslos.
schen Hierarchien seit den 1970er Jahren nicht zufällig. Aber
man kann es sich auch nicht zu einfach machen und nun fröhlich und selbstgewiss
kurzerhand die »Bürger-« oder »Zivilgesellschaft« als probaten Ersatz für die überkommenen wie verschlissenen Milieus preisen.20
Meist wird dann leichthändig von einer strukturellen Veränderung »zivilen
Engagements«21 oder einem »Wandel der Organisationsgesellschaft«22 gesprochen,
was derzeit in der Regel unter dem Chiffre der »neuen Ehrenamtlichkeit« gefasst
wird.23 Eine Definition der »neuen Formen« der Partizipation liefern Dietlind Stolle
und Marc Hooghe.24 Die neuen Beteiligungsformen zeichnen sich nach Auffassung
dieser beiden Autoren dadurch aus, dass sie,
1. sich von überlieferten – also formellen wie bürokratischen – Organisationsstrukturen lösen und horizontalere, flexiblere Muster präferieren;
2. sich weniger auf institutionelle Regelungen und Tätigkeitsfelder – wie zum Beispiel Parteien, Politik, Gewerkschaften – begeben;
3. die Mobilisierung für spezifische Ziele oft eher situativ, weniger auf Dauer, dafür
rhapsodischer und dabei prononciert emotional betreiben (new, more emotional –
driven forms – of protest and mobilization);
20
Siehe hierzu Adloff, Frank: Die Zivilgesellschaft. Theorie und politische Praxis. Frankfurt a.M./New York
2005; Kocka, Jürgen: »Zivilgesellschaft in historischer Perspektive.« In: Forschungsjournal NSB, 2/2003. S.
29-37.
21
Brömme, Norbert/Strasser, Hermann: »Gespaltene Bürgergesellschaft? Die ungleichen Folgen des Strukturwandels von Engagement und Partizipation.« In: Aus Politik und Zeitgeschichte, 25-26/2001. S. 6-14, hier S. 6.
22
Wollebaek, Dag/Selle, Per: »Generations and Organizational Change.« In: Dekker, Paul/Halman, Loek
(Hg.): The Values of Volunteering. Cross-Cultural Perspectives. New York 2003. S. 161-178.
23
Dörner, Andreas/Vogt, Ludgera: »Das Kapital der Bürger.« In: Gegenwartskunde, 1/2001. S. 43ff.
24
Stolle, Dietlind/Hooghe, Marc: Review Article: Inaccurate, Exceptional, One-Sided or Irrelevant? The Debate about the Alleged Decline of Social Capital and Civic Engagement in Western Societies. In: Belgian
Journal of Political Science, 35/2004. S. 149-167.
51
F R A N Z WA LT E R
4. in ihrem Charakter weniger verbindlich kollektiv- und gruppenorientiert sind,
daher die Partizipation dort zumeist nach den Bedürfnissen und Neigungen des
Einzelnen vonstatten geht.25
Der amerikanische Sozialforscher Robert Putnam verhehlt hierzu nicht seine skeptischen Einwände. Die neuen Formen des Engagements, so der Harvard-Soziologe,
erwiesen sich häufig zwar als more liberating aber gleichzeitig als less solidaristic, und
repräsentieren eine Art Privatisierung des Sozialkapitals.26 In der Tat: Die »neuen
Ehrenamtlichen« sind im Unterschied zu den »Altehrenamtlichen« aus Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Arbeitersamariter-Bund oder Rotem Kreuz sehr viel diskontinuierlicher, erratischer, launischer bei der Sache.
Kurzum: Zwar vergleicht man die Selbstinitiativen der Bürgergesellschaft oft mit
den Organisationen der klassischen Milieus im Umfeld der früheren Weltanschauungsparteien. Doch es war gerade deren Sozialmoral, waren deren transzendentale oder innerweltliche Glaubensüberzeugungen, deren Sinnbotschaften, die diese
Vergemeinschaftungen banden, orientierten, leiteten und stabilisierten. Ihr weltanschaulich inspiriertes Organisationsgeflecht war die Grundlage für die Verklammerung von verschiedenen Generationen und verschiedenen Sozialschichten, auch
heterogener Regionalkulturen. Wie schon erwähnt: Der religiöse Glaube und die
kirchlichen Einrichtungen verknüpften – das sahen wir ebenfalls – im Milieu der
katholischen Parteien Junge und Alte, Bauern, Bergarbeiter und Barone; die Weltanschauung und das Freizeitwesen des Sozialismus vereinte im Umfeld der Sozialdemokratie ebenfalls Jugendliche und Veteranen, Facharbeiter, Erwerbslose und
jüdische Intellektuelle. Der Verlust von Sozialmoral, Weltanschauung und Glaubensüberzeugungen hat die moderne Gesellschaft zwar ideologisch pazifiziert, hat
zur Überwindung der harten Antagonismen der Zwischenkriegsjahre beigetragen.
Doch zugleich ist die Desintegration der sowieso Benachteiligten dadurch noch weiter vorangeschritten. Nochmals: In der postweltanschaulichen Gesellschaft steht das
»soziale Unten« politisch-kulturell ohne Obdach da.
25
Klages, Helmut: »Individualisierung als Triebkraft bürgerschaftlichen Engagements.« In: Kistler, Ernst/
Priller, Eckhard/Noll, Heinz-Herbert (Hg.): Perspektiven gesellschaftlichen Zusammenhalts: empirische
Befunde, Praxiserfahrungen, Messkonzepte. Berlin 1999. S. 101-112; Klages, Helmut: »Bürgerschaftliches
Engagementpotential.« In: Politische Studien, 363/1999. S. 46-60; Kühnlein, Irene/Böhle, Fritz: »Motive
und Motivationswandel des bürgerschaftlichen Engagements.« In: Enquete-Kommission »Zukunft des
Bürgergesellschaftlichen Engagements«, Deutscher Bundestag (Hg.): Bürgerschaftliches Engagement und
Erwerbsarbeit (Bd. 9). Opladen 2002. S. 268-297.
26
Putnam, Robert David: »Conclusion.« In: Putnam, Robert David (Hg.): Democracies in Flux: The Evolution
of Social Capital in Contemporary Society. New York 2002. S. 393-416, hier S. 412.
52
DIE ENTKOLLEKTIVIERUNG DER GESELLSCHAFT
Was aber mag passieren, wenn entscheidende sozialisierende, auch orientierende,
ja disziplinierende Assoziationen der Industriegesellschaft und Moderne, welche
lange Zeit Regeln gesetzt, Zugehörigkeit vermittelt, Solidaritäten hergestellt
haben, in ihren Fundamenten beschädigt sind? Kommt es dann, ohne solche Refugien und Puffer, zum gesellschaftlichen Zusammenprall? Denn schließlich: Wo
die Puffer von Strukturen, Institutionen, Repräsentanz und kollektiven sozialmoralischen Verbindlichkeiten fehlen27, pflegt sich nicht selten Unmut auszubreiten,
pflegen sich Stimmungen unmittelbar, ungefiltert, aggressiv zu entladen. Indes
wer sollte das »Subjekt« des Aufbegehrens sein? Die »neuen Unterschichten« stehen sicher nicht bereit. Die industriegesellschaftliche ArbeiterIm »neuen Unten«
klasse war für die kapitalistische Produktion und Mehrwertge- bleiben die einzelnen für
winnung ein ganzes Jahrhundert lang unentbehrlich. Deswegen sich, netzwerkunfähig,
handlungsgehemmt und
war die gewerbliche Arbeiterklasse auch, gewissermaßen von ungehört.
1870 bis 1970, durchaus ressourcenstark, besaß Selbstbewusstsein, verfügte über Organisationsfähigkeit, brachte kluge, ehrgeizige, über den
Status quo hinausstrebende Anführer mit ambitionierten Zukunftsideen hervor.
Die neuen Unterschichten der Überflüssigen haben davon nichts: Keine kollektive
Zusammengehörigkeit, kein Selbstbewusstsein, keine Idee von sich selbst, keine
Ressourcen für Organisation, für politische Projekte und für disziplinierte, langfristige Aktionen. Im »neuen Unten« bleiben die einzelnen – gleichsam negativ
individualisiert – für sich, netzwerkunfähig, handlungsgehemmt und ungehört.28
Sie mögen in Zeiten weiterer sozialer Verschlechterung zum Katapult für kurzfristig-spontan limitierte antikapitalistische Affekte werden, für strohfeuerartig
aufflammende Affekte gegen »die Reichen da oben« in Frage kommen, aber sie
avancieren gewiss nicht zu einem politischen Träger des organisierten und zielorientierten Protests.
4. Das junge Wirtschaftsbürgertum
Doch nicht nur das neue »Unten«, sondern auch das neue »Oben« hat sich in den
letzen Jahren dem Raum von Politik und Parteien entzogen. Das junge Wirtschaftsbürgertum löste sich mehr und mehr aus der politischen Sphäre insgesamt, tolerierte die Zeitstrukturen und Aushandlungsprozesse dort nicht mehr, verachtete
den ganzen, ihnen entschieden zu langsamen, schwerfälligen, inkonsistenten politischen Betrieb. Ökonomische und politische Eliten bewegen sich mittlerweile in
27
Vgl. zu dieser Problematik Weinert, Reiner: »Intermediäre Institutionen oder die Konstruktion des
»EINEN«.« In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 47/1995. S. 237ff.
28
Vgl. besonders Kronauer, Martin: »»Soziale Ausgrenzung« und »Underclass«: Über neue Formen der gesellschaftlichen Spaltung.« In: Leviathan 1/1997, S. 28ff.
53
F R A N Z WA LT E R
unterschiedlichen Kontexten.29 Über Jahrzehnte waren die Berührungen im Alltag
vielfältig. Man begegnete sich in den gleichen Vereinen, teilte gemeinsame Geselligkeiten, verschränkte sich zwecks Optimierung der eigenen Karriereaussichten
miteinander. In früheren Jahrzehnten konnte es sich für Männer in der Wirtschaft
lohnen, zumindest maßvoll politisch aktiv zu sein. Doch das ist Vergangenheit.
Die ökonomischen Globalisierungseliten brauchen keine Parteien als Katapult für
berufliche Möglichkeiten, als Fundament der Interessendurchsetzung. Im Übrigen
verfügen sie nicht über die Zeit für Politik.30
Denn an die Spitze etwa des christdemokratischen Ortsverbandes kommt allein
der Local Hero, der ständig anzutreffen, in seiner Stadt allzeit präsent ist. Kaum
ein ehrgeiziger CDU/SPD-Nachwuchspolitiker wäre bereit, die Heimatuniversität
auch nur für ein Semester zu verlassen, weil man nach halbjährlicher Absenz sich
der mühsam zusammengestellten innerparteilichen Hausmacht nicht mehr gewiss
sein könnte. Wer in diesen Parteien reüssieren will, kann im außerpolitischen Beruf
nicht allzu ambitioniert gefordert sein. Denn Zeit ist für Politik eine entscheidende
Quelle von Einfluss- und Machtbildung. Die Person, die es weit bringen will, benötigt Zeit für den Info-Tisch, für die Ortsverbandsversammlungen, die Stadtratssitzung, die zahlreichen Kungelrunden und Kommissionen, für Schützenfeste und
Wanderungen mit dem Heimatverein. Jungen Wirtschaftsbürgern fehlt es in der
Regel an einem solchen üppigen Zeitbudget. Sie pendeln zwischen den »Wirtschaftsstandorten« mit dem ICE, wenn der christdemokratische Ortsverband
die Delegiertenlisten für den nächsten Kreisparteitag präpariert und darauf zum
gemütlichen Bier und Körnchen übergeht. So wirkt auch das soziale »Oben« von
der Welt des Politischen, von den Orten der sesshaften, auf Konstanz angelegten
Milieus entfremdet.
Andererseits muss die Entwicklung der letzten vierzig Jahre, mit der sozialen und
kulturellen Entbindung als Signum einer Epoche in den modernen westeuropäischen Ländern, nicht linear weitergehen. Der Entzug der Kollektivität öffnete fraglos Räume und erweiterte Möglichkeiten, die vordem schwer denkbar waren. Die
Lebensgeschichten der Einzelnen waren weniger von den Prägungen der Sonderkulturen für ein ganzes Leben determiniert, sondern zukunftsoffener, im Prinzip
selbstbestimmter als je zuvor. Der Alltag wurde dadurch unzweifelhaft facettenreicher, abwechslungsreicher und – wie es nun häufig hieß – »spannender«.
29
Vgl. hierzu Kohler, Georg: »Über den Freisinn – eine Dekadenzgeschichte.« In: Neue Züricher Zeitung
07.09.2007.
30
Hierzu auch Pfeiffer, Ulrich: »Eine Partei der Zeitreichen und Immobilen.« In: Die Neue Gesellschaft/
Frankfurter Hefte 5/1997. S. 392ff.
54
DIE ENTKOLLEKTIVIERUNG DER GESELLSCHAFT
Doch Wechsel und Spannung in Permanenz ist nicht jedermanns Sache, zumal
dahinter auch Unsicherheit, Mühsal und Stress lauern und drohen. Die aus den
kollektiven Einbettungen entschlüpften Einzelnen müssen sich nun fortwährend
selbst entscheiden, ohne noch den Rückhalt und die Orientierungsgewissheit der
zurückgelassenen Solidargemeinschaften zu besitzen.31 Es häufen sich die Zeichen
dafür, dass die Ära der Entbindungseuphorie, das Zeitalter des Rigorosindividualismus ihren Zenit überschritten hat. In mehreren zeitdiagnostischen Studien der
Soziologie, der Psychologie, auch der Zukunfts- und Trendforscher wird so etwas
wie ein »Wandel des Wertewandels«32 ausgemacht, zumindest für die nahe Zukunft
prognostiziert.
5. Psychologische Folgen der individualisierten Gesellschaft
Dann würden wir tatsächlich vor einem Einschnitt stehen. Schon jetzt weisen Erhebungen aus der Jugendforschung darauf hin, dass die Optionsgesellschaft zu
Erschöpfungen, zu Rat- und Orientierungslosigkeiten geführt hat. Man muss sich
ständig selbst festlegen; verfügt indessen kaum mehr über die
Sicherheit eines stabilen Wertfundaments. Psychologen berichten Der individualisierte
Mensch empfindet es
von einem dramatischen Anstieg neuer »Grübelkrankheiten«33, allmählich nicht allein
auch der Burn-out-Symptome,34 mit denen man zu tun bekommt, als tolle Gelegenheit,
kreativ, innovativ und
wenn man unaufhörlich eigenverantwortlich zu disponieren hat, originär sein zu dürfen.
Leitplanken und Maßstäbe dafür seit dem Verlust von Weltanschauungen und Glaubensüberzeugungen allerdings nicht mehr selbstverständlich
verfügbar sind. Der individualisierte Mensch empfindet es allmählich nicht allein als
tolle Gelegenheit, kreativ, innovativ und originär sein zu dürfen, sondern oft genug
als herrischen Zwang, all dies jederzeit sein zu müssen.35
Rundum glücklich befreit wirken etliche der entbundenen Individuen im Herbst
der Radikalindividualisierung nicht. Die klinische Psychologie verzeichnet einen
31
Vgl. das Konzept des consumerist syndrom des Soziologen Zygmunt Baumann; Rojek, Chris: »The Consumerist Syndrome in Contemporary Society: An Interview with Zygmunt Bauman.« In: Journal of Consumer
Culture, 4,3/2004. S. 291-312.
32
Hradil, Stefan: »Vom Wandel des Wertewandels. Die Individualisierung und einer ihrer Gegenbewegungen.« In: Glatzer, Wolfgang (Hg.): Sozialer Wandel und gesellschaftliche Dauerbeobachtung. Opladen
2002. S. 31ff.
33
Zum Zusammenhang von »Grübeleien« (Rumination) und Depressionen vgl. Ward, Andrew/Lyubomirsky,
Sonja/Sousa, Lorie/Nolen-Hoeksema, Susan: »Can’t Quite Commit: Rumination and Uncertainty.« In: Personality and Social Psychology Bulletin, 29,1/2003. S. 96-107.
34
Schwartz, Barry: »Self-Determination, The Tyranny of Freedom.« In: American Psychologist, 55/2000. S.
79ff.; eine (durchaus diskutable) Gegenposition bezieht Veenhoven, Ruut: »Quality-of-Life in Individualistic
Society: A Comparison in 43 Nations in the Early 1990’s.« In: Social Indicators Research, 48/1998. S. 157-186.
35
Hierzu besonders: Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart.
Frankfurt a.M. 2004.
55
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Anstieg an Depressionen; die Soziologie bemerkt eine Reorientierung zahlreicher,
vor allem auch junger Menschen an Kohäsions-, Ordnungs- und Gemeinschaftswerten; Politologen konstatieren ein komplexitätsreduzierendes Bedürfnis auch
gebildeter Bürger nach einfachen politischen Lösungen; die Zukunfts- und Trendforscher melden einen erhöhten Bedarf an Sinn, Identität, auch an heilsstiftenden
Gewissheiten. Lässt man sich auch hier auf das oben bereits eingeführte Zyklenparadigma des amerikanischen Historikers Arthur M. Schlesinger ein, dann schwingt
das Pendel kultureller und politischer Orientierungen alle dreißig bis vierzig
Jahre zurück.36 Neue Generationen erkennen die Schattenseiten und Defizite bislang dominierender normativer Muster; und sie bilden dann neue Einstellungen
und politische Präferenzen aus. Auf Phasen des Individualismus folgen Passagen
gemeinschaftssuchender Orientierungen. Der dominierende Charakter im jeweiligen Zyklus produziert in Folge rigider Einseitigkeiten regelmäßig Probleme und
Defizite, auf welche die nachfolgende Ära ähnlich überschüssig, doch eben in die
andere Richtung hin antwortet. Natürlich: Der neue Bedarf kann auch antipluralistische, da komplexitätsmindernde Angebote hervorbringen. Denn, so schon der
Religionsphilosoph Ernst Troeltsch: »Die Sehnsucht nach dem Absoluten ist das
Ergebnis eines Zeitalters des ›Relativismus‹.«37
Die modernen europäischen Gesellschaften sind jedenfalls nicht durch einen Mangel
an Wettbewerb, an Freiheitsräumen, an Individualisierung, an Autonomie charakterisiert. All das war zuletzt und ist weiterhin reichlich vorhanden. Zur Mangelware
aber sind, als Folge der Überproduktion von Entbindungswerten im liberalen Wandel der letzten Jahre, die Kohäsionsnormen geworden. Es fehlt vielfach an Sinn, an
Zielen, an orientierenden Fluchtpunkten, an Einbettungen, an kollektiven Behausungen, an Stabilitätsstrukturen, an voraussetzungslos verlässlichen Bezügen. Nicht
zuletzt deshalb flackern in den letzten zwei Jahren immer wieder die Festlichkeiten
der Gemeinschaftsinszenierungen rund um das Brandenburger Tor auf, ebenso die
Faszination für zeitweilige politische Heillandsfiguren der Façon Barack Obama
oder auch Karl-Theodor zu Guttenberg.
Auch das gehört hierher: Ohne Ziele und Sinnperspektiven fehlt die Richtschnur,
gleichsam die Grammatik des politischen Handelns. Ziele orientieren, sie motivieren, assoziieren Individuen. Sie verringern – wie ja ebenfalls Vertrauen, wie die
36
Vgl. hierzu und im Folgenden auch Klatt, Johanna/Walter, Franz: »Politik und Gesellschaft am Ende der
zweiten Großen Koalition – und was folgt?« In: Butzlaff, Felix/Harm, Stine/Walter, Franz (Hg.): Patt oder
Gezeitenwechsel? Deutschland 2009. Wiesbaden 2009. S. 295ff.
37
Troeltsch, Ernst: »Das Neunzehnte Jahrhundert.« In: Troeltsch, Ernst: Aufsätze zur Geistesgeschichte und
Religionssoziologie. Gesammelte Schriften Band 4. Tübingen 1925. S. 614ff.
56
DIE ENTKOLLEKTIVIERUNG DER GESELLSCHAFT
Autorität, wie Routinen und Rituale – Komplexität, sie ordnen und hierarchisieren
das Tun; sie setzen Prioritäten. Sie geben Horizonte vor, stiften die regulative Idee,
welche überindividuelle Zusammenschlüsse wohl brauchen, um sich auf Dauer zu
stellen und zu legitimieren.
Ziellosigkeit dagegen produziert Leere, Ängstlichkeit, den Leerlauf transzendenzloser Gegenwärtigkeit. Wir wissen aus der Soziologie und Sozialpsychologie, dass
Menschen nur dann aktiv, zielbewusst und optimistisch handeln können, wenn sie
über ein konsistentes Wertesystem verfügen. Fehlt ihnen ein solches Interpretationsdepot oder ist es derangiert, dann machen sich Ängste breit, Hilflosigkeit, Lähmung.
Menschen mit einem aus den Fugen geratenen Wertegerüst werden von Zukunftsfurcht gequält, reagieren im besten Fall sozialadaptiv, im schlechteren Fall werden
sie politische Beute hemmungsloser Populisten. Wo Ziellosigkeit herrscht, wo das
Wertesystem inkonsistent geworden ist und Normen erodieren, dort ist die Handlungsfähigkeit der Menschen (übrigens auch der Parteien) gehemmt, ist der übervorsichtige Konformismus allgegenwärtig, ist ängstlicher Pessimismus der vorherrschende Zug der Zeit.38 Der englische Psychoanalytiker Dylan Evans formulierte es
so: »But if idealism without a dose of reality is simply naïve, realism without a dash
of imagination is utterly depressing.”39
6. Zur Bedeutung politischer Autorität
Und hier ist man unmittelbar bei politischer Autorität, bei Führungskraft.40 Politische Autorität muss wissen, wohin sie will, nur dann kann sie große Bevölkerungsteile auf die großen Märsche mitnehmen. Dafür braucht sie einen langfristigen
Blick, Perspektiven, ein überwölbendes Thema, auch Entschlossenheit und Leidenschaft, ja einen Ethos, einen stabilen Überzeugungskern. Politische Führungsautorität und starke – eben sinnträchtige – Überzeugungen gehen eng zusammen. Aber
umgekehrt gilt auch: Das Defizit an Sinn unterminiert zugleich die Voraussetzungen politischer Autorität. Der Sinnverlust ist der Ausgangspunkt für die mögliche
Implosion der derzeitigen Träger des Politischen.
Nun kann man Autorität, Sinn und Leidenschaft nicht dekretieren. Ein Zuviel an
Führungskult, Ideologie und stürmischer Unbedingtheit kann gerade in der Politik
enorm schaden. Doch muss die deutsche Gesellschaft die Fieberhitze ideologisch
aufgeladener Temperamente absehbar durchaus nicht fürchten. Denn in der deutschen Politik ist der Typus der glaubens- oder überzeugungsstarken Kraftnaturen
38
Vgl. Roßteuscher, Sigrid: »Von Realisten und Konformisten.« In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und
Sozialpsychologie, 3/2004. S. 407ff.
39
Evans, Dylan: »The Loss of Utopia.« In: The Guardian, 27.10.2005.
40
Vgl. auch Walter, Franz: Charismatiker und Effizienzen. Frankfurt a.M. 2009.
57
F R A N Z WA LT E R
gänzlich verschwunden.41 Nirgendwo, so scheint es zumindest, ist derzeit in der
deutschen Republik eine cäsaristische Versuchung der Politik in Sicht.
Nochmals: Darüber kann man aus etlichen guten Gründen sicher erleichtert sein.
Denn schließlich ist dem Land dadurch bislang der populistische Wählerfischer
erspart geblieben. Die Erfahrungen aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts haben den Führerkult des vom Weltgeist bestimmten politischen Leitwolfs bei
den Deutschen vernünftigerweise gehörig ernüchtert. Zumal: Aufgeklärt reflexiv
geht es zwischen charismatischen Leadern und ihrem Anhang eher nicht zu.42 Oft
genug agiert dieser Typus wie ein säkularisierter Religionsstifter; seine Adressaten
gerieren sich als hingebungssüchtige Glaubensgemeinschaften.
Andererseits sind vermutlich in der Tat nur vorne und oben siedelnde Autoritäten mit konzeptioneller Perspektive und innerem Elan in der Lage, wenigstens für
einen historischen Abschnitt politisch tief zu prägen und Menschen sinnvoll zu assoziieren. Allein den ideenmotivierten, überzeugungsgeleiteten Autoritäten mag es
auf diese Weise zeitweilig gelingen, Politik mit Sinn und Inspiration zu füllen.43 Das
Jetzt transzendierende Autoritäten hinterlassen, wenn sie von der Bühne abtreten,
lang anhaltende Orientierungen und bindende Loyalitäten. Ludwig Erhard oder
Willy Brandt sind Beispiele dafür.44 Man mag auch Franz-Josef Strauß dazuzählen, von der ganz anderen Seite des politischen Spektrums vielleicht ebenfalls Petra
Kelly.
Die 1970er Jahre waren ein bemerkenswertes Produktionsjahrzehnt dieses Typus.
Auch hier dürfte es wohl so eine Art Zyklus geben: Nach der großen Überfülle
kommt regelmäßig die Zeit des Mangels. Das Jahrzehnt, als erbittert über Ostverträge gestritten wurde, die Kernenergie martialisch umkämpft war, die Nachrüstung die Gemüter erhitzte, war ein Jahrzehnt politischer Opulenz. Munterer und
kontroverser als in den 1970er Jahren ging es selten in der Politik der Bundesrepublik zu. Programmatische Diskussionen gehörten zum guten Ton; parlamentarische
Feldschlachten ebenso. Die Kraftnaturen der damals jüngeren und mittleren bun41
Vgl. Walter, Franz: »Politik ohne Leidenschaft.« In: Internationale Politik, 10/2007. S. 70f.
Zum Beziehungsverhältnis von charismatischen Anführern und ihrer Anhängerschaft vgl. Madsen, Douglas/
Snow, Peter Gordon: »The Dispersion of Charisma.« In: Comparative Political Studies, 16,3/1983. S. 337362, insbes. S. 338f.; auch Wehler, Hans-Ulrich: »Das analytische Potential des Charismakonzepts: Hitlers
charismatische Herrschaft.« In: Wehler, Hans-Ulrich: Notizen zur deutschen Geschichte. München 2007. S.
78-91.
43
Vgl. grundlegend zunächst Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5., rev. Aufl., Tübingen 1990 (erstmals erschienen 1921), hier S. 140ff.
44
Vgl. Kieseritzky, Wolther: »Wie eine Art Pfingsten … – Willy Brandt und die Bewährungsprobe der zweiten deutschen Republik.« In: Möller, Frank (Hg.): Charismatische Führer der deutschen Nation. München
2004. S. 219-258; Mierzejewski, Alfred C.: Ludwig Erhard. Der Wegbereiter der sozialen Marktwirtschaft.
München 2005. S. 279ff.
42
58
DIE ENTKOLLEKTIVIERUNG DER GESELLSCHAFT
desdeutschen Generation hatten somit ein Terrain, auf dem sie sich prächtig austoben konnten. Der Rausch mündet indes bekanntlich zumeist in den Katzenjammer.
So erlebte man es auch nach dieser euphorischen Phase hochgradiger Politisierung.
Seit den frühen 1980er Jahren schwand die Hoffnung auf weitreichende Einflussund Gestaltungsmöglichkeiten durch Politik oder Parteien. In der Generation, die
auf Wehner und Strauß folgte, galt das Politische mit seinen ständigen Arrangements, Verhandlungen und Kompromissen nun nicht mehr als Ferment weitreichender gesellschaftlicher Veränderungen. So wandten sich, spätestens nach Schröder und Fischer, die Menschen des Grand Design von der Politik ab. Aber so ist es
wohl: Der charismatische Furor birgt etliche Gefahren. Charismatiker versprechen
nun einmal, gleichsam den gordischen Knoten durchschlagen zu können. Dadurch
wecken sie große Hoffnungen und sammeln Anhänger. Doch wenn das Mirakel
ausbleibt, werden sie als Scharlatane von den nunmehr entDer warme Zauber des
täuscht-wütenden Jüngern mit Schimpf und Schande aus der Anfangs und die kalte
politischen Arena gejagt. Der warme Zauber des Anfangs und Ernüchterung im Abgang bilden eine offendie kalte Ernüchterung im Abgang bilden eine offenkundig kundig unvermeidliche
unvermeidliche komplementäre Einheit im charismatischen komplementäre Einheit
im charismatischen
Auftritt der Politik. Doch das ist es nicht allein, was zur Enttäu- Auftritt der Politik.
schung über das Politische geführt hat. Hinzu kam und kommt
der Bedeutungsverlust der politischen Hebel generell. Die Attraktivität von Politik
indessen lebte stets von substanzieller Macht. Allein wenn der politische Sektor als
die Zentralachse für die großen und gezielt eingeleiteten Transformationen der
Gesellschaft angesehen wird, zieht er die Kraft- und Kampfnaturen, die Ehrgeizigen und Entschlossenen an. Zwischen 1950 und 1983 war das in einigen Intervallen
so, danach nicht mehr.
Das Parlament ist gerade für eigenständige Begabungen und gerade in den letzten zwei Jahrzehnten ein denkbar schwieriges Gelände geworden. Das hat viel mit
der Mediengesellschaft zu tun, durch welche die Politik gleichsam um ihren Kern
gebracht wurde. Denn die hochmoderne Mediengesellschaft fördert und beschleunigt die neoautoritären Züge in der politischen Arena. Parteien und Fraktionen
haben keinen Zweifel, heute strikt geschlossen agieren, alle inneren Auseinandersetzungen und Zwistigkeiten schon im Entstehungsstadium eliminieren zu müssen.
Andernfalls, so fürchten sie, gelten sie im Kommentar der Journaille und der Nachrichtenmagazine des Fernsehens als unberechenbar, in Streit zerfallen, kurz: als
nicht regierungsfähig. Daher sedieren Parteien und Fraktionen sich selbst. Exzentriker werden lieber gar nicht erst aufgestellt; eigenwillige Individualisten zumindest
nicht gern gesehen. Infolgedessen hat auch das Parlament an oratorischer Kraft und
intellektueller Originalität verloren.
59
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Nun spiegeln die Temperamente, Ansprachen, der Charakter und die Persönlichkeit der Polit-Prominenz in aller Regel durchaus so etwas wie die Seelenlage der
Bevölkerungsmehrheit. Die Deutschen im Jahre 2011 sind eben nicht mehr so wie in
den Jahren 1972. Sie sind erheblich älter geworden, neigen infolgedessen keineswegs
zu großen Aufbrüchen, schätzen nicht beunruhigende Polarisierung und inkommode Mobilisierungsappelle. So erscheint die deutsche Gesellschaft auf diese Weise:
Ohne hyperventilierende Leidenschaft, ohne wilde Energien, ohne atemberaubende
Zukunftsentwürfe. Nichts davon postuliert die Majorität der Nation. Nichts davon
liefern auch die Professionellen der Sinnstiftung diesseits des Politischen, die Intellektuellen, Prediger und Kommentatoren also. Die kollektive Stimmung ist anders.
Die Autoritäten der alternden Gesellschaft haben nichts mit den jugendlich wirkenden Charismatikern und Tribunen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts
gemeinsam. Das mag ja auch die Chance auf eine altersmilde, reflexive Werteorientierung eröffnen, die nicht stürmisch, nicht rechthaberisch, nicht militant, sondern
sich eher suchend und nachdenklich, aber doch eindringlich und ernsthaft zurückmelden könnte.
60
Institutionelle Autoritäten in der Krise – oder:
Realismus tut not
VON KNUT BERGMANN
»Das Wort Autorität gehört zu den ältesten politischen Vokabeln, die fast ununterbrochen bis heute in Geltung geblieben sind«, schrieb Theodor Eschenburg, der
Doyen der deutschen Politikwissenschaft, vor mittlerweile 35 Jahren in der Vorbemerkung seines Buches »Über Autorität«.1 Diese Aussage – entstanden zu einer
Zeit, in der die althergebrachten Autoritäten mehr denn je in unserem Land in
Frage gestellt wurden – ist bis heute richtig. Der Begriff, der zweifelsohne antiquiert anmutet, ist etwas aus der Mode gekommen – sein Gehalt beschäftigt unsere
Gesellschaft aber noch immer. Die Frage lautet, ob auf die klassischen Autoritäten, in gesellschaftspolitischer Hinsicht etwa Parteien, Gewerkschaften, Kirchen
oder auch Einzelpersonen, noch Verlass ist, oder ob sich diese vertrauensstiftenden
Ankerpunkte der Gesellschaft in einer Krise befinden. Eine Vielzahl von Befunden
deutet darauf hin. Schon Begrifflichkeiten postulieren eine solche Krise: 1992 avancierte der Begriff »Politikverdrossenheit« zum »Wort des Jahres«. Es darf getrost
angenommen werden, dass das fünf Jahre danach so ausgezeichnete und seitdem
politische Debatten prägende Wort »Reformstau« einen Beitrag zum Entstehen des
Phänomens des »Wutbürgers«2 leistete.
1. Autorität und Führung
Generell haben wir es seit den »68ern« mit einem auf breiter Front gestörten, wenn
nicht sogar gebrochenen Verhältnis zu Autorität im weitesten Sinn zu tun. Seitdem
wird es den Autoritäten – vom Elternhaus bis zur Staatsspitze – schwer gemacht;
alle Formen der Macht scheinen begründungspflichtiger denn je geworden zu sein.
Dazu kommen weitgehende Ansprüche der Bürger an demokratische Beteiligung
1
2
Eschenburg, Theodor: Über Autorität. Frankfurt 1976. S. 9.
Es handelt sich hier um die Wortschöpfung eines Journalisten des ehemals als mediale Autorität angesehenen Magazins Der Spiegel, die 2010 zum »Wort des Jahres« gewählt wurde. Vgl. Kurbjuweit, Dirk: »Der
Wutbürger.« In: Der Spiegel, 41/2010. S. 26-27.
61
KNUT BERGMANN
über Wahlen hinaus, die Forderung nach mehr direkter Demokratie erlebten 2010
in Folge von Stuttgart21 ein mediales Allzeit-Hoch. Demgegenüber wünschen sich
viele Menschen nichts sehnlicher als Leitfiguren, die Orientierung bieten in der
so unübersichtlich gewordenen Umwelt. Es kommt nicht von ungefähr, dass das
Thema politische Führung in den zurückliegenden Jahren wieder zum Gegenstand
vieler Debatten – auch beflügelt durch die Herbert Quandt-Stiftung3 – wurde. Doch
den öffentlichen Ansprüchen an Autorität und Führung kann kaum eine Person
genügen, Institutionen – Parteien, Kirchen, Gewerkschaften – haben es noch schwerer. Gemäß der Devise »Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass« ist dort,
wo die Verdrossenheit gegenüber den Politikern besonders groß geworden ist, die
Popularität der den Niederungen des politischen Alltagsgeschäftes entzogenen Persönlichkeiten gewachsen. Das zeigen nicht allein die Auflagenrekorde der Bücher
von Altkanzler Helmut Schmidt und die anhaltende Beliebtheit von Altbundespräsident Richard von Weizsäcker, sondern selbst das »Phänomen zu Guttenberg« lässt
sich so erklären. Letzter legt sogar die These nahe, dass sich viele Deutsche, wenn
schon nicht nach royalem Glanz, so doch nach einer Art angeborener Souveränität
bei den sie Regierenden sehnen. Auf diese Weise lehrt uns die politische Karriere
des Freiherrn, wird sie auch für immer gescheitert sein, was Autoritäten benötigen:
Unabhängigkeit – in diesem Falle gepaart mit einem – eigentlich der Gemeinwohlorientierung im Wege stehenden – Hauch von »es nicht nötig zu haben«.
2. Autorität und Sprache
Daneben bestätigt der Aufstieg Karl-Theodor zu Guttenbergs, dass in der Bevölkerung der Wunsch nach »klarer Kante«, nach einer Sprache jenseits der politischen
Verschleierung besteht und sie dem Gewinn von Autorität zuträglich ist – unabhängig von der Frage, ob des Ex-Verteidigungsministers rhetorische Ankündigungen
tatsächlich mit Konzepten unterlegt waren. Sich einer klaren Sprache zu bedienen,
sollte allerdings nicht mit einer Neigung zu wohlfeilem Populismus einhergehen.
Vielmehr gilt es, die Chiffren der Beliebigkeit, die in alle Bereiche eingesickert sind,
wie »Wir sind gut aufgestellt«, »Wir haben Handlungsbedarf« oder »Man muss
geeignete Maßnahmen ergreifen«, mit Inhalt zu füllen.
Der Nachteil, der insbesondere in der Politik damit einhergehen kann, besteht in
der Unzweideutigkeit. So gehört es fast schon zur politischen Grundausbildung,
Festlegungen zu vermeiden. Doch um zunächst Vertrauen und in der Folge Autorität zu gewinnen, ist es unumgänglich, sich angreifbar zu machen. Vertrauen ist nach
3
Vgl. Herbert Quandt-Stiftung (Hg.): Mut zur Führung – Zumutungen der Freiheit. Wie wahrheitsfähig ist
die Politik? Bad Homburg 2005.
62
I N S T I T U T I O N E L L E A U T O R I TÄT E N I N D E R K R I S E
Niklas Luhmann eine riskante Vorleistung.4 Zu ihr kann selbst das menschliche
Eingeständnis gehören, erst über Dinge nachdenken zu müssen oder sie sogar
schlicht nicht beurteilen zu können. Es leuchtet ein, dass derlei Bekenntnisse von
Politikern als zu riskant eingeschätzt werden. Sie kollidieren nicht nur mit der
unausgesprochenen Erwartung der Öffentlichkeit (»Wir werden schließlich dafür
gewählt, auf alles eine Antwort zu haben«, wie es eine ehemalige Bundesministerin
einmal ausdrückte ), sondern auch mit der für Spitzenämter notwendigen Selbsteinschätzung. Es erfordert einerseits viel Souveränität, Unwissen zuzugeben, und
andererseits das Zutrauen, dass die Öffentlichkeit solcherlei Ehrlichkeit sogar schätzen könnte. Daran fehlt es zumeist, wie auch an Zeit und Möglichkeit zur nötigen
Selbstreflexion in der Mühle des politischen Alltagsgeschäfts. Generell wird dort zu
oft über schnell zu erringende Siege, denn über die viel wichtigeren langfristigen
Strategien nachgedacht. Erfolge müssen vor der nächsten Wahl erkennbar werden,
die Übermacht der Meinungsumfragen führt zu immer kürzeren Denkzyklen. Der
Druck, alles operationalisieren zu müssen, engt die Gedankenfreiheit immer mehr
ein.
Wenn aber für Politiker die Ablehnung durch weite Teile der Bevölkerung sowieso
Teil der Arbeitsplatzbeschreibung ist, könnte daraus folgen, sich doch »besser für
die richtigen Sachen schlachten zu lassen«, wie es ein hochrangiger Bundespolitiker
pointiert formulierte. Langfristig könnte eine solche Einstellung
helfen, Autorität zu gewinnen, wie auch der Versuch, mehr über Der Druck, alles operationalisieren zu müssen,
strategische Ziele zu führen als mittels taktischer Maßnahmen zu engt die Gedankenfreiregieren. Keine Frage: Das ist viel verlangt in Zeiten des Wut- heit immer mehr ein.
bürgers und mit Medien, die vor allem Konflikte transportieren.
Widersprüchlichkeiten auf Bürgers Seite selbst in klaren Entscheidungsfragen,
werden hingegen eher selten zurückgespielt: Raus aus der Atomkraft – ja sofort,
aber steigende Strompreise, mehr Windräder und Überlandleitungen – nein danke.
Allerdings wurde auch versäumt, in der laufenden Legislaturperiode die Energiepolitik ausreichend zu erklären. Offenkundig fühlen sich die Menschen genauso bei
anderen Themen nicht »mitgenommen«. Der Wutbürger mag also seine Gründe
haben – aber seien diese noch so gut, entbinden sie ihn nicht von der Verpflichtung,
darüber nachzudenken, was er selbst beitragen und besser machen könnte. Diese
Frage muss er sich gefallen lassen. Leider wird sie am »Stammtisch der Moderne«,
dem Internet, wo sich besonders gut über politisches Versagertum urteilen lässt,
genauso selten gestellt wie in den klassischen Medien; die Publikumsbeschimpfung
ist nirgendwo populär.
4
Vgl. Luhmann, Niklas: Vertrauen: ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität. Stuttgart 1968.
63
KNUT BERGMANN
3. Autorität und Medien
Dass es mittlerweile sehr viel schwieriger geworden ist, Autorität aufzubauen und
zu erhalten, ob als Institution, als ihr Repräsentant oder auch als Einzelperson, ist
vor allem dem gesellschaftlichen Wandel geschuldet. Die Auflösung der Milieus,
die Abkehr von klassischen Familienstrukturen, die Veränderung der Lebens- wie
Erwerbsmodelle, begründen einen Teil der Herausforderungen, vor denen gesellschaftliche Institutionen wie Parteien, Gewerkschaften und Kirchen stehen. Franz
Walter und andere haben dies alles umfassend aufgearbeitet.5 Hinzu kommt die
Digitalisierung unserer Gesellschaft, die vor allem auf das Informationsverhalten
enorme Auswirkungen hat. Autorität zu wahren, ist schwieriger geworden in der
elektronischen Mediendemokratie, wo die journalistische Gatekeeper-Funktion
mühelos umgangen werden kann. Der Blog wir-in-nrw-blog.de beispielsweise trug
maßgeblich zum Ansehensverlust von Ministerpräsident Jürgen Rüttgers im Vorfeld der Landtagswahl im bevölkerungsreichsten Bundesland vom Mai 2010 bei.6
Fernab jeder Wertung über die damals dort herrschende politische Kultur trieb
diese nordrhein-westfälische Variante von Wikileaks auch manch nachdenklichem
Sozialdemokraten den Schweiß auf die Stirn, könnten möglicherweise doch die
eigenen Genossen selbst einmal Opfer einer solchen Flut missliebiger Enthüllungen werden. Auch wäre die Entlarvung des Guttenberg’schen Plagiats ohne die
Rechercheleistung der vielen nicht vorstellbar gewesen. Zudem sorgt das Internet
für eine Nachhaltigkeit, durch die selbst Kleinigkeiten, die sich noch vor zehn Jahren versendet hätten bzw. von denen es keinen Ton und schon gar kein Bild gegeben
hätte, zur Gefahr für das Image der Person und die Autorität des Amtes werden.
Und selbst wenn es immer schon Journalisten gab, die sich als die besseren Politiker
ansahen, gibt es doch Hinweise, dass in der Berliner Republik das Selbstverständnis
mancher Medien und ihrer Akteure noch selbstbewusster geworden ist. Doch kann
derjenige, der de facto Teil des Systems ist, noch neutrale Vermittlungsinstanz sein?
4. Gradmesser für einen Ansehensverlust des Systems?
Interessanterweise stehen die Parteien, obwohl ihr Niedergang publizistisch mehrheitlich schon seit langem beschlossene Sache zu sein scheint, im Vergleich mit den
Gewerkschaften und der Kirche noch relativ am besten dar. Das gilt trotz aller
organisatorischer Mängel, der Probleme, geeignetes Personal zu rekrutieren, und
der generellen Schwierigkeit sich immer weiter verengender Möglichkeiten infolge
erschöpfter Haushalte, der Verrechtlichung unseres Lebens und der fortschreiten5
Vgl. hierzu den Beitrag von Franz Walter in diesem Band: Die Entkollektivierung der Gesellschaft und die
Schwierigkeit, Autorität zu bewahren. S. 40
6
Vgl. Leyendecker, Hans/Nitschmann, Johannes: »Unterste Schublade.« In: Süddeutsche Zeitung, 22.04.2010.
S. 3.
64
I N S T I T U T I O N E L L E A U T O R I TÄT E N I N D E R K R I S E
den Entgrenzung der politischen Handlungsräume. Der Mitgliederschwund trifft
die Parteien schon finanziell weit weniger als Kirchen und Gewerkschaften, weil
sie sich anders finanzieren.7 Wichtiger aber noch ist die Tatsache, dass die Parteien
zumindest kurz- und mittelfristig sehr viel weniger aus dem gesellschaftlichen
Gefüge wegzudenken sind. Unser politisches System funktioniert nur mit Parteien.
Diese Auffassung widerspricht möglicherweise dem Zeitgeist, doch die Politikwissenschaft hat bis heute keine demokratischen Systeme ausmachen können, die ohne
Parteien auskommen würden. So schlecht ihr Ansehen, so wenig medial transportabel ist eine wertschätzende Perspektive. Hier ging es stetig bergab: Was bei Richard
von Weizsäcker noch als ernste wie populäre Sorge um die Parteien galt, wurde bei
anderen, die nicht in diesem Maße die Autorität preußischer Eminenz für sich beanspruchen konnten, als populistisches Bündnis mit den Bürgern gegen die Politik
gewertet.
Aller Kritik zum Trotz stellt sich bei den Parteien noch sehr viel stärker als bei Kirchen und Gewerkschaften die Frage, ob sinkende Mitgliederzahlen überhaupt das
richtige Parameter sind, um den Verfall von Autorität zu belegen. Gleiches gilt für
die Wahlbeteiligung, die allerdings bei Kirchen und Gewerkschaften keine Entsprechung hat. Als Gradmesser für das Funktionieren und die Stärke der Demokratie
sind die beiden Kriterien jedenfalls nicht ausreichend. Im angelsächsischen Raum
wird eine hohe Beteiligung bei Wahlen eher als Krisensymptom gewertet – nur
wenn es wirklich um etwas geht, steige die Partizipationsneigung in postindustriellen Wohlstandsgesellschaften mit langer demokratischer Tradition.8 Der Run an die
Wahlurne bei der Landtagswahl in Baden-Württemberg Ende März 2011 mit den
Mobilisierungsthemen Stuttgart 21 und der Zukunft der Kernenergie nach Fukushima spricht für diese These.
Eindeutig auf die Habenseite unseres demokratischen Systems sind die großen,
aber gern übersehenen Integrationserfolge zu verbuchen: Bei der Wahlbeteiligung
von Frauen und Männern gibt es kaum mehr Unterschiede, die Rechte von Minderheiten wurden auf breiter Front durchgesetzt. Ein Warnzeichen gibt uns eher
die schichtspezifisch unterschiedliche Partizipationsneigung.9 »Unterschicht wählt
kaum«, so könnte die bedenklich stimmende Kurzformel lauten. Das Ergebnis des
Volksentscheids über die Schulreform in Hamburg im Juli 2010, nicht nur ob ihres
7
Lediglich bei der Linkspartei liegt der von Mitgliedern erbrachte Finanzierungsanteil bei über 25 Prozent,
wobei ein Gutteil des eingenommenen Geldes wiederum für die ordnungsgemäße Buchhaltung aufgewendet
werden muss.
8
Vgl. Merkel, Wolfgang: »Steckt die Demokratie in einer Krise?« In: Universitas: Orientierung in der Wissenswelt, 4/2010. S. 351-369.
9
Vgl. ebd.
65
KNUT BERGMANN
Gegenstandes vielfach als »Klassenkampf« bezeichnet, kann in dieser Hinsicht als
Menetekel dienen.
Tatsächlich ließe sich aus der – zugegebenermaßen oft nur als zynisch zu bezeichnenden – Berliner Perspektive sogar fragen, welches Interesse Parteien eigentlich an
möglichst vielen Mitgliedern und an einer möglichst hohen Wahlbeteiligung haben
sollten. Auf den ersten Blick ist das eine seltsame Frage, sind Mitglieder als Kommunikatoren und Mandatsträger doch unverzichtbar, die neben finanziellen Mitteln vor
allem viel Zeit einbringen. Im Gegenzug wollen sie jedoch mitreden, ernst genommen, betreut, selbstwirksam sein – wodurch sie wiederum Ressourcen binden. Und
die Wahlbeteiligung kann einer Partei eigentlich egal sein, solange diejenigen, die
noch wählen gehen, ihr Kreuz nur an der richtigen Stelle machen. Lieber 40 Prozent
der Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von 60 Prozent, als lediglich 33,8 Prozent
bei 70,8 Prozent Beteiligung – Ähnlichkeiten zum Ergebnis der Unionsparteien bei
der letzten Bundestagswahl wären rein zufällig. Tatsächlich scheinen zumindest die
beiden Volksparteien Union und SPD bei Wahlkämpfen weniger darauf abzuzielen,
die eigene Klientel zu aktivieren, denn die des Gegners zu demobilisieren. »Asymmetrische Mobilisierung« heißt das in der Sprache der Wahlkampfexperten. Dieses
Konzept lag nicht nur dem Bundestagswahlkampf der Union 2009 zugrunde, sondern auch dem der Sozialdemokraten in Nordrhein-Westfalen 2010. In ihrem einstigen Stammland hat die Partei zwar seit der Bundestagswahl 1998, bei der über fünf
Millionen Menschen sozialdemokratisch wählten, fast die Hälfte ihrer Urnengänger
eingebüßt – bei der Union blieben jetzt aber so viele Getreue zu Hause, dass es für
die SPD, wenn auch mühevoll, am Ende reichte. Allerdings hatten gerade einmal
20,2 Prozent der Wahlberechtigten
für die Partei der neuen Ministerpräsidentin bei dem Urnengang am 9.
Mai 2010 votiert – bei der historisch
zweitniedrigsten Wahlbeteiligung
in diesem Bundesland von unter 60
Prozent reichte diese karge Marge
für immerhin 34,5 Prozent der gültigen Stimmen. Diese Strategie fußt
auf der Erkenntnis, dass Wahlen
weniger aus eigener Stärke, sondern
aufgrund der Schwäche des Gegners
gewonnen werden. Auf Dauer wird
durch diese Form politischer Gestaltung jedoch die Legitimationsbasis Wahllokal
66
I N S T I T U T I O N E L L E A U T O R I TÄT E N I N D E R K R I S E
der jeweiligen Regierungen und – so die Befürchtung vieler Meinungsbildner – des
gesamten Systems bedroht. Und Autorität lässt sich mit derlei strategischen Konzepten keinesfalls behaupten.
Sicherlich gibt es eine »legitimatorische Untergrenze« hinsichtlich der Wahlbeteiligung wie auch bei den Mitgliedszahlen zumindest der Volksparteien, doch wo
sie genau liegt, lässt sich kaum sagen. Auch die Tatsache, dass die Parteien in der
Bundesrepublik über weite Strecken keine Massenbewegungen waren, wird beim
Klagelied auf den Niedergang dieser partizipativen Dinosaurier oft vergessen. Die
CDU der 1960er Jahre verfügte gerade einmal über die Hälfte der aktuellen Mitgliedsschar, und selbst die SPD, die anders als die bürgerliche Konkurrenz historisch
eine Massenbewegung war, zählte in ihrer Geschichte auch schon weniger Genossen als heute. Ob Gewerkschaft, Kirchenfreizeitgruppe, Freiwillige Feuerwehr oder
Technisches Hilfswerk – heutzutage, wo immer mehr Flexibilität am Arbeits- und
mittlerweile auch am Ausbildungsmarkt verlangt wird, ist es für jede Organisation,
die auf langfristiges Engagement angewiesen ist, immer schwerer geworden, Aktive
hinreichend zu binden.
5. Führung und Partizipation
Generell fraglich ist, ob eine Organisation überhaupt Autorität aus einer möglichst
großen Mitgliederschar schöpfen kann. Überzeugende Repräsentanten scheinen
dafür – wie im Falle von Parteien zusätzlich die Zustimmung bei Wahlen – doch
sehr viel wichtiger. Hinterfragt man die Motivation von Menschen, warum sie
sich engagieren, werden stets auch soziale Beweggründe genannt. Passend dazu
bemerkte der Politologe Helmut Schorr in einem Beitrag mit dem Titel »Die Autorität der Parteien« schon 1982, dass »Autoritäten [...] nur wachsen [können] aus der
sorgsamen Pflege zwischenmenschlicher Beziehungssysteme«.10 Wohl wahr, aber
gerade für politische Parteien im gelegentlich auch innerparteilichen Machtkampf
nur schwerlich umzusetzen. Das wichtigste Motiv für Engagement ist Selbstwirksamkeit – Menschen wollen etwas bewegen. Genau damit tun sich jedoch hierarchische Organisationen schwer. Im politischen Kontext, und das gilt nicht allein für
Parteien, sondern dürfte zumindest in Teilen auch auf Gewerkschaften und Kirchen übertragbar sein, beginnt die Furcht vor den Resultaten subsidiärer Meinungsäußerung und dem Handlungsdrang der Mitglieder in unkontrollierte Richtungen
schon auf niederer Ebene.
10
Schorr, Helmut: »Die Autorität der Parteien: zur Akzeptanz intermediärer Politik in der Bundesrepublik.«
In: Stimmen der Zeit, 4/1982. S. 259-273, hier S. 270.
67
KNUT BERGMANN
Die Angst vor Kontroll- und Steuerungsverlusten, vor kommunikativer Dissonanz,
dem Verlorengehen der vielbeschworenen »innerparteilichen Geschlossenheit«
steht in einem Spannungsverhältnis zu dem Thema Autorität. Nur wer über sie
verfügt, wer auf eigene Stärken vertrauen kann, wird bisweilen
Das wichtigste Motiv
chaotische Vielfalt als etwas Produktives begreifen. Dabei lassen
für Engagement ist
Selbstwirksamkeit –
sich weder Führung noch Meinung dauerhaft autoritär »von
Menschen wollen etwas
oben« verbreiten und durchsetzen. So nagt die Frage nach der
bewegen.
Autorität unmittelbar an unserem Führungsverständnis. Das
Vorbild des Dirigenten, der seinen Taktstock nur um wenige Zentimeter zu heben
braucht, um Großes ins Werk zu setzen, ist vielleicht noch auf den engsten Mitarbeiterkreis, keinesfalls aber auf moderne Gesellschaften übertragbar.11 Viel mehr gilt es,
einen Kanon von gemeinsamen Werten zu schaffen, der eine weitgehende Selbststeuerung möglich macht. Dass der hierarchische Ansatz selbst auf der Ebene ganzer Nationen ausgedient hat, zeigte der Vorwahlkampf in den USA 2008. Während
es bei Hillary Clinton noch experience to lead im Sinne eines »Nur ich bringe die
Erfahrung mit, die Nation zu führen« hieß (was implizit bedeutete: Land und Bürger bedürfen klassischer Führung), lautete die auf die Beteiligung aller setzende
Formel von Barack Obama »Yes, we can«. Moderne Führung ist eben ein partizipativer Prozess, der die Geführten in die Verantwortung nimmt.12 Hierbei besteht wiederum eine Schnittmenge zum Begriff der Autorität, der auch als right to impose
duties, das Recht, Pflichten aufzuerlegen, zu verstehen ist.13 Nun muten Begrifflichkeiten wie »Rechte« und vor allem »Pflichten« noch anachronistischer an als das
Wort Autorität, doch sie spielen in unserer Gesellschaft unbewusst nach wie vor eine
große Rolle. Unser Gemeinwesen ist darauf angewiesen, dass möglichst viele Menschen mehr tun als sie müssen, ergo lediglich Steuern zu zahlen. Engagement darüber hinaus ist nötig – und wird von vielen Menschen unter der Chiffre »Zivilgesellschaft« wie selbstverständlich erbracht.
6. Verantwortung teilen
Um dieses Engagement zu stärken, ist jedwede gesellschaftliche Organisation gut
beraten, sich zu öffnen. Verantwortung zu teilen, lautet wenigstens für die Politik das Erfolgsrezept. Viele Bürger drängen danach, ihr eigenes Umfeld zu gestalten. Für die kommunalen Instanzen darf dies nicht heißen, bürgerschaftliches
Engagement als Substitut für den sich zurückziehenden Sozialstaat zu missbrau11
Vgl. Sennett, Richard: Authority. New York 1980.
Vgl. Fliegauf, Mark T./Kießling, Andreas/Novy, Leonard: »Leader und Follower – Grundzüge eines inter-personalen Ansatzes zur Analyse politischer Führungsleistung.« In: Zeitschrift für Politikwissenschaft,
4/2008. S. 399-421.
13
Raz, Joseph: The Morality of Freedom. Oxford 1986. S. 29.
12
68
I N S T I T U T I O N E L L E A U T O R I TÄT E N I N D E R K R I S E
chen. Ergänzung, nicht Ersatz, lautet die Formel gedeihlicher Kooperation. Ihre
Umsetzung verlangt, dass Politik und Verwaltung Verantwortung abgeben, ohne
sie jedoch aufzugeben. Ein Beispiel: In Augsburg bieten ehrenamtlich Engagierte
überschuldeten Menschen Rat und Tat an. Dadurch werden nicht die zuständigen
Ämter und Beratungsstellen ersetzt, sondern es geht um den persönlichen Kontakt,
um Hilfe bei der Bewältigung von alltäglichen Problemen und darum, den betroffenen Bürgern den Weg zu fachlicher Hilfe zu bahnen. Das Modell wurde mittlerweile in anderen Kommunen erfolgreich nachgeahmt. Dieses bürgerschaftliche
Engagement als »Ersthilfe« ist ein Beispiel für das funktionierende Zusammenspiel von Haupt- und Ehrenamt. Es setzt aber voraus, dass die Verwaltung eigene
Grenzen erkennt, Verantwortung delegiert, Engagierte ernst nimmt und letztlich
auch für nicht unmittelbar beeinflussbares Handeln die Verantwortung trägt. Falls
nämlich etwas schiefläuft, wird mindestens der Sozialstadtrat, in dessen Ressort die
Schuldenberatung fällt, den Kopf hinhalten müssen. Hinzu kommen mittlerweile
an vielen Orten Verfahren für mehr Beteiligung wie Bürgerforen und institutionalisiertes Community Organizing, die zunächst als Entscheidungshilfen für Verwaltungshandeln dienen können und dazu beitragen, die Lebensqualität zu verbessern.
Darüber hinaus eröffnen solche Projekte die Chance, politikferne Milieus einzubinden und damit in die Gesellschaft zurück- oder sogar erstmalig hereinzuholen.
Der Soziologe Heinz Bude hat vor einigen Jahren festgestellt, dass Kinder in Problembezirken und mit schwierigem familiären Hintergrund mit ihren selbstverständlich das Gymnasium oder sogar eine Privatschule besuchenden Altersgenossen
über keine gemeinsamen Autoritäten mehr verfügen.14 Die einzig übriggebliebenen gemeinsamen ›Helden‹ seien Comedy-Stars, keineswegs aber mehr klassische
Autoritäten wie Lehrer, Polizisten oder der Bürgermeister. Um überhaupt eine Vorstellung von einem Gemeinwesen zu entwickeln, dürften solche geteilten Bezugspersonen aber eminent wichtig sein. Projekte wie die Stadtteilbotschafter der Stiftung Polytechnische Gesellschaft Frankfurt am Main könnten hier ein Ansatz sein,
gemeinschaftliche Verantwortung zu wecken. Schon dass die genannten Beispiele
allesamt auf kommunaler Ebene funktionieren, könnte Anlass sein, die stark bundeszentrierte Sicht des politischen Betriebes wie der Medien in Frage zu stellen. Für
den Rückgewinn oder den Aufbau von Autorität sind die kleinen Lebenskreise viel
eher geeignet. Auch in der deutschen Politik könnte das »Modell Bürgermeister«,
wie es etwa der ehemalige Bürgermeister von Amsterdam, Job Cohen, propagiert,
Schule machen. Nicht mehr Parteien, sondern Personen, die in einem überschau-
14
Veranstaltung »Gedanken zur Zukunft« der Herbert Quandt-Stiftung am 17.01.2008 in Berlin: »Bürgerlichkeit zwischen Ideologie und Verheißung.«
69
KNUT BERGMANN
baren Zusammenhang ihre Kompetenz bewiesen haben – und je nach Möglichkeit
dort schon zu einer charismatischen Führungsfigur avancieren konnten –, werden
gewählt. 15
7. Autorität braucht Realismus
Gelegentlich wird bei der Frage, wie Autorität überhaupt entsteht, eine Stelle aus
dem »kleinen Prinzen« von Antoine de Saint-Exupéry angeführt, wonach sie vor
allem auf Vernunft beruhe. Sehr viel seltener wird dagegen der Satz davor zitiert,
den ebenfalls der König dem kleinen Prinzen auf dessen Bitte antwortet, der Sonne
zu befehlen, unterzugehen: »Man muss von jedem fordern, was er leisten kann.« Für
sich genommen, sind zwei Interpretationen dieses Zitates möglich; entweder, dass es
legitim ist, von jedem alles zu fordern, was er erbringen kann, oder aber – und so ist
die Passage in der Erzählung gemeint –, dass man die Menschen nicht überfordern
darf: »Die Autorität beruht vor allem auf der Vernunft. Wenn du deinem Volke
befiehlst, zu marschieren und sich ins Meer zu stürzen, wird es revoltieren. Ich habe
das Recht, Gehorsam zu fordern, weil meine Befehle vernünftig sind.«16 Das gilt im
Übrigen reziprok, für alle Menschen, für Regierte wie Regierende. Wir sollten selbst
Menschen, die wir als Autoritäten ansehen, nicht überfordern, sondern eher darüber
nachdenken, was wir tatsächlich von ihnen fordern können. Zu hohe Erwartungen
sind kontraproduktiv. In der nicht-monarchischen Bundesrepublik wird wohl an
keinem Amt so viel über das Thema »Autorität« reflektiert wie an dem des Bundespräsidenten. Gustav Heinemann, der nach Aussage eines seiner Nachfolger »zu
einer moralischen und politischen Autorität [wurde], weil er höchste Ansprüche
zuerst an sich selber stellte«, hat einmal gesagt, dass die Hand, die mit einem Finger
auf jemand anderes zeigt, zuerst mit drei Fingern auf einen selbst deutet.17 Ein wahrer Satz, der für jeden von uns gilt – selbst wenn unser Fingerzeig nur die Sehnsucht
nach unbeschädigten wie unangreifbaren Autoritäten widerspiegelt.
15
Wie im Fall von Job Cohen in der Integrations- und Islamdebatte in den Niederlanden nach der Ermordung
des Rechtspopulisten Theo van Gogh 2004.
16
Saint-Exupéry, Antoine de: Der kleine Prinz. Deutsche Erstausgabe. Bad Salzig 1950.
17
Rau, Johannes: Ansprache des Bundespräsidenten zum 100. Geburtstag von Gustav Heinemann am
23.07.1999.
70
Persönliche Autorität: Die Kraft in der Krise?
VON HERMANN GRÖHE
1. Autorität und offene Gesellschaft
Als Politiker über persönliche Autorität in der Politik zu sprechen, ist keine leichte
Aufgabe. Ich gestehe offen: Die folgenden Ausführungen sind subjektiv gefärbt,
auch wenn ich annehme, dass zahlreiche Kollegen in der Politik den Sachverhalt
ähnlich sehen. Doch es ist notwendig, sich immer wieder über Grundfragen der
Politik zu verständigen. Bevor ich zu dem komme, was für mich persönliche Autorität in der Politik ausmacht, will ich einen Schritt zurückgehen und die Frage stellen: Autorität und liberale Demokratie, Autorität und offene Gesellschaft – geht das
überhaupt zusammen? Oder sind das widerstreitende Konzepte? Leben wir nicht
in einer Herrschaft der Gleichen über Gleiche? Taten nicht die Athener ganz recht,
als sie ihre Amtsträger auslosten, um gerade persönlicher Autorität im Staat der
Gleichen keinen Raum zu geben?
»Wo Autorität ist, ist keine Freiheit«, schrieben russische Anarchisten auf ihre Banner, als ihr Idol, der »anarchistische Fürst« Peter Kropotkin, 1921 in Moskau zu
Grabe getragen wurde. Autorität und persönliche Freiheit waren auch für sie miteinander nicht vereinbar. Paradoxerweise akzeptierten sie allerdings die Autorität
des Verstorbenen.
Dieses Beispiel ist ein deutlicher Hinweis, dass die radikale demokratietheoretische
Abstraktion am Ende nicht zu halten ist: Wir brauchen Autoritäten in Staat und
Politik, auch heute – und zwar von Institutionen wie von Personen. Es ist unerlässlich, dass den Institutionen und Ämtern unserer Republik Autorität und Würde
zukommen, dass sie Ansehen genießen, dass ihnen und den Inhabern von Ämtern
Respekt und Vertrauen entgegengebracht wird.
Dabei sind wir in der Politik als Staatsbürger zwar Gleiche unter Gleichen, aber
in einer immer komplexeren Welt können wir nicht immer alles selbst durchdringen. Wir müssen uns doch auch verlassen können auf andere, auf Sachkenntnis und
71
HERMANN GRÖHE
Urteilsvermögen von Mitarbeitern und Beamten, die immer wieder für uns und in
unserem Namen handeln.
Der erste Präsident der Bundesrepublik Deutschland, Theodor Heuss, hat einmal
sehr schön gesagt: »Demokratie heißt nicht Massenherrschaft, sondern Aufbau,
Sicherung, Bewährung der selbst gewählten Autoritäten.«1 Diese selbst gewählten
Autoritäten bilden dann die politische Führungsschicht.
Wichtig ist dabei, dass in der offenen Gesellschaft tatsächlich eine offene Elitenrekrutierung gelingt und alle die Chance haben, für das Gemeinwesen Verantwortung
zu übernehmen. Es gibt in der Geschichte der Bundesrepublik inzwischen genügend Beispiele für den gelungenen Aufstieg aus den sogenannten kleinen Verhältnissen in politische Spitzenämter, über den zweiten Bildungsweg oder als Zugewanderte. Deshalb müssen wir diese Wege in unserer Gesellschaft weiter offen
halten.
2. Autorität und Vertrauen
Wir haben in der Finanzkrise – als Finanzinstitute zusammenbrachen und wirtschaftliches Vertrauen erschüttert war – gesehen, wir wichtig es war, dass Angela
Merkel und Peer Steinbrück als Bundeskanzlerin und als Bundesfinanzminister
die Sparer beruhigen und einen Ansturm auf die Banken verhindern konnten. Wie
gelang das? Es lag an der Autorität und der Verlässlichkeit eines wirtschaftlich starken Staates. Aber auch an der über die Jahre erworbenen persönlichen Autorität der
beiden Politiker. Hilfreich war sicher auch, dass dort erkennbar die Große Koalition
stand: Die beruhigenden Worte kamen aus dem Munde beider großen Volksparteien. Die Überwindung des parteipolitischen Gegensatzes in einer Notlage – das
hat noch immer Eindruck auf die Deutschen gemacht.
Wir werden in den nächsten Monaten und Jahren sehen, ob eine ähnliche Versicherung in der jetzigen Schuldenkrise eine vergleichbare Autorität entfaltet. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso hat im Namen der Euro-Staaten gesagt:
»Wir sind bereit, alles Nötige zu tun, um die finanzielle Stabilität in der Eurozone
und der EU zu sichern.«2 Es geht um das Vertrauen der Marktteilnehmer in diese
Zusicherung. Es war übrigens nicht nur für mich eine sehr interessante Erfahrung
in der Krise, dass auch viele in der Wirtschaft, die bisher staatlicher Einflussnahme
sehr skeptisch gegenüber standen, plötzlich vom Staat Hilfe und Rettung erwarte1
2
Vor der Deutschen Demokratischen Partei. Stuttgart, 17.01.1919.
Auf dem EU-Gipfel zur Euro-Krise. Brüssel, 17.12.2010.
72
P E R S Ö N L I C H E A U T O R I TÄT: D I E K R A F T I N D E R K R I S E ?
Pausengespräche vor dem Sinclair-Haus
ten. Auf einmal trauten die Banken einander nur noch, wenn der Staat als Bürge
zwischen sie trat.
Diese Erfahrung in der Krise hat das Vertrauen der Bürger in den Staat gestärkt.
So dass wir jetzt eher aufpassen müssen, dass die Erwartungen an die Leistungsfähigkeit des Staates nicht zu groß werden. Trotzdem können wir feststellen, dass es
gegenwärtig um die Autorität unseres Staates grundsätzlich gut bestellt ist.
Überhaupt ist bei uns Deutschen traditionell das Vertrauen in Institutionen dieses
Staates wie Justiz, Polizei oder Bundeswehr höher als das Vertrauen in Politiker
oder Parteien oder in die Politik allgemein. Nun waren es jedoch die Entscheidungen der Politik und von Politikern, die die Weichen gestellt haben, damit Deutschland gut aus der Krise kommt. Mir scheint, dass trotz dieser wirklich erfolgreichen
Krisenbewältigung Ansehen und Autorität der Politik insgesamt seither nicht wirklich gewachsen sind.
Wie kann es also gelingen, die Autorität von Politik, von Politikern und in besonderem Maße auch von Parteien zu steigern? Ich habe da kein Patentrezept, aber für
die Antwort spielt sicherlich die persönliche Autorität eine wichtige Rolle. Denn
73
HERMANN GRÖHE
auch wenn wir von Parteien sprechen, verbirgt sich dahinter ja nichts anderes als ein
Zusammenschluss von einzelnen Persönlichkeiten und ihrer Autorität, die sich den
gleichen Werten und Zielen verpflichtet fühlen.
3. Charisma, Herkunft, Amt
Damit sind wir beim Kern der Frage angelangt: Woran macht sich persönliche Autorität, Überzeugungskraft und Souveränität politischer Führung am Ende des Tages
fest? Eine Antwort könnte sein, auf Charisma zu setzen. Mein Eindruck ist, dass
in Deutschland charismatische Politiker eher mit einer gewissen Skepsis betrachtet
werden. Das muss nicht schlecht sein und ist wohl auch historisch bedingt. Es ist
deshalb vielleicht kein Zufall, dass die zuweilen spürbare Sehnsucht nach Charisma
sich auf ausländische Politiker fokussiert. Zweihunderttausend Besucher pilgerten
vor Jahren zur Berliner Siegessäule, um einen amerikanischen Präsidentschaftskandidaten namens Barack Obama sprechen zu hören. Charisma hilft, aber in Deutschland ist es wohl nicht die vorrangige Quelle politischer Autorität.
Entsteht persönliche Autorität durch Herkunft? Bewahre! – sind wir schnell
bereit zu rufen. Aber halten wir einmal inne. Außerhalb der Politik gibt es zum
Beispiel so etwas wie »Traditions-Eliten«: Wir unterstellen, dass wir dem Sohn
des geschätzten Hausarztes genauso vertrauen können wie seinem Vater, wenn
er dessen Praxis übernimmt. Wir unterstellen, dass der Spross des Familienunternehmens ebenso vorausschauend und verantwortungsvoll handeln wird wie seine
Vorfahren.
Aber auch in der Politik gibt es Autorität durch Herkunft. Das gilt nicht nur in
Amerika, wo uns sofort der Kennedy-Clan einfällt. Es gibt auch für Deutschland
Beispiele, wo den Kindern oder Neffen verdienter öffentlicher Personen auf ihrem
politischen Weg nicht zu Unrecht ein Grundvertrauen entgegengebracht wird. In
der bundespolitisch ersten Reihe wäre an die de Maizières oder die von Weizsäckers zu denken. Aber ich kenne auch eine Reihe von Beispielen in der Landes- und
Kommunalpolitik, bei denen durch das Erleben von politischer Verantwortung im
Elternhaus ein eigenes Interesse entstanden ist und dies von der Bevölkerung als
Vertrauensvorschuss gewürdigt wurde. Also würde ich Herkunft nicht vorschnell
aus den möglichen Quellen persönlicher Autorität ausschließen.
Autorität kann einem schließlich auch vom Amt zuwachsen, das man bekleidet.
Der Amtsträger: da trägt nicht nur eine Person ein Amt, sondern da trägt auch das
Amt die Person! Man kann deshalb seine persönliche Autorität und damit zugleich
schnell auch die des Amtes ruinieren. Oder man spürt nach Aufgabe des Amtes, dass
74
P E R S Ö N L I C H E A U T O R I TÄT: D I E K R A F T I N D E R K R I S E ?
viel Ehrerbietung dem Amt galt und leider weniger der »großartigen« Person, die
man zu sein glaubt.
Charisma, Herkunft, Amt – das alles kann hineinspielen. Aber im Kern glaube
ich, dass Autorität in der offenen Gesellschaft zuallererst hart erarbeitet werden
muss. Die offene Gesellschaft hinterfragt Autorität und will von ihrem Anspruch
überzeugt sein. Vertrauen gibt es nur gegen einen Leistungsnachweis. Die Bürger
müssen an Politikern über einen längeren Zeitraum Sachlichkeit, Integrität, offene
Kommunikation wahrnehmen können.
Es ist übrigens eine wichtige Erfahrung, dass Autorität vor allem dort entsteht, wo
Politiker im unmittelbaren Kontakt zur Bevölkerung stehen, im eigenen Wahlkreis.
Hier begegnet man den Bürgern immer wieder und muss sich im Gespräch bewähren und Glaubwürdigkeit einlösen. Über diese Bindung in den Wahlkreisen entsteht ein Korrektiv gegen den Einfluss der Fraktionsführung.
4. Erwartungen der Bürger
Aber insgesamt glaube ich: Der Schlüssel für Autorität in der Politik ist das gelingende Wort. Charles de Gaulle hat zwar einmal geschrieben, nichts steigere Autorität mehr als Schweigen. Dem könnte ich zustimmen, wenn damit die Unterlassung
einer gewissen Geschwätzigkeit gemeint wäre, die Autorität eher untergräbt. Aber
Politik lebt vom authentischen Wort, einem Wort, das als wahrhaft empfunden wird. In der Rede zählt jeder Moment. Wenn Politik lebt vom
authentischen Wort,
man sich hinstellt, spricht und überzeugt. Wenn man dann tut, einem Wort, das als
was man gesagt hat und wenn solche Momente sich häufen. wahrhaft empfunden
wird.
Dann sammelt sich ein »politisches Kapital« an. Dann gehen die
Bürger erst einmal davon aus, dass es so falsch nicht sein könne, was der oder die sagt
oder will. Dabei dürfen wir nicht überdrehen. Politik darf sich nicht für alles zuständig erklären. Das entspricht nicht meinem Staats- und Politikverständnis und würde
auch nur zu unerfüllbaren Erwartungen und zu anschließenden Enttäuschungen
führen.
Dieses Autoritätskapital kann sich ansammeln, vor allem in der regelmäßigen
direkten Begegnung des Politikers mit den Bürgern. Dort wird die Übereinstimmung von Reden und Handeln leichter sichtbar – oder auch das Gegenteil. Politik
gewinnt Autorität, wenn sie nah am Menschen gemacht wird. Es ist meine Erfahrung, dass Politikern vor Ort, im Kontakt mit den Bürgern, viel Respekt entgegengebracht wird, während es gleichzeitig heißt, Politikern im Allgemeinen glaube
man nicht. Die Bürger wollen jemanden, der bodenständig und fest im Alltag verankert ist.
75
HERMANN GRÖHE
Es täuscht sich auch, wer meint, Autorität durch Anbiederei und falsche Nähe
erschleichen zu können. Ganz im Gegenteil: Dies kann auch dadurch gelingen,
indem man sich von aller Kumpelhaftigkeit weit fern hält und mit »preußischem
Pflicht-Ethos« ohne jede persönliche Allüre seine Arbeit tut. Allerdings ist das nicht
jedem gegeben und auch eine Frage des authentischen persönlichen Stils. Allgemein
gilt es wohl, die Balance zwischen Distanz und Volksnähe zu wahren.
Es ist auch für die Autorität von Politik verheerend, wenn der Eindruck entsteht, sie
sei umfragegeleitet. Einschlägig ist die Formel von Franz Josef Strauß, Politik müsse
dem Volk aufs Maul schauen, aber nicht nach dem Munde reden. Schwierig wird
es aber dadurch, dass die Übergänge fließend sind. Denn ebenso prominent ist die
Klage, es kümmere die Politik nicht, was die Bürger dächten.
Wir haben im Falle von Stuttgart 21 erlebt, wie verheerend dieser letzte Verdacht für
das politische Klima werden kann. Und wir haben gelernt, dass wir unsere Beteiligungsverfahren und die politische Kommunikation verbessern müssen, wenn wir
Legitimität und Autorität von Entscheidungen steigern wollen, die formal korrekt
zustande gekommen sind. Zumal ja die potenziellen Konflikte um Großprojekte im
Zuge einer ehrgeizigen Energiepolitik eher zunehmen werden. Wir müssen also
über neue Formen der Bürgerbeteiligung nachdenken: DemoWir haben gelernt, dass
kratie lebt davon, dass die Bürger die Verfahren innerlich bejawir unsere Beteiligungsverfahren und die
hen und ihnen damit Autorität zuweisen. Die Menschen haben
politische Kommunikatiein feines Gespür für Authentizität. Sie wollen niemanden, der
on verbessern müssen,
wenn wir Legitimität und eine Rolle spielt. Sie wollen niemanden, der sich verbiegt. Die
Autorität von EntscheiMenschen schätzen ein Handeln aus persönlichen Lebenserfahdungen steigern wollen.
rungen heraus: Ein Beispiel ist die biografische Stimmigkeit in
Helmut Kohls Politik, der über eine lange Zeit die Vorstellung eines wiedervereinten Deutschland in einem einigen, freien und friedlichen Europa mit sich trug. Der
daran festhielt, auch als die Wiedervereinigung ferner zu rücken schien.
Wir sind auch offenbar eher bereit, älteren Politikern Autorität zuzusprechen, die
keine politischen Ämter und Mandate mehr innehaben. Man denke nur an Heiner
Geißlers Stuttgarter Schlichtung. Ein politisches Leben voller Ecken und Kanten
und mancher Schroffheit, aber immer engagiert und spürbar an der Sache und an
Werten orientiert: an Freiheit, an Gerechtigkeit, an Solidarität. Oder man denke an
Helmut Schmidt, dem viele Menschen eine hohe politische und moralische Autorität zusprechen.
Ich bin ferner davon überzeugt, dass man Autorität auch dadurch erwirbt, indem
man bereit ist, die eigenen politischen Überzeugungen immer wieder zu überprü76
P E R S Ö N L I C H E A U T O R I TÄT: D I E K R A F T I N D E R K R I S E ?
fen und hinzuzulernen. Das gilt gerade für Politiker, die sich am christlichen Menschenbild orientieren und daher um ihre Fehlbarkeit und ihre Irrtumsanfälligkeit
wissen.
Nehmen wir die aktuelle Debatte um die Kernenergie. Da sage auch ich: Ja ich habe
im Herbst 2010 der Laufzeitverlängerung zugestimmt, weil ich das Restrisiko für
eine mathematische Größe gehalten habe. Das hat sich durch Fukushima grundlegend verändert. Deshalb glaube ich, es ist richtig, für veränderte Gegebenheiten
offen zu sein, statt Scheuklappen aufzusetzen.
Schließlich hat Autorität ganz viel damit zu tun, Vorbild zu sein. Politiker müssen
sich bewusst sein, dass von ihnen genau das erwartet wird. Dass an Politiker – wie
an Eliten insgesamt – ein höherer Maßstab gelegt wird. Ich will meine Skepsis nicht
verhehlen. Ich finde es richtig, dass bei uns zum Beispiel das Private des Politikers im
Unterschied etwa zu Amerika noch weitgehend tabu ist. Aber Autorität erwächst
eben auch daraus, dass man in den Augen der Menschen jenen höheren Ansprüchen
eines Vorbildes genügt.
5. Persönliche Autorität in anderen Lebensbereichen
Persönliche Autorität von Politikern ist das eine – Autorität der Institution »Partei« das andere. Es muss Parteien wieder besser gelingen, ihren unbezweifelbaren
Nutzen für die politische Willensbildung der Bürger deutlich zu machen. In einer
Gesellschaft müssen unterschiedliche Bereiche politisch geordnet werden. Es gibt
jeweils nicht nur eine mögliche Antwort, aber es gibt eben auch nicht unendlich
viele. Dabei ist es hilfreich für den demokratischen Prozess, wenn es Vereinigungen gibt, in denen engagierte und weitgehend gleich gesinnte Bürger sich um eine
gemeinsame Position zu zentralen Fragen bemühen. Damit am Ende aus Millionen Einzelmeinungen ein überschaubares politisches Angebot vorgeformt und eine
demokratische »Wahl« der Bürger zwischen Programmen und Positionen möglich
wird. In modernen Massengesellschaften kann diese notwendige Bündelung von
Meinungen anders gar nicht geleistet werden.
Nachdem ich nun so viel über Autorität in der Politik gesprochen habe, möchte
ich meine Betrachtung gerne erweitern. Denn die Frage von Autorität und auch
von Verlust von Autorität betrifft ja nicht nur die politische Sphäre. Als engagierten evangelischen Christen treibt mich der Vertrauensverlust in die beiden großen
christlichen Volkskirchen um. Mich besorgt, dass Glaube und Kirche im Leben
immer weniger Menschen die heilsame Rolle spielen, die sie spielen könnten.
77
HERMANN GRÖHE
Mich besorgt auch die mangelnde Autorität von wirtschaftlichen Eliten. Die Autorität von Banken und Wirtschaft hat durch die Finanzkrise massiv gelitten, durch
manche Abgehobenheit und Entkopplung von gesellschaftlicher Verantwortung.
Ein Ausweg kann hier wie dort der transparente Umgang mit Fehlern sein und
die neue Einmischung in den öffentlichen Diskurs. Ich wünsche mir gerade von
den wirtschaftlichen Eliten mehr Sichtbarkeit. Denken Sie nur an die zahlreichen
Gesprächsrunden im Fernsehen, in denen immer nur dieselben Gesichter der deutschen Wirtschaft auftreten. Hier würde ich mir wünschen, dass sich die vielen Verantwortungsträger aus der Wirtschaft in den Wind stellen und mitdiskutieren über
die Fragen, die unser Gemeinwesen bewegen.
6. Die Rolle der Medien
Mich bewegt auch zunehmend die Frage, wie es um die Autorität der Medien bestellt
ist. In einer Zeit, in der immer neue Großereignisse in immer kürzeren Abständen
auf uns niederprasseln, scheint mir die Orientierungsfunktion von Qualitätsmedien
dringender denn je. Das Internet kann diese Aufgabe nicht leisten, das Netz kann
anderes: Tausende Dokumente sind auf Plattformen schnell zugänglich gemacht,
Millionen Menschen sind schnell erreichbar, der Austausch leicht wie nie. Aber wer
ordnet ein, wer zieht die Linien, wer macht das Unvertraute vertraut? – Mir ist es
zu wenig, wenn zum Beispiel unter jungen Menschen nur noch den Posts Gleichaltriger Autorität zugestanden wird. Ich kann unseren Qualitätsjournalismus nur
ermutigen, auch künftig auf die ureigenen Kompetenzen zu setzen. Wir sind als
Gemeinwesen darauf angewiesen.
Wir können nicht zulassen, dass auf der Suche nach Vorbildern, nach Autoritäten
Formate wie »Deutschland sucht den Superstar« zum Maß der Dinge werden. Vor
uns allen liegt also viel Arbeit.
78
III. Autorität des Rechts?
Institutionelle Autorität in
Deutschland zwischen EuGH
und Basisdemokratie
Autoritative Rechtsprechung in der Gegenwart
V O N U D O D I FA B I O
1. Die Autorität des Bundesverfassungsgerichts
Es gibt Institutionen, denen vertraut der Bürger mehr als anderen. Der Bundespräsident, das Bundesverfassungsgericht, Polizei und Bundeswehr führen die Liste
derjenigen staatlichen Organisationen an, denen die Deutschen viel Vertrauen entgegenbringen, weit vor der Bundesregierung und ganz weit vor den politischen
Parteien. Wenn Vertrauen in eine Organisation über lange Zeit kontinuierlich
besteht, wächst Autorität, also jenes verstetigte Ansehen, das dem Wort der Institution besonderes Gewicht verleiht. Für Ferdinand Tönnies wächst Autorität aus
der Würde von Stärke und Weisheit, so wie patriarchalische Gesellschaften sich die
Rolle des Vaters vorstellten.1 Die etwas modernere Sozialtheorie sieht in der Autorität die Unterstellung der Fähigkeit zu weiteren Erläuterungen, damit kann man
aber für unser Thema weniger anfangen.2
Mit folgenden Überlegungen möchte ich der Frage nachgehen, ob die Autorität des
Bundesverfassungsgerichts als eines der Verfassungsorgane und als Gericht noch
ungeschmälert besteht oder ob sie inzwischen durch die Konkurrenz mit europäischen und internationalen Gerichten, aber auch im Hinblick auf eine allgemeine
Institutionenaversion und einer Vorliebe für direktdemokratisches Entscheiden
angegriffen ist, das Gericht somit an der Würde verliert, die aus unangefochtener
Stärke wächst.
Schauen wir zunächst auf die Konkurrenz der hohen Gerichte. In einer Leitentscheidung vom 14. Oktober 2004 hat das Bundesverfassungsgericht recht deutlich eine
Zäsur markiert, die als latenter Entwicklungstrend seit Jahrzehnten die europäische
Wirklichkeit bestimmt. »Das Grundgesetz erstrebt die Einfügung Deutschlands in
1
2
Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Darmstadt 2005. Erster Abschnitt § 5.
Luhmann, Niklas: Soziologie des Risikos. Berlin/New York 1991. S. 126.
80
A U T O R I TAT I V E R E C H T S P R E C H U N G I N D E R G E G E N WA R T
die Rechtsgemeinschaft friedlicher und freiheitlicher Staaten, verzichtet aber nicht auf
die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität.«3 Der Doppelcharakter dieser Aussage – Wandel durch gegenseitige Öffnung und Beharrung im
Prinzipiellen wird anschließend verdeutlicht: »Das Grundgesetz will eine weitgehende
Völkerrechtsfreundlichkeit, grenzüberschreitende Zusammenarbeit und politische
Integration in eine sich allmählich entwickelnde internationale Gemeinschaft demokratischer Rechtsstaaten. Es will jedoch keine jeder verfassungsrechtlichen Begrenzung und Kontrolle entzogene Unterwerfung unter nichtdeutsche Hoheitsakte.«
Den Klang dieser Worte zu bestimmen, hängt von den Ohren ab, die sie vernehmen.
Für die einen ist das lediglich die Modernisierung des klassischen Souveränitätsverständnisses, für die anderen ist das der Trotz einer großen Institution des Rechts,
die sich längst durch europäische Gerichte wie den Straßburger Menschenrechtsgerichtshof oder den Luxemburger Gerichtshof der Europäischen Union in ihrer
Bedeutung gemindert sieht und deshalb auf letzte Worte dort pocht, wo sie schon
mittelfristig nichts mehr zu sagen haben wird.
Dieser Entscheidung, die das Umgangs- und Sorgerecht des nichtehelichen leiblichen Vaters mit seinem bei Pflegeeltern lebende Kind betraf, war eine andere Entscheidung des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs vorausgegangen, die nicht
nur unter juristischen Fachleuten für Aufmerksamkeit gesorgt hatte. Mit dem
Urteil über die Persönlichkeitsrechte der Prinzessin Caroline von Monaco hatte der
Straßburger Gerichtshof die feinziselierte deutsche Dogmatik zur Abgrenzung der
Pressefreiheit von gegenläufigen Ansprüchen auf Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts in wesentlichen Teilen für Makulatur erklärt und neue Wertungen
verlangt, die seitdem das Presserecht zwar auch nicht wesentlich vereinfacht, aber
die Gewichtungen etwas verändert haben. Jahrzehntelang hatte der Erste Senat des
Bundesverfassungsgerichts seit der Lüth-Entscheidung die Grenzen der Meinungsund Pressefreiheit bestimmt und dabei das demokratische Wertesystem der Republik, nicht selten unter großer öffentlicher Anteilnahme – wie bei Sitzblockaden oder
der Strafbarkeit einer Aussage »Soldaten sind Mörder« – konkretisiert.
Mit der »Intervention aus Straßburg« musste sich das Gericht auf die neuen Vorgaben einlassen, juristisch gesehen war das eigentlich kein Umbruch, aber Karlsruhe
verlor vielleicht doch ein wenig vom Glanz der letzten, rechtsinterpretierenden,
dabei wertsetzenden Instanz. Bei der Sicherungsverwahrung ging Straßburg mit
dem Verbot der Rückwirkung beinah konfrontativ4 auf eine verfassungsgerichtliche
3
4
BVerfGE 111, 307 (319).
Zuletzt mit Kammerurteil vom 14. April 2011 im Fall Jendrowiak gegen Deutschland (Beschwerde-Nr.
30060/04).
81
UDO DI FABIO
Entscheidung5 zu und nötigte in Deutschland Gesetzgeber, öffentliche Meinung und
das Bundesverfassungsgericht in eine reaktive Position.
Zu reagieren hatten deutsche Höchstgerichte schon lange bei der Übernahme von
Urteilen des Luxemburger Gerichtshofs, wenn es um den Vertrauensschutz, jene
Ikone des Rechtsstaates, um Frauen in der Bundeswehr, um die Vergabe öffentlicher
Aufträge oder um das jeweilige Verständnis von Altersdiskriminierung ging. Der
Gerichtshof legte das geltende Vertragsrecht in der längeren Entwicklungstendenz
eindeutig so aus, dass er in eine immer stärkere Position gelangte, er verschaffte sich
seine Autorität gleichsam ein Stück weit auf eigene Rechnung, man spricht insofern
von der Selbstautorisierung des Agenten.6
Wie immer auch die juristischen Begründungen für die Entwicklung europäischer
Gerichte und nationaler Reservate, für jene starken Worte in Leitentscheidungen
und auch die fantasiereichen rechtswissenschaftlichen Gebilde mit ihren Verbundarchitekturen kooperativen Zusammenwirkens, der Öffnung von Staaten und von
»lernenden Souveränen«7 ausfielen, das Publikum registrierte vor allem eines: Es
ging um die Grenzen der Macht, um den sichtbaren Schwund des Autoritativen im
rechtsprechenden System der Staaten Europas. Darin kann man einen natürlichen
Vorgang der Machtteilung, der Europäisierung, der Internationalisierung sehen.
Vielleicht geht es aber auch um mehr. Womöglich geht es um den Verlust jenes von
Jacques Derrida so benannten »mystischen Grundes der Autorität« der Gerichte8:
die Wahrheit der Gerechtigkeit.
Die Multiplizierung von Wahrheiten und Autoritäten im Netzwerk verbundener
Gerichte lässt nicht so sehr an Unumstößlichkeit der einen konsistenten Gerechtigkeit denken, sondern an getaktete Systembeziehungen, Gespräche, Abstimmungen,
Harmonisierungen und an Kooperationen. Jede der höchsten Gerichtsbarkeiten der
Staaten und die internationalen Gerichte sind durch bestimmte Grundsatznormen
gebunden, entfalten deren System und Idee: Die Europäischen Verträge, die Menschenrechtskonvention oder Verfassungstexte. Diese Texte kann man nahe aneinander führen, Richter können sich gleichsam wechselseitig beobachten, aber man
sollte nicht die fortbestehenden Unterschiede in den verschiedenen grundlegenden
Rechtsprechungsaufträgen kaschieren.
5
BVerfGE 109, 133.
Höreth, Marcus: Die Selbstautorisierung des Agenten. Baden-Baden 2008.
7
Frankenberg, Günter: Autorität und Integration. Zur Grammatik von Recht und Verfassung. Berlin 2003.
S. 46ff.
8
Derrida, Jacques: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«. Frankfurt/Main. 1991. S. 25.
6
82
A U T O R I TAT I V E R E C H T S P R E C H U N G I N D E R G E G E N WA R T
Für staatliche Verfassungsgerichte und ihre Autorität heißt das: Mit dem großen
durchdachten System oder mit der politischen und rechtlichen Systemreferenz auf
das Volk ist hier nicht viel zu gewinnen, man kann allenfalls stören. Für die herkömmliche Verfassungsrechtsprechung, die über Jahrzehnte hinweg so etwas wie
die normative Einheit der funktional differenzierten Gesellschaft verkörpert hat,
erscheinen europäische und internationale Judikate manchmal wie Interventionen,
mal kann man sich gewiss anpassen, mal aber auch läuft man Gefahr, die Ordnung
seines Systems zu verlieren.
Seit der Wiederentdeckung des Römischen Rechts und des Naturrechts, die überleiteten in die neuzeitliche Ausdifferenzierung normativer Systeme, insbesondere der
Trennung des Rechts von der Moral, sei sie philosophischer, politischer oder religiöser Provenienz, glaubte man an die prinzipielle Wahrheitsfähigkeit, die Vernunft
und Widerspruchsfreiheit des Rechts, wobei ein guter Gesetzgeber sich von der
Aufgabe der Konsistenz und damit der Gerechtigkeit leiten lassen sollte. Recht als
multipel eingesetztes Steuerungsinstrument im Mehrebenensystem entfernt sich
von dieser normativen Autoritätsunterstellung, es gewinnt zwar Präsenz, vielleicht
sogar Omnipräsenz, verliert aber eigenständige Rationalität.
Für den juristischen Insider hat die Sache noch einen anderen Aspekt. Untere Instanzgerichte nutzen das europäische System der Richtervorlage oder auch einzelne
Sprüche aus Straßburg, um ihre jeweiligen rechtspolitischen Vorstellungen notfalls
auch gegen den Gesetzgeber und die Rechtsprechung der übergeordneten Bundesgerichte durchzusetzen. Der ehemalige BGH-Präsident Hirsch forderte in einer
großen Tageszeitung unter Berufung auf europäische Richtlinien und die Rechtsprechung des Luxemburger Gerichtshofs, sich nicht mehr so sehr auf die klassischen Auslegungsmethoden des nationalen Gesetzes zu konzenDer Rechtsstaat wird
trieren. Auch das ist kein Umsturz, sondern Teil eines allmählich allgemein hochgehalten,
wirkenden Erosionsvorgangs. Gerichte, auch Höchstgerichte aber sein Ansehen sinkt.
werden zu Funktionselementen in einem verflochtenen System
mit seinen inneren Gesetzmäßigkeiten und Notwendigkeiten, in denen weniger
hierarchische Ordnung, sondern mehr politisch-moralische Leitlinien, Rücksichtnahmen oder auch Zufälligkeiten herrschen.
Einer Erosion unterliegt der vom Grundgesetz verfasste demokratische und soziale Rechtsstaat, wobei das Gesetz eine eigene überragende Autorität eingenommen
hat, aber inzwischen verflüssigt ist und sich zur steten Anpassung genötigt sieht. Der
Rechtsstaat wird allgemein hochgehalten, aber sein Ansehen sinkt. Der Wert staatlicher Institutionen gilt nicht mehr so viel wie in den Gründerjahren der zweiten deutschen Republik. Dafür verantwortlich ist nicht nur der neue Stil über funktionale,
83
UDO DI FABIO
überstaatlich gespannte und für zivile Akteure geöffnete Netzwerke zu regieren, sondern auch eine Entpolitisierung der öffentlichen Meinung und eine Utilitarisierung
republikanischen Gedankenguts. Unter Utilitarisierung ist hier eine Beurteilung politischer Ereignisse aus einer konsumtiv-individualistischen Nützlichkeitsperspektive
zu verstehen, die zudem häufig affektuell aufgeladen und stark situationsabhängig ist.
2. Autorität im Prozess der Internationalisierung
Für aktuell ausgebildete Juristen ist das alles eine neue, aber durchaus vertraute
Wirklichkeit, die es möglichst geschickt zu handhaben gilt. Ihre Kunst besteht im
Jonglieren mit den Ebenen und Stimmungen, den neuen Losungen des Unbezweifelbaren. Sie ziehen advokatorisch die Karten, die zu stechen versprechen. Normatives System oder politische Einheit verbunden mit der Autorität eines Parlaments,
eines Kanzlers, eines höchsten Gerichts sind dabei im Grunde Forderungen von
Gestern.
Für die Öffentlichkeit stellt die Sache sich indes eher dar wie eine Abfolge von Hoffnungen und Enttäuschungen. Solange der prinzipiell geschlossen gedachte Nationalstaat des neunzehnten Jahrhunderts das politische Referenzmodell war, konnte
man Hoffnungen und Enttäuschungen zwischen den drei Staatsgewalten hin- und
herschieben. In diesem Spiel wechselnder Avancen liebte auch die Demokratie
Autoritäten, obwohl ihre aufklärerische Öffentlichkeit zur EntAutorität entsteht, wenn
zauberung aller Autoritäten tendierte, sich selbst allerdings ausAmt, Person, Situation
und Rezeption günstig
genommen. Autorität – vielleicht sogar charismatische – entzusammenkommen.
steht, wenn Amt, Person, Situation und Rezeption günstig
zusammenkommen, wie bei Kanzler Helmut Schmidt in der Stunde der terroristischen Bedrohung. In Frankreich ebenso wie in den USA konzentrierte sich das royale Surrogat im Präsidentenamt, während England der Monarchie repräsentativen
Glanz bewahrte, aber an der Suprematie des Parlaments nie einen Zweifel ließ. In
Deutschland, dem Land des Rechtsstaats, hatte man zunächst die Autoritätshoffnungen, die vor 1914 auf den Hohenzollern ruhten, mit einer Drift zu französischen, aber auch eigenen militärarchetypischen Vorbildern auf den Reichpräsidenten gelenkt; der – und mit ihm die Weimarer Demokratie – an diesen Hoffnungen
und an seinen begrenzten Gaben, in körperlicher, geistiger und moralischer Hinsicht, zerbrach.
Nach 1949 schaute man zunächst vielleicht gewohnheitsmäßig auf den Bundespräsidenten, nahm aber schnell dessen konstitutionelle Entmachtung wahr und wurde
Kanzlerdemokratie. Aber neben der politischen Autorität des Kanzlers, der führungsstark zu sein hatte, schob sich nach und nach auch wieder die Sehnsucht nach
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A U T O R I TAT I V E R E C H T S P R E C H U N G I N D E R G E G E N WA R T
der pouvoir neutre, jener den Staat und das Gemeinwohl verkörpernden Macht, die
über den Parteien steht. Nach der konstitutionellen Lage des Bonner Grundgesetzes
ging über Jahrzehnte viel in Richtung Karlsruhe: Die roten Roben als Symbol des
letzten Wortes, der abgewogenen Vernunft, als Wächter über eine Verfassung, die
auf Volkssouveränität ruht und Wertekompass wurde, die sich zugleich auch anbot,
Grundlage eines Patriotismus zu sein, der von Volkstümelei und machtstaatlichem
Pathos gereinigt ist.9 Es ist nicht lange her, da konnte man sogar ein Übermaß an
institutionellem Vertrauen in das höchste deutsche Gericht diagnostizieren. Übermaß deshalb, weil Gerichte als politische Heilsbringer untauglich sind, Übermaß
auch deshalb, weil dem großen Vertrauen auch in den kommunizierenden Röhren
der gewaltengeteilten Demokratie ein Misstrauen in andere Organe korrespondiert.
Eine solche in der Tendenz überspannte Erwartung konnte im europäischen Netzwerk politischer und rechtlicher Herrschaft natürlich nicht durchgehalten werden,
weil längst eine Diskrepanz entstanden war zwischen den modernen nationalstaatlichen Mustern mit ihrem Verfassungspatriotismus, dem Diktum der Volkssouveränität und jenem neuen postmodernen Politikstil eines uneindeutigen
Muddling-Through10 im Dickicht der
Sachrationalitäten mit ihren schnell
wechselnden Alternativlosigkeiten und
Verhandlungszwängen. Das moderne
Denken wirkt heute unmodern, es sucht
die schöpferische, die konzeptionelle
Mitte und pflegt insoweit die Autorität
des maßgeblichen Entscheidungsträgers. Die nicht so sehr ausgerufene, aber
allmählich einsickernde Postmoderne
dagegen will keine Mitte. Sie ist gegen
konzeptionelle Grenzen, weil sie deren
»Be-Grenztheit« fürchtet. Sie will sich
konzeptionell alles offen halten, um sich
optimale praktische Ergebnisse nicht zu
verbauen. Deutlich wurde dies in der Bücher und Gesetzestexte in einem Besprechungszimmassiven, zum Teil schrillen Kritik fast mer des Bundesverfassungsgerichts
9
Sternberger, Dolf: Verfassungspatriotismus. Frankfurt/Main 1990; Müller, Jan Werner: Verfassungspatriotismus. Berlin 2010.
10
Lindblom, Charles: »The Science Of ›Muddling Through‹.« In: Public Administration Review, 19/1959, S.
79-88.
85
UDO DI FABIO
der gesamten politischen Klasse am Lissabon-Urteil des BVerfG vom 30. Juni 200911,
die dem Gericht in seinem Beharren auf dem Prinzip der Volkssouveränität einen
rückwärtsgewandten Nationalismus, ja praktisch Rechtsbeugung vorwarf, wenn
es sich den Realitäten der funktionellen europäischen Einigung nicht unterwerfe.
Die Autorität des Verfassungsgerichts war einmal sakrosankt. Doch heute werden
Gerichte, nicht nur in Ungarn, mit der politischen Ankündigung über ihre Zukunft
informiert, dass der Gesetzgeber auch Prozessordnungen ändern und Zuständigkeiten beschneiden könne.
3. Über die Erosion der Autoritäten des Rechts
Wohin man schaut, erodieren Autoritäten des Rechts, die Vielfalt der Gerichte und
die Komplexität des Gesetzesrechts macht Systematik und Berechenbarkeit unwahrscheinlicher, lassen das Ergebnis immer öfter als Zufall oder politisches Kalkül der
Richter erscheinen. Bemerkenswert dabei ist der Umstand, dass es sich nicht einfach
um einen Effekt der Hochzonung von Macht und Autorität handelt, sondern um
einen politischen und rechtlichen Gestaltwandel.
Das passt sich ein in eine große Linie, die alle Organe des Staates erfasst und sogar
darüber hinaus die gesamte politisch-normative Organisation der Weltgesellschaft
betrifft. Die neuzeitlich so dominante Vorstellung von planvoller schöpferischer
Gestaltung der Welt gerät anscheinend zur Chimäre: Niemand weiß, was Rettungsschirme wirklich bewirken, wie Weltfinanzmärkte vernünftig zu regulieren
wären ohne überraschende Folgewirkungen. Niemand weiß, was aus der arabischen
Revolte wird und wie sich die chirurgischen Hilfeleistungen des Westens entwickeln werden. Niemand weiß, ob der Abschied von der Atomenergie und der Eintritt in die Wendezeit der Nachhaltigkeit gelingt oder sich später als große Illusion
mit unbekannten Nebenwirkungen erweist. Solche Ungewissheiten werden seltener
als zuvor auf Entscheidungen zurückgeführt, sondern mehr – übrigens der Vormoderne nicht unähnlich – als ein unentrinnbares Schicksal erlebt: Politische Führung,
die demokratisch legitimiert, rational versiert und zur verbindlichen Anordnung
autorisiert, die einen Plan fassen und konsequent umsetzen kann, verliert hier schon
im Ansatz Plausibilität.
Das Volk, von dem alle Staatsgewalt ausgeht und in dessen Namen Bundestag,
Landtage und ein Gericht wie das Bundesverfassungsgericht entscheiden, neigt wie
jeder Souverän, der seine Abenddämmerung wahrnimmt, zum ostentativen Machtspruch, der die gordischen Knoten der Netzwerke aus Politik, Wirtschaft und Recht
wenigstens einmal durchschlägt. Plebiszit verspricht Katharsis. Der Neubau eines
11
BVerfGE 123, 267.
86
A U T O R I TAT I V E R E C H T S P R E C H U N G I N D E R G E G E N WA R T
Bahnhofs in einer Landeshauptstadt erregt die Gemüter. Jahrelange Planfeststellungsverfahren, Verwaltungs- und Gerichtsverfahren sollten einmal jene »Legitimation durch Verfahren«12 schaffen, die jeden Bürger potenziell beteiligt und ihn
institutionell inkludiert, ihm dann jedoch auch Akzeptanz abnötigt, wenn mehrheitlich oder rechtsverbindlich gegen ihn entschieden wird. Aber funktioniert jene
formelle entpersönlichte Verfahrensautorität, die Niklas Luhmann 1969 diagnostizierte, auch heute noch? Selbst rechtlich gar nicht vorgesehene, medial gut vermittelte Schlichtungen, die zu Projektauflagen führen, die in einem ordentlichen Verwaltungsverfahren erst einmal implementiert werden müssten, besänftigen nicht
den Unmut.
Wer dann schließlich doch nach dem Plebiszit ruft, stößt schnell wieder auf das
Recht, jenen Wahrer des Rechtsstaats mit seinen Kompliziertheiten. Auch ein Plebiszit artikuliert sich nicht im rechtsfreien Raum. Wer Gesetzesbeschlüsse fassen
oder umstoßen, wer verbindliche Regelungen verändern will, der muss sich selbst
Regeln unterwerfen, gerät in den institutionellen Sog des formellen Rechts. Vorgeschriebene Beteiligungsquoren für Volksbegehren und Volksentscheide sichern mit
dieser Hürde die Wahl- und Entscheidungsverfahren der repräsentativen Demokratie vor den Zufälligkeiten von Aktivistenvoten, die viel weniger Abstimmungsbeteiligung auf die Waage bringen, als die Wahl. Es geht bei den formellen Hürden
für das Plebiszit auch um die Wahrung der Autorität der Wahlentscheidung, die im
Zentrum der Volksherrschaft steht. Wer heute als Regierung im Blick auf ein einzelnes Projekt die Quoren herabsetzt, sollte wissen, dass er morgen von dieser, seiner
Entscheidung eingeholt wird, wenn seine Regierungspolitik von der Opposition mit
dem Plebiszit konterkariert wird. Gegen Entscheidungen der gewählten Mehrheit
kann man manchmal eben nicht nur Gerichte oder die EU-Kommission anrufen,
sondern auch das Volk, wobei gesondert darüber nachzudenken wäre, wer denn
das Volk eigentlich ist. Sind es die Bürger einer Landeshauptstadt, die keinen neuen
Bahnhof wollen oder die Bürger des ganzen Bundeslandes oder müssten bei einem
Projekt, das maßgeblich auch vom Bund mitgetragen und in die europäische Streckenplanung eingebunden ist, nicht noch größere Einheiten befragt werden? Die
Vernetzung der europäischen Entscheidungsverfahren lässt sich weder von unten
noch von oben, etwa mit der europäischen Bürgerinitiative, so ohne weiteres und so
kathartisch wie von manchen erhofft, durchbrechen.
Autoritative Entscheidungen bleiben im Mehrebenensystem möglich, sie erzeugen
aber einen schalen Nachgeschmack, weil danach im Netzwerk wieder verhandelt
12
Luhmann, Niklas: Legitimation durch Verfahren. Frankfurt/Main 1969.
87
UDO DI FABIO
und sich untereinander abgestimmt werden muss. Im Grunde wird immer nur vorläufig und bis zum Auftreten größeren Widerstandes entschieden. Dem Gesetzgeber geht es hier nicht anders als den Gerichten: Der häufig medial vorgegebene Takt
beschleunigt sich, Rücksichtnahmen werden größer, wechselnde Lagen nehmen
ebenso zu wie Sachzwänge, fiskalische Nöte und moralisches Insistieren, wenn sich
Macht und Recht anders nicht mehr medial vermitteln lassen. Bei alldem leidet die
Konsistenz rechtlichen Entscheidens, die für manchen die eigentliche Substanz der
Gerechtigkeit ist.13
Der Ruf nach dem Plebiszit und die Kritik am repräsentativen Regieren fügt sich
nicht nur ein in die neuen Bedingungen funktional vernetzter und strukturell
gekoppelter Mechanismen von Wirtschaft, Politik und Wissenschaft.14 Beides geht
auch einher mit einer Aversion gegen institutionelle Autoritäten und der Vorliebe
für spontane, aber ephemer bleibende Autoritäten. Vieles ist emotionalisiert, legt
Wert auf authentische Darstellung in der sichtbar gemachten
Wenn immer weniger
Einheit von Person und Sache. Das Institutionelle einer parteigeBürger in Parteien arbundenen repräsentativen Demokratie, des sozialen Rechtsstaats
beiten, für kommunale
Wahlämter kandidieren,
ist abstrakt, tief und langfristig wirkend. Schnelle und sichtbare
sich in Gewerkschaften
Erfolge eines punktuellen Einsatzes, aber auch Moden mit
oder Kirchengemeinden
binden, dann schwindet
schnellen Themenwechseln findet die neue Zivilgesellschaft auf
für den maßgeblichen
anderen Wegen als in der lebenslangen Kärrnerarbeit eines SPDpolitischen Bereich Legitimation und Autorität. Ortsvereinsvorsitzenden. Die Blüte der Stiftungen, Initiativen,
spontane Hilfs- und Spendenbereitschaft sind schöne Zeichen
dafür, dass auch in der individualisierten Gesellschaft der Mensch ein soziales Wesen
bleibt: Hier übt sich zudem die bürgerliche Selbstverantwortung, eröffnet sich ein
Feld für Helden und Autoritäten des Alltags. Nur sollte dabei nicht übersehen werden, dass der Sozialstaat, die Bildung, die Wissenschaft, das Gesundheitssystem, die
Mobilität der Gesellschaft nahezu überall zu mehr als neunzig Prozent von politischen Grundsatzentscheidungen, gesetzlichen Regelungen und vor allem Finanztransfers abhängen.
Wenn immer weniger Bürger in Parteien arbeiten, für kommunale Wahlämter
kandidieren, sich in Gewerkschaften oder Kirchengemeinden in langfristiger institutioneller Perspektive binden, dann schwindet für den maßgeblichen politischen
Bereich Legitimation und Autorität.
13
14
Luhmann, Niklas: Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt/Main 1993. S. 214ff.
Manin, Bernhard: Kritik der repräsentativen Demokratie. Berlin 2007.
88
A U T O R I TAT I V E R E C H T S P R E C H U N G I N D E R G E G E N WA R T
4. Neue Herausforderungen an die Gerichte
Unter den neuen Bedingungen funktionaler Verbundsysteme und der Tendenz
zur Bevorzugung spontaner Ordnungsbildungen gegenüber langfristiger institutioneller Ausprägung erscheint Autorität wie eine Chiffre von gestern. Denn
das Netzwerk hat keinen steten zentralen Ort und kein Gesicht, das längere Zeit
Vertrauen sammeln und in Autorität verwandeln könnte. Das gilt nicht nur, aber
auch für Gerichte, auch für das Recht und seine neuzeitliche Prätention, die beide
wenigstens für Vernunft, Allgemeinheit15 und die volonté générale stehen. In seinen
inzwischen zwanzig Jahre alten Beobachtungen der Moderne hat Niklas Luhmann
bereits einen Wandel des politischen Systems diagnostiziert, den das Recht nicht
ignorieren kann.16 Er beobachtet dabei, dass die politische Theorie nicht mehr von
direkten Begriffen wie Macht, Herrschaft, Souveränität ausgehe, sondern von einer
Spiegelung der Politik in der öffentlichen Meinung und einer Interaktion zwischen
Regierung und Beobachtung in den Medien, die immer stärker das Zentrum der
Politik zu sein scheinen. In der politischen Praxis würde Autorität ersetzt durch
eine Politik der Verständigung: Man arbeitet mit ausgehandelten Provisorien, die
eine Zeit lang halten. Es geht nicht darum, ob solche Provisorien vernünftig, richtig, rechtmäßig oder dauerhaft sind. Sie geben für den Augenblick Orientierungen.
Es wäre sehr leicht, hier Beispiele aus dem noch nicht abgeschlossenen Kapitel der
Euro-Rettungsaktionen zu liefern. Stattdessen möchte ich das Autoritätsproblem
der Gerichte mit einem anderen Beispiel illustrieren, um zu zeigen, dass die These
von einer »Hypermodernisierung« richtig zu sein scheint.
Eine Zeit lang hat die öffentliche Meinung die zunehmende Verflechtung der Politik für ein Grundübel der Demokratie gehalten. Der Bürger könne nicht mehr klar
Ursache und Wirkung zurechnen, wenn die Ebenen vermischt agierten, könne seine
Wahlentscheidung nicht mehr rational und responsiv treffen. Die Entflechtung der
Ebenen wurde deshalb zeitweise zum großen Thema und übte so viel Druck aus,
dass schließlich eine Verfassungsänderung zwischen Bund und Ländern in der
sogenannten Föderalismusreform I vereinbart wurde.17 Das führte dazu, dass der
Bund ein ganzes Stück weit seinen goldenen Zügel verlor, mit dem er vorher beim
Hochschulbau, bei der Hochschulrahmengesetzgebung oder bei der Schulpolitik
Einfluss auf die Kompetenzausübung der Länder genommen hatte. Heute tendiert
die öffentliche Meinung zum glatten Gegenteil dieser Einschätzung und hält die
strengere Trennung der Ebenen für sachlichen Unfug. Das Problem für ein Gericht
15
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes. Bamberg/Würzburg 1807. Kapitel V. C. b.
Luhmann, Niklas: Beobachtungen der Moderne. Opladen 1992. S. 121f.
17
52. Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 28.8.2006, BGBl I 2034.
16
89
UDO DI FABIO
wie das Bundesverfassungsgericht wird sein, dass es in Zukunft die geänderte Verfassung als Maßstab nehmen muss mit ihrer Verstetigung einer ephemeren Meinung
der Vergangenheit und womöglich dann für seine Uneinsichtigkeit gescholten wird,
weil die strikte Trennung der Ebenen ein normativer Anachronismus sei. Die rasche
Reaktion der Tagespolitik auf öffentliche Stimmungen schlägt sich also legislativ
nieder und kann von Gerichten, die sich weiter an Gesetz und Recht gebunden fühlen, nicht einfach ignoriert und der geltende Verfassungstext durch neue tagespolitische Einsichten ersetzt werden.
Wir sehen also, die Autorität der Gerichte ist nicht verschwunden, neue Mitspieler
sind hinzugetreten, aber Gerichtsbarkeit insgesamt wird durch das Bedürfnis nach
unmittelbar wirksamer Entscheidung und der Tendenz zur Situationsadäquanz
politischen Handelns geschwächt, zumal die öffentliche Meinung Gerichte ebenfalls
am Maßstab des gerade für vernünftig Gehaltenen misst.
Im selben Augenblick versuchen viele zugleich die Postmodernität des nicht mehr
so sehr autoritativ entscheidenden, sondern verhandelnden politischen Systems
durch eine Stärkung der Autorität der Gerichte gerade in Wertefragen zu kompensieren. Die verlorene Einheit der Gesellschaft soll in der autoritativen Verkündung letzter Werte, etwa der Würde des Menschen, noch einmal hergestellt werden.
Die Verkündung einer zivilgesellschaftlichen Ethik und die Formulierung immer
neuer sozio-kultureller Mindeststandards würde aber Gerichte und das Recht auf
ein falsches Feld locken, zu einer gefährlichen Moralisierung und Politisierung des
Rechtssystems führen. Denn die eigentliche Autorität der Gerichte und des Rechtsstaates liegt in ihrem Eigensinn, methodisch das politisch vorentschiedene Gesetz
auf den Einzelfall anzuwenden und die Folgen dafür in die Verantwortungssphäre
des politischen Systems zu lozieren. Das klingt verantwortungsscheu, ist aber genau
das, was Demokratie und Gewaltenteilung von Gerichten verlangen und was die
Substanz ihrer Autorität ausmacht.
90
Die Autorität des Deutschen Bundestags im
Spannungsfeld zwischen europäischen Vorgaben und gesellschaftlichen Anforderungen
V O N S T E FA N R U P P E R T
1. Einleitung
Das Wort Autorität schillert in der Postmoderne. Die Nähe zum Autoritären beschädigt seine Autorität für meinen Hörer. Wohlwollender ist Friedrich Kluges etymologisches Wörterbuch, das als Synonyme die Worte »Ansehen« aber auch »Glaubwürdigkeit nennt.1 Immer wieder wechselt die Zuschreibung von Autorität. Auf
der einen Seite steht das eher personale Element: Einzelne, meist mit besonderer
Stellung, sozialem Status oder persönlicher Weisheit versehene Menschen genießen
Autorität. Auf der anderen Seite steht immer wieder die Autorität von Institutionen.
Deren Autorität wiederum speist sich aus sozialer Akzeptanz, besonderer Legitimation und nicht zuletzt aus dem Ansehen der Personen, die für die Institution stehen.
Letzteres klingt etwa bei der Gauck- bzw. Birthler- oder Jahnbehörde mit. Die Riester-Rente oder die Hartz IV-Gesetzgebung stellte einen zumindest im zweiten Fall
missglückten Versuch dar, die Autorität der Person für die Normakzeptanz nutzbar
zu machen. Dem Rechtshistoriker ist die etwas vergessene römisch-rechtliche Bedeutung bis in viele Kodifikationen des neunzehnten Jahrhunderts geläufig: Autorität
steht danach für die Garantie, die ein Verkäufer dafür gibt, dass der gekaufte Gegenstand von einer außenstehenden Person wie dem Eigentümer heraus verlangt wird.2
Für den Kontext dieser Tagung ist aber eine etwas andere Verwendung des Begriffs
der Autorität, der auctoritas von besonderer Bedeutung. Auch sie stammt aus dem
antiken Rom. Die Rechte des römischen Senats, Volksbeschlüsse zu bestätigen und
den Magistrat zu beraten, wurden mit dem Begriff der auctoritas bezeichnet. Teilweise wurde das Wort deshalb auch zum Synonym für die Institution des Senats
1
2
Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der Deutschen Sprache. Berlin 1995. S. 69.
Vgl. Rabe, Horst: »Art. Autorität.« In: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 1. Stuttgart
1972. S. 382-406, hier S. 382.
91
STEFAN RUPPERT
selbst. Auch hier ist ihm ein personales Element eigen, beruhte doch die Autorität
des Senats wesentlich auf der Herkunft und den Fähigkeiten seiner Mitglieder.3 Der
direkte Übergang vom römischen Senat zum Deutschen Bundestag, als dessen Mitglied ich heute dessen Autorität beleuchte, ist zugegeben etwas bemüht.
Der Deutsche Bundestag konkurriert, wenn es um Anerkennung geht, qua Verfassungsrecht mit anderen institutionellen Autoritäten in Deutschland. Als Teil der
Legislative schneidet das deutsche Parlament in seiner Wahrnehmung als Autorität im Vergleich zu anderen Organen der Judikative und Exekutive leider oftmals
schlechter ab. Diese Skepsis hat eine immer wieder angeführte deutsche Tradition,
die mit der Bezeichnung von der »Schwatzbude«, aber auch mit theoretischen
Konzeptionen der Staatsrechtslehre des neunzehnten Jahrhunderts verbunden ist.
In der Staatsrechtslehre des Positivismus, etwa bei Paul Laband, stand der einheitliche staatliche Wille im Zentrum. Dieser wurde wesentlich vom Monarchen mit
Hilfe seines bürokratischen Apparats gebildet. Für die Bildung dieses einheitlichen
Willens sollte das Parlament lediglich eine Art »rechtsstaatliche« Beschränkung«
gewährleisten.4 In diesem Verständnis wird das Parlament also gerade zur autoritätszerstörenden Institution. Konservativeren Staatsrechtslehrern wie Otto Mejer
oder Karl Rieker erschien der Reichstag des Kaiserreichs als ausgleichende Institution zwischen Staat und Gesellschaft oder abwertender als Vertretung wirtschaftlicher und sozialer Sonderinteressen gegenüber dem monarchischen Staat.5 Auch
hier wird staatliche Autorität eher beschränkt als erzeugt. Auf die Weimarer Staatsrechtslehre mit ihrer durchaus präsenten Skepsis gegenüber dem Parlamentarismus
und das Versagen in der deutschen Parlamentsgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts will ich hier nur kurz hinweisen.
Der Deutsche Bundestag bezieht seine Autorität zunächst aus dem Grundgesetz.
Seine Autorität beruht gerade auf der gelungenen Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative. Dieses weitgehend statische
Das reale Ansehen des
Element, das auf Normativität beruht, verleiht der Autorität des
Deutschen Bundestags
ist historischen KonParlaments aber noch keine Ewigkeitsgarantie. Vielmehr ist das
junkturen unterworfen.
reale Ansehen des Deutschen Bundestags historischen Konjunkturen unterworfen. Das hat Gründe. Zum einen ist die Wahrnehmung des Bundestags innerhalb der deutschen Bevölkerung interessant. Der Frage, ob das deutsche
Parlament als Autorität wahrgenommen wird, kann man sich über Umfragewerte
3
Vgl. Rabe: Autorität. S. 383.
Vgl. Schönberger, Christoph: Das Parlament im Anstaltsstaat. Zur Theorie parlamentarischer Repräsentation in der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs (1871-1918). Frankfurt am Main 1997. S. 405.
5
Vgl. Schönberger: Parlament im Anstaltsstaat. S. 318, S. 321ff.
4
92
D I E A U T O R I TÄT D E S D E U T S C H E N B U N D E S TA G S
nähern. Die geäußerte und veröffentlichte Meinung ergibt aktuell ein wenig schmeichelhaftes Bild. Zu dessen Ergänzung muss aber unbedingt die Wahlbeteiligung mit
herangezogen werden. Denn Wahlen sind der eigentliche Indikator für die Legitimität einer Institution. Sie spiegeln das Vertrauen der Wähler in die Institution
wider und bringen somit die wahrgenommene Autorität des Bundestags zum Ausdruck. Offensichtlich hat sich der traditionell von der Bevölkerung gewährte Vertrauensbonus für den Deutschen Bundestag im Laufe der Jahre abgeschwächt. Der
reine Wahlakt der repräsentativen Demokratie mit seinem recht pauschalen Auftrag, vier Jahre Gesetze zu erlassen und die Regierung zu kontrollieren, scheint entwertet gegenüber Formen der direkten Demokratie, der Teilnahme vor Ort, des
Betroffenseins im doppelten Sinne. Als Anhänger der repräsentativen Demokratie
bin ich der Auffassung, dass das deutsche Parlament um seine Autorität kämpfen
muss, dies aber durch Stärkung, nicht durch Entmachtung. Dem will ich mich
zunächst widmen.
In einer zweiten Betrachtung geht es um das Verhältnis der Institutionen untereinander. Neben dem Verhältnis von Bundestag und Wahlvolk ist ferner bedeutsam
wie Judikative, Exekutive und Legislative sich gegenseitig als Autoritäten wahrnehmen und verstehen. Dieses institutionelle Arrangement ist durch die europäische
Integration nachhaltig in Bewegung gekommen. Die bekannten und gut angesehenen Institutionen geraten unter Autoritätskonkurrenzdruck. Das Bauwerk der
Verfassung zeigt bemerkenswerte Flexibilität bei dieser Integration ins deutsche
Verfassungsleben. Gleichwohl ächzt und knarrt es laut im Gebälk der Verfassungsautorität. Konkret werde ich ein paar Bemerkungen zum Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts machen.6 Hier wird deutlich, welche Autorität dem Deutschen Bundestag im weiteren europäischen Integrationsprozess zukommen sollte
und wie er seine Autorität gegenüber der Exekutive und europäischen Institutionen
stärken kann.
2. Institutionelle Autorität des Bundestags aus Sicht der
Bevölkerung
2.1 Umfragen als Indikator für wahrgenommene Autorität
In einer Zeit, in der Politik stark personalisiert wird, sind Umfragen über die Glaubwürdigkeit und Beliebtheit von Politikern omnipräsent. Wöchentlich werden Ranglisten von deutschen Politikern aufgestellt und medial ausgiebig ausgewertet. Meist
geben diese Ranglisten Stimmungsrückkopplungen zum tagespolitischen Geschehen wieder. Weniger häufig zu finden sind hingegen Befragungen zum grund6
BVerfG, 2 BvE 2/08.
93
STEFAN RUPPERT
sätzlichen Vertrauen der Bevölkerung in die Institutionen unseres demokratischen
Rechtsstaates.7 Die Ergebnisse einiger dieser Erhebungen ergeben historisch gesehen
ein teils sehr widersprüchliches Bild. Dies ist einerseits durch unterschiedliche Auffassungen von Vertrauen zu erklären. Andererseits sind die Spannungen zwischen
den Erwartungen der Bevölkerung an die entsprechenden Institutionen und der
faktischen Wahrnehmung der Autorität ein weiterer Faktor. Auch mediale Politikvermittlung sowie symbolische Selbstdarstellung der Organe verursachen teils
Widersprüche und Variationen in den Untersuchungen. Dennoch lassen sich über
einen längeren Zeitraum zwei generelle Trends erkennen:
Erstens liegt der Bundestag als verfassungsrechtliche Institution im Vertrauen der
Bevölkerung auf einem mittleren Rang. Andere Institutionen wie das Bundesverfassungsgericht oder auch Exekutivorgane wie Bundeswehr und Polizei genießen
meist höheres Vertrauen als der Bundestag. Auf der anderen Seite schneidet die Bundesregierung in Vertrauensfragen oftmals schlechter ab als das Parlament, ganz zu
schweigen von politischen Parteien als verfassungsrechtlich garantierte Institutionen.
Zweitens hat das Vertrauen in den Bundestag seit Gründung der Bundesrepublik tendenziell abgenommen. Sprachen in den 1980ern und Anfang der 1990er Jahre noch
bis zu drei Viertel der Bevölkerung dem Bundestag als Institution ihr Vertrauen
aus, gingen diese Zustimmungswerte danach auf teilweise deutlich unter fünfzig
Prozent zurück.8 Leichte Erholungen sind jedoch in der jüngeren Vergangenheit
zu beobachten.9 Dennoch ist der Gegensatz zum Vertrauens-Primus der Deutschen,
dem Bundesverfassungsgericht, erkennbar. Das höchste deutsche Gericht musste
zwar ebenso einen geringfügigen Vertrauensverlust verzeichnen, drei Viertel der
Bevölkerung vertrauen der Institution aber nach wie vor.10
Sicherlich sind die Startbedingungen für das Erreichen von Autorität zwischen
Bundestag und Bundesverfassungsgericht in einer deutlich entpolitisierten Öffentlichkeit nicht vergleichbar. Der Bundestag übt konkrete gesetzgeberische Gestal-
7
Vgl. u.a. Kunze, Dirk: Die Rezeption parlamentarischer Symbolik in der Bevölkerung. Eine qualitative Studie zur Wahrnehmung des Deutschen Bundestages. Norderstedt 2008. S. 13-20; Patzelt, Werner J.: »Warum
verachten die Deutschen ihr Parlament und lieben ihr Verfassungsgericht? Ergebnisse einer vergleichenden
demoskopischen Studie.« In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 3/2005, S. 517-538; Schindler, Peter: Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1949 bis 1999. Berlin 1999, S. 3462-3541; Schüttemeyer,
Suzanne S.: Bundestag und Bürger im Spiegel der Demoskopie. Opladen 1986.
8
Vgl. Schindler: Datenhandbuch zur Geschichte. S. 3534. Infratest Dimap: Vertrauen der Bürger in die Politik
gestiegen. URL: http://www.infratest-dimap.de/service/presse/aktuell/vertrauen-der-buerger-in-die-politikgestiegen/ (02.05.2011).
9
Vgl. ebd.
10
Vgl. ebd.
94
D I E A U T O R I TÄT D E S D E U T S C H E N B U N D E S TA G S
tungsmacht aus und muss dabei häufig in sehr manifesten Interessenkonflikten entscheiden, die in Teilen der Gesellschaft auf Ablehnung stoßen. Demgegenüber steht
die allgemeine Deutungshoheit des Bundesverfassungsgerichts, dessen Entscheidungen meist grundsätzliche verfassungsrechtliche Werte
Der Bundestag begeht
betreffen und dabei auf den gesellschaftlichen Konsens abzie- einen Fehler, wenn er
len.11 In der Mediendemokratie erscheint mir aber zudem eine sich Autorität aus dem
merkwürdige Spannung zwischen Öffentlichkeit und Arkanbe- Imitieren Karlsruhes erhofft. Seine Stärke muss
reich zu bestehen. Das Urteil aus Karlsruhe ist scheinbar endgül- der Kern der hochpolitig, sein Zustandekommen unterliegt dem Beratungsgeheimnis. tischen Debatte und der
Kontrolle der Regierung
Die hochkomplexe Organisation des Bundestags und seiner bleiben.
Ausschüsse tagt richtigerweise weitgehend öffentlich. Die Vermittlung der Entscheidungswege ist gleichwohl undurchschaubar und wegen des
Massengeschäfts auch weitgehend untauglich für die mediale Vermittlung.
Die vielen weisen Entscheidungen des Gerichts können das gesetzgeberische
Suchen und Finden von teils stark politisierenden, manchmal unpopulären und
nicht immer einfachen Lösungen für gesellschaftliche Probleme nicht kompensieren. Allein wegen dieser unterschiedlichen Rollenverteilung wird der autoritative
Glanz des höchsten deutschen Gerichts gemessen am Vertrauen der Bevölkerung
auch zukünftig kaum vergehen. Der Bundestag beginge aber einen Fehler, wenn er
sich Autorität aus dem Imitieren Karlsruhes erhoffte – seine Stärke muss der Kern
der hochpolitischen Debatte und der Kontrolle der Regierung bleiben.
2.2 Wahlbeteiligung als Indikator der wahrgenommenen Autorität
Als zweiter Indikator soll an dieser Stelle kurz auf die Wahlbeteiligung zum Deutschen Bundestag eingegangen werden. Die direkten Wahlen bringen der zu wählenden Institution Vertrauen. Wahlen sind damit gleichsam ein Gradmesser für die
Legitimität und Autorität der betreffenden Institution, gerade in am input orientierten, demokratischen Systemen. Beurteilt man anhand der Wahlbeteiligung die
Autorität des Bundestags, so zeigt sich ein positiveres Bild im Vergleich zum vorherigen Befund: Die Beteiligung der Bevölkerung bei den Wahlen zum Bundestag
ist mit Ausnahme der letzten Wahl 2009 (70,8 Prozent) relativ konstant im hohen
Bereich zwischen rund 78 und 91 Prozent geblieben, freilich mit einem leichten
Absinken nach der Wiedervereinigung.12 Damit liegt der Bundestag im internationalen Vergleich der Wahlbeteiligung immer noch im oberen Drittel.13
11
Vgl. Patzelt: Warum verachten. S. 536f.
Vgl. Zahlen des Bundeswahlleiters. URL: http://www.bundeswahlleiter.de (02.05.2011).
13
Vgl. Daten des International Institute for Democracy and Electoral Assistance. URL: http://www.idea.int/
(02.05.2011).
12
95
STEFAN RUPPERT
Vor allem lohnt aber ein Blick auf innerdeutsche Landtags- und Kommunalwahlen
sowie die Wahlbeteiligung zum Europäischen Parlament. Im Vergleich zu anderen Organen war die Beteiligung bei den bundesdeutschen Wahlen stets höher.14
Gravierend ist der Unterschied zum EU-Parlament: Die Wahlbeteiligung bei der
Europawahl in Deutschland hat seit 1979 (65,7 Prozent) auf einem im Vergleich
zur Bundestagswahl niedrigeren Niveau noch weiter abgenommen (2009: 43,3 Prozent). Dies mag einer generellen Skepsis gegenüber dem politischen System der EU
geschuldet sein. Die große Differenz ist mit Sicherheit auch Ausdruck einer unterschiedlichen autoritativen Wahrnehmung des Bundestags und des EU-Parlaments.
In der Summe korrigiert der Indikator Wahlbeteiligung demnach das Bild vom
Autoritätsverlust des Bundestags etwas, das sich aus den Umfragen zum Vertrauen
gegenüber der Institution ergibt.
Sitzung des Europaparlaments in Straßburg
3. Institutionelle Autorität des Bundestags im Spiegel des LissabonUrteils des Bundesverfassungsgerichts
Das Verhältnis zwischen Legislative und Judikative ist nicht nur vor dem Hintergrund der oben skizzierten Vertrauensfrage interessant. Im Folgenden werde ich
das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts als Fallbeispiel verwenden, um
deutlich zu machen, dass der Bundestag zur Wahrung seiner Autorität im europäischen Integrationsprozess einmal mehr eines Hinweises aus Karlsruhe bedurfte.
Während in der frühen Phase des europäischen Einigungsprozesses die nationalen
Parlamente eher marginale Mitspieler im Entscheidungsprozess waren, traten sie
mit der Verdichtung zur politischen Union, also mit dem Schritt von der EG zur
EU, immer stärker auf die europäische Bühne. Ein großer Schritt für die Beteili14
Vgl. Zahlen des Bundeswahlleiters.
96
D I E A U T O R I TÄT D E S D E U T S C H E N B U N D E S TA G S
gungsrechte der nationalen Parlamente vollzog sich mit der Einigung auf den Vertrag von Lissabon, der den nationalen Gesetzgebungsorganen teils weitreichende
Befugnisse einräumte.15
Die Bundesländer haben in diesem Prozess über den Bundesrat massiv auf ihren Einfluss auf die europäische Integration bestanden.16 Im Gegensatz dazu war das europapolitische Selbstbewusstsein des Bundestags weniger stark ausgeprägt. Vielmehr
war ein Anstoß durch das oberste Verfassungsgericht im Zuge des Lissabon-Urteils
notwendig. In seiner Entscheidung hob Karlsruhe bekanntlich eine fortwährende
Integrationsverantwortung des Bundestags im europäischen Einigungsprozess
hervor.17 Das Bundesverfassungsgericht knüpfte die Ratifizierung des LissabonVertrags an den Erlass eines Gesetzes, in welchem sich die konkret ausgestalteten
Instrumente und Mitwirkungsrechte des Bundestags niederschlagen sollten.
Diese Konkretisierung der Rolle des Bundestags im europäischen Mehrebenensystem durch das Karlsruher Urteil ist ein bemerkenswerter Vorgang. Der Richterspruch des Bundesverfassungsgerichts hat jedoch unmissverständlich deutlich
gemacht, dass Karlsruhe den Bundestag im europäischen Integrationsprozess sehr
wohl als Autorität ansieht und ihn deutlich anmahnt, dieser Rolle auch zukünftig
zu entsprechen. Im Urteil ist diese Perspektive nicht schwer auszumachen. Das Lissabon-Urteil deshalb pauschal als integrationsfeindlich zu bezeichnen, halte ich für
falsch. Die richterliche Entscheidung bietet nicht nur für die Stellung der nationalen
Parlamente wie dem Bundestag erhebliche Chancen, sondern durchaus auch für den
weiteren Verlauf des Projekts Europa.
Die Stärkung der Rolle des Bundestags durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat den autoritativen Vorsprung der Bundesregierung gegenüber dem
Parlament im Integrationsprozess etwas abgemildert. Nivellieren konnte sie ihn logischerweise nicht. Als Konsequenz daraus nehmen Parlamentarier und Vertreter der
Bundesregierung ihre unterschiedliche Rollenfunktion in europapolitischen Fragen
zunehmend ernster. Es erwächst auch unter Angehörigen der gleichen Partei und
Fraktion eine freundschaftliche Differenz zwischen Exekutive und Legislative. Die
parlamentarische Kontrollfunktion der Regierung kann auch in Fragen der europäischen Integration ausgeübt werden. Diese Stärkung ist aber auch dringend not15
Vgl. Denkinger, Miriam: Die Mitwirkungsrechte des Deutschen Bundestages nach dem Vertrag von Lissabon. Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages. Berlin 2010.
16
Vgl. Schorkopf, Frank: »Artikel 23 GG.« In: Dolzer, Rudolf/Graßhof, Karin/Kahl, Wolfgang/Waldhoff,
Christian (Hg.): Bonner Kommentar zum Grundgesetz. Bonn 2011. Rdnr. 2ff.
17
Vgl. Schorkopf: Artikel 23. Rdnr. 130.
97
STEFAN RUPPERT
wendig, da der bestehende Vorsprung der Exekutiven an Mitwirkungsrechten und
Autorität im Integrationsprozess durch einen weiteren Faktor begünstigt wird: dem
zunehmend informellen Handeln auf europäischer Ebene. Dieses entzieht sich nicht
selten der Kontrolle des Bundestags. Beispielhaft sei an dieser Stelle an eine Äußerung
des Bundesfinanzministers erinnert, der vor einiger Zeit in einem Zeitungsinterview
verkündete, die informell favorisierten Eurobonds seien im Moment im Bundestag
nicht durchsetzbar, das bedürfe noch einiger Monate.18 Diese Aussage steht, bei aller
Vorsicht, durchaus auch sinnbildlich für die autoritative Selbstwahrnehmung von Teilen der Exekutive gegenüber der Legislative. Der Deutsche Bundestag wird solchen
Tendenzen selbstbewusst entgegentreten müssen, um im europäischen Mehrebenensystem den durch Lissabon gewonnenen Einfluss und die gewonnene Autorität nicht
leichtfertig zu verspielen. Die Signale diesbezüglich in der täglichen Parlamentsarbeit
sind noch leise aber ermutigend. Als zuständiger Berichterstatter bearbeite ich zurzeit
den ersten Evaluationsbericht, der sich mit der Beteiligung des Deutschen Bundestags
befasst. Subsidiaritätsrüge und -klage müssen als Instrumente neben anderen deutlich
ausgebaut werden. Auch die Kooperation der nationalen Parlamente ist zu stärken,
Fristen für parlamentarische Mitwirkung sind zu verlängern, weil sonst gegenüber
der beweglicheren Exekutive aus Zeitmangel kein Veto eingelegt werden kann. Das
Haushaltsrecht ist hoch zu halten, auch bei der Rettung des Euro. Wer solche Bausteine staatlicher Autorität zerstört, begeht einen großen Fehler.
Ich sehe in der Stärkung der nationalen Parlamente im europäischen Integrationsprozess eine Chance für Europa. Nur wenn Institutionen mit Autorität wie die nationalen Parlamente und die Verfassungsgerichte bewahrt bleiben, wird die Integration gelingen. Dem europäischen Wahlrecht fehlt es nach wie vor an Legitimität,
die auch nicht durch Elemente direkter Demokratie wie die europäische Bürgerinitiative behoben werden kann. Als Rechtshistoriker, der ich die langen Zeiträume
betrachte, wird es mir manchmal angesichts der erwarteten Integrationsgeschwindigkeit schwindelig. Ich sage dies als überzeugter Europäer, dem daran gelegen ist,
dass die großartige Idee Europas nicht im Sog schwindender Autorität seiner Institutionen untergeht.
4. Autoritative Anpassungsbemühungen des Deutschen Bundestags
Ein letztes Schlaglicht widme ich der Parlamentsreform, auf der Hoffnungen für
die Stärkung parlamentarischer Autorität ruhen. Während sich die Bereitschaft zur
Wahrung der Integrationsverantwortung des Bundestags in europäischen Angele18
Siehe Interview mit Bundesfinanzminister Schäuble in der Financial Times: »Financial markets do
not understand the euro.« URL: http://www.ft.com/cms/s/0/4f522e88-0098-11e0-aa29-00144feab49a.
html#axzz1TxBcWpDk (05.12.2010)
98
D I E A U T O R I TÄT D E S D E U T S C H E N B U N D E S TA G S
genheiten erst zaghaft zu entwickeln beginnt, ist man in Bezug auf das hiesige Autoritätsverhältnis schon etwas weiter. Fraktionsübergreifend hat sich die Erkenntnis
durchgesetzt, dass sich die Autorität des Parlaments im politischen System der
Bundesrepublik seit 1949 abgeschwächt hat. Abgeordnete müssen in die Lage versetzt werden, eine Kontrollfunktion auszuüben. Parlamentarische Abläufe müssen
entschlackt werden. Das verfassungsrechtlich legitimierte Zentrum der Repräsentativdemokratie beginnt sich mit neuen und erstarkten Autoritäten in Politik und
Gesellschaft zu messen. Und dies nicht erst seit den Protestbewegungen gegen Stuttgart 21 und das Energiekonzept der Bundesregierung. Ausdruck dieses Prozesses
sind eine Reihe von Anpassungsbemühungen und Reformbestrebungen der Parlamentarier, die darauf abzielen, die Autorität des Bundestags zu stärken. Wie das
Lissabon-Urteil den Bundestag gestärkt hat, muss der Bundestag seine Verantwortung selbstbewusster wahrnehmen. Die Ideen zu einer Parlamentsreform betreffen
notwendigerweise das Verhältnis zur Exekutiven. Bundestagspräsident Norbert
Lammert hat schon zur Zeit seines Amtsbeginns im Jahre 2005 einen Satz gesagt,
der sinnbildlich für diese Reformvorhaben steht: »Das Parlament ist […] nicht das
Vollzugsorgan der Regierung, sondern ihr Auftraggeber.«19 Einige dieser grundsätzlich begrüßenswerten Reformbemühungen will ich kurz benennen:
Erstens sollen gesamtgesellschaftlich bedeutsame Gesetzgebungsvorhaben in
Zukunft gründlicher im Parlament beraten werden. Hierzu muss der Bundestag
auch größeres Selbstbewusstsein gegenüber den Zeitplänen der Bundesregierung
zeigen. Ein Durchpeitschen des Gesetzgebungsprozesses, das in der Vergangenheit
nicht selten zu beobachten war, fördert sicher nicht die institutionelle Autorität des
Parlaments.
Zweitens sollen ebenso einige vielleicht liebgewonnene, aber wenig wirkungsvolle
Elemente des parlamentarischen Geschäfts überdacht werden. Die Befragung der
Bundesregierung ist beispielsweise in ihrer derzeitigen Form
Nicht unnötiger Streit,
wenig substanzvoll. Abgeordnete versuchen vermeintlich findige aber hochpolitische
Fragen zu stellen, die die parlamentarischen Staatssekretäre dann Debatten sind Stärke
geschickt zu umgehen versuchen. Eine echte Regierungsbefra- und Autorität des Parlaments.
gung nach britischem Vorbild wäre hier eine denkbare Alternative, die auch die Autorität des Bundestags gegenüber der Bundesregierung stärken
könnte. Wenn Parlamentarier ihre ureigene Funktion der politischen Debatte nicht
leidenschaftlicher ausüben, wird die Autorität weiter sinken. Nicht unnötiger Streit,
19
Hildebrandt, Tina/Schmidt, Thomas E. (2005): Interview mit Norbert Lammert. In: Zeit Online. URL:
http://www.zeit.de/2005/43/InterviewLammert (02.05.2011).
99
STEFAN RUPPERT
aber hochpolitische Debatten sind Stärke und Autorität des Parlaments. Das schließt
den oft negativ bewerteten politischen Kompromiss ausdrücklich ein. Meines Erachtens tritt in manchen Verfassungsgerichtsurteilen gerade der jüngsten Zeit ein fehlendes Verständnis vom politischen Prozess zutage. Der politische Kompromiss ist
nicht mit juristischer Dogmatik vergleichbar. Interessengegensätze sind nicht immer
logisch auflösbar. Sie führen zu Widersprüchlichkeiten und vorläufigen Lösungen,
die bald wieder revidiert werden können.
Drittens würden die beiden ersten Schritte auch durch eine Verlängerung der Legislaturperiode auf fünf Jahre positiv begleitet. Ein solcher Reformweg würde das
Demokratieprinzip nicht beschneiden. Vielmehr könnte die Arbeit der Parlamentarier von der längeren Amtszeit profitieren und damit auch die Autorität des gesamten Hauses erhöht werden.
Parallel zu diesen Überlegungen über eine Parlamentsreform muss der Bundestag
ebenso seine Autorität im Verhältnis zur Bürgergesellschaft verbessern. Dies lässt
sich am ehesten erreichen, wenn der Bundestag das Agenda-Setting für ein Mehr
an Bürgerbeteiligung öffnet. Beispielsweise sollen Petitionen, die innerhalb von
zwei Monaten über einhunderttausend Unterstützer finden, in Zukunft in einer Art
»Bürgerstunde« im Bundestag und den betroffenen Ausschüssen beraten werden.
Setzt sich das Parlament zukünftig mit den Massenpetitionen stärker als bisher auseinander, kann so sicher vermeintlich verloren gegangenes Vertrauen der Bürger in
die parlamentarische Institution zurückgewonnen werden. Des Weiteren können
sich Bürger durch die Nutzung neuer Medien wie dem Internet an parlamentarischen Diskussionen aktiv beteiligen. Das große Interesse an der Begleitung der
sogenannten Internet-Enquete verdeutlicht, dass das Parlament einen guten Weg
gegangen ist. Diese beiden Maßnahmen belegen exemplarisch nur erste Schritte
einer Öffnung; das Ziel der Stärkung der Bürgerbeteiligung bleibt ein langfristiges
Anliegen.
5. Fazit
Der Deutsche Bundestag hat als Institution in der Vergangenheit an Autorität verloren. Dieser Befund ergibt sich aus der durch Umfragen ermittelten Wahrnehmung
der Bevölkerung, auch wenn die nach wie vor hohe gesellschaftliche Partizipation
bei Wahlen zum Bundestag dieses Bild leicht korrigiert. Das Fallbeispiel des Lissabon-Urteils hat gezeigt, dass es ein Konkurrent des Parlaments in der Frage der
Anerkennung als Autorität war, nämlich das Bundesverfassungsgericht, der den
Bundestag zu einer stärkeren Wahrnehmung seiner Gestaltungsverantwortung im
europäischen Integrationsprozess angehalten hat. In diesem Feld hat der Anstoß
100
D I E A U T O R I TÄT D E S D E U T S C H E N B U N D E S TA G S
Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Bundestagssitzung in Berlin
101
aus Karlsruhe auch den autoritativen Vorsprung der Bundesregierung gegenüber
dem Bundestag, der sich aus den besseren Mitwirkungsmöglichkeiten im europäischen Mehrebenensystem ergibt, teilweise abgemildert. Im Wettstreit mit anderen
autoritativen Konkurrenten in der deutschen Gesellschaft haben die Mitglieder der
obersten Volksvertretung den Verlust an Vertrauen und Legitimität wahrgenommen. Deshalb ist eine partielle Öffnung der Prozesse des Agenda-Settings und der
Gesetzgebung zu beobachten, die den Vertrauensverlust der Gesellschaft gegenüber
dem Bundestag wettzumachen versucht. Im Zuge einer zukünftigen Parlamentsreform gilt es auch, die Autorität der Legislative gegenüber der Exekutive zu stärken.
IV. Medien-Autoritäten: von
Gutenberg bis Wikileaks
Neue Medien als Chance zur Demokratisierung
VON PETER VOSS
1. Vom schnellen Aufstieg zum rasanten Abstieg
Als ich mich erstmals mit dem mir gestellten Thema beschäftigte, bekam ich
zunächst einen leichten Schreck. Nicht wegen des Begriffs der Autorität, nicht
wegen Wikileaks (obwohl ich ein sehr zurückhaltender Nutzer des Netzes bin), sondern weil ich statt Gutenberg zunächst Guttenberg gelesen und gedacht habe: Auch
das noch, wieder einmal dieses Guttenberg-Bashing.
Mir ist dann aufgefallen, dass Herr zu Guttenberg für die Frage, was Medien mit der
Autorität machen oder wie es Autoritäten in den Medien ergeht, natürlich ein vorzügliches Beispiel wäre. Einerseits kann man die Frage stellen: Wer und was hat ihn
gemacht? Waren es die Medien? Andererseits: Wer und was hat ihn gestürzt? Waren
es die Medien? War es die politische Klasse? War es das Publikum, das Volk? Oder
war er es selbst? Ich denke, die Wahrheit ist, dass ein bisschen von allem stimmt.
Karl Theodor zu Guttenberg zeigte Eigenschaften, die weitgehend das abdecken,
was wir unter Charisma verstehen, auch die viel zitierte Sehnsucht nach dem Überpolitischen. Er wollte anders sein und wurde anders wahrgenommen als der »Normalfall« des Politikers, der heute gern in die Nähe des Mauschlers, des Winkeladvokaten gerückt wird. Dazu gehörte natürlich auch die Herkunft aus einem Adelshaus
– und auch die Gattin stammt aus der Familie von Bismarck. Anscheinend gibt es
eine tiefe Adelssehnsucht in Deutschland.
Dann wirkte das – nach den heutigen Maßstäben junger Leute – gute Aussehen,
auch die geschliffene Rhetorik; Herr zu Guttenberg war in der Lage, spontan komplexe Gedanken druckreif auszudrücken. Auch ein gewisser Schneid wurde ihm
zugebilligt. Man kannte seine Chuzpe, Dinge scheinbar offener anzusprechen als
andere, zum Beispiel die Frage nach dem Krieg in Afghanistan oder nach der Problematik staatlicher Hilfen für Opel. Er hatte sein Auftreten als Wirtschaftsminister
im Falle Opel gekoppelt mit einer – nicht ernst gemeinten – Rücktrittsdrohung und
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N E U E M E D I E N A L S C H A N C E Z U R D E M O K R AT I S I E R U N G
wollte immer schnell beweisen – das war immer das Kalkül –, er sei anders. Vielleicht ist er auch darüber gestürzt. Ein etwas anderes, aber nicht ganz unähnliches
Phänomen, wenn auch mit anderen Voraussetzungen und Gründen, erkennen wir
übrigens bei Guido Westerwelle.
Die Gründe für den schnellen Aufstieg, soweit sie in seiner Person lagen, waren
auch die Gründe für den schnellen Sturz von Herrn zu Guttenberg. Was haben die
Medien damit zu tun? Zunächst, dass die Medien ihn anfangs hochgejubelt und
hochgeschrieben haben, weil er diese offenkundigen oder vermeintlichen Vorzüge
hatte. Und die Medien haben ihn dann auch relativ schnell wieder gestürzt.
2. Die Rolle der Medien
Bei beiden Bewegungen haben auch die neuen Medien, hat das Netz eine Rolle
gespielt. Obwohl Herr zu Guttenberg im Netz eine große Fangemeinde hatte –
zahlenmäßig wohl Hunderttausende, die ihn unterstützt haben –, hat die Gruppe
der kritischen Bildungsbürger gemeint, dass man sich mit Plagiaten keinen Titel
ergattern dürfe. Es waren nur ein paar Zehntausend, aber sie waren wichtig, vor
allem als CDU-Klientel. Sie haben eigentlich im Verbund mit der FAZ und anderen Zeitungen bewirkt, dass die Linie, die man zuerst wahrgenommen hatte (»Ist
doch alles nicht so schlimm« und »Haben wir nicht alle schon mal irgendwie in der
Schule abgeschrieben?«), letztlich überspielt wurde.
Solche Phänomene gab es schon öfter. Auch Gerhard Schröder wurde sehr schnell
hinauf- und dann wieder heruntergeschrieben. Als er hinaufgeschrieben wurde, hat
er sich nicht beklagt; als er heruntergeschrieben wurde, allerdings sehr.
Ich will deshalb als erstes die These aufstellen, dass die Medien noch keinen Politiker aus eigener Kraft bedeutend gemacht oder zerstört haben. Sie sind allerdings,
wenn man so will, Brand-Beschleuniger. Die Medien handeln mit einem gewissen
Meute-Verhalten, positiv oder negativ, keiner will einen Trend verpassen. Sie wittern sozusagen: »Der kommt an. Das ist ein guter Typ. Das ist mal was anderes, das
ist erfrischend« und marschieren dann alle in eine Richtung. Es folgen die bekannten Homestories und das Bild formt sich in der Vielzahl von Berichten. Wenn dann
ein paar Fehler bekannt werden und man spürt: »Die Stimmung könnte kippen«,
dann schwenken die Medien um. Sie verstärken jeweils die Tendenz, aber ich
glaube, dass sie diese nicht machen. Kein einzelner Journalist kann sich hinsetzen
und sagen: »Ich beschließe jetzt, diesen Politiker groß zu machen.« Dies könnten
allenfalls einzelne mächtige Verlagshäuser. Es konnten schon früher Instanzen wie
der SPIEGEL oder wie der Springer-Verlag mit Bild viel bewegen, bewirken und
auch verhindern. Aber sie können es nicht aus dem Nichts heraus.
105
PETER VOSS
Die heutige Medienlandschaft einschließlich des hinzugetretenen Internets und aller
seiner Ableger und Varianten führt allerdings zu einer Beschleunigung dieses Prozesses. Das Hochjubeln wie das Herunterschreiben geht sehr viel schneller als etwa
zu Zeiten von Konrad Adenauer. Journalisten waren dabei immer auch Akteure im
politischen Diskurs, haben sich so verstanden und sind auch so instrumentalisiert
worden. Sicher waren und sind es nicht alle, aber viele. Ich will auf Max Weber
hinweisen, der die Metapher geprägt hat: »Politik ist das geduldige Bohren dicker
Bretter mit Leidenschaft und Augenmaß.« Die eben beschriebene Beschleunigung
der medialen Prozesse ist ein Kennzeichen einer Situation, in der es objektiv schwerer wird, eine bestimmte politische Haltung, Linie oder Überzeugung zu bewahren. Dies gilt besonders für große politische Projekte, wenn sie nicht extrem populär
sind oder wenn sie nicht umgekehrt wie bei der Abschaltung der Atomkraftwerke
Urängste wachrufen. Insofern gibt es aus meiner Sicht hier sehr wohl eine größere
Volatilität im Wählerverhalten. Meines Erachtens gilt das auch für die Parteien.
Es scheint, dass der »harte Kern« der jeweiligen Wählerschaft mit ihrer Priorität
für das, was für sie sozialdemokratisch war oder christlich-demokratisch war, bei
den Wahlen enttäuscht wurde. Das kam aber lediglich als Grund für die wachsende
Schwäche der Parteien hinzu. Man darf nicht übersehen, dass der jeweilige Bestand
an Stammwählern und Mitgliedern insgesamt kleiner geworden ist. Die Zahl der
Beeinflussbaren, die Wechselwähler oder Wahlabstinenten, die von Fall zu Fall entscheiden, ist gestiegen und weist auf ein höheres Maß an Volatilität im Wählerverhalten hin. Es ist dann umso problematischer, wenn man den »harten Kern« der
Wähler, der ohnehin langsam schmilzt, noch zusätzlich enttäuscht, weil man etwa
einen Kurswechsel vornehmen muss und ihn nicht vermitteln kann.
Medien sind Verstärker dieser Tendenzen, und das war schon immer so. Doch manche technische Innovationen – und damit komme ich dann wenigstens der guten
Ordnung halber auch zu Johannes Gutenberg – sind in ihrer unglaublich umwälzenden Wirkung nur mit inhaltlichen Umbrüchen und Paradigmenwechseln
erklärbar. Das gilt für Gutenberg und seine Erfindung der
Nicht ein technisches
Druckerpresse. Man übersieht leicht, dass kurz nach Gutenbergs
Medium, sondern eine
mit ihm verbundene
Erfindung der Reformator Martin Luther kam. Der Bibelüberradikale, neue Idee
setzer Luther wollte, dass jedermann das Wort Gottes unmittelbringt den Paradigmenbar verstehen kann. Dafür brauchte er den Buchdruck. Beides
wechsel.
zusammen hat eine Kulturrevolution in Gang gesetzt, die wohl
auch sonst irgendwann gekommen wäre, aber vermutlich nicht mit dieser Wucht bis
hin zum Dreißigjährigen Krieg gewirkt hätte. Es ist nicht die Erfindung eines technischen Mediums alleine, die die Rahmenbedingungen dramatisch verändert, son106
N E U E M E D I E N A L S C H A N C E Z U R D E M O K R AT I S I E R U N G
dern auch eine völlig neue Idee, eine Bewegung mit einem radikal anderen Ziel, ein
wirklicher Paradigmenwechsel. Dann erst entsteht eine Umwälzung.
Fraglich ist, ob das auch für Wikileaks gilt. Wikileaks ist das Werk vor allem von
Julian Assange, der sich als Aufklärer in einer Informationsgesellschaft versteht. Die
Entwicklung auf dem Feld der neuen Medien, die ganze Diskussion über die sozialen Medien wie Facebook und Twitter drehen sich ja am Ende immer um die Frage:
Was bedeuten sie eigentlich für die demokratische Orientierungsfähigkeit von Bürgern? Was bewirkt diese neue Transparenz? Ich sehe die Entwicklung noch sehr
ambivalent und traue mir noch nicht zu, sie schon zu beurteilen. Eins ist das Internet
für mich jedenfalls nicht: der »Große Bruder« im Sinne George Orwells. Das war
eher der alte Volksempfänger unseligen Angedenkens. Das Internet ist zunächst
eine riesige Freiheitschance, eine enorme Chance zur Demokratisierung. Jeder
wird sein eigener Sender, sein eigener Programmdirektor, sein eigener Journalist
und nicht nur Empfänger von Information. Auf Diktaturen kann es »zersetzende«
Effekte haben, wenn es diesen nicht gelingt, die Freiheit im Netz zu unterbinden.
Was richtet das Netz aber sonst noch an? Bei Wikileaks war ich schon etwas erschrocken, vor allem wegen der Willkür, mit der die medialen Angriffe durchgeführt und
geheime Informationen publiziert wurden. Das reicht ja von der Gefährdung von
Menschenleben bei Nennung von Namen bestimmter Menschen bis hin zur Frage,
warum nur die Amerikaner oder nur Demokratien und nur bestimmte Unternehmen ausgespäht werden, aber etwa China oder der Iran nicht. Der diplomatische
Informationsverkehr der amerikanischen Botschaften mit dem ganzen »Berliner
Dorfklatsch«, den man da etwa über Guido Westerwelle lesen konnte, war harmlos
und uninteressant. Aber wenn ein saudischer König den Amerikanern in Bezug auf
den Iran vertraulich empfiehlt: »Schlagt der Schlange den Kopf ab«, dann finde ich
die Preisgabe solcher Informationen außerordentlich problematisch. Ohne Zweifel
ist zum Beispiel eine erfolgreiche Friedensdiplomatie im Nahen Osten ohne Vertraulichkeit überhaupt nicht möglich. Ich bin mir aber auch ganz sicher, dass ohne
das Internet die arabische Revolution nicht so in Gang gekommen wäre. So etwas
setzt natürlich auch voraus, dass eine ausreichende Zahl junger Menschen vorhanden ist, die mit den neuen Medien umgehen können.
3. Urheberrecht und Sicherheit
Wichtig ist für mich die Frage, wie wir die Balance von Freiheit und Sicherheit
in Bezug auf das Netz immer wieder neu austarieren. Da geht es ums Urheberrecht und um persönliche Daten genauso wie um Mobbing, wo eine Art rechtsfreier
Raum droht, weil es leicht ist, über einen Server irgendwo in einem fremden Land
107
PETER VOSS
eine andere Person niederzumachen. Da sind in der Tat Probleme entstanden, die
man nicht bagatellisieren darf. Ich habe noch keine Antwort darauf. Für mich darf
es auf jeden Fall keine unterschiedlichen rechtlichen Maßstäbe im Netz und außerhalb des Netzes geben. Wenn eine Verleumdung verfolgt wird, dann muss auch die
Verleumdung im Netz verfolgt werden. Oder darf die Polizei hier sagen, sie könne
nichts unternehmen, nur weil es sie einige Mühe kostet, den Absender zu ermitteln?
Gibt es da etwa schon eine Art von Resignation, weil das Netz so schnell ist und
weil es so schwer ist, Täter und missbräuchliche Nutzer aufzuspüren, sodass man in
solchen Fällen gleichgültig mit den Achseln zuckt?
Die Urheberrechtsfrage zum Beispiel finde ich spannend, weil auch behauptet wird,
was einmal öffentlich sei, das sei eben da und jeder dürfe es verwenden. Was bedeutet es denn, wenn sich jeder alles herunterladen kann? Es bedeutet, dass zum Beispiel ein Komponist nicht mehr von seiner Arbeit leben kann. Wir erleben bereits
eine kulturelle Veränderung im Netz und durch das Netz, es sei denn, man hält
daran fest, das Urheberrecht auch dort durchzusetzen. Vielleicht wird ein künftiges
Urheberrecht nicht mehr so streng sein. Ich meine nur, dass es letztlich nicht zweierlei Kriterien des Rechts oder der Anwendung des Rechts und seiner Durchsetzbarkeit geben darf.
4. Neue Trends in der Berichterstattung
Wenn man von den Risiken des Netzes redet, droht leicht die Idealisierung und
Glorifizierung der klassischen Medien. Der klassische Journalismus, etwa in einer
Zeitungsredaktion, die als Institution den Leser entlastet, nimmt für ihn die Auswahl dessen vor, was publikationswürdig ist. Wenn man nun einen Trend zur
Verflachung, zur Dramatisierung, zur Emotionalisierung der Berichterstattung
wahrnimmt, dann ist dieser Trend nicht nur eine Antwort auf die zunehmende
Komplexität aller Sachverhalte und Entscheidungsprozesse, sondern auch bedingt
durch eine sich immer noch verschärfende Wettbewerbssituation gerade auch der
herkömmlichen Medien.
Auch früher gab es schwere doch nicht unbedingt schwierige politische Entscheidungen, etwa über die Westintegration und die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik Deutschland – es waren schwere Entscheidungen, aber sie waren leicht zu
verstehen. Heutige Entscheidungen, wie etwa zur Gentechnologie, sind hochkomplex, sind sehr viel schwerer zu verstehen und deshalb auch schwerer zu vermitteln. Es müsste demnach deutlich mehr recherchiert, also mehr Zeit und Geld in
journalistisches Personal investiert werden, doch aus Wettbewerbsgründen werden
Redaktionsstellen abgebaut. Journalisten haben damit weniger Zeit und kompen108
N E U E M E D I E N A L S C H A N C E Z U R D E M O K R AT I S I E R U N G
sieren den Mangel durch die süffige Story. Nach meiner Einschätzung wird zwar
viel besser geschrieben als früher, aber viel weniger recherchiert. Eine Frage wird zu
beantworten sein: Wird dieser Mangel kompensiert durch das Netz und die vielen
Amateure, die diese Recherche-Arbeit zum Teil übernehmen und zugleich dabei die
Presse kritisieren und korrigieren?
5. Politik im Zeitalter des Internets
In der Tat wird es unter den Bedingungen der exponentiell wachsenden Vermehrung aller Wissensbestände und damit der wachsenden Komplexität aller politischen Entscheidungsprozesse, der Wechselwirkung zwischen unterschiedlichen
Entscheidungsebenen und der stärkeren Vernetzungen objektiv immer schwerer
für die Politik, ihre Aufgabe zu erfüllen. Das gleiche gilt für die Medien bei ihrer
Aufgabe, die Komplexität im Rahmen ihrer Informationsvermittlung zu reduzieren. Damit wird nachhaltige Politik immer schwieriger. Die Antwort darauf kann
nur sein, zu versuchen, von Seiten der Politik alle medialen Möglichkeiten, auch im
Internet, zur Legitimierung ihrer Entscheidungen von Vornherein stärker einzubeziehen. Bei Stuttgart 21 beispielsweise hat es die CDU-Landesregierung im letzten
Sommer, als die Gegner des Bahnhofsprojekts mit ihren Protestaktionen begonnen
haben, ganz einfach versäumt, informationspolitisch gegenzusteuern und dafür vor
allem auch das Netz zu nutzen.
Aufgebrachte Bürger demonstrieren gegen Stuttgart 21
109
PETER VOSS
»Der Bürger« geht nicht früh im Planungsprozess aufs Rathaus und schaut sich dort
die Pläne oder das ausgestellte Modell an. Aber wenn die Bagger auf die Baustelle
kommen, ist er da. Auch weil das in der Sommerpause passierte, haben die Befürworter des Projekts nicht einmal wahrgenommen, was sich über den Beschleunigungsfaktor Internet an Widerstandsbereitschaft zusammenbraute. Als man aufwachte,
änderte sich die Situation. Die Befürworter haben es dann doch noch geschafft, die
öffentliche Meinung zu drehen: Nun gibt es in Umfragen in Baden-Württemberg
eine knappe Mehrheit für Stuttgart 21.
Das Internet wird Politik, Gesellschaft und Medien vor Herausforderungen stellen,
die heute noch nicht abschließend beurteilt werden können. Die Politik wird sich
auf schnellere Reaktionen aus dem Netz einstellen müssen, die kritischer, direkter,
ungefilterter auf Fehlentwicklungen eingehen. Neue Partizipationsmöglichkeiten
wären denkbar, wenn die Politik kreativ und sensibel auf die Chance des Internets
reagierte. Die neuen Medien ersetzen allerdings nicht eine klare und kluge Sachpolitik – ebenso wenig die gründliche Berichterstattung und Kommentierung durch
»klassische Medien«. Diese werden aber unter neuen Druck gesetzt, da die immer
gewaltigeren Datenmengen eine journalistische Herausforderung sind. Deshalb
ist der sortierende, nachrecherchierende und gewichtende Redakteur nötiger denn
je. Auch wenn der subjektive Journalismus durch neue Genres wie Blogs gestärkt
wird – klassische journalistische Tugenden und Instrumente verlieren eben nicht an
Bedeutung: Kommentar bleibt Kommentar, Nachricht bleibt Nachricht. Es lohnt
sich, diese Grundunterscheidung immer wieder jungen Journalisten zu erklären,
weil nur so journalistische Professionalität und Objektivität garantiert werden können. Und dies bleibt auch in Zeiten des World Wide Web eine unaufgebbare Aufgabe
für die Medien, auf die sich die Gesellschaft verlassen will – und ihnen so Autorität
zuspricht.
110
Das Netz als fünfte Gewalt im Staate
VON MARKUS BECKEDAHL
Das Internet schafft eine neue, vernetzte Öffentlichkeit. Es verändert dadurch bestehende und gewachsene Autoritäten in »der alten Öffentlichkeit«. Schafften es in
den vergangenen Jahrzehnten Medienunternehmer mit den notwendigen finanziellen Ressourcen, eine Marke aufzubauen und mit einem journalistischen Medium
(Radio, Zeitung oder TV) eine redaktionelle Autorität zu entwickeln, so gibt es jetzt
eine starke Konkurrenz. Durch die niedrigschwelligen Zugangsmöglichkeiten ist es
heute möglich, mit einem Internetzugang, etwas Kreativität und wenig finanziellem
Einsatz eine vergleichbare redaktionelle Autorität aufzubauen. Ein Blog, ein Twitter- oder Facebook-Account oder lediglich eine Mailing-Liste reicht aus, um für eine
bestimmte interessierte Gruppe einen Filter, d. h. ein Instrument zu schaffen, das eine
vergleichbare Autorität zur Redaktion eines traditionellen journalistischen Mediums
besitzt. Diese neuen Werkzeuge im Netz ermöglichen die individuelle Zusammenstellung von Informationen. Die Autorität einer Redaktion verliert dabei als klassischer Informationsfilter an Bedeutung und wird für viele ersetzt durch technische
Such-Algorithmen, durch virtuelle Marktplätze und/oder soziale Empfehlungen.
Diese neue Autorität entsteht in der Regel durch Leistung und vor allem durch den
Aufbau einer Reputation innerhalb einer Zielgruppe. Diese Reputation kann nun
in den virtuellen Netzwerken entstehen. Basis des Erfolgs sind dabei oft dieselben
Zugangsvoraussetzungen, wie sie eine berufliche, journalistische Karriere auch vorher schon bedurfte: Talent, Gespür für Kunden in Communities und ihre sozialen
Codes, intensive Kommunikation und großer Zeit-Aufwand. Durch die vielfältige
Konkurrenz steht diese Reputation allerdings jeden Tag zur Disposition. Dies ist
eine andere Situation als z. B. für klassische Medien, etwa eine Zeitung, die in der
Vergangenheit oftmals durch wenig Konkurrenz eine langfristige Autorität besaß
und ausstrahlte.
Die Hauptfunktion eines neuen Filters im Netz besteht aus dem Kuratieren, also
dem Finden, Einordnen und Aufbereiten von Informationen. Aktuell entsteht hier
111
MARKUS BECKEDAHL
eine weitere Veränderung: Die neuen Filter können eigene Inhalte ins Netz bringen, sie können aber alternativ lediglich auf interessante andere Inhalte im Netz
verweisen. Auch damit wird traditionelle Autorität in den Medien in Frage gestellt,
die an die Reputation der Quelle gebunden ist. Es ist nicht mehr interessant, ob ein
Text z. B. in der FAZ oder der SZ steht, wichtig ist, welcher Inhalt dort veröffentlicht
wurde und ob dieser für den jeweiligen Informationsfilter interessant ist.
Doch bevor das Ende des klassischen Journalismus zu früh ausgerufen wird: Die
Inhalte werden auch in Zeiten neuer Filter gebraucht. Die Funktion von Journalismus wird weiterhin noch benötigt, damit Ereignisse bewertet, Informationen
recherchiert und verifiziert sowie komplizierte Zusammenhänge
Doch bevor das Ende
auch zielgruppengerecht erklärt werden können. Aber für diese
des klassischen Journajournalistische Aufgaben muss man kein Journalist mehr sein, es
lismus zu früh ausgerufen wird: Die Inhalte
reicht ein Blog, ein Twitter- oder Facebook-Account und dazu
werden auch in Zeiten
etwas Talent in der Vermittlung und Medienkompetenz.
neuer Filter gebraucht.
Traditionelle sogenannte Gatekeeper wie Zeitungs- oder Fernsehredaktionen verlieren ihre Funktion, da man diese Gatekeeper heute leicht umgehen
kann. Dies hat Vor- und Nachteile. Auf der einen Seite besteht der Nachteil, dass
Mikroöffentlichkeiten entstehen, die nur noch die Inhalte lesen, die ihnen gefallen.
Allerdings ist das nicht völlig neu; auch ohne das Netz gab und gibt es viele Menschen, die sich einseitig aus RTL2 und Bild informieren und so nicht dem klassischen Bildungsbürgerideal einer aufgeklärten Öffentlichkeit entsprechen.
Der Vorteil liegt auf der anderen Seite in der Freiheit bei der Wahl der Informationsquelle und der Souveränität der Mediennutzer. Sie sind nicht mehr abhängig von wenigen Tageszeitungen, Radio- und TV-Sendern, die für sie die Filterung übernehmen und oft nur einen Massengeschmack treffen. Wer sich z. B. für
Sportarten jenseits von Formel 1 und Fußball interessiert, findet neue Autoritäten
im Netz in Form von Communities, Informationsportalen und -sendern. Leider
wird noch zu wenig in der gesellschaftlichen Debatte berücksichtigt, dass wir
zunehmend in Gefahr geraten, uns von solchen Informationsfiltern abhängig zu
machen, die auf technischen Suchalgorithmen basieren.1 Diese Gefahr geht mit
der Abhängigkeit der Gesellschaft von Plattformen mit Monopolisierungstendenzen wie Facebook als Soziales Netzwerk oder Google als Suchmaschine einher.
Diese bilden privatisierte öffentliche Räume mit Allgemeinen Geschäftsbedingungen, Datenschutzrisiken und Sitz in anderen Staaten, was keine gute Basis für die
1
Informatiker bezeichnen das Verfahren zur Durchsuchung eines bestimmten Raumes nach bestimmten
Objekten oder Mustern als Suchalgorithmus. Algorithmen werden von Suchmaschinen genutzt, um die
Informationen des Netzes zu filtern und dem User in Form eines Rankings zugänglich zu machen.
112
D A S N E T Z A L S F Ü N F T E G E WA LT I M S TA AT E
Absicherung der Rechte von zukünftigen Öffentlichkeiten darstellt.
Weitere Risiken entstehen in der Personalisierung der sogenannten Social Networks-Streams oder der Suchergebnisse:
Wer regelmäßig Google nutzt, liefert der
Suchmaschine viele persönliche Informationen, wofür man sich interessiert
und in welche Zielgruppe man passt.
Daraufhin wird die Suche individuell an den Nutzer angepasst. Dadurch
drohen Entwicklungen, dass konservativ denkende Menschen zukünftig vor
allem solche personalisierten Inhalte bei
der Suche im Netz vorfinden, die auch Soziales Netzwerk Facebook
andere konservativ denkende Menschen
bevorzugen. Und eher sozialdemokratisch denkende Menschen werden möglicherweise solche Inhalte vorfinden, die ihre vermeintlich ähnlichen Zielgruppen auch
schätzen. Eine gesellschaftliche Debatte könnte dadurch erschwert werden, weil sich
jeder in einer abgeschotteten, gefilterten Informationsblase befindet.
Fazit: Die Autorität der Medien ist im Wandel; das ist zunächst nichts grundsätzlich
Schlechtes. Die vierte Macht im Staat kann offensichtlich nicht mehr wie früher
ihre Aufgabe erfüllen, eine kritische Öffentlichkeit herzustellen, gesellschaftliche
Debatten abzubilden und auf Missstände hinzuweisen. Redaktionen werden personell ausgedünnt, investigative Recherchen sind bei kleiner werdenden Budgets oft
nicht mehr finanzierbar.
Nun entsteht eine fünfte Macht im Staat und ergänzt im Zusammenspiel mit den
traditionellen Medien die gesellschaftliche Kontrollfunktion der Medien. Am Beispiel des GuttenPlag-Wikis in der Plagiatsaffäre rund um Freiherr zu Guttenberg
konnte man diese Entwicklung im Frühjahr 2011 anschaulich betrachten. Die
Zugangschancen für neue Player in den Reihen der medialen Autoritäten sind im
Moment sehr niedrig und das ist gut so. Wir sollten das Innovationsumfeld sichern
und die Netzneutralität behalten, d. h. einen offenen und diskriminierungsfreien
Zugang zum Netz erhalten.
Das Netz ist eine riesige Freiheitschance. Erhalten wir diese Freiheit und Offenheit, sonst kann es als große Kontrollinfrastruktur gegen unsere Freiheit eingesetzt
werden.
113
V. Bürgersinn: Eine Autorität
zwischen Erwartung und
Möglichkeiten
Eine aktive Bürgergesellschaft und ihre neuen
Autoritäten
VON HANS FLEISCH
1. Bürgersinn und Autorität
1.1 Gelebter Gemeinsinn als Quelle von Autorität
Die menschliche Soziabilität1 hat verschiedene Erklärungen gefunden, als solche ist
sie indes seit jeher unbestritten. Soziabilität erweist sich im Verhalten:2 vor allem in
tätigem Gemeinsinn. Gemeinsinn lässt sich definieren als eine Haltung, die die Verantwortung des Einzelnen in der Gemeinschaft zum Inhalt hat.3 Gemeinsinn prägt
sich aus in altruistischem Verhalten.
Für altruistisches Verhalten werden in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen unterschiedliche Erklärungen diskutiert.4 Über lange Zeit prägend war die
These von Ökonomen, die freiwilliges menschliches Verhalten mit der Idee des
rational wählenden homo oeconomicus zu erklären versucht haben. Die Spieltheorie
hat demgegenüber gezeigt, dass der Mensch sein Verhalten keineswegs jeweils am
größtmöglichen individuellen Nutzen ausrichtet, und sie hat damit die Idee verworfen, dass menschliches Verhalten stets davon bestimmt sei, den eigenen Nutzen
berechnend (rational choice) zu maximieren. Um am Modell des rational handelnden
homo oeconomicus festhalten zu können, haben Ökonomen den Begriff des persönlichen Nutzens erweitert: altruistisches Verhalten produziere für das Individuum
einen Nutzen im weiteren Sinne, z. B. soziales Prestige des Handelnden. Aber damit
lassen sich vielfache altruistische Verhaltensweisen, die eben kein soziales Prestige
1
Soziabilität bezeichnet die Fähigkeit Einzelner, soziale Beziehungen aufzunehmen und zu pflegen, sich in
eine Gemeinschaft einzufügen und wirkungsvoll mit anderen zusammenzuarbeiten.
2
Vgl. dazu aus sozialpsychologischer Perspektive: Forgas, Joseph: Soziale Interaktion und Kommunikation.
Weinheim 19994. Insbesondere S. 182ff.
3
Vgl. zum Begriff: Bertelsmann Stiftung, Bertelsmann Forschungsgruppe Politik (Hg.): Gemeinsinn. Gütersloh 2002. S. 30ff.
4
Vgl. hierzu und zum Folgenden: Weitemeyer, Birgit: »Die Grundlagen des Altruismus und die Rolle des
Rechts.« In: Hüttemann, Rainer/Rawert, Peter/Schmidt, Karsten/Weitemeyer, Birgit (Hg): Non Profit Law
Yearbook 2007. S. 45ff.
116
E I N E A K T I V E B Ü R G E R G E S E L L S C H A F T U N D I H R E N E U E N A U T O R I TÄT E N
mit sich bringen, nicht erklären. Eine andere Erklärung der Ökonomen lautete daraufhin, altruistisches Verhalten produziere ein gutes Gefühl, also einen psychologischen Nutzen. Damit wird die Frage, warum Menschen uneigennützig handeln,
aber nur verlagert, nämlich auf den Aspekt, warum das altruistische Verhalten ein
gutes Gefühl verursacht.
Bei aller Unterschiedlichkeit der Erklärungen dürfte heute weitestgehend unbestritten sein, dass altruistisches Verhalten tief im Menschen verankert ist und zu seinem
Wesen gehört. Das könnte auch eine Erklärung für das »gute Gefühl« bei altruistischem Verhalten sein: Wer altruistisch handelt, entfaltet einen seiner Wesenskerne
als Mensch.
Unbestritten gehören zudem das bloße Zusammensein und das Zusammenagieren
mit anderen Menschen, also in der Gemeinschaft, zu den menschlichen Grundbedürfnissen. In der Summe laufen tief verwurzelter Altruismus und fundamentales
Bedürfnis nach Gemeinschaft auf uneigennütziges Verhalten des Menschen zugunsten der menschlichen Gemeinschaft hinaus. Uneigennütziges Tun zugunsten der
Gemeinschaft, also gelebter Gemeinsinn, ist darum nicht etwas, was von außen an
den Menschen herangetragen werden muss oder bloßes Ergebnis
Wer altruistisch
einer rational-berechnenden Wahl des Menschen in einer handelt, entfaltet einen
bestimmten Situation ist, sondern was zu seinem Wesen und sei- seiner Wesenskerne als
Mensch.
nen grundlegenden Bedürfnissen gehört. Ob und wie dies sich
entfalten kann, das hängt indes auch von vielfachen äußeren Faktoren ab. Wer
gelebten Gemeinsinn fördern will, sollte sich aber bewusst sein, dass er dabei an ein
zutiefst vorhandenes Bedürfnis der Menschen anknüpfen kann.
Bedürfnisse haben entscheidenden Einfluss auf menschliches Verhalten. An vorhandene Bedürfnisse anzuknüpfen ist der effektivste Weg, um freiwilliges Verhalten zu beeinflussen. Aber aus einem bestimmten Bedürfnis folgt noch lange nicht
ein bestimmtes Verhalten. Welches Verhalten sich aus vorhandenen Bedürfnissen
entwickelt, hängt jeweils von verschiedenen Faktoren ab. Andere Menschen sind
insofern von überragend einflussreicher Bedeutung.5 Dabei stehen in der Regel verschiedene Alternativen zur Verfügung; das Verhalten kann an diesen oder an jenen
Menschen ausgerichtet werden, mit jeweils unterschiedlichem Ergebnis.
Von welchen Menschen ich mich freiwillig beeinflussen lasse, ist vor allem eine Frage
der Anziehung oder Identifikation. Menschen, die für uns anziehend sind bzw. mit
denen wir uns identifizieren, haben größere Chancen auf Beeinflussung unseres freiwilligen Verhaltens. Diese Anziehung oder Identifikation kann, wenn man einmal
5
Forgas: Soziale Interaktion und Kommunikation. S. 249ff.
117
HANS FLEISCH
von der naturgegebenen Identifikation des Kleinkindes mit seinen Eltern absieht,
zwei unterschiedliche Gründe haben: Wir mögen Leute u.a. wegen ihrer sozialen
Eigenschaften (Freundlichkeit, angenehmes Wesen usw.) oder wir respektieren sie,
z. B. aufgrund ihrer Kompetenz oder Leistung. Wenn ein Mensch beides besitzt,
hat er besonders großes Potenzial, von anderen akzeptiert – »gewählt« – zu werden
und beeinflusst damit deren Verhalten. Dabei gibt es zwei Spielarten des Einflusses:
Informationseinfluss und normativer Einfluss.6
Vermeintlich affektiv und/oder kognitiv besonders »akzeptable« Menschen wählen
wir also vorzugsweise als diejenigen, die unsere Sachurteile, unsere Werturteile und
unser freiwilliges praktisches Verhalten beeinflussen: als Autoritäten.
Menschen, die sich in der Bürgergesellschaft selbstlos engagieren, sind uns – nicht
nur in unserer Kultur und nicht nur aus kulturellen Gründen – tendenziell sympathisch, jedenfalls wenn wir ihre Anliegen für wichtig und richtig halten. Wenn solche Menschen dabei zugleich sachliche Kompetenz für diese Anliegen glaubwürdig
kommunizieren, sind sie tendenziell in einem informativen und normativen Beeinflussungsvorteil gegenüber anderen Akteuren, z. B. solchen, die berechnend eigennützig/geizig/gierig und/oder inkompetent zu sein scheinen. Denn Egoismus, Geiz,
Gier oder schädliches/schändliches Verhalten sind tendenziell unsympathisch; und
das wird dann auch nicht ohne Weiteres aufgewogen durch akzeptierte fachlichsachliche Kompetenz, z. B. bei der erfolgreichen Ausübung einer Führungsposition
in Wirtschaft oder Politik.
Die Engagierten der Bürgergesellschaft (und ihre Organisationen) haben, soweit sie
beide Felder abdecken – a) sympathisch-uneigennützig und b) kompetent – somit
ein besonders hohes Potenzial dafür, andere Menschen als Autoritäten bei Fragen,
die den öffentlichen Raum betreffen, und bei ihrem diesbezüglichen freiwilligen
Verhalten zu beeinflussen.
Dies gilt dann umso mehr, wenn die Autoritäten von Alternativen erodiert werden. Wenn bisherige Autoritäten weniger anerkannt werden, z. B. weil ihre Kompetenz oder ihre Gemeinwohlorientierung und/oder ihre menschliche Akzeptabilität zunehmend angezweifelt wird, dann wächst die Chance, dass neue Akteure als
Autoritäten an Einfluss gewinnen. Die Chance, dass Leitfiguren und Organisationen der Bürgergesellschaft als Autoritäten ihren Einfluss in Fragen des Gemeinwesens steigern, erhöht sich darum in dem Maße, in dem andere Akteure auf diesem
Felde – Parteien, politische Amtsinhaber, Kirche usw. – an Akzeptanz verlieren.
Zudem gibt es noch einen Rückkopplungseffekt: Eine gewachsene Identifikation
6
Deutsch, Morton/Gerard, Harold: »A study of normative and informational influence upon individual judgment.« In: Journal of Abnormal and Social Psychology, 51 (3)/1955 S. 629ff.
118
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mit positiv bewerteten Institutionen der Zivilgesellschaft kann das Schrumpfen der
Autorität anderer zusätzlich befördern.
1.2 Bürgersinn und Motivation zu Engagement
Bürgersinn ist Gemeinsinn im öffentlichen Raum. Die Motivierung anderer zu
bürgerschaftlichem Engagement, also gelebtem Bürgersinn, ist eine Verhaltensbeeinflussung. Die Steuerung solcher Verhaltensänderung (zu Verhaltensänderung
gehört auch Verhaltensstabilisierung) hängt, wie aufgezeigt, wesentlich von a)
sozial/menschlicher Identifikation und b) Akzeptanz der entsprechenden sachlichen
Kompetenz anderer Akteure für die in Rede stehende Herausforderung, z. B. Beseitigung eines Mangels, ab.
Es gibt aber auch weitere Faktoren. Dazu gehören die sogenannten »Hygienefaktoren« und die »Motivatoren«.7 Das Fehlen der Hygienefaktoren ruft Demotivation hervor; ihre Existenz dagegen besitzt keine motivierende Wirkung, da
Hygienefaktoren mit der Zeit als selbstverständlich angesehen werden. Die sogenannten Motivatoren hingegen steigern die Motiviertheit oder Zufriedenheit, aber
ihr Fehlen demotiviert nicht. Motivatoren haben überwiegend keinen nachhaltigen Effekt, sie wirken eher als Impulse, die wie Strohfeuer durchaus Zündwirkung entfalten können. Um es an Beispielen zu illustrieren: Eine Gehaltserhöhung
ist ein Motivator, der eher kurzfristig beflügelt, funktionierende Bürotechnik ist ein
Hygienefaktor, deren dauerhaftes Fehlen nachhaltig frustriert. Beim bürgerschaftlichen Engagement ist die Verleihung eines Preises ein Motivator, förderliche Infrastruktur oder regulatorische Rahmenbedingungen oder dauerhaft ausreichende
finanzielle Ressourcen für die Verwaltungskosten sind Hygienefaktoren.
Wenn eine Motivation, z. B. zu uneigennützigem Verhalten, bereits vorhanden ist,
gilt es, das Augenmerk auf die Hygienefaktoren zu lenken. Wenn eine entsprechende Motivation aber gar nicht vorhanden ist, kommt es zunächst auf impulsgebende Motivatoren an.
Es wurde oben bereits dargelegt, dass altruistisches Verhalten und Gemeinsinn zum
Wesen des Menschen gehören, mithin ist die Motivation zu entsprechendem freiwilligen Verhalten grundsätzlich bei den meisten Menschen bereits vorhanden. Das
bedeutet für die Förderung von gelebtem Bürgersinn:
• Es kommt erstens darauf an, die grundsätzlich vorhandene Motivation zu steuern,
d. h. den vorhandenen Gemeinsinn und ein dementsprechendes Verhalten in der
7
Zwei Faktoren-Theorie, vgl. dazu: Herzberg, Frederick/Mausner, Bernard/Bloch Snyderman, Barbara: The
Motivation to Work. New York 19592. Meyers, David G.: Psychologie. Berlin 20082. S. 888f.
119
HANS FLEISCH
Ausrichtung so zu beeinflussen, dass sich der Gemeinsinn im öffentlichen Raum,
mithin als Bürgersinn, und nicht nur im nahen Sozialraum (Familie etc.) entfaltet. Für diese Steuerung haben vorhandene Autoritäten der Bürgergesellschaft
und ihre Kompetenz nach dem oben Gesagten herausragende Bedeutung. Sie gilt
es zu stärken: a) durch Sicherung der Hygienefaktoren für ihr Engagement und
b) durch Stärkung ihrer Sichtbarkeit und Kompetenz.
• Zweitens müssen Gelegenheiten vorhanden sein oder geschaffen werden, damit
die vorhandene und in Richtung öffentlicher Raum gelenkte Motivation zu gelebtem Gemeinsinn nicht verpufft; also gilt es, Anknüpfungspunkte und Chancen für Partizipation zu schaffen, auszubauen und zu kommunizieren.
• Drittens müssen Schwellen abgebaut werden, die eine Ummünzung der Motivation in praktisches Engagement hindern (das können kognitive, kommunikative,
kompetenzielle, finanzielle oder administrative Schwellen sein).
• Viertens gilt es, potenzielle Faktoren der späteren Demotivation zu beseitigen,
also für das nachhaltige Vorhandensein von entsprechenden Hygienefaktoren zu
sorgen.
Demgegenüber sind Motivatoren-Impulse eher nachrangig, soweit sie nicht auch
sonstige Effekte haben (z. B. ein mit einer Auszeichnung verbundenes Preisgeld, das
Verwaltungs- oder Organisationsentwicklungskosten finanziert).
2. Neue Partizipation in unserer Demokratie
Der These, dass die Engagementbereitschaft für das gemeine Wohl (auch) hierzulande weit verbreitet ist, für die auch neueste Untersuchungen wie die Freiwilligensurveys sprechen,8 scheinen Krisensymptome unserer repräsentativen Demokratie
zu widersprechen.
So nimmt die Bereitschaft, sich mitgliedschaftlich in überkommenen Strukturen
wie Parteien und Gewerkschaften zu engagieren, laufend ab. Auch die – von temporären Ausnahmen abgesehen – sinkende Wahlbeteiligung kann als Indikator vermeintlich geringerer Bereitschaft, sich für das Gemeinwesen zu interessieren und
zu engagieren, herhalten. Dies geht einher mit einem wachsenden Vertrauensverlust gegenüber den Leitinstitutionen unserer Gesellschaft.9 Diese Entwicklung ist
vermutlich auch Folge einer Überbetonung der formal in Verfahren legitimierten
Repräsentation in unserer Demokratie, die allein für Legitimierung eben nicht aus8
Freiwilligensurvey 2009: URL: http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/
3._20Freiwilligensurvey-Hauptbericht,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf/ (20.09.2011).
9
Schemmann, Michael: »Vertrauensverlust in politische Institutionen.« In: Schweer, Martin (Hg.): Vertrauen
im Spannungsfeld politischen Handelns. Frankfurt am Main 2003. S. 154ff.
120
E I N E A K T I V E B Ü R G E R G E S E L L S C H A F T U N D I H R E N E U E N A U T O R I TÄT E N
reicht, und mangelnden sonstigen Partizipationschancen. Und sie hängt mit dem
Trend zu Individualisierung und Flexibilisierung sowie Wertewandel und gewachsener Wertschätzung von autonomer Selbstbestimmung zusammen.
Demgegenüber gibt es jedoch Phänomene, die Roland Koch auf dem Hessischen
Stiftungstag am 5.11.2010 als »stille Revolution« bezeichnet hat: ein Wachsen der
Zivilgesellschaft und eine erhöhte Bereitschaft zu bürgerschaftlichem Engagement
jenseits der klassischen Institutionen. Zwei Drittel der Bevölkerung sind nach der
breiten Definition des Freiwilligensurveys hierzulande freiwillig engagiert oder
jedenfalls bereit dazu. Die Auffassung, dass nicht nur der Staat (und die Wirtschaft)
für das Gemeinwohl zuständig seien, gewinnt laut Freiwilligensurvey an Popularität. Dementsprechend wuchs und wächst die Zahl zivilgesellschaftlicher Organisationen wie Freiwilligenagenturen, Bürgerstiftungen, Stiftungen, aber auch neue
und vom Zweck her neuartige Vereine und informelle bürgerschaftliche Initiativen.
Übrigens sind auch dem neuesten Freiwilligensurvey zufolge junge Menschen überdurchschnittlich engagiert, und diese Altersgruppe zeigt dabei wachsende Sympathie für flexible und stärker selbst-bestimmte Aktivitäten. 10
Es gibt darum keine Krise des Bürgersinns in unserer Demokratie, vielmehr haben
wir es mit einem Wechsel der prägenden Autoritäten und einem chancenreichen
Strukturwandel beim Engagement für das gemeine Wohl im
Engagementbereite Menöffentlichen Raum zu tun. Das gesteigerte Bedürfnis nach schen bevorzugen heute
Selbstentfaltung ist dabei kein Widerspruch: Vielmehr stärkt es oft andere Organisationsstrukturen als früher.
die Bereitschaft zum Engagement, soweit dies als eine Form der
Selbstentfaltung eingestuft wird. Engagementbereite Menschen bevorzugen heute
oft andere Organisationsstrukturen als früher; und dem entspricht, dass das Übernehmen eines Ehrenamtes an Popularität verliert.11
Es kommt vor dem Hintergrund dieses Wandels darauf an, dass sich überkommene
Strukturen und Institutionen anpassen; außerdem gilt es, neue bzw. neuartige Organisationsstrukturen zu entwickeln und ihre Vermehrung zu fördern und sie und
ihre prägenden Akteure zu stärken.
Zusammenfassend folgt aus dem bisherigen:
Für die Stabilisierung und Stärkung gelebten Bürgersinns, mithin bürgerschaftliches Engagement, sind besonders chancenreiche und effektive Ansatzpunkte:
10
11
URL: http://www.bmfsfj.de/BMFSFJ/Service/Publikationen/publikationen,did=165004.html/ (20.09.2011).
Vgl. Bertelsmann-Stiftung: Gemeinschaftsfähigkeit in der modernen Gesellschaft. Gütersloh 2002.
121
HANS FLEISCH
• die Stärkung und die Förderung der entsprechenden Aktivitäten von Playern der
Bürgergesellschaft, die sich um die Hygienefaktoren – wie engagementfreundliches Klima (Wertschätzungskultur) und rechtliche sowie staatsverwaltungsmäßige Rahmenbedingungen – »kümmern« (z. B. den Bundesverband Deutscher
Stiftungen12);
• die Stärkung der Kompetenz (»Professionalität«) und der Sichtbarkeit von vorhandenen und potenziellen bürgerschaftlichen Autoritäten (z. B. durch Finanzierung von Ratgebern und Fortbildungen);
• die Sicherung einer nachhaltigen Basis für die Finanzierung von Verwaltungskosten bürgerschaftlich Engagierter durch entsprechende Zuschussmechanismen
(Beispiel: das Programm »Wir für Sachsen«13) sowie durch Unterstützung der Errichtung und des finanziellen Wachstums von engagementfördernden Stiftungen
(Beispiel: Initiative Bürgerstiftungen);
• die Schaffung, Vermehrung und Stärkung von neuartigen zivilgesellschaftlichen
Organisationen, die lokal Anknüpfungspunkte für Engagement bieten, die thematisch breit aufgestellt sind und die flexible Partizipation in unterschiedlichen
Formen und Projekten ermöglichen (Freiwilligenagenturen, Seniorenbüros,
Bürgerstiftungen);
• die Finanzierung von Transfer-Mechanismen für gelungene Projektansätze in
andere Städte oder Regionen;
• ferner ist die Finanzierung von entsprechenden Studien und Datenbanken sinnvoll, um die Informationsbasis für Förderentscheidungen weiter zu verbessern.
3. Bürgerstiftungen
Den vorgenannten Empfehlungen entspricht es, dass in der Engagementstrategie
der Bundesregierung aus dem Jahr 2010 die Förderung einer Kultur der Wertschätzung, die Schaffung von förderlichen Rahmenbedingungen und zudem Stiftungen
und insbesondere Bürgerstiftungen hervorgehoben werden.14
Bürgerstiftungen sind Gemeinschaftsstiftungen, die thematisch breiter aufgestellt
sind als die meisten anderen Stiftungen, die sich dabei aber auf einen lokal/kommunal begrenzten Raum konzentrieren. Die Förderung des bürgerschaftlichen
Engagements als solches gehört typischerweise zu ihren wesentlichen Zwecken. Sie
bieten flexible Anknüpfungspunkte für das bürgerschaftliche Engagement auf ganz
unterschiedlichen Feldern und in unterschiedlichen Formen. Mehr als bei anderen
12
URL: http://www.stiftungen.org/de/verband.html.
URL: http://www.wir-fuer-sachsen.de.
14
URL: http://www.stiftungen.org/de/news-wissen/news/detailseite-news.html?tx_leonhardtfebecm_
pi1[mode]=teaserstart&tx_leonhardtfebecm_pi1[id]=479/ (05.04.2011).
13
122
E I N E A K T I V E B Ü R G E R G E S E L L S C H A F T U N D I H R E N E U E N A U T O R I TÄT E N
Der Arbeitskreis Bürgerstiftungen beim Deutschen Stiftungstag 2009 in Hannover
Stiftungen gehören auch demokratische Elemente zu ihren Wesensmerkmalen.15 Sie
bieten zudem – anders als Vereine – eine Kapitalsammlungsfunktion, und mit dem
Wachstum ihres Kapitals bieten sie eine zunehmend bedeutsame und besonders
nachhaltige Eigenfinanzierungsquelle dezentraler zivilgesellschaftlicher Aktivitäten. Damit tragen sie zu Stabilität und Nachhaltigkeit bürgerschaftlichen Engagements vor Ort entsprechend modernen Bedürfnissen und zu wichtigen Hygienefaktoren bürgerschaftlichen Engagements bei. Sie bieten zudem die Chance, als
themenübergreifende Engagementinfrastruktur die Kooperation der sonstigen
Zivilgesellschaft vor Ort zu verbessern und zu bündeln und damit auch als Katalysator für die partizipative Zusammenarbeit mit den staatlichen Akteuren wirken
zu können.
In Deutschland gibt es Bürgerstiftungen modernen Typs erst seit 1996, mittlerweile
sind es rund 250. Die meisten sind noch relativ kapitalschwach, aber die Entwicklung des Kapitalwachstums ist mittelfristig vielversprechend. Und in keinem ande15
URL: http://www.buergerstiftungen.de.
123
HANS FLEISCH
ren Land der Welt ist die Entwicklung der Bürgerstiftungsbewegung von gleich
hoher Dynamik geprägt.16 Das gilt sowohl für das Wachstum ihrer Zahl als auch
ihres Kapitals. Diese besondere Entwicklung lässt sich vor allem mit dem MetaInfrastruktur-Projekt »Initiative Bürgerstiftungen« erklären, das gemeinsam von
Stiftungen und dem Bundesfamilienministerium ermöglicht und vom Bundesverband Deutscher Stiftungen getragen wird. Die »Initiative Bürgerstiftungen« (IBS)
gilt darum als vorbildlich effektive Engagement-Meta-Infrastruktur.
Mit der Förderung der IBS wird das Gesetz der Hebelwirkung von den die IBS
fördernden Institutionen berücksichtigt: Nicht einzelne Projekte einzelner Institutionen werden gefördert, sondern es wird indirekt – hebelnd – die Entwicklung ressourcenmobilisierender partizipativer Organisationen und ihre Sichtbarkeit, Kompetenz und Vernetzung gefördert.
Die Chancen, die sich mit der »Initiative Bürgerstiftungen« verbinden, sind noch
nicht ausgereizt (das gilt auch für das Projekt »Allianz für Bürgersinn«, das die
Herbert Quandt-Stiftung ermöglicht und das ein gewichtiges Ergänzungsmodul
der IBS ist). Wer gelebten Bürgersinn fördern will, dem bietet sich mit der Heb(el)
ung der Potenziale via IBS eine geradezu einzigartige Gelegenheit.
Wenn sie genutzt wird, besteht die realistische Chance, dass wir in 10 bis 15 Jahren flächendeckend Bürgerstiftungen im Lande haben, die mit Erträgen aus einem
wachsenden Gesamtkapital von dann mehr als einer Milliarde Euro, einem erheblichen Spendenaufkommen und dem umfangreichen Zeiteinsatz Ehrenamtlicher
und zigtausend Bürgerstiftern »professionell« gemanagte themenübergreifende
Katalysatoren und Finanziers bürgerschaftlichen Engagements haben werden.
4. Fazit
Die demokratische Gesellschaft kann nur »funktionieren«, wenn sich neben funktionsfähigen staatlichen Strukturen und Institutionen Menschen für die Gemeinschaft im öffentlichen Raum freiwillig engagieren. Das Potenzial dafür ist hierzulande hervorragend und bei weitem nicht ausgeschöpft. Beiträge zur Hebung dieses
Potenzials sind für eine gemeinnützige Stiftung eine Möglichkeit, besonders hebelwirksam zu agieren. Die Stärkung des Stiftungswesens und insbesondere auch der
Initiative Bürgerstiftungen gehört dabei zu den zu Recht hervorgehobenen Chancen. Wichtige Ansatzpunkte sind im Übrigen die Stärkung advokatorischer Kräfte
zugunsten guter Rahmenbedingungen für bürgerschaftliches Engagement, Stabilisierung und Ausbau der Engagementinfrastruktur und deren Basisfinanzierung,
Verbesserung von Transfermechanismen für gelungene Projektansätze sowie Qua16
URL: http://www.stiftungen.org/de/news-wissen/zahlen-daten.html/ (20.09.2011).
124
E I N E A K T I V E B Ü R G E R G E S E L L S C H A F T U N D I H R E N E U E N A U T O R I TÄT E N
lifizierungsmaßnahmen. Studien können zur Steigerung der Effektivität entsprechender Aktivitäten beitragen.
Mit dem vermehrten bürgerschaftlichen Engagement wachsen neue Autoritäten,
die hoch bedeutsam sind für den Zusammenhalt und die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft und die die Schrumpfung der Autorität klassischer Leitinstitutionen kompensieren. Unsere repräsentative Demokratie kann davon noch mehr
als bisher profitieren, wenn es neben der Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements zusätzlich gelingt, das Verhältnis zwischen Bürgergesellschaft einerseits
und Staat und klassischen Leitinstitutionen andererseits neu zu justieren und neuartige Formen einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe zu organisieren. Das dürfte
zudem helfen, den Verlust des Vertrauens in Staat und klassische Leitinstitutionen
zu begrenzen.
Bürger(schaft)liche Partizipation und Repräsentationsprinzip sind in der Demokratie kein Widerspruch. »Mehr Demokratie wagen« ist, richtig verstanden, keine veraltete Forderung, auch nicht die Befürwortung der stärkeren Entfaltung des Subsidiaritätsprinzips.17
Das Leitbild der aktiven Bürgergesellschaft mit ihren neuen Autoritäten bietet eine
chancenreiche Perspektive.
17
Vgl. zur Aktualität des Subsidiaritätsprinzips: Biedenkopf, Kurt/Bertram, Hans/Niejahr, Elisabeth: Starke
Familie – Solidarität, Subsidiarität und kleine Lebenskreise. Bericht der Kommission »Familie und demografischer Wandel« im Auftrag der Robert Bosch Stiftung (Hg). Stuttgart 2009. S. 28ff.
125
Motivation zu Engagement
Eine persönliche Perspektive
V O N A S T G H I K B E G L A R YA N
Die Tatsache, dass Engagement aus einer altruistischen Haltung entsteht, unterstreicht die Wichtigkeit der zwischenmenschlichen Ebene. Denn ein Bürger, der
sich für eine Sache oder für andere Menschen ehrenamtlich engagiert, erwartet im
Grunde nichts weiter als vielleicht ein lobendes Wort oder ein kleines Dankeschön
– gleichzeitig fühlt er in sich das zutiefst befriedigende Gefühl, etwas Gutes für das
Allgemeinwohl getan zu haben. Es ist ein Geben von Zeit und Leistung in materiellem Sinne und ein Nehmen auf reiner Gefühlsebene. Dabei wird die Motivation,
sich zu engagieren mit jedem Schritt gestärkt – irgendwann wird diese »Motivation
zum Engagement« zu einer als normal angesehenen Nächstenliebe, die Aufmerksamkeit erfährt.
Aus dieser Aufmerksamkeit heraus – wie klein sie auch sein mag – formt sich dann
eine gegenseitige Beziehung zwischen Akteur und Empfänger. Ist die Sympathie
groß, die einem für sein Engagement von der erreichten Zielgruppe entgegengebracht wird, und wird das Vertrauen bestärkt, das in einen gelegt wurde, dann wird
man im Auge des Empfängers zu einer Autorität. Aber vor allem hat Autorität mit
Verantwortung zu tun. Nur wenn man als Bürger freiwillig eine Verantwortung
übernommen, für andere in guten sowie schlechten Zeiten als Ansprechpartner fungiert und – ganz wichtig – mit seinem Tun nicht enttäuscht hat, dann wird man zu
einer Art Leitfigur und ermöglicht, dass sich die Zielgruppe an dieser Verhaltensweise orientieren kann.
Ich wurde im Vorfeld des Sinclair-Haus-Gesprächs gefragt, ob ich mich als eine
solche Autorität fühle, und ob ich mich aus dem eigenen Engagement allmählich
zu einer Person entwickelt habe, der andere folgen. Ich selbst sehe mich nicht so.
Für mich persönlich hat das Gefühl der Autorität mit der ersten Bestätigung oder
Befürwortung durch eine andere Person zu tun. Sich selbst als Autorität zu betrach126
M O T I VAT I O N Z U E N G A G E M E N T
ten, hätte meines Erachtens den Sinn dieser menschlichen Beziehung verfehlt. Denn
es kann auch nur einen »Überlegenen« geben, wenn mindestens zwei nebeneinander stehen – ebenso kann sich die Autorität nur dann herausbilden, wenn der
eine Mensch den anderen durch seine Ehrlichkeit, Verantwortungsübernahme und
Authentizität als eine solche Person wahrnimmt, der sie folgen möchte.
Es braucht aber vor allem eine gute Erziehung, um zu einer solchen verantwortungsvollen Person zu werden. Für mich ist der wichtigste und nicht ersetzbare
Faktor für ein allgemeinwohlorientiertes Denken und Handeln die Erziehung des
Elternhauses. Die Anleitung zum selbstständigen Handeln sollte früh beginnen – es
müssen Mut, Zuversicht und Vertrauen in die eigene Kompetenz
Die Anleitung zum
vermittelt werden. Besonders wichtig für mich ist die durch selbstständigen
Liebe und Respekt bestärkte Förderung der Fähigkeit, sich über Handeln sollte früh
Enttäuschungen und Niederlagen hinwegsetzen zu können. Es beginnen – es müssen
Mut, Zuversicht und
muss eine Art »natürliche menschliche Autorität« bei dem eige- Vertrauen in die eigene
nen Handeln geprägt werden, die dann im weiteren Lebensver- Kompetenz vermittelt
werden.
lauf als gesundes Selbstvertrauen wirkt und daraus auch Enthusiasmus für die ein oder andere Sache zulässt. Nichts hält Kinder und Jugendliche
mehr zurück, als Zweifel an sich selbst und Angst vor Misserfolg. Mich haben meine
Eltern, die ursprünglich aus Armenien stammen, zu Selbstvertrauen erzogen und
damit stark gemacht.
Natürlich lassen sich junge Menschen auch von engagierten Gleichaltrigen zum
Mittun anstecken. Dennoch muss das eigene Elternhaus die Voraussetzung dadurch
schaffen, dass es dem Kind die ganze Bandbreite der gesellschaftlichen Wirklichkeit zeigt. Ebenso ist es für mich Aufgabe in der Erziehung, von Anfang an das
Miteinander verschiedener sozialer Milieus für selbstverständlich zu betrachten –
mehr noch, die Schichten miteinander zu vernetzen, um einen Zusammenhalt in
der Gesellschaft zu bilden.
Malzirkel für kreative Kinder in Halle/Saale
127
A S TG H I K B EG L A RYA N
Über die Jahre hinweg spielen auch die Kindergärten, Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen eine große Rolle für gesellschaftsorientiertes Denken. Die
Schule und die Lehrkräfte fördern aber leider oftmals nicht oder nur selten die Vereinbarkeit von Ausbildung und außerschulischem Engagement. Die Entwicklung
zum engagierten Menschen bleibt neben den hohen Leistungsforderungen in der
Schule zweitrangig.
Wenn also gesellschaftliches Engagement langfristig als normal, als etwas Alltägliches und zum Aufwachsen Zugehöriges angesehen werden soll, braucht es neben
einer Erziehung durch die Eltern eben auch die Arbeit der Bildungseinrichtungen,
die sich an der Förderung des Engagements orientiert. Seien es kleine Aktionen,
wie eine schulisch organisierte Aufführung der Theater-AG im Kinderheim, eine
Ausstellung des Kunst-Kurses oder ein Benefizkonzert des Schulorchesters im Seniorenheim usw. Es braucht kleine bewusste Schritte, mit denen Kinder und Jugendliche zu eigenem Engagement geleitet werden. Der Kern, der in der Erziehung
geformt werden muss, ist das eigene Bewusstsein der jungen Menschen, dass eigenes
Tun und daraus entstehende persönliche Autorität wichtig und normal ist.
Daneben braucht es sicher auch Rahmenbedingungen, die die Entwicklung von
Engagement und Autorität fördern. Wenn das entsprechende Bewusstsein bei jungen
Menschen geschaffen ist und es an die Umsetzung geht, ist die Förderung und Unterstützung durch Bereitstellung finanzieller Mittel, professioneller Begleiter, Seminare
oder von Material und Einrichtungen wichtig. Andernfalls schlafen alle guten Ansätze
wieder ein. Deutschland sollte mit seinen vielen großen und kleinen Stiftungen dabei
eigentlich keine Probleme haben, diese Form von Unterstützung zu geben.
Schwierig wird es, wenn sich bei vielen deutschen Jugendlichen eine falsche Einstellung zum gesellschaftlichen Engagement und dessen Wert herausbildet. Für eine
Änderung müssten auch die Eltern stärker unterstützt werden. Und in den Schulen
könnte noch viel mehr geschehen, vor allem bei der Vereinbarkeit von Engagement
und Schulalltag.
Zusammenfassend sehe ich großes Potenzial bei der heutigen Jugend – und mit der
richtigen Vermittlung menschlicher Werte und verschiedener kleiner Motivatoren
in Schule und Umfeld wird das Bewusstsein für den eigenen Wert und das daraus
entstehende Engagement ganz bestimmt wachsen. Dann wird auch »Autorität« zu
einem reflektierten Begriff und der Umgang damit stellt dann aus meiner Sicht kein
Problem dar.
128
Thomas Gauly (r.) im Gespräch mit Hermann Gröhe
Interview
Thomas Gauly sprach mit Hermann Gröhe über persönliche
und institutionelle Autorität in Staat und Gesellschaft
»Autorität« ist gerade
in Deutschland ein schwieriger Begriff,
denn sowohl der Nationalsozialismus
als auch die DDR haben staatliche und
andere Autoritäten missbraucht, mit
dem Ziel der Unterdrückung der Freiheit. Wie sehen Sie diesen historisch
beladenen Begriff aus der Perspektive
eines christdemokratischen Politikers?
THOMAS
G A U LY :
Ich denke, dass wir
als Christdemokraten – im Gegensatz
etwa zur SPD oder den Grünen – wenig
HERMANN
GRÖHE:
Berührungsängste mit diesem Begriff
haben. Wir haben in unserer Partei
große Persönlichkeiten mit hoher persönlicher Autorität wie Konrad Adenauer oder Helmut Kohl. Das gilt aber
auch auf theoretischer Ebene. Als Demokraten, die auf der Basis des christlichen Menschenbildes Politik gestalten,
lassen wir uns vom Prinzip der Subsidiarität leiten: Wir wissen, dass es Aufgaben gibt, die der Bürger alleine nicht
lösen kann, sondern für die er staatliche
Institutionen und Autoritäten braucht.
129
T H O M A S G A U LY S P R A C H M I T H E R M A N N G R Ö H E
Und wir wissen um unsere Fehlbarkeit
und unsere Anfälligkeit für Irrtümer.
Diese Einsicht bewahrt uns vor ideologischen Heilslehren und einem autoritären
Politikverständnis.
Persönliche Autorität ist
seit jeher ein maßgeblicher Ausdruck von
Führung. Diese Form von Autorität leitet
sich nicht selten von Eigenschaften wie
Kompetenz oder Integrität ab. Welches
sind die Werte, die Ihnen bei dem Begriff
»persönliche Autorität« einfallen?
T H O M A S G A U LY :
Mit Kompetenz und
Integrität haben Sie schon zwei der
wichtigsten Punkte genannt, die es
braucht, um persönliche Autorität zu
entwickeln. Ich würde sie gerade mit
Blick auf Autorität in der Politik um
Authentizität ergänzen. Die Bürger
wollen – ganz einfach gesagt – Persönlichkeiten, die ehrlich sagen, was sie
wollen, die wissen, was sie tun und umsetzen, was sie sagen. Aber auch Charisma und Herkunft können einer Person
zu Autorität verhelfen, wenn sie etwa an
Richard von Weizsäcker denken.
HERMANN
GRÖHE:
G A U LY : Im öffentlichen Ansehen hat die Autorität von Politikern
stark gelitten. In den Medien werden
Politiker nicht selten als Versager und
Dilettanten dargestellt. Dies führt unweigerlich dazu, dass der Berufsstand
als solcher unattraktiv erscheint. Wie
können Parteien dazu beitragen, dass
die Autorität von Politikern wieder gestärkt wird?
THOMAS
130
H E R M A N N G R Ö H E : Zunächst einmal stelle
ich fest, dass es einen Unterschied gibt
zwischen der öffentlichen, medialen
Wahrnehmung und dem, was ich und
auch viele andere Politiker im direkten
Kontakt mit den Bürgern erleben, gerade bei der Arbeit im Wahlkreis. Hier
wird uns Politikern immer wieder Respekt entgegengebracht und zwar dann,
wenn man authentisch, ehrlich und nah
bei den Sorgen der Bürger ist. Für uns
Parteien und Parteipolitiker stellt sich
die Aufgabe, erstens diesem Anspruch
selbst jeden Tag von Neuem gerecht zu
werden und zweitens nach mehr Menschen Ausschau zu halten, die diese
Aufgabe ebenfalls übernehmen können.
Dazu gehört auch, dass wir offen sind
für Querdenker und Leute mit Ecken
und Kanten. An diesem Punkt können
wir mit Sicherheit noch mehr tun.
T H O M A S G A U LY : Welches sind die Auswahlkriterien, um Politiker auf Landesoder Bundesebene zu werden? Brauchen wir andere Auswahlkriterien?
H E R M A N N G R Ö H E : Es gibt nach wie vor
die klassischen Auswahlkriterien wie
Führungsqualität, Leidenschaft für
Politik und Parteien und langjähriges
Engagement vor Ort. Nicht zu unterschätzen ist auch die Bereitschaft der
Kandidaten, ihren bisherigen Beruf und
ihr bisheriges Leben zu einem gewissen
Grade aufzugeben. Gleichzeitig sind
auch Leute mit spannenden Biografien
attraktiv. Für fragwürdig halte ich hingegen die Entwicklung, Kandidaten von
INTERVIEW
»außen« allein aufgrund ihrer Popularität zu gewinnen.
T H O M A S G A U LY : Müsste man nicht härter mit den Politikern umgehen, die das
Vertrauen der Wähler enttäuschen?
Wenn ich mir die Fälle
aus der jüngeren Vergangenheit anschaue, in denen Politiker das Vertrauen
der Wähler enttäuscht haben, wüsste ich
nicht wie härtere Strafen aussehen sollten. Die meisten haben nicht nur Amt
und Einfluss, sondern auch ihr Renommee für lange Zeit verloren. Aufgrund
der Fallhöhe aus Spitzenämtern sind die
damit verbundenen finanziellen Einbußen auch nicht zu unterschätzen, zumal
viele ihren ursprünglichen Beruf für die
Politik aufgegeben oder unterbrochen
haben und nun wieder neu Fuß fassen
müssen. Und auch der Familien- und
Freundeskreis geht in solchen Momenten durch eine schwere Zeit.
HERMANN GRÖHE:
Neben der Autorität des
einzelnen Politikers ist die Autorität des
Amtes, das ein Politiker bekleidet, von
Bedeutung. In Ländern wie den USA
wird z. B. dem Präsidenten in den Medien aber auch im öffentlichen Leben
ein sehr großer Respekt entgegen gebracht. Warum ist dies in Deutschland
anders?
Ich finde, dieser Vergleich ist nicht ganz passend. Wir haben
in Deutschland ein anderes Regierungssystem als die USA: Hier sind Staatsoberhaupt und Regierungschef zwei
getrennte Ämter, dort sind sie in einer
Person vereint. Und wenn Sie sich nun
anschauen, welche Hochachtung und
Autorität fast alle unsere Bundespräsidenten genossen haben und genießen
und wenn Sie gleichzeitig an das Vokabular der Tea-Party-Bewegung1 gegenüber Präsident Obama denken, lässt sich
die Unterscheidung so einfach nicht halten. Gleichwohl lässt sich nicht leugnen,
dass die Bürger in Deutschland sicherlich auch aufgrund unserer Geschichte,
auch der deutsch-deutschen Geschichte,
gewisse Vorbehalte gegenüber staatlichen Autoritäten haben.
HERMANN GRÖHE:
Diese sind eben auch
Ausdruck mangelnden Respekts. Hat
die oft zitierte »Krise der Institutionen«
nicht zuletzt darin ihren Ursprung?
THOMAS
G A U LY :
T H O M A S G A U LY :
1
Wir haben gerade in
der Wirtschafts- und Finanzkrise gesehen, wie nicht nur die Bürger auf die
Autorität unseres wirtschaftlich starken
Staates gesetzt haben. Nur ihm wurde
noch zugetraut, die Krise einzudämmen und zu meistern. Auch auf anderen
Feldern wie etwa bei der ArbeitsmarktHERMANN GRÖHE:
Die Tea-Party-Bewegung ist eine US-amerikanische populistische Protestbewegung mit rechtslibertären
Zügen. Ihre Anhänger setzen sich aus Mitgliedern der Christian Right, Neokonservativen und Libertären zusammen. Die Tea-Party-Bewegung hat 2009 als Reaktion auf Bankenrettungsversuche und Konjunkturpakete
im Zusammenhang mit der Finanzkrise damit begonnen, ihre Anhänger gegen Steuerpolitik und andere
Maßnahmen der Bundesregierung in Washington zu mobilisieren. Der Name der Bewegung bezieht sich
auf die Boston Tea Party von 1773, die als Bezeichnung für einen Akt des Widerstandes gegen die britische
Kolonialpolitik im Hafen der Stadt Boston gilt.
131
T H O M A S G A U LY S P R A C H M I T H E R M A N N G R Ö H E
förderung wird schnell nach dem Staat
gerufen. Es scheint also um dessen Autorität grundsätzlich nicht schlecht zu
stehen. Ich sehe auch weniger eine Krise
der Institutionen als vielmehr neue Herausforderungen für die sie tragenden
Personen.
T H O M A S G A U LY :
Können Sie ein Beispiel
nennen?
H E R M A N N G R Ö H E : Nicht erst Stuttgart 21
hat gezeigt, dass wir unsere Beteiligungsverfahren und die politische Kommunikation verbessern und dabei die
Institutionen noch stärker als Partner
und Kompetenzzentren für die Bürger
positionieren müssen. Demokratie kann
nicht ohne die Autorität staatlicher Institutionen funktionieren. Gerade in
einer komplizierter werdenden Welt
sind wir auf das Wissen und das Urteilsvermögen der Verantwortlichen in den
Institutionen anDemokratie kann nicht
gewiesen. Deshalb
ohne die Autorität staatlicher Institutionen funkwar es ja in der
tionieren.
Debatte um Stuttgart 21 so beunruhigend, dass aufgeklärte Bürger und auch einige Parteien die
Entscheidungen von Gerichten und
Parlamenten als nicht legitim abgelehnt
haben. Erstaunlich war dann übrigens,
dass einem Runden Tisch unter Leitung
von Heiner Geißler die Legitimität zur
Problemlösung zuerkannt wurde, ob-
132
wohl das Gremium und seine Vertreter
dafür demokratisch nicht legitimiert
waren. Für mich ist jedenfalls klar:
Einen solchen Vertrauensbruch zwischen Politik, Institutionen und Bürgern
wie bei Stuttgart 21 dürfen wir uns nicht
noch einmal erlauben.
Dieser »Vertrauensbruch« belastet in Deutschland das
Spannungsverhältnis zwischen Bürgern
und Politik, Institutionen und politischen Bewegungen. Welche Auswirkungen hat dies auf unser Verständnis
von Freiheit und Autorität?
THOMAS
G A U LY :
Das ist eine spannende Frage, die ich mir auch gestellt habe:
Passen Autorität, Demokratie und offene Gesellschaft zusammen? Ich bin
zu der Überzeugung gekommen, dass
Freiheit und Autorität trotz zahlreicher Pervertierungen von Autorität in
der Geschichte zusammen passen. Ja,
sie bedingen sogar einander: Sie brauchen etwa die Autorität von Polizei und
Justiz, um Freiheit zu gewährleisten.
Umgekehrt erfahren Autoritäten nur
in freien Gesellschaften wirkliche Legitimation und Akzeptanz. Andernfalls
sind sie nicht Gleiche unter Gleichen,
sondern Erste unter Gleichen und das –
so hat die Geschichte oft genug gezeigt
– funktioniert auf Dauer nicht.
HERMANN GRÖHE:
Biografien der Autoren
Blogger seit 2002 auf netzpolitik.org
über Politik in der digitalen Gesellschaft. Mitgründer
der newthinking communications GmbH, einer Berliner
Agentur für Open Source Strategien und digitale Kultur. Seit 2007 Veranstalter der re:publica-Konferenzen
über Blogs, soziale Medien und die digitale Gesellschaft. Sachverständiger in der Enquete-Kommission
des Deutschen Bundestags zu »Netzpolitik und digitale Gesellschaft« und Mitglied des Medienrates der
Medienanstalt Berlin-Brandenburg sowie persönliches
Mitglied der deutschen UNESCO-Kommission. Lehrbeauftragter für digitale Themen an verschiedenen Hochschulen und ehrenamtlich
Vorsitzender von Digitale Gesellschaft e. V., einem Verein zur Förderung von digitalen Bürgerrechten.
MARKUS BECKEDAHL:
133
BIOGRAFIEN DER AUTOREN
B E G L A R Y A N : Geboren 1991 in Frankfurt
am Main. Abitur 2010 an der Bettinaschule in
Frankfurt. Seit dem fünften Lebensjahr Klavierunterricht in der Klasse von Vladimir Khachatryan an der Musikschule Frankfurt. Gaststudium
bei Professor Karl-Heinz Kämmering an der Musikhochschule Hannover. Preisträgerin nationaler
und internationaler Klavierwettbewerbe. 2009 Stipendiatin des Stipendienprogramms »Stadtteilbotschafter« der Stiftung Polytechnische Gesellschaft
Frankfurt e. V. Ehrenamtliche Organisation von
Mozart-Workshops für Grundschulklassen aus
Frankfurt. Oktober 2010 Abschlusskonzert in Form eines Lehrkonzertes für Kinder und Jugendliche in der Alten Oper Frankfurt. Seit 2011 Musikstudium an der
Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover.
ASTGHIK
Geboren 1972 am Niederrhein.
Abitur als Stipendiat an der Schule Schloss Salem.
Studium der Politischen Wissenschaften mit den
Nebenfächern Psychologie und Öffentliches
Recht in Bonn; Promotion 2002 als Stipendiat
der Konrad-Adenauer-Stiftung mit einer Arbeit
über den Bundestagswahlkampf 1998. 2002/03
Mitarbeiter von Sabine Christiansen, 2004 Geschäftsführer der Stiftung Liberales Netzwerk.
Anschließend bis Ende 2009 fünf Jahre Grundsatzreferent und Redenschreiber im Bundespräsidialamt, seit 2010 im Bereich »Presse und Kommunikation« des Deutschen Bundestags. Fellow
der Stiftung Neue Verantwortung der Jahrgänge 2009/10 und 2010/11. Seit 2003
Lehraufträge an der Hochschule für Technik und Wirtschaft sowie an der Freien
Universität Berlin.
KNUT BERGMANN:
134
BIOGRAFIEN DER AUTOREN
Geboren 1954 in Walsum (jetzt Duisburg). 1970-1980 Kommunalverwaltungsbeamter
(mittlerer Dienst) bei der Stadt Dinslaken. 1982 Erstes
Staatsexamen, 1985 Zweites Staatsexamen. 1985-1986
Richter beim Sozialgericht Duisburg. 1987 Promotion
in Rechtswissenschaft (Bonn) mit dem Thema »Rechtsschutz im parlamentarischen Untersuchungsverfahren«. 1986-1990 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Öffentliches Recht der Universität Bonn. 1990
Promotion in Sozialwissenschaft (Duisburg) mit dem
Thema »Offener Diskurs und geschlossene Systeme«.
1990-1993 Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Öffentliches Recht der Universität Bonn. 1993 Habilitation (Bonn) mit dem Thema »Risikoentscheidungen im
Rechtsstaat«. Mai 1993 Universitätsprofessor (C3) an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster. November 1993 Universitätsprofessor (C4) an der Universität
Trier. 1997 Universitätsprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
2003 Universitätsprofessor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität
Bonn. Seit Dezember 1999 Richter des Bundesverfassungsgerichts (Zweiter Senat).
U D O D I FA B I O :
Geboren 1953 in Bochum. Studium
der Rechts- und Staatswissenschaften in Heidelberg,
Erlangen und Freiburg. Promotion zum Thema »Obdachlosigkeit und polizeiliche Intervention«. 1981-1985
tätig als Jurist auf allen Ebenen der baden-württembergischen Landesverwaltung. 1985-2003 parteiloser
Bürgermeister in Isny im Allgäu und Reutlingen sowie
Oberbürgermeister der Stadt Ludwigsburg. 2003-2007
erst in der Geschäftsleitung der Bertelsmann Stiftung,
dann der Gemeinnützigen Hertie-Stiftung. 2007-2010
Abteilungsleiter im nordrhein-westfälischen Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration. Neben seiner beruflichen
Tätigkeit nahm er zahlreiche Funktionen in nationalen Gremien wahr, wie im
Bundesjugendkuratorium, im Deutschen Jugendinstitut, beim Bundesministerium für Bildung und Forschung, als Präsident des Deutschen Bibliotheksverbandes,
beim Goethe-Institut und im Deutschen Städtetag. Seit Dezember 2010 Vorstand
der Herbert Quandt-Stiftung.
C H R I S T O F E I C H E R T:
135
BIOGRAFIEN DER AUTOREN
H A N S F L E I S C H : Geboren 1958 in Celle. Studium Generale; Studium der Rechtswissenschaften in Tübingen
und Göttingen. 1983-1986 Wissenschaftlicher Assistent
(Öffentliches Recht) an der Universität Göttingen und
nachfolgend bei der Medienkommission der Bundesländer. 1985-1988 Referendariat am OLG Celle. 1987
Promotion im Verfassungsrecht. 1988-1992 Assistent
des Vorstands, dann Leiter der Firmenkundenabteilung bei der Allianz Lebensversicherungs-AG, Stuttgart/Hannover. 1993-2002 Geschäftsführer der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung (DSW), Hannover.
2003 Direktor des European Center for Population & Development ECPD, Brüssel.
2004 Mitglied der Geschäftsleitung/Leiter Verwaltung & Finanzen der VolkswagenStiftung, Hannover. Seit 2005 Generalsekretär des Bundesverbandes Deutscher
Stiftungen.
Partner der CNC AG. Mitglied des
Stiftungsrates der Herbert Quandt-Stiftung; zuvor
Generalbevollmächtigter der ALTANA AG, Bad
Homburg sowie Mitglied des Vorstands der Herbert
Quandt-Stiftung, 2000-2002 Sprecher der Familie
Herbert Quandt. 1991-1996 Leiter der Stabsstelle »Politischen Planung und Sonderaufgaben« bei der CDU
Deutschland, Repräsentant der CDU Deutschland bei
der EVP in Brüssel und Straßburg und Berater des Generalsekretärs sowie des damaligen Bundeskanzlers,
Dr. Helmut Kohl. In den Jahren davor Referent in der Hochbegabtenförderung der
Katholischen Kirche, Ausbildung zum Redakteur, Hospitant und freier Journalist
für Tageszeitungen und das ZDF. Studium der Politischen Wissenschaften, Katholischen Theologie sowie der Mittleren und Neuen Geschichte an den Universitäten
Mainz und Bonn (M.A. und Promotion).
THOMAS
136
G A U LY :
BIOGRAFIEN DER AUTOREN
H E R M A N N G R Ö H E : Geboren 1961 in Uedem, Kreis
Kleve. 1980-1987 Studium der Rechtswissenschaften
an der Universität Köln. 1987 Erste juristische Staatsprüfung, 1993 Zweite juristische Staatsprüfung. Seit
1994 Rechtsanwalt. 1989-1994 Bundesvorsitzender der
Jungen Union Deutschlands. Seit 1994 Mitglied des
Deutschen Bundestags. 2005-2008 Justiziar der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion. Oktober 2008 bis Oktober
2009 Staatsminister bei der Bundeskanzlerin Angela
Merkel. Seit Oktober 2009 Generalsekretär der CDU
Deutschlands. Seit 1997 Mitglied der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), 1997-2009 Mitglied im Rat der EKD. Seit
2001 Mitglied im Vorstand der Konrad-Adenauer-Stiftung.
Geboren 1962 in Bad Homburg.
1984-1985 Business Studies an der University of Buckingham, BSc. 1988 Studium am International Institute for
Management Development, Lausanne, MBA. Seit 1991
selbstständige Unternehmerin. Aufsichtsratsmandate
in familiennahen Unternehmen: Stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende der ALTANA AG, Aufsichtsratsmitglied der BMW AG. Aufsichtsratsmitglied der
SGL Carbon AG, Aufsichtsratsvorsitzende der UnternehmerTUM GmbH, Garching. Vorsitzende des Stiftungsrates der Herbert Quandt-Stiftung. Mitglied des
Hochschulrates der Technischen Universität München.
SUSANNE
K L AT T E N :
T H O M A S P E T E R S E N : Geboren 1968 in Hamburg. Studium der Publizistik, Alten Geschichte und Vor- und
Frühgeschichte in Mainz. Promotion zum Thema
»Das Feldexperiment in der Umfrageforschung«, Habilitation über das Thema »Die Wirkung von Bildsignalen in der Medienberichterstattung auf die Meinungsbildung der Bevölkerung«. 1990-1993 Journalist
beim Südwestfunk-Fernsehen in Mainz, 1993-1999
Wissenschaftlicher Assistent, seit 1999 Projektleiter am
Institut für Demoskopie Allensbach. Seit 1996 Lehraufträge an verschiedenen Universitäten, so an der
Universität Mainz, der Technischen Universität Dres-
137
BIOGRAFIEN DER AUTOREN
den und der Donau-Universität Krems. 2008-2010 Präsident der World Association
for Public Opinion Research. Sprecher der Fachgruppe »Visuelle Kommunikation«
der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft.
Geboren 1971 in Frankfurt am Main.
Studium der Rechtswissenschaften, der Politologie und
der Geschichte an der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt am Main. 1998-2000 Doktorand
am Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte. 2001 Promotion zum mit dem Thema »Kirchenrecht und Kulturkampf«. 2001 Auszeichnung der
Promotion mit der Otto-Hahn-Medaille. 2001-2003
wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht bei BVR Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio. Seit Juli
2003 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-PlanckInstitut für Europäische Rechtsgeschichte. Seit April 2005 Leiter der Max-PlanckForschungsgruppe »Lebensalter und Recht«. Seit September 2009 Mitglied des
Deutschen Bundestags (FDP-Fraktion).
S T E FA N R U P P E R T:
Geboren 1944 in Neustadt/Aisch.
Studium der Soziologie in München und ErlangenNürnberg. 1974 Promotion zum Dr. rer. pol. 1978 Habilitation in Soziologie. 1979 Berufung auf den Lehrstuhl für Methoden der empirischen Sozialforschung
an der Universität Bamberg. Themenschwerpunkt bei
Vorträgen, Beratungen und Veröffentlichungen: Kultureller Wandel. Bücher (Auswahl): Die Erlebnisgesellschaft Frankfurt/Main 2005; Die beste aller Welten.
Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert?, München 2003; Die Sünde. Das schöne Leben
und seine Feinde, München 2006; Krisen. Das Alarmdilemma, Frankfurt/Main 2011.
GERHARD SCHULZE:
138
BIOGRAFIEN DER AUTOREN
P E T E R V O S S : Geboren 1941 in Hamburg. 1961-1968
Studium der Germanistik und Anglistik, Soziologie,
Jura und Ethnologie an der Universität Göttingen.
1968/1969 Redaktionsvolontär beim Göttinger Tageblatt
und bei der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. 19691971 Verantwortlicher Redakteur für das Ressort Lokales beim Göttinger Tageblatt. 1971-1977 Nachrichtenredakteur und Korrespondent beim ZDF. 1978-1981
Wechsel zum Bayerischen Rundfunk als stellv. Redaktionsleiter des ARD-Magazins Report. 1981 Rückkehr
zum ZDF als stellv. Redaktionsleiter des heute-journals.
1985-1993 Leiter der ZDF-Hauptredaktion Aktuelles, 1990 auch stellv. Chefredakteur des ZDF. 1993-1998 Intendant des Südwestfunks. März 1998 bis April 2007
Gründungsintendant des Südwestrundfunks. Januar 1999 bis Dezember 2000 Vorsitzender der ARD, danach bis Dezember 2002 stellv. Vorsitzender. Seit Mai 1996
Moderator der »Bühler Begegnungen«, heute »Peter Voß fragt …« (3 SAT). Seit
April 1997 Professor an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe.
September 2001 bis September 2007 Moderator des ARD-Presseclub (im Wechsel mit
Fritz Pleitgen). Januar 2003 bis Juli 2007 Mitglied im Verwaltungsrat der Europäischen Rundfunkkommission (EBU). Seit 2009 Präsident der Quadriga Hochschule
Berlin.
W A L T E R : Geboren 1956 im ostwestfälischen
Steinheim. Studium der Geschichte und Sozialwissenschaften in Berlin und Bielefeld. Seit 2000 Professor
für Politikwissenschaften der Universität Göttingen.
Seit März 2010 Leiter des Instituts für Demokratieforschung an der Universität Göttingen. Letzte Veröffentlichungen: Vorwärts oder abwärts? Zur Transformation der Sozialdemokratie, Berlin 2010; Gelb oder
Grün? Kleine Parteiengeschichte der besserverdienenden Mitte in Deutschland, Bielefeld 2010; Entbehrliche
der Bürgergesellschaft? Sozial Benachteiligte und Engagement. Bielefeld 2011.
FRANZ
139
31. Sinclair-Haus-Gespräch
am 07./08.05.2011 in Bad Homburg v. d. H.
Teilnehmer
Beckedahl, Markus;
netzpolitik.org, Berlin
Chefredakteur,
Beglaryan, Astghik; Studentin, Stadtteilbotschafterin für Hausen 2009/2010,
Frankfurt a. M.
Bergmann Dr., Knut; Fellow Stiftung
Neue Verantwortung, Berlin
Bremer, Monika; Pressevolontärin, BürgerAkademikerin, Stiftung Polytechnische Gesellschaft, Frankfurt a. M.
Di Fabio Prof. Dr. Dr., Udo; Richter des
Bundesverfassungsgerichts, Karlsruhe,
Professor für Öffentliches Recht, Universität Bonn, Mitglied des Stiftungsrates der Herbert Quandt-Stiftung, Bonn
Eichert Dr., Christof; Vorstand der Herbert Quandt-Stiftung, Bad Homburg
140
Fleisch Prof. Dr., Hans; Generalsekretär
des Bundesverbands Deutscher Stiftungen, Berlin
Gauly Dr., Thomas; Partner CNC-Communications & Network Consulting AG,
Mitglied des Stiftungsrates der Herbert
Quandt-Stiftung, Frankfurt a. M.
von der Goltz, Graf Hans; Schriftsteller,
Ehrenvorsitzender der Sinclair-HausGespräche der Herbert Quandt-Stiftung, München
Gröhe, Hermann; Generalsekretär der
CDU Deutschlands, Mitglied des Deutschen Bundestags, Berlin
Kaehlbrandt Dr., Roland; Vorstandsvorsitzender der Stiftung Polytechnische
Gesellschaft, Frankfurt a. M.
31. SI N C L AI R- H AUS - G E S P R ÄC H
Klatten, Susanne; Vorsitzende des Stiftungsrates der Herbert Quandt-Stiftung, München
Steinberg Prof. Dr., Rudolf; ehem. Präsident der Universität Frankfurt, Stellv.
Vorsitzender des Stiftungsrates der Herbert Quandt-Stiftung, Frankfurt a. M.
Löffler Dr., Roland; Themenfeldleiter
»Bürger und Gesellschaft«, Leiter der
Repräsentanz der Herbert Quandt-Stiftung, Berlin
Voß Prof. Dr., Peter; Präsident der Quadriga Hochschule Berlin, Intendant
a. D. des SWR, Baden-Baden
Möhlmann, Sabina; Ministerialdirektorin, Leiterin der Abteilung Inland des
Bundespräsidialamts, Berlin
Walter Prof. Dr., Franz; Leiter des Instituts für Demokratieforschung, GeorgAugust-Universität Göttingen, Göttingen
Petersen PD Dr., Thomas; Projektleiter Institut für Demoskopie Allensbach,
Allensbach
Weidenfeld Dr., Ursula; freie Journalistin, Potsdam
Ruppert Dr., Stefan; Mitglied des Deutschen Bundestags, FDP-Fraktion, Berlin
Weigand, Roman; Referent für Presse
und Öffentlichkeitsarbeit, Herbert
Quandt-Stiftung, Bad Homburg
Schäfer Prof. Dr., Hermann; Mitglied
des Stiftungsrates der Herbert QuandtStiftung, Bonn
von Welck Prof. Dr., Karin; Senatorin
a. D., Mitglied des Stiftungsrates der
Herbert Quandt-Stiftung, Hamburg
Schulze Prof. em. Dr., Gerhard; OttoFriedrich-Universität Bamberg, Bamberg
Winnacker Prof. Dr., Ernst-Ludwig;
Generalsekretär des Human Frontier
Science Program, Mitglied des Stiftungsrates der Herbert Quandt-Stiftung, Straßburg
141
Sinclair-Haus-Gespräche
Themen
1. Welt im Umbruch: Können Demokratie und Marktwirtschaft überleben?
November 1993
2. Verwildert der Mensch? Voraussetzungen gesellschaftlicher Ordnung
April 1994
3. Quo vadis? Deutschland nach einem
besonderen Wahljahr
Dezember 1994
4. Kulturen im Konflikt –
Die Bestimmung Europas
März/April 1995
9. Russland – wohin?
Dezember 1997
10. Leben – um welchen Preis?
April 1998
11. Trialog der Kulturen im Zeitalter
der Globalisierung
Dezember 1998
12. Vom christlichen Abendland zum
multikulturellen Einwanderungsland?
April 1999
5. Kultur als Machtinstrument
Dezember 1995
13. Die Zukunft des Gewesenen –
Erinnern und Vergessen an der
Schwelle des neuen Millenniums
November 1999
6. Globale Wirtschaft – nationale Sozialpolitik: Wie lange geht das noch gut?
April 1996
14. Die stille Revolution –
Geschlechterrollen verändern sich
April 2000
7. Löst sich die Industriegesellschaft auf?
November 1996
15. Kapitalismus ohne Moral?
Ethische Grundlagen einer globalen
Wirtschaft
November 2000
8. Europa nach der Wirtschafts- und
Währungsunion
April 1997
142
SINCL AIR-HAUS - GESPRÄCHE
16. Europas Verfassung –
Eine Ordnung für die Zukunft der
Union
Mai 2001
25. Unternehmerischer Patriotismus
in Zeiten globaler Märkte
November 2005
26. Die Zukunft der gesellschaftlichen
Mitte in Deutschland
Mai 2006
17. Wem gehört der Mensch?
November 2001
18. Brücken in die Zukunft –
Museen, Musik und darstellende
Künste im 21. Jahrhundert
April 2002
19. Afrika – der vergessene Kontinent?
November 2002
27. Die Mitte als Motor der Gesellschaft –
Spielräume und Akteure
April 2007
28. Wege zur gesellschaftlichen Mitte –
Chancen, Leistung und Verantwortung
April 2008
29. Aspekte gesellschaftlicher Mitte in
Europa – Annäherungen und Potentiale
April 2009
20. Medien in der Krise
Mai 2003
21. Jenseits des Staates? »Außenpolitik«
durch Unternehmen und NGOs
November 2003
22. Gesellschaft ohne Zukunft?
Bevölkerungsrückgang und Überalterung als politische Herausforderung
Mai 2004
30. Vertrauen und das soziale Kapital
unserer Gesellschaft
April 2010
31. Autorität heute – Neue Formen,
andere Akteure?
Mai 2011
23. Mut zur Führung –
Zumutungen der Freiheit.
Wie wahrheitsfähig ist die
Politik?
November 2004
24. Europa und Lateinamerika – Auf dem Weg
zu strategischer Partnerschaft?
April 2005
Roland Kaehlbrandt (l.) und Roland Löffler in die Lektüre vertieft
143
Die Herbert Quandt-Stiftung und
die Sinclair-Haus-Gespräche
Herbert Quandt-Stiftung
Den Bürger stärken – die Gesellschaft fördern
Gestiftet als Dank für die Lebensleistung des Unternehmers Dr. Herbert Quandt
setzt sich die Herbert Quandt-Stiftung für die Stärkung und Fortentwicklung
unseres freiheitlichen Gemeinwesens ein. Ausgangspunkt ihres Handelns in den
Satzungsbereichen Wissenschaft, Bildung und Kultur ist entsprechend diesem Vorbild die Initiativkraft des Einzelnen und die Einsatzbereitschaft für Andere. Die
Stiftung will mit ihrem Wirken dazu beitragen, das Ideal des eigenständigen Bürgers zu fördern: Sie möchte Menschen anregen, ihre individuellen Begabungen zu
entfalten und Verantwortung für sich sowie für das Gemeinwesen zu übernehmen.
Die Stiftung ist grundsätzlich operativ tätig in Form von längerfristigen Programmen. Sie greift gesellschaftspolitische Themen auf, erschließt sie in Kooperation
mit der Wissenschaft, entwickelt praktikable Lösungsansätze und bringt sie in das
Bewusstsein der Öffentlichkeit und der Politik. Sie möchte damit auch die politische
Kultur unseres Landes fördern. Je nach Erfordernis setzt die Herbert Quandt-Stiftung auf Bündnisse mit anderen Institutionen und Organisationen, um den gesamtgesellschaftlichen Dialog zu befördern sowie andere zu ermutigen, die Anliegen der
Stiftung aufzunehmen und weiterzutragen.
Isaak von Sinclair
Isaak von Sinclair (1775-1815) war Berater und enger Vertrauter des Landgrafen
von Hessen-Homburg, dessen Interessen Sinclair u.a. auf dem Wiener Kongress
vertrat. Sinclair war aber nicht nur Beamter und Diplomat, sondern auch Intellektueller und Poet. Seine idealistische Philosophie und die seines Freundeskreises, dem
Hegel, Schelling und Hölderlin angehörten, waren von der geistigen und politischen
Auseinandersetzung im Gefolge der Aufklärung und der Französischen Revolution
geprägt.
144
D I E H E R B E R T Q UA N D T- S TI F T U N G
Teilnehmerrunde im Sinclair-Haus
Sinclair war Hölderlin insbesondere während dessen schwierigen Lebensphasen ein
hilfreicher Freund. Als »edler Freund des Freundes« gewährte Sinclair dem Dichter
Zuflucht, finanzierte seinen Lebensunterhalt und kümmerte sich um den Kranken.
Sinclair-Haus-Gespräche
1978 erwarb die ALTANA AG das Haus, das den Namen Isaak von Sinclairs trägt.
Das dem Bad Homburger Schloss gegenüber gelegene Haus wurde in der Schönheit
seiner ursprünglichen Barockform restauriert.
Seit 1993 finden hier die Sinclair-Haus-Gespräche statt, in denen die Herbert
Quandt-Stiftung internationale Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft,
Kultur, Politik und den Kirchen zum Gespräch über die grundlegenden Fragen
der Gegenwart mit dem Ziel zusammenführt, gemeinsam trägfähige Ansätze für
Problemlösungen zu entwickeln. Die Begegnungen erfolgen in einem geschlossenen
Kreis von etwa 25 Teilnehmern und dienen so einem offenen Gedankenaustausch.
Die Ergebnisse werden veröffentlicht, um den gewonnenen Erkenntnissen über den
Teilnehmerkreis hinaus Resonanz zu verschaffen.
145
Bildnachweis
Titel: Sean Gallup
S. 3, 6, 9, 73, 129, 133-141, 143, 145: Mirko Krizanovic
S. 11, 13, 39, 66, 79, 96, 103: picture alliance/dpa
S. 27: picture alliance/imagestate/HIP/Ann Ronan Picture Library
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S. 49, 127: picture alliance/ZB
S. 85: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung: Bild-Nr. 4537
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S. 115: picture alliance/Süddeutsche Zeitung Photo
S. 123: Initiative Bürgerstiftungen
146
Impressum
HERAUSGEBER
Herbert Quandt-Stiftung
Am Pilgerrain 15
61352 Bad Homburg v. d. Höhe
www.herbert-quandt-stiftung.de
VERLAG
Verlag Herder GmbH
Hermann-Herder-Str. 4
79104 Freiburg
www.herder.de
TEXTREDAKTION
Dr. Christof Eichert
Dr. Roland Löffler
Stephanie Hohn
L E K T O R AT
Stephanie Hohn
Eva Lang
G E S TA LT U N G S K O N Z E P T
Stählingdesign, Darmstadt
S AT Z U N D B I L D B E A R B E I T U N G
Arnold & Domnick, Leipzig
HERSTELLUNG
freiburger graphische betriebe · fgb
© Herbert Quandt-Stiftung
Alle Rechte vorbehalten.
November 2011
ISBN 978-3-451-30520-7

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