literaturwissenschaf literaturwissenschaft

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literaturwissenschaf literaturwissenschaft
INHALT:
Stattliches Alter – ermutigende Perspektiven (George GuŃu) ................................................. 7
100 Jahre Germanistik in Bukarest................................................................................................
9
Bukarest
GEORGE GUłU: Zum 100. Gründungstag des Germanistiklehrstuhls der
Universität Bukarest (1905-2005).............................................................................................. 9
WILFRIED GRUBER: Grusswort anlässlich des 100. Gründungstages
des Germanistiklehrstuhls der Universität Bukarest............................................................15
STEFAN SIENERTH: Ansprache aus Anlaß des 100. Gründungstages des
Germanistiklehrsuhls der Universität Bukarest.....................................................................17
ALEXANDRA CORNILESCU: Zum feierlichen Jubiläum des Germanistiklehrstuhls
der Universität Bukarest ............................................................................................................20
MARKUS FISCHER: 100 Jahre Germanistik in Bukarest. Ein Bericht ........................................24
DOKUMENTE ..........................................................................................................................................27
Programm der Veranstaltungen aus Anlass des 100. Jubiläums...................................27
Programm der Wissenschaftlichen Tagung „Interkulturelle Grenzgänge“ (Bukarest,
5.-6. Nov. 2005) ............................................................................................................................29
Literaturwissenschaft ......................................................................................................................34
CORNELIA E{IANU: Identitätskonzeptionen in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre .........34
VASILE V. POENARU: Der ungefähre Weg in die Mitte: Verschlüsselungstechnik
in Wilhelm Meisters Wanderjahre und in den Wahlverwandtschaften..........................45
KLAUS F. GILLE: Zwischen Hundsstall und Holzpuppen. Zum Kunstgespräch in Büchners Lenz..............53
MIHAI A. STROE: Meyrink und das theomorphische Menschenbild........................................58
LAURA CHEIE: Phänomenologie und Poetik des Wasserbildes bei Georg Trakl....................85
CARMEN ELISABETH PUCHIANU: Traditionalismus versus Modernismus
am Beispiel von Thomas Mann und James Joyce .................................................................93
MARGARETE WAGNER: Hermine Ott und ihre Namensschwestern.
Annäherungen an Ferdinand von Saars Novelle Der ‘Exzellenzherr’ ........................... 102
Inhalt
MARIANA-VIRGINIA LĂZĂRESCU: Hugo von Hofmannsthals Essays –
eine „alles verschlingende Unform”? .................................................................................... 115
CORINA PETRESCU: Ghettoöffentlichkeit – Jüdischer Kulturbund Berlin
between National Socialist Regulations and Self-Assertion.......................................... 128
DELIA E{IAN: „Wo das Wort aufhört, beginnt die Musik.“ Zu Ingeborg Bachmanns
Freundschaft und künstlerischer Zusammenarbeit mit Hans Werner Henze............. 143
BEATE PETRA KORY: Die Botschaft des Unbewussten in Ingeborg Bachmanns
Der Fall Franza ............................................................................................................................ 155
LARISSA CYBENKO: Musik als grenzübergreifendes Thema bei
Ingeborg Bachmann: Der Fall Malina................................................................................... 162
GÜNTER HOFFLER: „Die Mördergruben unserer Geschichte“. Zu Werner Fritschs
„Hydra Krieg. Traumspiel“ ........................................................................................................ 171
CORINA BERNIC: Acid. Korrosive Rezeption der Beat-Generation in der BRD .................. 178
ALBERT MEIER: Konstruktiver Defaitismus. Inwiefern sich DIE
HAMLETMASCHINE von Heiner Müller verstehen lässt ................................................. 185
Linguistik & Didaktik
193
Didaktik.....................................................................................................................
daktik
BIANCA BICAN: Das Motiv der Sonne in deutschen Sprichwörtern und
sprichwörtlichen Redensarten................................................................................................ 193
ALIONA DOSCA: Zwischen literarischem und juristischem Prozess.
Zum terminologischen Wortgut bei Franz Kafka............................................................... 203
AYFER AKTAŞ: Die Semantik der deverbalen be-Verben ........................................................ 209
VLADIMIR KARABALIĆ: „Entschuldigen Sie bitte“: Aspekte der Valenz bei
Illokutionsverben.......................................................................................................................... 221
MIOARA MOCANU: Der Ausdruck der Negation im Deutschen und Rumänischen........... 237
RUXANDRA COSMA: Über Einträge in zweisprachige Lexika des Nomens.
Wie sie sind und wie sie in einem rumänisch-deutschen Ansatz außerdem
noch sein könnten................................................................................................................... 243
4
ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
Inhalt
ADINA–LUCIA NISTOR: Diachrone Aspekte der Familiennamen Schu(h)mann,
Schu(h)macher, Schuster in Deutschland............................................................................ 255
ANITA-ANDREA SZÉLL: Übersetzung als „Tanz in Ketten“. Aspekte
der Übertragung des Romans von Hans Bergel ins Rumänisch ..................................... 264
MARIA ILEANA MOISE: Aussprachestandard – Ziel der phonetischen Ausbildung
rumänischer Germanistikstudenten und zukünftiger DaF-Lehrer................................. 283
KOEN VANHAEGENDOREN: Alternative Didaktik im Fremdsprachenunterricht
im Zeitraum 1945-1980. Ein Beitrag zur Geschichte der Didaktik............................... 295
MICHAEL KLEES: Vom Buch zur ›Silberhostie‹ – Germanistik auf CD-ROM....................... 309
Deutsche Sprache und deutschsprachige Literatur in Südosteuropa .............................. 319
RALUCA RĂDULESCU: Die rumäniendeutsche Literatur: Sonderstatus und
Wertungsproblematik ............................................................................................................... 319
HANS BERGEL: Die kulturelle Einheit Europas. Franz Hutterer und die
Besessenheit vom Südosten.................................................................................................... 335
HELMUT BRAUN: Zum Beziehungsgeflecht der Czernowitzer Dichter. Aus dem
Nachlass von Rose Ausländer: „Lieber Sperber! Ich wollte, ich könnte
einmal in einer hellseherischen Anwandlung die Mysterien Ihres
periodischen Schweigens ergründen.“ ................................................................................. 340
HANS GEHL: Die Bedeutung donauschwäbischer Symbole................................................... 370
KINGA GÁLL: Multikulturalität und Mehrsprachigkeit in der Banatdeutschen
Presse ............................................................................................................................................ 396
ANNEMARIE WEBER: Deutsche Kinder- und Jugendliteratur in Rumänien
(1945-1989). Ein Bericht ......................................................................................................... 403
Gestalten der Germanistik in Rumänien..................................................................................
408
Rumänien
HANS GEHL: Hans Weresch als Lehrer- und Erzieherpersönlichkeit .................................. 408
ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
5
Inhalt
Zum 80. Geburtstag von Hans Bergel ...................................................................................... 415
PETER MOTZAN: Theoriekonstruktion und schriftstellerische Praxis. Hans
Bergels Essay Die Novelle als klassische Kunstform. Ihre Technik und ihre
Metaphysik und seine Novelle Die Rückkehr des Rees................................................... 415
GEORGE GUłU (Hrsg.): „Gnade und Herausforderung der Vielfalt“. Aus dem
Briefwechsel Manfred Winkler – Hans Bergel.................................................................... 422
Peter Motzan zum 60. Geburtstag............................................................................................
440
Geburtstag
PETER MOTZAN: „Denn Bleiben ist nirgends“. Der Lyriker Werner Söllner
im Kontext seiner Generation................................................................................................. 440
GEORGE GUłU: Worte der Achtung. Zu Peter Motzans 60. Geburtstag ............................ 456
Antal Mádl:.............................................................................................................................. 458
Dieter Schlesak: ...................................................................................................................... 459
Elena Viorel:............................................................................................................................. 459
Hans Bergel: ............................................................................................................................ 460
Klaus Werner:.......................................................................................................................... 460
Andrei Corbea-Hoişie:........................................................................................................... 461
Bianca Bican:........................................................................................................................... 462
Volker Hoffmann:................................................................................................................... 462
Richard Wagner:..................................................................................................................... 463
Maria Kłańska: ........................................................................................................................ 463
Zoltán Szendi: ......................................................................................................................... 464
Martin A. Hainz: ..................................................................................................................... 464
Eduard Schneider: .................................................................................................................. 465
Raluca Rădulescu:.................................................................................................................. 467
Mariana Lăzărescu:................................................................................................................ 467
Stefan Sienerth....................................................................................................................... 469
Matthias Buth......................................................................................................................... 471
*** Prof. h.c. Dr. PETER MOTZAN. Bio-bibliographische Angaben.......................................... 472
6
ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
Inhalt
Die Leseprobe..................................................................................................................................
Leseprobe
479
MICHAEL ASTNER: Gedichte............................................................................................................ 479
HUGO LOETSCHER: Mein Trickfilm ................................................................................................. 482
Zu Gast in Bukarest.......................................................................................................................
Bukarest
486
JEROEN DEWULF: Hugo Loetscher - eine Einführung. ............................................................. 486
Bücher489
Bücher- und Zeitschriftenschau................................................................................................
Zeitschriftenschau
Carmen
Carmen Elisabeth Puchianu: Unvermeidlich Schnee.
Schnee. Gedichte.
Gedichte Mit einem Nachwort
von Rudolf Segl. Passau: Verlag Karl Stutz, 2002 (Mariana Lăzărescu) ...................... 489
Klaus Demus: Sternzeit. Kurze Gedichte,
Gedichte Wien: Löcker Verlag 2001; Gleichartigem
Zugeflüster,
Zugeflüster Wien: Löcker Verlag 2002 (Martin A. Hainz) .............................................. 492
Karl Hohensinner, Peter Wiesinger (unter Mitarbeit von Hermann Scheuringer
und Michael Schefbäck): Ortsnamenbuch
Ortsnamenbuch des Landes Oberösterreich (Bd. 11): Die
Orts
Ortsnamen der politischen Bezirke Perg und Frei
Freistadt (östliches Mühlviertel)
Mühlviertel) Verlag der
österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien, 2003 (Sorin Gădeanu) ........ 494
Hans Gehl, Viorel Ciubotă
Ciubotă: Materielle und
und geistige Volkskultur des Oberen
Theißbec
Theißbeckens. Einfluss der deutschen Bevölkerung auf die anderen Ethnien der
Region,
Region Editura Muzeului Sătmărean, Satu Mare / Tübingen, 2003
(Sorin Gădeanu).......................................................................................................................... 497
Norman Manea: Die Rückkehr des Hooligan. Ein Selbstporträt.
Selbstporträt Aus dem
Rumänischen von Georg Aescht. München: Hanser 2004. 411 S. (Markus Fischer)............ 498
Lipceanu, Ala; Rotaru, Sergiu (Hrsg.): Stufe für Stufe. Deutsch erwer
erwerben.
ben. Chişinău:
Editura Arc, 2002. 248 Seiten (Ana Iroaie) ......................................................................... 500
Ludwig Wittgenstein în filosofia secolului
secolului XX,
XX hrsg. v. Mircea Flonta und
Gheorghe {tefanov. Iaşi: Polirom 2002 (A Treia Europă) (Martin A. Hainz)............... 504
Orlando Balaş
Balaş: Limba Germană. Simplu şi eficient. Editura Polirom, Iaşi 2005,
352 S. Mit einem Vorwort von Rudolf Windisch (Andrea Hamburg) ........................... 506
Rezeptionsgeschichte und Reparation. Bian
Bianca Bican: Die Rezeption Paul Celans
ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
7
Inhalt
in Rumänien,
Rumänien Böhlau Verlag, Köln/Weimar/Wien 2005. 230 Seiten
(HoraŃiu Decuble) ....................................................................................................................... 506
Tagungen, Symposien, Kolloquien, Kurse ................................................................................ 509
"Identität und Differenz. Geschlechterkonstruk
Geschlechterkonstruktion und Interkulturalität"
Interkulturalität". Tagung des
DFGDFG-Graduiertenkollegs Trier, 2.11.2004-4.11.2004 (Alexander PătruŃ) .................... 509
„Streiflichter. Einblicke in die deutsche Literatur im südöstlichen Mitteleuropa“
Mitteleuropa“,
Simposion des EliasElias-CanettiCanetti-Lehrstuhls der Viadrina, des IKGS und der GGR,
GGR
Frankfurt (Oder), 12. Mai 2005 (Wojciech Zabek)............................................................. 512
"Goethes Schiller – Schillers Goethe".
Goethe" 79. wissenschaftliche Konferenz und
Hauptversammlung der GoetheGoethe-Gesellschaft in Weimar.
Weimar Weimar, 18. - 21. Mai 2005
(George GuŃu).............................................................................................................................. 514
„Germanistik
Germanistik im Eu
Europäischen
ropäischen Hochschulraum. Studienstruktur, Qualitätssicherung,
Internationalisierung“.
(Hochschulrektorenkonferenz)),
nternationalisierung Tagung des DAAD und der HRK (Hochschulrektorenkonferenz
Freiburg, 15. – 18. Juni 2005; 16. Juni: Arbeitstagung der Vertreter europäi
europäischer
Germanistenverbände (George GuŃu) ....................................................................................... 516
Mitteilungen der Gesellschaft der Germanisten Rumäniens..............................................
517
Rumäniens
Zu den Autoren und Autorinnen dieses Heftes...................................................................... 530
8
ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
Stattliches Alter – ermutigende Perspektiven
In einem Glückwunschschreiben des Generalsekretärs der Konrad-Adenauer-Stiftung wird darauf
hingewiesen, dass das 100. Jubiläum des Germanistiklehrstuhls der Universität Bukarest im Zuge der
zunehmenden Bedeutung der deutschen Sprache im Mittel- und Südosteuropa ein wichtiges Ereignis
ist. In der Tat, mit der Gründung des Bukarester Lehrstuhls für deutsche Sprache und Literatur im Jahre
1905 wurden dem hochschulischen Deutschunterricht und der Forschung im Bereich der deutschen
Sprache, Kultur und Literatur wesentliche Impulse verliehen, indem im damaligen Rumänien die
germanistisch orientierte Lehre und Forschung auf neue, tragfähigere und zukunftsweisende Grundlagen gestellt wurde. Diesem bedeutenden Jubiläum wurden in Bukarest beachtliche Veranstaltungen
gewidmet, die im ersten Teil des vorliegenden Doppelheftes dokumentiert sind.
Im nächsten Abschnitt werden literaturwissenschaftliche Beiträge veröffentlicht, die sich mit verschiedenen theoretischen sowie geschichtlichen Aspekten der deutschen Literatur von Goethe bis
Heiner Müller befassen. Zu Wort melden sich nicht nur rumänische, sondern – in der gewohnten guten
Tradition unserer Fachpublikation – auch inlands- und auslandsgermanistische Kollegen. Dasselbe gilt
auch für den der Linguistik und Didaktik einberaumten Abschnitt, in dem u.a. auch die regionalen Bemühungen um die Erforschung der deutschen Sprache sowie um die Einführung der Bologna-Vorgaben
durch anregende Untersuchungen belegt werden.
Die Untersuchung des rumäniendeutschen Sprach- und Literaturphänomens war, ist und wird auch
in Zukunft eine vorrangige Aufgabe der rumänischen Germanistik sein. In diesem Bereich zeigt sich
zugleich, wie eng die Kontakte unserer Germanisten mit den sich mit diesem Bereich befassenden ausländischen Kollegen gestaltet sind. Tradition und Gegenwart gehen in diesem Forschungsbereich Hand
in Hand. Deshalb werden von uns ebenso frühere (Hans Weresch) wie auch gegenwärtige (Peter
Motzan) Germanisten, die in Rumänien gewirkt haben, gewürdigt.
Die gewohnte Rubrik Die Leseprobe bringt Texte eines rumäniendeutschen und eines schweizerdeutschen Autors. Letzterer besuchte Bukarest und las vor Germani-stikstudenten aus seinem Werk.
Traditionelle Rubriken wie Bücher und Zeitschriftenschau sowie Tagungen, Symposien,
Kolloquien, Kurse ergänzen die Palette fachbezogener sowie fachübergreifender Informationen durch
Stellungnahmen zu einschlägigen Publikationen sowie durch sachkundige Berichte von einigen bedeutenden Tagungen.
Die Ankündigung des bevorstehenden VII. Kongresses der Germanisten Rumäniens, der vom 22.25. Mai 2006 in Temeswar stattfinden wird, weist auf ein weiteres bedeutendes germanistisches Ereignis hin, das die 1994 – nach einer 62 Jahre langen Unterbrechung – wieder aufgenommene Tradition
1997, 2000, 2003 kontinuierlich fortsetzte und jedesmal bereicherte. Durch die breite nationale und
internationale Beteiligung wurden die Kongresse zu echten Höhepunkten im germanistischen Leben
nicht nur Rumäniens, sondern auch der Inlands- und Auslandsgermanistik. Aus Anlass des Kongresses
wird auch der 50. Gründungstag der Temeswarer Germanistik gefeiert. Ein weiteres bedeutendes
germanistisches Jubiläum wird in diesem Jahr auch in Jassy begangen, wo der dortige Germanistiklehrstuhl seinen 100. Geburtstag feiern wird.
In ihrem stattlichen Alter sieht die Germanistik Rumäniens voller Vertrauen einer anregenden und
vielseitigen Zukunft entgegen.
George GuŃ
GuŃu
Vorwort – Cuvânt înainte
Vârstă respectabilă – perspective încurajatoare
Într-o scrisoare de felicitare a secretarului general al FundaŃiei “Konrad Adenauer” se arată că aniversarea a 100 de ani de la înfiinŃarea Catedrei de Germanistică la Universitatea din Bucureşti reprezintă un eveniment de seamă în contextul amplificării importanŃei limbii germane în Europa Centrală şi
de Sud-est. Într-adevăr, prin înfiinŃarea unei Catedre de limba şi literatura germană la Bucureşti în anul
1905 predarea limbii germane la nivel universitar şi cercetarea în domeniul limbii, culturii şi literaturii
germane au căpătat impulsuri esenŃiale, punându-se temelii noi, mai solide şi de perspectivă pentru
cercetarea germanistică şi pentru predarea limbii germane în România acelor timpuri. Acestui
important jubileu i-au fost dedicate la Bucureşti manifestări de prestigiu, la care se referă documentele
prezentate în primul segment al acestui volum dublu al revistei noastre.
În segmentul următor sunt publicate studii de literatură axate pe varii aspecte teoretice şi istorice
ale literaturii germane de la Goethe până la Heiner Müller. Studiile aparŃin nu numai unor colegi
români, ci – într-o bună tradiŃie a revistei noastre de specialitate – şi unor colegi care reprezintă
germanistica din spaŃiul germanofon şi dinafara acestuia. Acest lucru este valabil şi pentru segmentul
dedicat lingvisticii şi didacticii în care, printre altele, sunt prezentate prin studii incitante dovezi ale
strădaniilor care se depun în Sud-Estul Europei în domeniul cercetării limbii germane şi al implementării procesului Bologna.
Cercetarea fenomenului limbii şi literaturii germane din România a fost, este şi va continua să fie şi
pe viitor o sarcină de prim rang a germanisticii noastre. În acest domeniu se arată totodată cât de strânse
sunt relaŃiile germaniştilor noştri cu colegii din străinătate preocupaŃi de acelaşi domeniu. TradiŃia şi
prezentul se îmbină plenar în abordarea acestui fenomen. Acesta este şi motivul pentru care elogiem
atât germanişti de odinioară (Hans Weresch) cât şi din prezent (Peter Motzan), legaŃi strâns de activitatea de cercetare din acest domeniu şi care şi-au desfăşurat activitatea şi în România.
Obişnuita rubrică Die Leseprobe (Lectură de probă) prezintă texte ale unui autor de limba germană
din România şi ale unui autor de limba germană din ElveŃia. Acesta din urmă a vizitat Bucureştiul,
citind din opera sa în faŃa studenŃilor în germanistică.
Rubrici tradiŃionale precum Bücher und Zeitschriftenschau (Revista cărŃilor şi a revistelor) şi Tagungen, Symposien, Kolloquien, Kurse (Sesiuni, simposioane, colocvii, cursuri) completează paleta
informaŃiilor de specialitate sau interdisciplinare printr-o serie de recenzii ale unor publicaŃii sau prin
relatări succinte de la câteva sesiuni ştiinŃifice mai importante.
AnunŃarea celui de al VII-lea Congres al Germaniştilor din România, care va avea loc între 22-25
mai 2006 la Timişoara, face trimitere la un alt eveniment germanistic important care, începând din
1994, a continuat şi a îmbogăŃit permanent în 1997, 2000, 2003 o tradiŃie care fusese întreruptă timp de
62 de ani. Prin participarea largă, naŃională şi internaŃională, la aceste congrese, ele au devenit autentice
puncte culminante nu numai în viaŃa germanisticii din România, ci şi în aceea a germanisticii din spaŃiul germanofon şi dinafara acestuia. Cu prilejul celui de al VII-lea Congres vom sărbători şi a 50-a aniversare a înfiinŃării Catedrei de Germanistică de la Timişoara. Un alt eveniment germanistic însemnat
va fi sărbătorit în acest an la Iaşi: cea de a 100-a aniversare a Catedrei de Germanistică de acolo.
La o vârstă respectabilă, germanistica din România priveşte cu deplină încredere într-un viitor incitant şi complex.
George GuŃu
Gu u
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ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
Stattliches Alter – ermutigende Perspektiven
In einem Glückwunschschreiben des Generalsekretärs der Konrad-Adenauer-Stiftung wird darauf hingewiesen, dass das 100. Jubiläum des Germanistiklehrstuhls der Universität Bukarest im Zuge der zunehmenden Bedeutung der deutschen Sprache im Mittel- und Südosteuropa ein wichtiges Ereignis ist. In
der Tat, mit der Gründung des Bukarester Lehrstuhls für deutsche Sprache und Literatur im Jahre 1905
wurden dem hochschulischen Deutschunterricht und der Forschung im Bereich der deutschen Sprache,
Kultur und Literatur wesentliche Impulse verliehen, indem im damaligen Rumänien die germanistisch
orientierte Lehre und Forschung auf neue, tragfähigere und zukunftsweisende Grundlagen gestellt wurde.
Diesem bedeutenden Jubiläum wurden in Bukarest beachtliche Veranstaltungen gewidmet, die im ersten
Teil des vorliegenden Doppelheftes dokumentiert sind.
Im nächsten Abschnitt werden literaturwissenschaftliche Beiträge veröffentlicht, die sich mit verschiedenen theoretischen sowie geschichtlichen Aspekten der deutschen Literatur von Goethe bis Heiner
Müller befassen. Zu Wort melden sich nicht nur rumänische, sondern – in der gewohnten guten Tradition
unserer Fachpublikation – auch inlands- und auslandsgermanistische Kollegen. Dasselbe gilt auch für den
der Linguistik und Didaktik einberaumten Abschnitt, in dem u.a. auch die regionalen Bemühungen um die
Erforschung der deutschen Sprache sowie um die Einführung der Bologna-Vorgaben durch anregende
Untersuchungen belegt werden.
Die Untersuchung des rumäniendeutschen Sprach- und Literaturphänomens war, ist und wird auch in
Zukunft eine vorrangige Aufgabe der rumänischen Germanistik sein. In diesem Bereich zeigt sich zugleich,
wie eng die Kontakte unserer Germanisten mit den sich mit diesem Bereich befassenden ausländischen
Kollegen gestaltet sind. Tradition und Gegenwart gehen in diesem Forschungsbereich Hand in Hand.
Deshalb werden von uns ebenso frühere (Hans Weresch) wie auch gegenwärtige (Peter Motzan)
Germanisten, die in Rumänien gewirkt haben, gewürdigt.
Die gewohnte Rubrik Die Leseprobe bringt Texte eines rumäniendeutschen und eines schweizerdeutschen Autors. Letzterer besuchte Bukarest und las vor Germani-stikstudenten aus seinem Werk.
Traditionelle Rubriken wie Bücher und Zeitschriftenschau sowie Tagungen, Symposien, Kolloquien,
Kurse ergänzen die Palette fachbezogener sowie fachübergreifender Informationen durch Stellungnahmen
zu einschlägigen Publikationen sowie durch sachkundige Berichte von einigen bedeutenden Tagungen.
Die Ankündigung des bevorstehenden VII. Kongresses der Germanisten Rumäniens, der vom 22.-25.
Mai 2006 in Temeswar stattfinden wird, weist auf ein weiteres bedeutendes germanistisches Ereignis hin,
das die 1994 – nach einer 62 Jahre langen Unterbrechung – wieder aufgenommene Tradition 1997, 2000,
2003 kontinuierlich fortsetzte und jedesmal bereicherte. Durch die breite nationale und internationale
Beteiligung wurden die Kongresse zu echten Höhepunkten im germanistischen Leben nicht nur
Rumäniens, sondern auch der Inlands- und Auslandsgermanistik. Aus Anlass des Kongresses wird auch der
50. Gründungstag der Temeswarer Germanistik gefeiert. Ein weiteres bedeutendes germanistisches
Jubiläum wird in diesem Jahr auch in Jassy begangen, wo der dortige Germanistiklehrstuhl seinen 100.
Geburtstag feiern wird.
In ihrem stattlichen Alter sieht die Germanistik Rumäniens voller Vertrauen einer anregenden und
vielseitigen Zukunft entgegen.
George GuŃ
GuŃu
Vorwort – Cuvânt înainte
Vârstă respectabilă – perspective încurajatoare
Într-o scrisoare de felicitare a secretarului general al FundaŃiei “Konrad Adenauer” se arată că aniversarea a 100 de ani de la înfiinŃarea Catedrei de Germanistică la Universitatea din Bucureşti reprezintă un
eveniment de seamă în contextul amplificării importanŃei limbii germane în Europa Centrală şi de Sud-est.
Într-adevăr, prin înfiinŃarea unei Catedre de limba şi literatura germană la Bucureşti în anul 1905 predarea limbii germane la nivel universitar şi cercetarea în domeniul limbii, culturii şi literaturii germane au
căpătat impulsuri esenŃiale, punându-se temelii noi, mai solide şi de perspectivă pentru cercetarea germanistică şi pentru predarea limbii germane în România acelor timpuri. Acestui important jubileu i-au
fost dedicate la Bucureşti manifestări de prestigiu, la care se referă documentele prezentate în primul
segment al acestui volum dublu al revistei noastre.
În segmentul următor sunt publicate studii de literatură axate pe varii aspecte teoretice şi istorice ale
literaturii germane de la Goethe până la Heiner Müller. Studiile aparŃin nu numai unor colegi români, ci –
într-o bună tradiŃie a revistei noastre de specialitate – şi unor colegi care reprezintă germanistica din
spaŃiul germanofon şi dinafara acestuia. Acest lucru este valabil şi pentru segmentul dedicat lingvisticii şi
didacticii în care, printre altele, sunt prezentate prin studii incitante dovezi ale strădaniilor care se depun
în Sud-Estul Europei în domeniul cercetării limbii germane şi al implementării procesului Bologna.
Cercetarea fenomenului limbii şi literaturii germane din România a fost, este şi va continua să fie şi
pe viitor o sarcină de prim rang a germanisticii noastre. În acest domeniu se arată totodată cât de strânse
sunt relaŃiile germaniştilor noştri cu colegii din străinătate preocupaŃi de acelaşi domeniu. TradiŃia şi prezentul se îmbină plenar în abordarea acestui fenomen. Acesta este şi motivul pentru care elogiem atât
germanişti de odinioară (Hans Weresch) cât şi din prezent (Peter Motzan), legaŃi strâns de activitatea de
cercetare din acest domeniu şi care şi-au desfăşurat activitatea şi în România.
Obişnuita rubrică Die Leseprobe (Lectură de probă) prezintă texte ale unui autor de limba germană din
România şi ale unui autor de limba germană din ElveŃia. Acesta din urmă a vizitat Bucureştiul, citind din
opera sa în faŃa studenŃilor în germanistică.
Rubrici tradiŃionale precum Bücher und Zeitschriftenschau (Revista cărŃilor şi a revistelor) şi Tagungen, Symposien, Kolloquien, Kurse (Sesiuni, simposioane, colocvii, cursuri) completează paleta informaŃiilor
de specialitate sau interdisciplinare printr-o serie de recenzii ale unor publicaŃii sau prin relatări succinte
de la câteva sesiuni ştiinŃifice mai importante.
AnunŃarea celui de al VII-lea Congres al Germaniştilor din România, care va avea loc între 22-25 mai
2006 la Timişoara, face trimitere la un alt eveniment germanistic important care, începând din 1994, a
continuat şi a îmbogăŃit permanent în 1997, 2000, 2003 o tradiŃie care fusese întreruptă timp de 62 de
ani. Prin participarea largă, naŃională şi internaŃională, la aceste congrese, ele au devenit autentice puncte
culminante nu numai în viaŃa germanisticii din România, ci şi în aceea a germanisticii din spaŃiul germanofon şi dinafara acestuia. Cu prilejul celui de al VII-lea Congres vom sărbători şi a 50-a aniversare a
înfiinŃării Catedrei de Germanistică de la Timişoara. Un alt eveniment germanistic însemnat va fi sărbătorit în acest an la Iaşi: cea de a 100-a aniversare a Catedrei de Germanistică de acolo.
La o vârstă respectabilă, germanistica din România priveşte cu deplină încredere într-un viitor incitant
şi complex.
George GuŃu
Gu u
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ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
GRUSSWORT ANLÄSSLICH DES 100. GRÜNDUNGSTAGES
∗)
DES GERMANISTIKLEHRSTUHLS DER UNIVERSITÄT BUKAREST
Wilfried Gruber
Sehr geehrter Herr Professor GuŃu,
sehr geehrte Frau Dekanin Cornilescu,
sehr geehrte Gäste,
ich bedanke mich für die Einladung zu dieser besonderen Geburtstagsfeier und
möchte dem Lehrstuhl herzlich zu seinem hundertjährigen Bestehen gratulieren. In
diesen einhundert Jahren ist vieles geleistet, vieles aufgebaut worden, wir haben
davon gehört. Es war eine bewegte Geschichte, die nicht immer leicht war. Als
"Mutterinstitut" von inzwischen neun germanistischen Instituten in Rumänien kann
der Bukarester Lehrstuhl aber auf eine stolze Aufbaubilanz blicken. Dies wird ergänzt
durch ein Netz von internationalen Kontakten, von denen ich stellvertretend nur das
Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas in München nennen
möchte.
Die Germanistik in Rumänien hat immer schon eine Doppelrolle gehabt. Aufgrund
der langen Tradition der deutschen Siedlung in Siebenbürgen und später im Banat und
den anderen Regionen des Landes ist Rumänien in gewisser Hinsicht ein Teil des
deutschsprachigen Literaturraums geworden. Die Beispiele dafür reichen aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart, man denke dazu nur an Namen wie Bergel, Pastior
oder Müller. Mit dieser Tradition hat sich die rumänische Germanistik auseinandergesetzt, war ein Teil von ihr. Gleichzeitig war und ist sie aber auch der Zugangsweg
zur deutschen Sprache und Kultur für all diejenigen, deren Muttersprache eben gerade
nicht Deutsch ist. Die historischen Entwicklungen bringen es mit sich, daß diese zweite
Rolle größer geworden ist und weiter wachsen wird.
Die Herausforderungen, vor denen die Germanistik steht, sind vielfältig. Ich möchte
nur auf zwei kurz eingehen. Mit dem Stichwort Bologna-Prozeß verbindet sich eine
umfassende Studienstrukturreform. Mit neuen, europaweit vergleichbaren Abschlüssen
soll Studenten ein europäischer Raum der Bildung eröffnet werden, soll Mobilität über
die Grenzen hinweg gefördert werden. Diese Strukturreform kann sich nicht in einer
Neudeklaration bisheriger Programme erschöpfen. Vielmehr ist eine sorgsame Anpassung der Lehrpläne und Studieninhalte an die neuen Rahmenbedingungen erforder-
∗)
Seine Exzellenz Willfried Gruber ist Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Rumänien. (Anm. d. ZGR-Red.)
Wilfried Gruber: Ansprache zum 100. Gründungstag des Germanistiklehrstuhls der Universität Bukarest
lich. Gleichzeitig ist diese Studienstrukturreform Anlaß, die Ausbildungsziele zu überprüfen. Studenten erwarten von ihrer Universität Studiengänge und Abschlüsse, die sie
auf die Anforderungen des Arbeitsmarktes vorbereiten. Auch dieser ist – in Rumänien,
aber nicht nur hier – in einem Umbruch. Neue Kompetenzen gewinnen an Bedeutung.
Die Universität schuldet es sich und ihren Studenten, dem Rechnung zu tragen.
Die Förderung der deutschen Sprache ist ein wichtiges Anliegen der deutschen
auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik, und ich erlaube mir hinzuzufügen, auch ein
persönliches Anliegen. Die Germanistik der Universität Bukarest ist dafür ein wichtiger,
zentraler Partner. Die Bundesrepublik Deutschland unterstützt dies auf verschiedenen
Wegen, beispielhaft seien genannt das Goethe-Institut in Bukarest und der DAADLektor, der hier am germanistischen Lehrstuhl wirkt. Ich freue mich, aus Anlaß des
100. Jubiläums der Germanistik der Universtität Bukarest auch einen kleinen Beitrag
zur Verbesserung der technischen Ausstattung leisten zu können, indem ich Ihnen als
Ausstattungshilfe einen Beamer übergebe. Ich hoffe, daß dies zukünftig allen Lehrkräften am Institut die lebendige und anschauliche Gestaltung ihrer Seminare, Vorlesungen und Veranstaltungen erleichtern wird.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
16
ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
ANSPRACHE AUS ANLASS DES 100. GRÜNDUNGSTAGES
∗)
des Germanistiklehrstuhls der Universität Bukarest
Stefan Sienerth
Eure Exzellenzen Botschafter Deutschlands und Österreichs
sehr geehrter Fau Dekan Alexandra Cornilescu,
sehr geehrter Herr George GuŃu,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
verehrte Anwesende,
100 Jahre seit der Gründung des Lehrstuhls für deutsche Sprache und Literatur an der angesehenen Universität Bukarest in Anwesenheit hervorragender Vertreter der rumänischen
Politik und Kultur, in Anwesenheit der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland und der
Republik Österreichs, zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen dieser Universität, zusammen mit weiteren Germanisten und Philologen aus dem In- und Ausland zu feiern, ist für
mich persönlich und für das von mir vertretene Institut für deutsche Kultur und Geschichte
Südesteuropas München eine große Ehre und Anlaß zur Freude. Als ehemaliger Doktrorand der
Alma Mater aus der rumänischen Hauptstadt und als gegenwärtiger Professor honoris causa
dieser Einrichtung verbinden mich enge und dauerhafte Bande mit der Universität Bukarest, mit
dem Germanistiklehstuhl dieser Universität und mit anderen Kollegen aus Rumänien, die auch
an diesen beeindruckenden Feierlichkeiten teilnehmen, mit den Studenten, Masteranden und
Doktoranden, mit denen ich in den letzten Jahren intensiv und fruchtbringend zusammengearbeitet habe.
Die Gründung des Lehrstuhls für deutsche Sprache und Literatur zu Beginn des 20. Jahrhunderts stelte einen bedeutenden Moment in der Schaffung der germanistischen Schule in
Rumänien jener Zeit dar und war das Ergebnis der Entwicklungen in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts, als der anregende Einfluß der deutschen Kultur und Literatur auf eine beeindruckende Zahl von rumänischen Gelehrten, Kulturleuten, Schriftsteller und Lehrer zunahm, die
an Universitäten in Deutschland und Österreich studiert hatten und somit in die rumänische
Kultur neue Muster, ein Mehr an wissenschaftlicher Akribie und an Tiefe in den wissenschaftlichen Forschungen einführten.
Als erster Lehrstuhl für deutsche Sprache und Literatur im Königreich Rumänien jener Zeit
schuf der Bukarester Lehrstuhl einen institutionalisierten Rahmen für die systematische Aneignung, Förderung und wissenschaftliche Erforschung der Sprache Goethes, der deutschsprachigen Literatur, der Kultur des geistigen deutschsprachigen Raumes. Zugleich wurden die
Grundlagen für die Ausbildung eigener Fachleute, der Lehrer für deutsche Sprache und Literatur
sowie der Forscher in diesem Fachbereich in Rumänien geschaffen.
∗)
Honorar-Professor Dr. Stefan Sienerth ist Direktor des Instituts für Deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München. (Anm. d. ZGR-Red.)
100 Jahre Germanistik in Bukarest (1905-2005)
Hervorzuheben ist der Umstand, daß der Bukarester Lehrstuhl noch von Anfang an die jahrhundertelange Anwesenheit der deutschen Bevölkerung in Rumänien berücksichtigte, was
durch die Tätigkeit von Lehrkräften wie Berhard Capesius, Bruno Colbert, Viktor Theiss, Grete
Klaster-Ungureanu – um nur einige klangvolle Namen zu erwähnen – unter Beweis gestellt
wird. In Bukarest wurde das Studium der Geschichte der rumäniendeutschen Sprache und
Literatur in die Lehrpläne eingeführt. In diesem Bereich lehrte zutiefst professionell Bernhard
Capesius, diese Tradition wurde dann in der Zeit nach dem II. Weltkrieg durch die bedeutenden
Beiträge von Heinz Stănescu, Ilse Lauer und George GuŃu fortgesetzt.
Das Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas München, dem aufgrund
seiner wissenschaftlichen und Lehrtätigkeit der Rang eines Aninstituts der Ludwig Maximilians
Universität München anerkannt wurde, schenkt der Zusammenarbeit mit den Einrichtungen im
Bereich der Geschichte und Philologie aus dem Südosten Europas und – selbstverständlich,
bedingt durch die besonderen Wahlverwandtschaften der Münchner Forscher – den Beziehungen zu Rumänien eine große Aufmerksamkeit. Der Beweis dafür erbringen die zahlreichen Teilnahmen der Germanisten unseres Instituts an den Kongressen der Germanisten
Rumäniens, auf denen wir eine eigene Sektion einrichten, unsere Beiträge zu gemeinsamen
Publikationen, die Präsenz der Germanisten der Universität Bukarest und aus Rumänien in der
von uns in München herausgegebenen Zeitschrift sowie der deutschen Germanisten in den
Publikationen der Gesellschaft der Germanisten Rumäniens. Dafür sprechen auch die Vorlesungen und Seminare, die wir jährlich an der Universität Bukarest, an jener von ClujNapoca/Klausenburg und von Sibiu/Hermannstadt halten. Dafür sprechen auch die Studenten
aus Rumänien, die unsere Lehrveranstaltungen an der Universität München besuchen, ab
diesem Jahr auch die Doktoranden – das ist z. B. der Fall einer jungen Kollegin aus Bukarest, die
zusammen mit Kollegen aus Ungarn, Slowenien und Kanada ihre Doktorarbeit vorbereitet und
dabei in den Genuß unserer kleinen, aber gut ausgestatteten Bibliothek sowie unserer
Instutusinfrastruktur gelangt ist.
Als Zeichen der Ehrung für die ausgezeichnete Zusammenarbeit zwischen unseren Institutionen kann auch die stattliche Festschrift für Professor George GuŃu: Brücken schlagen.
Studien zur deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts angesehen werden, die in unserem
Verlag erschienen ist. Der Band belebt die Diskussion eines Großteils der gegenwärtigen
Probleme der heutigen Germanistik wieder. Zum Zustandekommen dieses Bandes trugen mehr
als 30 Forscher aus Deutschland, Österreich, Rumänien, aber auch aus anderen Ländern wie
Ungarn, Frankreich, Holland, ja sogar aus Japan und Südkorea bei.
Daß wir diesen Beziehungen große Bedeutung beimessen, wird auch daraus ersichtlich, daß
von Seiten unseres Instituts drei Vorträger teilnehmen: Prof. Anton Schwob, von der Universität
Graz, den Sie auch heute sprechen hören, und Prof. Volker Hoffmann von der Universität
München, illustre Persönlichkeiten aus dem Bereich der deutschen Literaturforschung und Mitglieder der Leitung unseres Instituts.
Besonders froh bin ich darüber, daß im Rahmen dieser Feierlichkeiten dem aus Schäßburg/Sighişoara stammenden Schriftsteller Dieter Schlesak, einem ehemaligen Studenten dieser
Universität, die Ehrendoktorwürde verliehen wird. Er ist ein bedeutender Übersetzer
rumänischer Literatur ins Deutsche, unter dessen Namen unser Verlag demnächst einen Band
18
ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
Stefan Sienerth: Ansprache aus Anlass des 100. Gründungstages des Germanistiklehrstuhls der Universität Bukarest
mit Portraits und Studien über Paul Celan, Alfred Margul-Sperber, Emile Cioran, Constantin
Noica und Norman Manea heraugeben wird.
Von diesen Tatsachen ausgehend, begrüßen und fördern wir die Initiative des Bukarester
Lehrstuhls zur Gründung eines Zentrums zur Erforschung der deutschen Sprache und Literatur
in Rumänien – in diesem Sinne haben wir auch ein Abkommen über die Zusammenarbeit abgeschlossen, der gerade in diesen Tagen Kontur anzunehmen beginnt: Unser Institut stellte
einen mehr als symbolischen Betrag für die Anschaffung von Gegenständen für die Austattung
dieses Zentrum zur Verfügung. Damit schaffen auch wir die Voraussetzungen für die Festigung
und den Ausbau dieses Zentrums, so daß wir in der nächsten Zeit bedeutende wissenschaftliche
Vorhaben in Angriff nehmen können. Das wird bereits auf dem VII. Kongreß der Germanisten
Rumäniens in Timişoara (22.-25. Mai 2006) geschehen, auf dem unser Institut – entsprechend
einer schönen Tradition – eine der wichtigen Sektionen des Kongresses koordiniert: die Sektion,
die den deutschen Literaturen in Rumänien gewidmet ist.
Gleichzeitig möchte ich neben meiner Lehrtätigkeit sowie jener von Hon. Prof. Dr. Peter
Motzan am Bukarester Lehrstuhl auch die bevorstehende Fertigstellung von zwei bedeutenden
Vorhaben des IKGS und des Germanistiklehrstuhls der Universität Bukarest hervorheben: Die
Herausgabe der berühmten Anthologie deutschsprachiger Lyrik der Bukowina „Die Buche” und
eines Bandes mit Briefen von und an Alfred Margul-Sperber, die sich im Besitz des Bukarester
Muzeul Literaturii Române befinden. Wir wollen gemeinsam die reichhaltigen Archivbestände
und Bibliotheken in Bukarest und aus Rumänien erforschen, um bedeutende und interessante
interkulturelle Phänomene des jahrhundertealten Zusammenlebens verschiedener in Rumänien
lebenden Völkerschaften ins Licht rücken zu lassen.
Wir sind überzeugt, daß die bisherigen Ergebnisse unserer Zusammenarbeit ausgezeichnete
Voraussetzungen schaffen, um neue wissenschaftliche Projekt in Angriff zu nehmen, um den
wissenschaftlichen Nachwuchs dieses angesehenen Lehrstuhls zu fördern.
Dem Bukarester Lehrstuhl wünschen wir neue Erfolge in der Lehr- und Forschungstätigkeit
im Sinne der Annäherung der europäischen Völker durch ein besseres Kennenlernen der fruchtbaren geistigen Interferenzen unserer gemeinsamen Geschichte.
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19
ZUM FEIERLICHEN JUBILÄUM
JUBI LÄUM
DES GERMANISTIKLEHRSTUHLS
GERMANISTIKLEHRSTUHLS DER UNIVERSITÄT
UNIVERSITÄ T BUKAREST
∗)
Alexandra Cornilescu
Exzellenzen,
sehr geehrter Herr Professor George GuŃu,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
liebe Gäste aus dem In- und Ausland,
verehrte Anwesende,
heute begehen wir den 100. Jahrestag der Gründung des Lehrstuhls für Germanistik der Universität Bukarest, die im Odobescu-Hörsaal feierlich erfolgte, in dem wir uns nun befinden. Der
erste Lehrstuhlleiter war – übrigens bis 1938 – Professor Simion Mândrescu.
Die Aufgabe der neuen akademischen Einrichtung ähnelt in hohem Maße unserer heutigen
philologischen Fachrichtung: Der Lehrstuhl nahm sich vor: a) Deutschlehrer auszubilden, b) die
theoretische Grundlage des Studiums der deutschen Sprache und Literatur aus diachroner Sich
zu schaffen und c) die Verbreitung der Kenntnisse über diesen Gegenstand in möglichst breite
Kreise zu verbreiten.
1. Institutionelle Aspekte
Deutsch wurde als Fremdsprache für rumänische Muttersprachler angeboten, wobei anfangs
die Lehrveranstaltungen in rumänischer Sprache erfolgt sind. In institutioneller Hinsicht bestand die Bukarester Germanistik ohne Unterbrechungen und erlebte – wie die gesamte
rumänische Philologie – Momente des Aufschwungs ebenso wie der Krise und wiederum des
Aufblühens. Dem Lehrstuhl standen hervorragende Intellektuelle vor, die die Geschicke der
Bukarester Germanistik kompetent und visionär geleitet, ein hohes Niveau und die Kontinuität
des philologischen Studiums gewährleistet haben – trotz äußerst ungünstiger sozio-politischer
Umstände: Krieg, stalinistische Zeit, national-kommunistische Periode, die sich durch spezifische kulturelle und minderheitenpolitische Maßnahmen auszeichneten.
Im folgenden werde ich mich nur auf jene Lehrstuhlleiter beziehen, die die germanistische
Tätigkeit besonders geprägt haben:
Prof. Simion Mândrescu ist der Gründer des Lehrstuhls, den er drei Jahrzehnte lang leitete.
Prof. Jean Livescu leitete den Lehrstuhl zwei Jahrzehnte lang (1955-1976). Mit seinem
eleganten Auftritt und seiner hohen Gelehrsamkeit war er auch Rektor der Universität Bukarest
∗)
Prof. Dr. Alexandra Cornilescu ist seit 2004 Dekanin der Fakultät für Fremdsprachen der Universität Bukarest und war
lange Zeit Leiterin des angesehen Lehrstuhls für Anglistik und Amerikanistik der Universität Bukarest. (Anm. d. ZGRRed.)
Alexandra Cornilescu: Zum feierlichen jubiläum des Germanistiklehrstuhls der Universität Bukarest
und stellvertretender Bildungsminister – sein besonderes Fachinteresse lag auf dem Gebiete der
klassischen deutschen Literatur. Prof. Livescu nahm die Herausgabe der Werke von Johann
Wolfgang Goethe in Angriff, die heute noch fortgesetzt wird und deren ersten Bände von ihm
besorgt worden sind. Die Zeit von 1973-1984 ist von der titanischen Renaissance-Gestalt des
Germanisten Mihai Isbăşescu geprägt. Sein vulkanischer, enzyklopädischer Geist widmete sich
sowohl der deutschen Literatur als auch der Linguistik und der deutschen Lexikographie. (Er ist
der Verfasser des großen deutsch-rumänischen Wörterbuches der Rumänischen Akademie
sowie der bislang einzigen Geschichte der deutschen Literatur in rumänischer Sprache.)
Wie bereits angemerkt, hat der Germanistiklehrstuhl der Universität Bukarest kontinuierlich
bestanden. Der kurze Bukarester Frühling gegen Ende der 60er und zu Beginn der 70er Jahre
zeitigt wichtige Folgen für unsere Einrichtung: in den siebziger Jahren gab es an der Fakultät
für Germanische Sprachen sogar drei Lehrstühle für Deutsch: Deutsche Literatur (Leiter: Jean
Livescu), Deutsche Sprache (Mihai Isbăşescu) und DaF bei nichtphilologischen Fakultäten als
studienbegleitender Unterricht (Viktor Theiss).
Die 80er Jahre zeichnen sich in der rumänischen Philologie und in der Bukarester Germanistik durch Krisenphänomene aus, die u.a. auch zu einer Zunahme der Auswanderungswelle
unter den Rumäniendeutschen, also auch unter den Germanisten führte. Die Zahl der Immatrikulierten im Bereich Germanistik wird von offizieller Seite willkürlich auf eine einzige
Gruppe von 20 Studierenden im Haupt- und auf eine weitere im Neben-Fach herabgesetzt.
Schlimmeres kam noch hinzu: Der Lehrstuhl wurde (1986-1989) dem Anglistiklehrstuhl unterstellt. Dennoch genoß der Bukarester Lehrstuhl eine „privilegierte“ Stellung – im Unterschied zu
den anderen Germanistiklehrstühlen des Landes konnte er auch das dort abgeschaffte Hauptfach Deutsch beibehalten
Im Januar 1990 erlangte der Bukarester Lehrstuhl seine frühere Autonomie wieder, die vom
Rektorat und vom Ministerium anerkannt wurde. Damit begann eine neue inhaltliche und
zahlenmäßige Entwicklungsetappe des Germanistiklehrstuhls, an dem junger begabter Nachwuchs angestellt wurde, der die europäische Entwicklung mit einleiten und durchführen half.
Durch Studienaufenthalten und Stipendien konnten sich sowohl Lehrende als auch Studierende
den neuen Trends stellen und sich fachgerecht informieren.
Wenn wir im Jahre 2005 einen Blick auf die germanistische Studienrichtung werfen, stellen
wir eine doch erfreuliche Zunahme der Studierenden sowie eine verstärkte Bemühung der Lehrkräfte und Studierenden um bessere Fachkenntnisse und um eine möglichst hohe Sprachkompetenz in verschiedenen Fachrichtungen fest.
Allein im I. Studienjahr verzeichnen wir mehr als 200 Studierende an den philologischen
Fachrichtungen Deutsch als Haupt- (43) bzw. als Nebenfach (etwa 100), Übersetzer (25),
moderne angewandte Sprachen (70). Der Lehrstuhl betreut außerdem drei Magisterlehrgänge
und ist in der neu gegründeten Doktorandenschule gut vertreten. Wie unsere Kollegen von
Deutsch diese erfreulichen Erfolge erzielen konnten, darüber werden sie uns in diesen Tagen
noch erzählen. Es ist uns ein Bedürfnis, den Lehrstuhlleitern dieser erfolgreichen letzten Jahre
unsere Glückwünsche auszusprechen: dem leider verstorbenen Hans Müller, Doina Sandu und –
in den letzten 8 Jahren – George GuŃu.
ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
21
100 Jahre Germanistik in Bukarest (1905-2005)
2. Probleme und Strategien
Der Germanistiklehrstuhl der Universität Bukarest zeichnet sich unter den philologischen
Lehr- und Forschungseinrichtungen in Bukarest und in Rumänien durch besondere Merkmale
aus. Seine Aufgabe war infolge der Existenz einer bedeutenden deutschen Minderheit besonders vielfältig, wie sie der Französisch-, Englisch- oder Russischlehrstuhl kaum gekannt
haben.
Die jahrhundertelange Präsenz der deutschen Bevölkerung in wichtigen Regionen Rumäniens
und einer Reihe von deutschen Gymnasien mit Deutsch als Mutter- bzw. Unterrichtssprache
hat dazu geführt, daß eine Zeit lang die Muttersprachler einen erheblichen Teil der
Studierenden ausmachten. Dieser außergewöhnliche Umstand ermöglichte, daß der Unterricht
in deutscher Sprache erfolgte und dadurch sehr hohen Standards entsprechen konnte.
Durch die Abnahme der deutschen Sprachkompetenz bei vielen der Studienbewerbern sowie
der Bewerberzahlen sah sich der Lehrstuhl mit einer neuen Situation konfrontiert: Er nahm seit
etwa 1997, verstärkt jedoch in den letzten drei Jahren, die große Herausforderung an, im
Nebenfach auch blutige Anfänger zu immatrikulieren, so daß ein diesbezügliches Konzept entwickelt werden mußte, was auf Initiative von Prof. GuŃu zur Bildung eines Teams führte, das
unter der Leitung von Ileana Moise steht und Überlegungen prüft, um ein solches Konzept
unter Berücksichtigung der konkreten Lehrerfahrungen zusammenzustellen.
Dabei findet eine wichtige didaktische und linguistische Tradition ihre Fortsetzung und Vertiefung, die im Laufe der Jahre zu einer eigenen Tradition in der Aufstellung von Programmen
für das intensive Erlernen der deutschen Sprache unter Mitwirkung von außergewöhnlich guten
Fachleuten wie Bruno Colbert, Grete Klaster-Ungureanu, Gertrud ChiriŃă bis zu Doina Sandu,
SperanŃa Stănescu, Ileana Moise, Marianne Koch.
Der Lehrstuhl meisterte die nicht einfache Aufgabe, auf der einen Seite quasi-muttersprachliche Kenntnisse zu vermitteln und auf der anderen auch den Anfängern die Chance zu
bieten, sich in diesem Fach gut ausbilden zu lassen.
Diese zweifachen identitären Ansätze spiegeln sich auch in den literatur- sowie sprachwissenschaftlichen Forschungsergebnissen wider. Die Bukarester Germanisten haben sich
ständig mit der Erforschung der deutschen Sprache, Kultur und Literatur der Deutschen beschäftigt, die seit Jahrhunderten auf dem Territorium Rumäniens leben. Noch in der Zeit
zwischen den beiden Weltkriegen hielt Bernhard Capesius eine Vorlesung zur deutschen
Sprache und Literatur in Rumänien. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde durch Bruno Colbert,
Viktor Theiss, Heinz Stănescu, Hans Müller, Gertrud Gregor-ChiriŃă, Mihai Isbăşescu und George
GuŃu diese bedeutende Tradition fortgesetzt. Die Forschungen zur deutschen Sprache und
Literatur führten in Bukarest zu bedeutenden editorischen Leistungen, die darauf zurückzuführen sind, dass es in der Hauptstadt eine Reihe von Verlagen oder Verlagsabteilungen der
mitwohnenden Nationalitäten gegeben hat und dass in Bukarest die bedeutende deutschsprachige Literaturzeitschrift „Neue Literatur“ monatlich erschien.
22
ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
Alexandra Cornilescu: Zum feierlichen jubiläum des Germanistiklehrstuhls der Universität Bukarest
Ebenso wie in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts standen die Bukarester Germanisten an der Spitze zahlreicher Initiativen, die die Optimierung von Forschung und Lehre
vorangetrieben haben. Insbesondere nach der Wende zeigte sich dieser erfreuliche Trend von
seiner besten Seite. Lehrkräfte des Bukarester Germanistiklehrstuhls haben die Schaffung der
Gesellschaft der Germanisten Rumäniens initiiert und die zwei bedeutenden, in Fachkreisen gut
aufgenommenen germanistischen Publikationen des Landes, die „Zeitschrift der Germanisten
Rumäniens“ und „transcarpathica germanistisches jahrbuch rumänien“, sowie die angesehen
Fachbuchreihe GGR-Beiträge zur Germanistik ins Leben gerufen. Durch die Wiederaufnahme
der Tradition der Kongresse der Germanisten Rumäniens aus der Zwischenkriegszeit trug der
Bukarester Germanistiklehrstuhl wesentlich zur Förderung der einheimischen Fachforschung
und des Deutschunterrichts in Rumänien bei. Die Grußbotschaften, die dem Lehrstuhl zum 100.
Jubiläum zugeschickt worden sind, sprechen von der besonderen Einschätzung, deren er sich in
Fachkreisen im In- und Ausland erfreut.
Aus diesem glücklichen Anlaß wünsche ich dem Germanistiklehrstuhl unserer Universität
weiterhin beachtliche Erfolge in Lehre und Forschung, um dadurch die wertvolle Tradition der
100 Jahre würdig fortzusetzen, den neuen ständig höheren Ansprüchen der nächsten Jahrzehnte anzupassen und durch weitere eigene Initiativen zu bereichern.
ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
23
100 JAHRE GERMANISTIK IN BUKAREST
Ein Bericht über die Veranstaltungen aus Anlass des hundertjährigen
Jubiläums des Germanistiklehrstuhls an der Fakultät für Fremdsprachen
der Universität Bukarest vom 5. bis 7. November 2005
Markus Fischer
Auf den Tag genau hundert Jahre nach der Gründung des Bukarester Germanistiklehrstuhls1 im Jahre 1905 wurde dieses wichtigen kultur- und wissenschaftspolitischen Ereignisses am 5. November 2005 mit einer Festsitzung im Alten Universitätsgebäude der
Bukarester Universität gedacht. Umrahmt von den Klängen eines Kammermusikensembles
und im Beisein des Deutschen Botschafters in Bukarest sowie eines Vertreters der Österreichischen Botschaft eröffnete der derzeitige Leiter des Bukarester Germanistiklehrstuhls
und Präsident der Gesellschaft der Germanisten Rumäniens Prof. Dr. George GuŃu den
Reigen der festlichen Ansprachen, die neben der Geschichte der Bukarester und der
rumänischen Germanistik überhaupt auch deren gegenwärtige Situation im Kontext
aktueller internationaler Entwicklungen beleuchteten. So hob die Dekanin der Fremdsprachenfakultät Frau Prof. Dr. Alexandra Cornilescu die historischen und gegenwärtigen
Leistungen der Mitglieder des Bukarester Germanistiklehrstuhls hervor, zu denen neben der
Lehrtätigkeit, neben der Publikation von Dissertationen und wissenschaftlichen Monographien auch die Erlangung international renommierter Stipendien oder von Gastprofessuren im Ausland gehören, die ja gerade im Kontext der Internationalisierung von
Wissenschaft einen Gradmesser von Qualität und Exzellenz darstellen. Dazu zählt auch die
germanistische Kooperation mit ausländischen Universitäten und Forschungsinstituten, die
im Rahmen der Festsitzung durch kurze Ansprachen dreier Vertreter solcher Institute eindrucksvoll unterstrichen wurde: durch Prof. Dr. Dr. h.c. Anton Schwob, den Vorstand des
Instituts für Germanistik der Karl-Franzens-Universität Graz, durch Hon.-Prof. Dr. Stefan
Sienerth, den Direktor des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an
der Ludwig-Maximilians-Universität München, sowie durch Michael Grote, Lektor des
Deutschen Akademischen Austauschdienstes am Germanistischen Seminar der Universität
Bergen in Norwegen. Ein Grußwort von Studierenden der Germanistik, die zudem mit einer
kurzen szenischen „Faust“-Adaptation auf die universitären Probleme der Gegenwart und
der Zukunft anspielten, sowie Mozarts „Kleine Nachtmusik“ in einer Fassung für Streichtrio
schlossen die vormittägliche Festsitzung ab.
Im Anschluss daran wurde die von George GuŃu und Doina Sandu zum 100. Jubiläum
des Bukarester Germanistiklehrstuhls eigens herausgegebene Festschrift dem Auditorium
1
Mit den 30 fest angestellten MitarbeiterInnen und weiteren 10 Stellen für zusätzliche Lehraufträge
meint eigentlich die in Rumänien übliche Bezeichnung „Lehrstuhl“ eine akademische Einrichtung, die in
Deutschland etwa einem Institut bzw. Seminar gleich kommt. (M.F.) – Vorliegender Bericht stellte der
Verfasser auch den Münchener „Südostdeutschen Vierteljahresblättern“ zur Verfügung. [Anm. d. ZGRRedaktion.]
Markus Fischer: 100 Jahre Germanistik in Bukarest. Ein Bericht
präsentiert. Was in den Festansprachen bereits angeklungen war, liegt hier in einem umfangreichen Sammelband in ausgreifenden Untersuchungen für die Öffentlichkeit wissenschaftlich aufgearbeitet vor und wurde von der Mitherausgeberin Frau Prof. Dr. Doina
Sandu dem Publikum vorgestellt: Aufsätze zur Geschichte des Bukarester Germanistiklehrstuhls von den historischen Anfängen bis zur gegenwärtigen Umsetzung des sog. BolognaProzesses im rumänischen Hochschulwesen; Porträts bedeutender rumänischer
Germanisten und Wissenschaftler wie Simion C. Mândrescu, Bernhard Capesius oder Mihai
Isbăşescu; Impressionen und Erinnerungen, u.a. an Hans Müller, Valeriu Munteanu und
andere Bukarester Wissenschaftler; Bekenntnisse der Verbundenheit mit der Bukarester
Germanistik aus dem Ausland, u.a. von Theodor Berchem und Wendelin Schmidt-Dengler;
schließlich Bilder und Textdokumente, u.a. aus dem Briefwechsel zwischen Jean Livescu
und Mihai Isbăşescu.
An die Präsentation der Zentenariumsfestschrift schloss sich dann eine weitere Buchpräsentation an: die Präsentation der rumänischen Ausgabe des „Tagebuchs“ des
katholischen Erzbischofs von Bukarest Raymund Netzhammer durch Prof. Dr. Alexandru
Barnea. Prof. Barnea hob die Bedeutung dieses einzigartigen zeitgeschichtlichen Dokuments hervor und lobte zugleich die Arbeit des Übersetzers George GuŃu. Dabei wurde die
kulturvermittelnde Dimension nicht nur der Übersetzertätigkeit als solcher, sondern der
germanistischen Tätigkeit in Rumänien überhaupt ein weiteres Mal exemplarisch deutlich.
Ein Jubiläum, das nur die Vergangenheit feiert, verfehlt sein Ziel. Im Geiste dieser Überzeugung war der Nachmittag des 5. November und der ganze Tag des 6. November einer
internationalen wissenschaftlichen Tagung mit dem Rahmenthema „Interkulturelle Grenzgänge“ gewidmet, die in den Hörsälen der Fremdsprachenfakultät in der Pitar-Moş-Straße
stattfand. Den Auftakt bildeten zwei Plenarvorträge von Gästen aus Deutschland: ein
sprachwissenschaftlicher Vortrag zur Neubearbeitung von Hermann Pauls „Deutschem
Wörterbuch“ und ein literaturwissenschaftlicher Vortrag zur Gegenwartsbewältigung in
Johann Lippets Erzählung „Der Totengräber“. Dann setzte sich die Arbeit des Kongresses in
vier verschiedenen Sektionen fort, die das breite wissenschaftliche Spektrum der
Bukarester Germanistik widerspiegelten. Die literaturwissenschaftliche Sektion stand unter
der Überschrift „Historizität und Interkulturalität“ und bot Vorträge mit Themen vom
Mittelalter bis zur Gegenwart: der Bogen spannte sich von Otfrids von Weißenburg „Liber
Evangeliorum“ bis hin zum avantgardistischen experimentellen Werk von Carlfriedrich
Claus. Die sprachwissenschaftliche Sektion stand unter dem Titel „Intra- und interlinguale
Kommunikation“ und beschäftigte sich hauptsächlich mit lexikologischen, pragmatischen
sprachvergleichenden und translatologischen Fragen. Aufgrund der Anwesenheit von
Germanistinnen aus Istanbul standen dabei nicht nur die deutsche und die rumänische,
sondern auch die türkische Sprache im Mittelpunkt der Diskussion. Die dritte Sektion, die
sich hauptsächlich mit didaktischen Fragen befasste, trug die Überschrift „Sprachvermittlung im Kulturtransfer“. Aktuelle Fragen wie die Europakompetenz in der Lehrerbildung
wurden dabei ebenso verhandelt wie der Einfluss der Erfordernisse des heutigen Arbeitsmarktes auf die Curricula der Lehrerausbildung. Ein Referent stellte seine Ausführungen
unter die Frage : „Haben Sie heute schon gegoogelt? Wie die neuen Medien unsere
Sprache verändern“. Die vierte Sektion schließlich war der Geschichte der Germanistik in
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100 Jahre Germanistik in Bukarest (1905-2005)
Rumänien gewidmet und stand unter dem Titel „Anamnesen und Leistungslust“. Hier
wurde über die rumäniendeutsche Literatur als Lehrfach an der Universität Bukarest oder
über deutsch-rumänische Perzeptionsbarrieren im interkulturellen Dialog nachgedacht,
aber auch über die Geschichte der Germanistik an der Czernowitzer Universität referiert.
Bemerkenswert an dieser wissenschaftlichen Tagung war nicht nur die internationale Beteiligung von Gästen aus Deutschland, Österreich, Norwegen und der Türkei, bemerkenswert war nicht nur die Tatsache, dass Germanistinnen und Germanisten aus ganz Rumänien das Jubiläum ihrer Bukarester Kolleginnen und Kollegen mitfeierten, bemerkenswert war auch, dass es in vielen Sektionssitzungen zu lebhaften und regen Diskussionen
kam, die manchmal kein Ende finden wollten: nicht wenige Teilnehmer kamen deshalb zu
spät zum Essen. Zu erwähnen wäre noch die dokumentarische Ausstellung „100 Jahre
Bukarester Germanistik“, die am Vormittag des 6. November von Dr. Mihaela Zaharia und
Dr. Ileana Ratcu eröffnet wurde und während der wissenschaftlichen Tagung den Teilnehmern offen stand: zu sehen waren Dissertationen, Monographien, Übersetzungen,
Lehrwerke, Wörterbücher, Grammatiken, Zeitschriften, Jahrbücher, Bilder und Textdokumente und vieles mehr – alles von Germanistinnen und Germanisten aus Rumänien,
insbesondere aber von der Universität Bukarest.
Den festlichen Abschluss der Jubiläumsveranstaltungen bildete die Verleihung der
Ehrendoktorwürde der Universität Bukarest an den Schriftsteller, Essayisten und Publizisten Dieter Schlesak im Senatssaal der Universität Bukarest. Die Laudatio hielt Prof. Dr.
George GuŃu, der Leben und Werk des Geehrten vorstellte und dabei Fragen zu Begriffen
wie Heimat, Grenze, Auswanderung und Ortlosigkeit aufwarf. Dieter Schlesak bedankte
sich mit einem Vortrag, der den von ihm geprägten Begriff der „Zwischenschaft“ in den
Mittelpunkt stellte und den er definierte als „dieses Nicht-Dazugehören, dieses zwischen
alle Stühle Gefallen-Sein“. Der Rektor der Universität Bukarest Prof. Dr. Ioan Pânzaru sowie
der vormalige Rektor und jetzige Präsident des Verwaltungsrates der Universität Bukarest
Prof. Dr. Ioan Mihăilescu antworteten darauf mit kurzen Ansprachen, die auf das Problem
der Grenze in einer zusehends sich globalisierenden Welt eingingen: indem beide darin
inhaltlich und über das Höfliche und Konventionelle hinaus auf die in der Rede von Dieter
Schlesak geäußerten Bemerkungen eingingen, machten sie deutlich, wie sehr das Werk des
Bukarester Ehrendoktors aktuelle Fragen unserer zeitgenössischen Gegenwart berührt. Mit
akademischen Würden und musikalischen Klängen ging so ein Jubiläum zu Ende, auf das
der Bukarester Germanistiklehrstuhl mit Stolz zurückblicken und mit dem er mutig in die
Zukunft vorausblicken kann, auf noch viele, viele Jahre. Oder, wie der Rumäne sagt: „La
2
mulŃi ani!“ Herzlichen Glückwunsch!
2
Rum.: „Hoch soll er leben!“ (Anm. d. ZGR-Red.)
26
ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
- Dokumente -
UNIVERSITÄT BUKAREST • FAKULTÄT FÜR FREMDSPRACHEN
GERMANISTIKLEHRSTUHL
PROGRAMM
der Veranstaltungen aus Anlass des 100. Jubiläums der Gründung des
Germanistiklehrstuhls der Universität Bukarest 1905 – 2005
Bukarest, den 5.-7. November 2005
Samstag, den 5. November 2005
HÖRSAAL „ODOBESCU“, ALTES UNIVERSITÄTSGEBÄUDE, EDGAR-QUINET-STRASSE 5
[ERDGESCHOSS, RECHTER FLÜGEL]
9.30 Uhr
Festsitzung zum 100. Gründungstag des Lehrstuhls für deutsche Sprache und Literatur der
Universität Bukarest
Musikalischer Auftakt – Kammermusikensemble
Ansprache des Leiters des Germanistiklehrstuhls der Universität Bukarest, Univ.-Prof. Dr.
George GuŃu
Ansprache des Staatsministers für Hochschulfragen und Europäische Integration im
Ministerium für Erziehung und Forschung, Univ.-Prof. Dr. Dumitru Miron
Ansprache des Rektors der Universität Bukarest, Univ.-Prof. Dr. Ioan Pânzaru
Ansprache des Dekans der Fakultät für Fremdsprachen der Universität Bukarest, Univ.-Prof.
Dr. Alexandra Cornilescu
Grußwort des Botschafters der Bundesrepublik Deutschland, Seiner Exzellenz Wilfried Gruber
Grußwort des Botschafters der Republik Österreich, Seiner Exzellenz Dr. Christian Zeileissen
Grußwort des Vorstandes des Instituts für Germanistik der Karl-Franzens-Universität Graz,
Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. Anton Schwob
Grußwort des Direktors des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der
Ludwig-Maximilians-Universität München, Hon.-Univ.-Prof. Dr. Stefan Sienerth
Grußwort von Studentinnen und Studenten: 1. Generation von Immatrikulierten nach 100
Jahren
Musikalischer Abschluss – Kammermusikensemble
11.30 – 12.00 Uhr Pause
12.00 Uhr
Präsentation der Festschrift zum 100. Jubiläum des Germanistiklehrstuhls der Universität
Bukarest durch Univ.-Prof. Dr. Doina Sandu (Mitherausgeberin)
Diskussion
12.30 Uhr
100 Jahre Germanistik in Bukarest (1905-2005)
Präsentation der rumänischen Ausgabe des Tagebuchs des katholischen Erzbischofs von
Bukarest Raymund Netzhammer im Jubiläumsjahr der Besteigung des Erzbischöflichen Stuhls in
Bukarest (1905 – 1924)
Es nehmen teil: Univ.-Prof. Dr. Alexandru Barnea; Univ.-Prof. Dr. George GuŃu; Grussbotschaft
von Nikolaus Netzhammer, Bonn. (Aus dem Deutschen von George Guțu.)
13.15 – 15.00 Uhr Pause zum Mittagessen
HÖRSAAL „IOAN BOGDAN“, PITAR-MOŞ-STR. 7-13
[II. STOCK, MITTLERER GANG LINKERSEITS]
15.00 Uhr
Auftakt zur Wissenschaftlichen Tagung des Germanistiklehrstuhls der Universität Bukarest:
„Interkulturelle Grenzgänge“
Plenarvortrag von Prof. Dr. Volker Hoffmann, Ludwig-Maximilians-Universität, München
Plenarvortrag von Doz. Dr. Markus Fischer, Universität Heidelberg
16.00 – 16.30 Uhr Kaffeepause
16.30 – 18.00 Uhr SEKTIONEN
19.00 Uhr Konzert in Bukarest
Sonntag, den 6. November 2005
10.00 Uhr
Zur dokumentarischen Ausstellung „100 Jahre Bukarester Germanistik“ – Univ.-Doz. Dr.
Mihaela Zaharia, Univ.-Assist. Dd. Ileana Ratcu.
Diskussion
10.30 – 12.30 Uhr SEKTIONEN
12.30 – 14.00 Uhr Pause zum Mittagessen
14.00 – 16.00 Uhr SEKTIONEN
16.00 – 16.30 Uhr
Abschluß der wissenschaftlichen Tagung
Montag, den 7. November 2005
SENATSSAAL DER UNIVERSITÄT BUKAREST, NEUES UNIVERSITÄTSGEBÄUDE, BD.
MIHAIL KOGĂLNICEANU (REKTORAT)
11.30 Uhr
VERLEIHUNG DER EHRENDOKTORWÜRDE DER UNIVERSITÄT BUKAREST an den
Schriftsteller, Essayisten und Publizisten DIETER SCHLESAK (Pieve, Italien)
ANSPRACHE des Rektors der Universität Bukarest, Univ.-Prof. Dr. Ioan Pânzaru
LAUDATIO von Univ.-Prof. Dr. George GuŃu
ANSPRACHE des Ehrengastes, Dieter Schlesak
28
ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
- Dokumente -
UNIVERSITÄT BUKAREST • FAKULTÄT FÜR FREMDSPRACHEN
GERMANISTIKLEHRSTUHL
Gesellschaft der Germanisten Rumäniens
Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der LMU München
Interkulturelle Grenzgänge
Wissenschaftliche Tagung des Germanistiklehrstuhls der Universität Bukarest
aus Anlass seines 100. Gründungstags
Bukarest, 5.-6. November 2005
Programm
Plenarvorträge
Samstag, den 5. November 2005
HÖRSAAL „IOAN BOGDAN“, PITAR-MOŞ-STR. 7-13 [II. STOCK, MITTLERER GANG LINKERSEITS]
Leitung: Prof. Dr. GEORGE GUłU
15.00 Uhr
Auftakt zur Wissenschaftlichen Tagung des Germanistiklehrstuhls der Universität Bukarest:
„Interkulturelle Grenzgänge“
Plenarvortrag - Prof. Dr. VOLKER HOFFMANN (Ludwig-Maximilians-Universität, München): Kritische
Anmerkungen zur Neubearbeitung von Hermann Pauls „Deutschem Wörterbuch“
Plenarvortrag – Doz. Dr. MARKUS FISCHER (Universität Heidelberg): Ironie als Grabschmuck. Zur
Gegenwartsbewältigung in Johann Lippets Erzählung „Der Totengräber“ (1997)
16.00 – 16.30 Uhr Kaffeepause
Sektion I
Historizität und Interkulturalität. Literaturwissenschaftliche Streiflichter
Samstag, den 5. November 2005
(Goethe-Saal, II. Stock) Leitung: Prof. Dr. Dr. h.c. ANTON SCHWOB
16.30 – 16.50 BALAŞ ORLANDO (Lekt. Dd. – Staatliche Universität Oradea/Großwardein): Kriemhilds
Hypostasen in Edda und Saga
16.50 – 17.10 CRĂCIUN-FISCHER IOANA (Doz. Dr. – Universität Bucureşti/Bukarest): Das Thema
der „Gloria francorum“ in Otfrids von Weißenburg Werk „Liber evangeliorum“
17.10 – 17.30 TOMA SORIN (Lekt. Dd. – Universität Spiru Haret Bucureşti/Bukarest): Der Wechsel
des Bild-Paradigmas in Goethes ästhetischen Schriften.
17.30 – 17.50 RĂDULESCU ANCA (Lekt. Dd. – Universität Bucureşti/Bukarest): Randbemerkungen
zur Begriffsgeschichte der „Grazie“
17.50 – 18.00 Diskussionen
Sonntag, den 6. November 2005
A. (Hörsaal „Shakespeare“, II. Stock)
Leitung: Doz. Dr. MARKUS FISCHER
10.30 – 10.50 STROE MIHAI (Doz. Dr. – Universität Bucureşti/Bukarest): Novalis und der Zeitpfeil
100 Jahre Germanistik in Bukarest (1905-2005)
10.50 – 11.10 CONSTANTINESCU ROMANIłA (Doz. Dr. – Universität Bucureşti/Bukarest): Freiheit
des Lesens bei W. Iser und W. Benjamin
11.10 – 11.30 MIHAELA ZAHARIA (Doz. Dr. – Universität Bucureşti/Bukarest): Arthur Rimbauds
Einfluss auf Ernst Jüngers Frühwerk
11.30 – 11.50 GROTE MICHAEL (DAAD-Lektor Universität Bergen, Norwegen): Experimentelle
Literatur. Zur Poetik von Carlfriedrich Claus
11.50 – 12.10 DECUBLE HORAłIU (Lekt. Dr. – Universität Al. I. Cuza Iaşi/Jassy): Hartmann, der
guote sündaere. Die literarische Übersetzung zwischen Sünde und Genuss
12.10. – 12.30 Diskussionen
B. (Goethe-Saal, II. Stock)
Leitung: CARMEN ELISABETH PUCHIANU
10.30 – 10.50 b COSAN LEYLA (Doz. Dr. – Marmara Universität Istanbul, Türkei): Das Judenbild in den
deutschen Volksmärchen
10.50 – 11.10 NICOLAESCU GHEORGHE (Lekt. Dr. – Universität Bucureşti/Bukarest): Joseph Roths
Beitrag zur Ost-West-Debatte
11.10 – 11.30 EŞIAN DELIA (Assist. Dd. – Universität Al. I. Cuza Iaşi/Jassy): Poetologische
Dimensionen bei Max Frisch und Ingeborg Bachmann
11.30 – 11.50 IONESCU DANIELA (Lekt. Dd. – Universität Bucureşti/Bukarest): Zu Elfriede Jelineks
„Raststätte oder sie machen’s alle“
11.50 – 12.10 PALIMARIU ANA-MARIA (Assist. – Universität Al. I. Cuza Iaşi/Jassy): Inszenierungen
der Reinheit in Martin Walsers Romanen “Jenseits der Liebe” und “Brief an Lord Liszt”
12.10. – 12.30 Diskussionen
A. (Hörsaal „Shakespeare“, II. Stock)
Leitung: Hon.-Prof. Dr. STEFAN SIENERTH
14.00 – 14.20 LĂZĂRESCU MARIANA (Doz. Dr. – Universität Bucureşti/Bukarest): Identitäts- und
Kulturkonzept in Hans Bergels essayistischem Werk
14.20 – 14.40 IONIłĂ MIRELA (Doz. Dr. – Militärakademie Bucureşti/Bukarest): Die Fiktion des
Heimatbildes bei Aglaja Veteranyi
14.40 – 15.00 PUCHIANU CARMEN ELISABETH (Lekt. Dr. – Universität Transilvania
Braşov/Kronstadt): Zum asiatischen Prinzip in Thomas Manns „Der Zauberberg“
15.00 – 15.20 IROD MARIA (Assist. Dd. – Universität Dimitrie Cantemir Bucureşti/Bukarest): Das
Numinose in der Lyrik von Dieter Schlesak
15.20-16.00 Diskussionen
Sektion II
Intra- und interlinguale Kommunikation. Linguistische Exkurse
Samstag, den 5. November 2005
(Hörsaal „Shakespeare“, II. Stock)
Leitung: Prof. Dr. VOLKER HOFFMANN
16.30 – 16.50 STĂNESCU SPERANłA (Prof. Dr. – Universität Bucureşti/Bukarest): Sprechende
Namen in der Beschreibung des Deutschen
16.50 – 17.10 CUJBĂ CORNELIA (Doz. Dr. – Universität Al. I. Cuza Iaşi/Jassy): Lexikalisierte
Farbwortverbindungen
17.10 – 17.30 BALCI YASEMIN (Doz. Dr. – Marmara Universität Istanbul, Türkei): „kennen“ versus
„wissen“
17.30 – 17.50 LĂZĂRESCU IOAN (Doz. Dr. – Universität Bucureşti/Bukarest) / SCHEURINGER
HERMANN (Prof. Dr. – Universität Wien, Österreich): Österreichische Diminutive
30
ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
Programm der Wissenschaftlichen Tagung „Interkulturelle Grenzgänge, Bukarest, 5.-6. November 2005
17.50 – 18.00 Diskussionen
Sonntag, den 6. November 2005
A. (Hörsaal „Ioan Bogdan“, II. Stock)
Leitung: Doz. Dr. IOANA CRĂCIUN-FISCHER
10.30 – 10.50 SANDU DOINA (Prof. Dr. – Universität Bucureşti/Bukarest): Eine Rückbesinnung auf
die „Belles infidèles“ – Die Übersetzung literarischer Texte, eine Sonderform der Kommunikation
10.50 – 11.10 GUłU GEORGE (Prof. Dr. – Universität Bucureşti/Bukarest): Übersetzungen als
Interreferenzialitätszugänge: Immanuel Weissglas’ Fassung von Mihai Eminescus „Luceafărul”
11.10 – 11.30 GEORGE ADRIANA (MA – Universität Babeş-Bolyai Cluj/Klausenburg): Alfred MargulSperber als Eminescu-Übersetzer
11.30 – 11.50 DRAGANOVICI MIHAI (Lekt. Dd. – Universität für Bauwesen Bucureşti/Bukarest):
Rumänische Beiträge zur Übersetzungstheorie in der Presse der Zwischenkriegszeit
11.50 – 12.10 bKOHN GABRIEL (Lekt. Dd. – Westuniversität Timişoara/Temeswar): Blick auf eine
Glasmanufaktur. Zur rumänischen Übersetzung von „Sein und Zeit“
11.50 – 12.30 Diskussionen
B. (Saal: Lehrstuhl-Raum, Erdgeschoss)
Leitung: Doz. Dr. CORNELIA CUJBĂ
10.30 – 10.55 ZAHARIA CASIA (Assist. Dr. – Universität Al. I. Cuza Iaşi/Jassy): Tiermetaphern in
deutschen und rumänischen Volkstexten
10.55 – 11.20 AKTAŞ AYFER (Doz. Dr. – Marmara Universität Istanbul, Türkei): Zum Stellenwert der
deutschen Sprache im türkischen Bildungssystem – mit einem Blick auf die deutsch-türkischen
Beziehungen auf kultureller und wirtschaftlicher Basis
11.20 – 11.40 KOTTLER PETER (Lekt. – West-Universität Timişoara/Temeswar): Friedrich Schillers
Beitrag zur Bereicherung der neuhochdeutschen Sprache
11.40 – 12.00 GHENGHEA VOICHIłA (Doz. Dr. – Universität Politehnica Bucureşti/Bukarest):
Technische Kommunikation aus der Perspektive der Wissens-, Sprach- und Kulturvermittlung
12.00 – 12.20 Diskussionen
12.15 – 14.00 Mittagspause
A. (Hörsaal „Ioan Bogdan“, II. Stock)
Leitung: Prof. Dr. DOINA SANDU
14.00 – 14.20 SAVA DORIS (Lekt. Dd. – Universität Lucian Blaga Sibiu/Hermannstadt): Dem
gemeinen Mann aufs Maul geschaut. Formulierungstätigkeit aus kontrastiver Perspektive DeutschRumänisch
14.20 – 14.40 GĂDEANU SORIN (Doz. Dr. – Universität Spiru Haret Bucureşti/Bukarest): Nachreife
und Späternte. Eine diskursanalytische Untersuchung zu den Modellen des öffentlichen
Sprachgebrauchs der deutschsprachigen Minderheit Rumäniens
14.40 – 15.00 CĂLUGĂRIłA ANDREEA (Assist. – Polizeiakademie Al. I. Cuza Bucureşti/Bukarest):
Überlegungen zur Morphosyntax der juristischen Gegenwartssprache
15.00 – 15.20 FIERBINłEANU IOANA HERMINE (Lekt. Dd. – Universität Bucureşti/Bukarest):
Mündliches Erzählen im Deutschen und Rumänischen
15.20 – 16.00 Diskussionen
Sektion III
Sprachvermittlung im Kulturtransfer. Didaktische Kontextualisierung
(Hörsaal „Eminescu”, I. Stock)
Samstag, den 5. November 2005
(I.) Leitung: Doz. Dr. AYFER AKTAŞ
ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
31
100 Jahre Germanistik in Bukarest (1905-2005)
16.30 – 16.50 MOISE ILEANA (Lekt. Dr. – Universität Bucureşti/Bukarest): Phonetik und der
Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen
16.50 – 17.10 KOCH MARIANNE (Lekt. Dr. – Universität Bucureşti/Bukarest): Europakompetenz in
der Lehrerbildung
17.10 – 17.30 MÜLLER REIMAR (DAAD-Lekt. Dd. – Universität Bucureşti/Bukarest): Die Klassische
Rhetorik als Modell einer integrativen Sprachvermittlung
17.30 – 17.50 PARPALEA MIHAELA (Lekt. Dr. – Transilvania-Universität Braşov/Kronstadt):
Überlegungen zu einem kulturkontrastiven Sprachunterricht
17.50 – 18.10 Diskussionen
Sonntag, den 6. November 2005
(II.) Leitung: DAAD-Lekt. Dd. REIMAR MÜLLER
10.30 – 10.50 MUNTEAN CARMEN (Hilfsassist. Dd. – Universität Bucureşti/Bukarest): Der Einfluss
der Strukturforderung „Anbindung an den Arbeitsmarkt“ auf Curricula der Lehrerausbildung
10.50 – 11.10 ILIESCU CARMEN (Lekt. Dd. – Universität Bucureşti/Bukarest): Didaktische
Überlegungen zur Historizitäts- und Kontextmarkierung literarischer Texte
11.10 – 11.30 ISTODE GABRIEL (Assist. Dd. – Universität Untere Donau, GalaŃi): Sprach- und
Kulturvermittlung aus psychosystematischer Perspespektive
11.30 – 11.50 HALDENWANG SIGRID (Doz. Dr. – Universität „Lucian Blaga” Sibiu/Hermannstadt):
Das große deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm – seine Bedeutung für das
„Siebenbürgisch-Sächsische Wörterbuch“
11.50 – 12.10 KUNTZSCH LUTZ (Doz. Dr. – Gesellschaft für deutsche Sprache, Wiesbaden): Haben
Sie heute schon gegoogelt? Wie die neuen Medien unsere Sprache verändern
12.10 – 12.30 Diskussionen
Sektion IV
Anamnesen und Leistungslust. Zur Geschichte der Germanistik in Rumänien
(Hörsaal „Puschkin“, I. Stock)
Sonntag, den 6. November 2005
(I.) Leitung: Prof. Dr. HERMANN SCHEURINGER
10.30 – 10.50 SIENERTH STEFAN (Hon.-Prof. Dr. – Institut für Deutsche Kultur und Geschichte
Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München): Rumäniendeutsche Literatur als
Lehrfach an der Universität Bucureşti/Bukarest während der Zwischenkriegszeit
10.50 – 11.10 AGACHE ASTRID (Doz. Dr. – Universität Al. I. Cuza Iaşi/Jassy): Die Situation der
rumänischen Germanistik erläutert am Beispiel zweier Briefe Karl Kurt Kleins an Traian Bratu
11.10 – 11.30 JARNEA GABRIEL (Dd. – Universität Freiburg): Die Geburt der deutsch-rumänischen
Perzeptionsbarrieren aus dem Geiste der interkulturellen Mißdeutung. Eine kulturanamnetische
Betrachtung
11.30 – 11.50 STĂNESCU SPERANłA (Prof. Dr. – Universität Bucureşti/Bukarest): Der Beitrag der
Bukarester Germanistik zur Bologna-Debatte
11.50 – 12.10 VELICA IOANA (Lekt. Dd. - Universität Babeş-Bolyai Cluj/Klausenburg): Geschichte
des schulischen Fremdsprachenunterrichts in der Zwischenkriegszeit (1918-1945)
12.10 – 12.30 Diskussionen
12.30 – 14.00 Mittagesssen
(II.) Leitung: Prof. Dr. SPERANłA STĂNESCU
14.00 – 14.20 EŞIANU CORNELIA (Assist. Dr. – Universität Al. I. Cuza Iaşi/Jassy): Zur Identität
des/der rumänischen Germanisten/in
14.20 – 14.40 BICAN BIANCA (Lekt. Dr. – Stiftungsprofessur der BR Deutschland an der Universität
Babeş-Bolyai Cluj/Klausenburg): Akademischer Antisemitismus in Deutschland im 19. Jahrhundert
32
ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
Programm der Wissenschaftlichen Tagung „Interkulturelle Grenzgänge, Bukarest, 5.-6. November 2005
14.40 – 15.00 RATCU ILEANA (Lekt. Dr. – Polizeiakademie Al. I. Cuza Bucureşti/Bukarest): Beiträge
zur Geschichte der Germanistik an der Czernowitzer Universität
15.00 – 15.20 PETRESCU CORINA (MA – New Europe College, Bucureşti/Bukarest): Autorität und
Liebe. Autorität der Liebe. Gedanken über das deutsche Schulsystem um 1900
15.20 – 15.40 STANGL MARTIN (Öster. Lekt. Dr. - Universität Bucureşti/Bukarest): 13 Jahre
Österreich-Bibliothek Bukarest
15.40 – 16.00 Diskussionen
16.00 – 16.30 Abschluss der Wissenschaftlichen Tagung. Schlussfolgerungen und Aussichten
Abreise der Teilnehmerinnen und Teilnehmer
ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
33
LITERATURWISSENSCHAFT
LITERATURWISSENSCHAF T
IDENTITÄTSKONZEPTIONEN
in Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre
Cornelia Eşianu
E ianu
In memoriam Mary Ivănescu
1. Bildung und Identität
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchdrang die Bildungsidee erfolgreich den
1
öffentlichen Diskurs von Gelehrten, Politikern und nicht zuletzt Literaten . Der Mensch, seine
Bildung und Erziehung wurden zu beliebten Diskussionsthemen sowohl vor dem Hintergrund
der allgemeinen Neigung der deutschen Intelligenz zu Studium und Auseinandersetzung mit
der klassisch-griechischen Antike als auch vor jenem der Französischen Revolution mit ihrem
Lob auf das Individuum, dessen Würde und dessen Rechte. Unter Bildung verstand man die
Entwicklung der natürlichen Anlagen des Individuums, um latente unkultivierte Dispositionen
auf höchste Weise manifest werden zu lassen. In bestimmter Hinsicht wurde sie mit der
2
organischen Bildung in Analogie gesetzt .
Bildung ist identitätsstiftend. Wie Henning Kößler hervorhebt, bewirkt Bildung kulturelle
Identität, aber „nicht nur als Wissen, das man auch wieder vergessen kann, sondern als
Mentalität, als Weltsicht und Menschenbild und als das System von Einstellungen und stabilen
3
Stellungnahmen zu dem das Hineinwachsen in eine gesellschaftlich-kulturelle Praxis führt“ .
1
Verwiesen sei hier auf die Diskurse von Kant, Mendelssohn, Herder, Wieland, Schiller, Humboldt. So betont beispielsweise Kant in seinem Text Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784) die Notwendigkeit der Entwicklung oder „Auswicklung“ aller menschlichen Naturanlagen, wobei der Weg zur inneren Bildung der
Denkungsart über Kunst und Wissenschaft führt. Für Moses Mendelssohn sind „Bildung, Kultur und Aufklärung“ Bedingungen der Möglichkeit gesellschaftlichen Fortschritts. Wieland spricht vom Menschen als von seinem eigenen
zweiten Schöpfer, Schiller sieht im Menschen „den Selbsturheber seines Zustandes“, während Wilhelm Humboldt sich
über die Bildung des Menschen als seinem wahren Zweck in seiner 1792 erschienen Schrift Ideen zu einem Versuch die
Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen äußert und die Freiheit als „die erste, und unerlässliche Bedingung“
bezeichnet.
2
Zur Geschichte des Wortes vgl. Artikel „Bildung“. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Herausgegeben von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Bd. 1.
Stuttgart, 1972. Nachdruck 1979, S. 508ff; vgl. auch Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1. S. 921- 937.
Weiterhin: Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. 6. Aufl.,
Tübingen, 1990. S. 15ff.
3
Henning Kößler: Selbstbefangenheit – Identität – Bildung. Beiträge zur praktischen Anthropologie. Mit einem
Nachwort von Eckard König. Weinheim 1997. S. 107f.
Identitätskonzeptionen in Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“
4
Als Goethe seinen Roman schrieb oder diktierte, konnte er zweifelsohne nicht wissen, dass
er gerade an etwas arbeitete, das für viele Leser- und Kritikergenerationen als Bildungsroman
schlechthin gelten sollte. Auch wenn ein Teil der Wilhelm Meister–Forschung dem Roman die
Eigenschaft eines „reinen“ oder „echten“ Bildungsromans mit dem Argument abspricht, dass der
5
Roman sich nicht ausschließlich auf die Bildungsgeschichte seines Protagonisten beschränkt ,
so ist sicher nicht zu übersehen, dass schon mit Friedrich Schlegels berühmter Rezension des
Meister im l. Band der Zeitschrift „Athenäum“ (1798) Goethes Roman zum Paradigma des
Bildungsromans erhoben wurde.
Das Konzept der Bildung ist in Wilhelm Meisters Lehrjahre weit gefasst, was nicht zuletzt ein
Grund für Äußerungen wie jene von Max Wundt ist, nämlich dass es den Bildungsbegriff im
6
Wilhelm Meister gar nicht gibt, sondern nur verschiedene Bildungspositionen .
Jedenfalls gehört zu Goethes Bildungsbegriff oder zum Begriff des gebildeten Individuums
im Goetheschen Sinne außer der Vorstellung der Entwicklung seiner physischen und geistigen
Fähigkeiten, welche der Roman bis auf wenige Ausnahmen so gut wie nicht behandelt, eine
Reihe von anderen Elementen, wie Selbsterfahrung und Enttäuschung, Menschenkenntnis,
Liebe und Freundschaft, Irrtum und Schicksal, auf die der Roman insistiert.
Manche Autoren behaupten sogar, Wilhelm Meister habe am Ende des Romans nichts ge7
lernt, Wilhelm Meister sei ein Schüler, der kein Meister wurde . Wenn auch die Meinungen
diesbezüglich auseinandergehen, so weisen sie um so mehr auf eine nicht zu widerlegende Tatsache hin, darauf, dass durch seine unendliche Deutbarkeit Goethes Roman, der für den Autor
8
selbst zu den „inkalkulabelsten Produktionen zählte“ , zu einer im Sinne Friedrich Schlegels
klassische Schrift wurde:
Eine klassische Schrift muß nie ganz verstanden werden können. Aber die welche gebildet sindund
9
sich bilden, müssen immer mehr daraus lernen wollen.
Bei der Erarbeitung des Bildungsbegriffs im Roman soll im Folgenden von einer Goetheschen
Aussage ausgegangen werden. In einem Gespräch mit Eckermann äußert sich Goethe über die
Eigenart von Wilhelm Meisters Lehrjahre und vergleicht die Lebensgeschichte Wilhelms mit der
biblischen Geschichte von Saul, dem ersten König Israels. Dabei deutet er auf Friedrichs Worte
am Schluss des Romans hin:
Du kommst mir vor wie Saul, der Sohn Kis‘, der ausging, seines Vaters Eselinnen zu suchen und ein
10
Königreich fand.
4
Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Herausgegeben von Erich Schmidt. Mit sechs Kupferstichen von Catel. Sieben Musikbeispielen und Anmerkungen. Frankfurt am Main: Insel-Verlag. Erste Auflage 1980. (Im
Folgenden abgekürzt: WML)
5
Vgl. z.B. Kurt May: „Wilhelm Meisters Lehrjahre, ein Bildungsroman? In: DVJS, 31 (1957), S. 1-37.
Vgl. Max Wundt: Goethes Wilhelm Meister und die Entwicklung des modernen Lebensideals. Berlin und Leipzig
1913. S. 213-250.
7
Vgl. Karl Otto Conrady: „Ein Schüler, der kein Meister wurde. Wilhelm Meisters Lehrjahre“. In: ders.: Goethe. Leben
und Werk. Zweiter Band. Summe des Lebens. Frankfurt am Main. 1988, S. 133-159.
8
Vgl. das Gespräch vom 18. Januar 1825. In: Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren
seines Lebens. Herausgegeben von Otto Schönberger. Stuttgart: Reclam. 1994. S. 150.
6
9
Lyceumsfragment 120. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Band 2. S. 149.
Bezug wird hier auf das Erste Buch Samuel der Bibel, Kapitel 1, genommen, das die Lebensgeschichte König Sauls
(ca. 1000 v. Ch.) enthält.
10
ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
35
Cornelia Eşianu
Goethe liefert dazu auch eine mögliche Interpretation:
Hieran halte man sich. Denn im Grunde scheint doch das Ganze nichts anderes sagen zu wollen, als
daß der Mensch, trotz aller Dummheiten und Verwirrungen, von einer höheren Hand geleitet, doch
11
zum glücklichen Ziele gelange.
Goethe besteht in diesem Interpretationsschlüssel auf drei wichtige Ideen, die in seinem
Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre wieder zu erkennen sind und die die Herausarbeitung eines
Verständnisses von Bildung ermöglichen, zugleich aber auch Überlegungen zum Begriff der
Identität und dessen Zusammenhang mit jenem der Bildung veranlassen.
1. Was sich auf ein Ziel hin bewegt, was sich bildet und gebildet wird, ist der Mensch selbst,
der im Prozess seiner persönlichen Entwicklung nicht von Fehlern, von „Dummheiten und Verwirrungen“ verschont bleibt. 2. Trotz der Fehler wird dieser durch eine "höhere Hand“ geleitet,
die oft Schicksalscharakter hat. 3. Zuletzt steht das "glückliche Ziel", das beinahe hollywoodmäßig anmutende Erreichen des Erstrebten.
Zwar haben hier die Goetheschen Ideen allgemeinen Charakter, dennoch ist ihre symbolische
Intention nicht zu übersehen. Es gilt, dass Wilhelm ein Mensch ist, aber die Umkehrung ist
ebenfalls gültig. Jeder Mensch ist ein Wilhelm, demnach nicht vor Verwirrungen und Irrtümern
gefeit, mag er auch am Ende doch noch sein Ziel erreichen.
Die Idee des „glücklichen Ziels“ bedarf in diesem Kontext näherer Untersuchung, denn sie
bietet die Möglichkeit, die Anwendbarkeit des Identitätsbegriffs hervorzuheben, wie später im
Rahmen der Romananalyse zu sehen sein wird.
Ohne sich auf eine spekulative Schiene bezüglich des vermeintlichen Ziels treiben zu lassen,
soll hier das Unbestreitbare zum Ausdruck gebracht werden. Sprachlich gesehen ist im Falle des
„glücklichen Ziels“ die Rede von der Zusammenfügung zweier Wörter, von „Glück“ in seiner
adjektivischen Form „glücklich“ und von „Ziel“. Man kann nur schwer glauben, dass hier „das
glückliche Ziel“, zu dem der Held gelangen soll, das Ende seiner Bildung zu bedeuten habe.
Wäre dem so, bräuchte sich Wilhelm in den Wanderjahren nicht mehr weiterzubilden, um
schließlich in den Diensten der Mitmenschen tätig zu werden.
Die im Rahmen dieser Studie formulierte These bezieht sich darauf, dass bei Goethe Bildung
als eine notwendige Bedingung zur Erreichung des „glücklichen Ziels" zu sehen ist, das eine Art
Identitätsgefühl, eine harmonische Übereinstimmung des Subjekts mit sich selbst voraussetzt.
Das Wort „glücklich“ legt diesbezüglich den Gedanken nahe, dass damit ein individuelles Wohlbefinden gemeint ist, das auf die Welt der Projektionen des Selbst verweist. Wilhelm strebt
einem, wenn auch unpräzisen, Ideal entgegen, mit Bezug auf das er sich selbst darstellt.
An dieser Stelle sei hervorgehoben, dass das Wort „Identität“ von Goethe selbst im Roman
nicht verwendet wird. Dafür werden aber andere gleichbedeutende Termini oder Ausdrücke
eingesetzt, die zumindest das Identitätsgefühl – jene Gewissheit eines Menschen, dass er er
12
selbst ist –, treffend umschreiben. So z. B. der Ausdruck „mit sich selbst einig werden“, wobei
diese zu erreichende Einheit als „heilsame Einheit“ bezeichnet wird. Von dieser entfernt sich
13
jedoch der junge Wilhelm, da er „fremden Lichtern als Leitstern folgte“ . Auch wird im Roman
11
Vgl. Anm. 7.
Vgl. WML, 5. Buch, 1. Kap., S. 294: „Wilhelm sah sich in einem Augenblicke frei, in welchem er mit sich selbst
noch nicht einig werden konnte“.
13
Ebd. S. 295.
12
36
ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
Identitätskonzeptionen in Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“
14
Wilhelms „unwiderstehliche Neigung" zur „harmonischen Bildung“ seiner Natur erwähnt .
15
Identität könnte schließlich mit der Vorstellung des Menschen „auf dem rechten Weg“ , oder
16
der Vorstellung des „wohl“ und „gut“ aussehenden Menschen assoziiert werden. Für
jemanden, der es besitzt, wird das Identitätsgefühl zu einem positiven Gefühl sich selbst und
der Welt gegenüber. Das Identitätsgefühl wird oft von einem Gefühl der Ruhe, wie sich
Wilhelm dazu ex negativo äußert, begleitet:
Es ist ein trauriges Geschäft …, wenn man über die reinen Vorzüge der andern in einem Augenblicke
denken soll, da man mit sich selbst uneins ist; solche Betrachtungen stehen dem ruhigen Manne
17
wohl an, nicht dem, der von Leidenschaft und Ungewißheit bewegt ist.
Bildung und Identität stehen bei Goethe in einem sich gegenseitig bestimmenden Verhältnis,
d.h., dass einerseits das Zu-sich-selbst-Finden des Helden eine persönliche Entwicklung voraussetzt und andererseits, dass der Bildungsprozess durch Identitätsvorstellungen des Helden veranlasst und begleitet wird.
1. 2 Identitätsmodelle in Wilhelm Meisters Lehrjahre
Identitätskonstruktion setzt Bildung voraus und der Bildungsprozess vollzieht sich im Hinblick auf eine zu erreichende Identität. In diesem Prozess oder beim Erreichen des „glücklichen
Ziels“, um mit Goethe zu sprechen, spielt die Natur des Einzelnen eine bedeutende Rolle. Um
überhaupt wissen zu können, was man will, wozu man taugt, muss sich der sich Bildende zunächst selbst entdecken. Anders gesagt, man hat seine eigene Natur zu kennen, um zu wissen,
wozu man sich recht entscheiden soll. Man kennt seine Natur, indem man sich zu seinen natürlichen Anlagen auf dem Weg des Experimentierens vorwagt. Experimentieren heißt bei Goethe
soviel wie Prüfen und Wählen, Suchen und Irren. Die Komponente des „Sich Irrens“ scheint hier
vor allem wichtig zu sein.
In Goethes Roman strukturieren die Gestalten ihre Lebensweisen mit Bezug auf verschiedene
Modelle von Identität. Zum Einen sind es tradierte, festgeschriebene Modelle, z.B. jenes des
Edelmanns oder des Bürgers. Zum Anderen sind es solche, die eine allgemeine soziale Anerkennung (noch) nicht erlangt haben, wie z.B. das künstlerische Identitätsmodell – im Roman
eher negativ besetzt, nachdem es in Wilhelm Meisters theatralische Sendung seine positive
Phase durchgemacht hat – oder das religiöse und nicht zuletzt das neue, gewissermaßen in
einer nahen Zukunft zu verortende pädagogische Modell. Jedenfalls ist letzteres ein solches,
das vom Autor nicht ohne Sympathie beschrieben wird.
Natürlich könnte die Beschreibung eines jeden Identitätsmodells Gegenstand einzelner
Reflexionen werden. Doch das wird hier nicht unternommen. Lediglich die Modelle werden
einzeln erwähnt und mehr oder weniger detailliert besprochen. Darauf folgend sind deren Verhältnisse untereinander zu bestimmen und Wilhelms Einstellung dazu zu untersuchen.
Das bürgerliche
bürgerliche Identitätsmodell ist im Kreis der Gestalten durch Werner, einem merkantil
18
orientierten Typ, vertreten. Er ist ein „arbeitsamer Hypohondrist“, an Gewinn orientiert .
14
WML, 5. Buch, 3. Kap., S. 302.
WML, 8. Buch, 1. Kap., S. 516.
16
Ebd.
17
WML, 8. Buch, 5. Kap., S. 570; weiterhin 5. Buch, 3. Kap., S. 300: „Was hilft es mir, gutes Eisen zu fabrizieren,
wenn mein eigenes Inneres voller Schlacken ist? Und was, ein Landgut in Ordnung zu bringen, wenn ich mit mir selber
uneins bin?“
18
WML, 8. Buch, 1. Kap., S. 514.
15
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Wilhelm selbst entstammt einer bürgerlichen Familie, doch setzt er sich das Nachahmen dieses
Modells, wie man es erwarten könnte, nicht zum Ziel. Werners Streben wird von der Existenzweise des Habens bestimmt. Als Bürger knüpft er sein Leben an die Idee des Besitztums. Seine
materiellen Interessen verdecken vollständig die geistigen und lassen in den Vordergrund einen
extrem pragmatischen Menschen treten.
Das Identitätsmodell des Adligen ist durch den Fürstenhof repräsentiert, das Wilhelm durch
Bekanntschaften mit „Vornehmen“, mit Mitgliedern aus der „großen Welt“, kennen lernt. Der
Edelmann braucht sich im Leben nicht durchzukämpfen, um seine Identität als Edelmann beweisen zu können, denn er ist es bereits bei seiner Geburt. Weil er finanziell gesichert ist, kann
er sich primär nicht dem Gelderwerb, sondern anderen Dingen widmen. Eins davon ist die
persönliche Bildung, von Wilhelm folgendermaßen beschrieben:
Nur dem Edelmann ist eine gewisse allgemeine ... personelle Ausbildung möglich. … Eine gewisse
feierliche Grazie bei gewöhnlichen Dingen, eine Art von leichtsinniger Zierlichkeit bei ernsthaften
und wichtigen kleidet ihn wohl, weil er sehen läßt, daß er überall im Gleichgewicht steht. Er ist eine
öffentliche Person, und je ausgebildeter seine Bewegungen, je sonorer seine Stimme, je gehaltner
19
und gemessener sein ganzes Wesen ist, desto vollkommner ist er.
Ein drittes Modell ist das künstlerische Identitätsmodell,
Identitätsmodell das jedoch im Roman nicht zu
seinem vollen Ausdruck kommt. Dieses Modell müsste eher in Wilhelm Meisters Theatralische
Sendung analysiert werden, denn im Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre bewahrheitet sich für
Wilhelm, dass der Schauspielerberuf für sein Lebensprojekt der falsche ist. Auch ist es so gut
wie unmöglich, exemplarische Schauspielermodelle zu geben. Dennoch kann man dieses Modell
aufgrund der Aussagen verschiedener Gestalten rekonstruieren. So besteht die Aufgabe des
Schauspielers darin, die verschiedensten ihm aufgetragenen Rollen spielen zu können. Wie
Jarno, ein Mitglied der Turmgesellschaft, sich dazu äußert, ist der Schauspieler zum Schein
berufen und „wenn er sich und andern nicht etwas scheint, so ist er nichts“. Deshalb muss er
„den augenblicklichen Beifall hoch schätzen, denn er erhält keinen andern Lohn, er muß zu
20
glänzen suchen denn deswegen steht er da“ .
Es ist interessant zu beobachten, dass in Goethes Roman weibliche künstlerische Naturen,
wie Aurelie, Mariane oder Mignon, keine robusten Wesen sind, kein Glück haben und auch
relativ schnell ums Leben kommen. Dennoch kommt der Frau und der Kunst in Goethes Roman
eine wichtige Rolle zu, insofern sie es sind, die die Erfahrung dessen, „was der Mensch sei und
21
was er sein könne“ , ermöglichen.
Als religiöse Strömung der persönlichen Erfahrung und Begegnung mit dem Absoluten hat
der Pietismus viele Beziehungen zur Mystik. In sich zurückgekehrt, widmet sich das Ich in
22
einem größeren Maße seinen inneren Gefühlen als der Außenwelt . In diesem Zusammenhang
verdient das religiöse Identitätsmodell,
Identitätsmodell dessen Vertreter in Goethes Roman die „schöne Seele“
ist, eine besondere Aufmerksamkeit. Ausgehend vom sechsten Buch des Romans soll dieses
Modell veranschaulicht werden. Es ist interessant zu beobachten, dass die Hauptgestalt eine
Frau ist, die im besonderen Maße um ihre geistig-seelische Bildung bemüht ist. Das Buch gibt
in großen Zügen ihr äußeres wie inneres Leben wieder. Von Natur aus ein kränkliches Wesen,
19
WML, 5. Buch, 3. Kap., S. 300.
WML, 7. Buch, 3. Kap., S. 450.
21
WML, 8. Buch, 5. Kap., S. 556.
22
Vgl. u. a. Gerhard Kaiser: Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. 1961, S. 7ff.
20
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Identitätskonzeptionen in Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“
richtet sie von klein auf ihre Aufmerksamkeit auf die eigenartige Beziehung zu Gott, den sie als
ihren Freund bezeichnet, und den sie immer dann sucht, wenn ihr außergewöhnliche Probleme
begegnen. Durch zahlreiche innere Erlebnisse in dem Glauben an ihren unsichtbaren Freund
bestärkt, ist sie auch immer von der Richtigkeit ihrer Entscheidungen überzeugt, vor allem
dann, wenn sie die "gute Wahl" trifft, auf ihre Auftritte in der mondänen Welt zu verzichten
und ihren „irdischen“ Freund und die mit ihm zu vollziehende Heirat zugunsten eines zurückgezogenen Lebens aufgibt. Das Prinzip, auf das sie ihre neue Lebensweise zurückführt, ist ein
„Instinkt“, ein unbewusster Antrieb. Es ist der Naturtrieb, der sie leitet und sie auf dem rechten
Weg hält. Die Grenzen ihrer Handlungen legt sie sich selbst fest, sie ist sich selbst das Maß. Das
fasziniert, ist aber zugleich beängstigend, insofern es in einen Bereich zu führen scheint, worin
menschliche Gesetze augenblicklich ihre Gültigkeit verlieren:
Ich erinnere mich kaum eines Gebotes, nichts erscheint mir in Gestalt eines Gesetzes, es ist ein
Trieb, der mich leitet und mich immer recht führet: ich folge mit Freiheit meinen Gesinnungen und
23
weiß so wenig von Einschränkung als von Reue.
Dieses stark individualistisch gefärbte, religiöse Identitätsmodell kontrastiert mit einem
anderen, das als pädagogisches Identitätsmodell bezeichnet werden kann. Es ist vor allem ein
Modell, das die so genannte innere wie äußere Bildung des Menschen mit einbezieht und eine
Art vollständige Bildung anspricht. Diese ist für die Mitglieder der Turmgesellschaft
charakteristisch, deren Hauptvertreter der Abbé ist.
Aus der Sicht der Turmgesellschaft ist „das erste und letzte am Menschen“ Tätigkeit. Ihr Erziehungskonzept scheint dem, was gang und gäbe ist, entgegengesetzt zu sein, denn
wenn man an der Erziehung des Menschen etwas tun wolle, müsse man sehen, wohin seine Neigungen und Wünsche gehen. Sodann müsse man ihn in die Lage versetzen, jene sobald als möglich
zu befriedigen, diese sobald als möglich zu erreichen, damit der Mensch, wenn er sich geirrt habe,
früh genug seinen Irrtum gewahr werde, und wenn er das getroffen hat, was für ihn passt, desto
24
eifriger daran halte und sich desto emsiger fortbilde.
So ist die Pflicht des Menschenerziehers „nicht vor Irrtum zu bewahren“, sondern „den
Irrenden zu leiten, ja ihn seinen Irrtum aus vollen Bechern ausschlürfen zu lassen, das ist Weis25
heit der Lehrer“ .
Einen "Irrweg" kann sich jedoch in Goethes Roman eigentlich nur der Adlige erlauben, weil
er dadurch seine finanzielle Existenz nicht wesentlich gefährdet. Diesen Identitätstyp verkörpert Lothario, „ein wohlgebildeter Mann“, dessen „Lehrjahre“ bereits beendet sind. Er „irrte“
in Amerika umher und wirkte als Soldat. Seine Rückkehr nach Hause markiert für ihn den Ab26
schluss seines Selbstsuche-Abenteuers: „Hier oder nirgends ist Amerika!“ , gibt er seinen Mitmenschen zu verstehen.
Jarno sieht in Lothario ein für Wilhelm nachstrebenswertes Beispiel und charakterisiert ihn
mit folgenden Worten: „Er führt, wo er auch sei, eine Welt mit sich, seine Gegenwart belebt
27
und feuert an“ . Lothario stellt den seine Existenz auf permanenter Tätigkeit gründenden
Menschentyp dar.
23
WML, 6. Buch, Bekenntnisse einer schönen Seele, S. 435.
Ebd. S. 434.
25
WML, 7. Buch, 9. Kap., S. 509.
26
WML, 7. Buch, 3. Kap., S. 446.
27
WML, 8. Buch, 5. Kap., S. 569.
24
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1.2.1 Das Verhältnis der Identitätsmodelle untereinander
Prinzipiell schließen sich die obenerwähnten Identitätsmodelle gegenseitig aus, so z. B. das
bürgerliche Identitätsmodell und jenes des Adligen:
Wenn der Edelmann durch die Darstellung seiner Person alles gibt, so gibt der Bürger durch seine
Persönlichkeit nichts und soll nichts geben. Jener darf und soll scheinen; dieser soll nur sein, und
was er scheinen will, ist lächerlich oder abgeschmackt. Jener soll tun und wirken, dieser soll leisten
und schaffen; er soll einzelne Fähigkeiten ausbilden, um brauchbar zu werden, und es wird schon
vorausgesetzt, dass in seinem Wesen keine Harmonie sei, noch sein dürfe, weil er, um sich auf eine
28
Weise brauchbar zu machen, alles übrige vernachlässigen muß.
Die Ausschließlichkeit der beiden Modelle wird vom Autor auf die Verfassung der damaligen
29
Gesellschaft zurückgeführt .
Gleichwohl bestehen zwischen den Modellen keine Widersprüche, wenn man aus ihnen
heraus argumentiert. Man kann sich aber auch fragen, ob mit dem pädagogischen Identitätsmodell nicht ein solches gemeint ist, das alle anderen Modelle, allerdings auf relative Weise,
zusammenbringt und dementsprechend alle Widersprüche, die zwischen den einzelnen
existieren, aufhebt. So ist der Abbé ein Schauspieler, ohne es aber auch wirklich zu sein,
Lothario zeigt bürgerliche Qualitäten, ohne aber ein richtiger Bürger, wie es Werner ist, zu sein.
1. 2. 2 Wilhelm und die „heilsame Einheit “
Zunächst soll der Frage nachgegangen werden, welches Wilhelms Stellung zu den bereits
beschriebenen Identitätsmodellen ist, um dann konkret zu sehen, worin Wilhelms Identität besteht. Wilhelm ist selbst ein Bürger, will aber „einen eigenen Weg gehen“, d h. er verwirft das
von ihm in der Gesellschaft vorgefundene bürgerliche Identitätsmodell. Nicht das Anhäufen von
Geld interessiert ihn – das ist bereits durch seinen Vater erreicht worden –, sondern er wünscht
sich vielmehr, seiner Neigung, der Theaterleidenschaft, nachgehen zu können. Sein Wunsch und
seine Absicht waren, wie er selbst in einem Brief an den nach materiellem Erfolg trachtenden
Werner behauptet, schon von Jugend auf „mich selbst, ganz der ich da bin“ auszubilden. Eine
„öffentliche Person“ möchte er werden, deshalb scheint ihm das Identitätsmodell des Adligen
für seine Absichten am nächsten zu liegen.
Es gibt eine Reihe von Studien, die das Verhältnis Adel-Bürgertum im Roman unter die Lupe
30
nehmen , deshalb soll hier darauf nicht mehr eingegangen werden. Dennoch erweist es sich
als notwendig zu untersuchen, was Wilhelm tatsächlich bezweckt, wenn er sich entscheidet,
dem Identitätsmodell des Adligen nachzustreben. Wichtig ist dabei seine Annahme, „auf den
Brettern“ erscheine der gebildete Mensch „so gut persönlich in seinem Glanz als in den obern
31
Klassen“ . Auch sei erwähnt, dass das Theater im Roman oft mit Termini wie „Glanz“, „glänzen“
oder „Schein“, „scheinen“ verknüpft wird.
Wilhelm glaubt demnach, auf der Bühne vorspielen zu können, was er in Wirklichkeit nicht
ist. Er ist nämlich kein Adliger und als Bürger, der er ist, vermag er den von ihm mit Ungeduld
28
WML, 5. Buch, 3. Kap., S. 301.
Ebd.
30
Vgl. Ludwig Fertig: Der Adel im deutschen Roman des 18. und 19. Jahrhunderts. Diss. Heidelberg 1965; Dieter
Borchmeyer. Höfische Gesellschaft und französische Revolution bei Goethe. Adliges und bürgerliches Wertsystem im
Urteil der Weimarer Klassik. Königstein 1977; Karl-Heinz Hahn: Adel und Bürgertum im Spiegel Goethescher
Dichtungen zwischen 1790-1800. In: Goethe-Jahrbuch 95 (1978), S. 150-162.
31
WML, 5. Buch, 3. Kap., S. 302.
29
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Identitätskonzeptionen in Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“
erstrebten Status einer öffentlichen Person nicht zu erreichen. Auch ohne ein Adliger zu sein,
hofft er das, was sich jener auf natürliche Weise leisten kann – nämlich eine vollkommene
Bildung zu genießen – auf der Bühne zu erzielen. Durch gute Manieren und gewandtes
Sprechen kann er glänzen und dadurch als Adliger erscheinen. Wilhelm identifiziert fast das
Schauspielersein mit der adligen Lebensweise. Wie ist aber unter diesen Umständen sein Abgang vom Theater zu verstehen? Verfiel er einem Irrtum?
Eine Antwort darauf gibt Kapitel 9 im 7. Buch des Romans. Wilhelm spricht hier in der Tat
von einem Irrtum, dem ihm mit Bezug auf seine Entscheidung, sich dem Theater zu widmen,
unterlaufen sei. Dazu gibt er folgenden Kommentar ab:
Von welchem Irrtum kann der Mann sprechen? ... als von dem, der mich mein ganzes Leben verfolgt
hat: daß ich da Bildung suchte, wo keine zu finden war, daß ich mir einbildete, ein Talent erwerben
32
zu können, zu dem ich nicht die geringste Anlage hatte.
Wilhelm beanspruchte in dem Schauspieler-Sein nicht so sehr den Künstler als vielmehr den
erträumten Status der öffentlichen Person. Dessen, dass er kein Künstler ist, wird er sich allmählich bewusst, aber auch die Versuche der Turmgesellschaft gehen in die Richtung, ihm
Klarheit zu verschaffen. Erinnert sei beispielsweise an Jarno, der mit seiner „grausamen Bestimmtheit“ Wilhelm seine Meinung offenbart und ihm jegliches Bühnentalent abspricht. Er
behauptet, dass derjenige, der sich nur selbst spielen kann, noch lange kein Schauspieler sei:
Wer sich nicht dem Sinn und der Gestalt nach in viele Gestalten verwandeln kann, verdient nicht
33
diesen Namen“ .
Das Theater bleibt für Wilhelm „ein Irrtum“, aber wie ihm der Landgeistliche entgegnet:
... alles, was uns begegnet, läßt Spuren zurück, alles trägt unmerklich zu unserer Bildung bei.
34
Hier sind noch einmal Wilhelms Ausführungen zu seinen Erfahrungen mit dem Theater:
Man spricht viel vom Theater, aber wer nicht selbst darauf war, kann sich keine Vorstellung davon
machen. Wie völlig diese Menschen mit sich selbst unbekannt sind, wie sie ihr Geschäft ohne Nach35
denken treiben, wie ihre Anforderungen ohne Grenzen sind, davon hat man keinen Begriff.
Wie kommt Wilhelm aber dennoch zu der „heilsamen Einheit“? Was für Erfahrungen braucht
36
er, und warum bringen ihn jene der anderen in Verwirrung? Es wird betont, dass die Erfahrung, die er benötigt, seine eigene Erfahrung sein muss. Er hat sich in seinen Handlungen,
Absichten und Ideen selbst zu erfahren. Ein solches Beispiel von Selbsterfahrung bietet ihm das
religiöse Identitätsmodell. Die „schöne Seele“ erfährt sich auf eine bestimmte Weise mit Bezug
auf Gott, ihren unsichtbaren Freund. Ihre Erfahrungen sind ganz persönlich. Die Geschichte der
„schönen Seele“ erweitert zugleich Wilhelms Menschenkenntnis. In diesem Zusammenhang
äußert sich Wilhelm Natalie gegenüber, dass er das Heft „mit der größten Teilnahme und nicht
ohne Wirkung auf mein ganzes Leben“ gelesen habe und fährt fort:
32
WML, 7. Buch, 9. Kap., S. 509.
WML, 8. Buch, 5. Kap., S. 567.
34
WML, 7. Buch, 5. Kap., S. 437.
35
WML, 7. Buch, 3. Kap., S. 448f.
36
WML, 5. Buch, 1. Kap. S. 295: „… er legte … auf die Erfahrung anderer und auf die Resultate, die sie daraus mit
Überzeugung ableiteten, einen übermäßigen Wert und kam dadurch nur immer mehr in die Irre. Er schrieb daher
fremde und eigene Meinungen und Ideen, ja ganze Gespräche, die ihm interessant waren, auf und hielt leider auf diese
Weise das Falsche …“.
33
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Was mir am meisten aus dieser Schrift entgegenleuchtete, war, ich möchte sagen, die Reinlichkeit des Daseins, nicht allein ihrer selbst, sondern auch alles dessen was sie umgab, diese
Selbständigkeit ihrer Natur und die Unmög1ichkeit, etwas in sich aufzunehmen, was mit der
37
edlen liebevollen Stimmung nicht harmonisch war .
Wilhelms Selbsterfahrung begann bereits mit dem Versuch der Verwirklichung seines
Wunsches als Schauspieler zu leben. Jedoch endete dieses Experiment mit einer Enttäuschung.
Als notwendige Bedingung zur Erreichung von Identität setzt Bildung im Goetheschen Sinn
aber nicht nur Selbsterfahrung, sondern zugleich Menschenkenntnis und Welterfahrung voraus.
Nicht zuletzt soll „die höhere Hand“ – im Roman ist es die Turmgesellschaft in Form des
Schicksals – erwähnt werden. Dass Wilhelm beispielsweise die Menschenkenntnis fehlt, zeigt
Aurelie, eine der tragischen Frauengestalten im Roman. Auf Aurelies Behauptung, Wilhelm verkenne von Grund aus die Menschen, äußert dieser, er habe „von Jugend auf die Augen meines
Geistes mehr nach innen als nach außen gerichtet, und da ist es sehr natürlich, daß ich den
Menschen bis auf einen gewissen Grad habe kennen lernen, ohne die Menschen im mindesten
38
zu verstehen und zu begreifen“ .
In diesem Prozess des Sich-Findens kommt der Umgebung eine wichtige Rolle zu. Bei Goethe
ist es die mysteriöse Turmgesellschaft und ihre Mitglieder, die in der Exegese des Romans verschiedene Deutungen bekommen hat. In einer Studie aus den letzten Jahren wird der Zu39
sammenhang zwischen dem Illuminaten-Orden und dem Wilhelm Meister untersucht, wobei
der „Pädagogik von Goethes Turm“ verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Was jedoch im Rahmen der vorliegenden Studie von Interesse ist, bezieht sich insbesondere
auf die Analyse von Wilhelms Einstellung zur Turmgesellschaft, insofern bestimmte Ein40
stellungen die Identität, das Selbstkonzept, fundieren . Während Wilhelm die bürgerliche
Lebensweise verneint, sich von einem Leben auf dem Theater dezidiert distanziert, die
Geschichte der religiösen Seele mit Bewunderung hinnimmt, ist seine Einstellung zur Turmgesellschaft zweideutig. Er fühlt sich von ihr gleichermaßen angezogen wie abgestoßen.
41
Angezogen, weil er durch ihre Mitglieder (den Fremden zu Beginn des ersten Buches , Jarno,
den Landgeistlichen, oder den Abbé und nicht zuletzt Lothario) eine neue Sichtweise der Dinge
kennen lernt. So gesehen, handelt der Roman von Wilhelms Entwicklung von einer naividealistischen zu einer realistisch-pragmatischen Betrachtungsweise von Mensch und Welt. Es
geht darum, wie der philosophisch veranlagte Fremde im ersten Buch des Romans Wilhelm zu
42
lehren weiß, zu wissen, „welche Vorstellungsart zu unserem Besten gereicht“ .
Wilhelm fühlt sich aber durch die Turmgesellschaft auch abgestoßen, denn er ist anscheinend von ihrem Erziehungskonzept und von der Sonderbarkeit ihrer Männer irritiert. Diese
37
WML, 8. Buch, 3. Kap., S. 534.
WML, 4. Buch, 16. Kap., S. 267.
39
Vgl. Hans-Jürgen Schings: Wilhelm Meister und das Erbe der Illuminaten. In: Jahrbuch der Schillergesellschaft,
43. Jahrgang 1999, S. 123-147.
40
Vgl. hierzu Michael Trimmer: Angewandte Sozialpsychologie. Wien 2003. S. 18f.
41
Es geht um Wilhelms Begegnung mit einem Unbekannten, einem Fremden, der sich als Vermittler beim Abkaufen
der Kunstsammlung des alten Meister ausweist und mit dem Wilhelm sich auf ein interessantes Gespräch über das
Schicksal einlässt. Wilhelm bezeigt sich als einer, der am Schicksal festhält, weil es „mein Bestes und eines jeden Bestes
einzuleiten weiß“. (1. Buch, 17. Kap.)
42
WML, 1. Buch, 17. Kap., S. 71.
38
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Identitätskonzeptionen in Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“
gewissermaßen zynisch-resignierende Empörung Wilhelms gegenüber der Turmgesellschaft
lässt sich aus einem seiner Gespräche mit Natalie herauslesen:
Haben Sie bei der Erziehung Ihrer kleinen weiblichen Welt auch die Grundsätze jener sonderbaren
Männer angenommen? Lassen Sie denn auch jede Natur sich selbst ausbilden? Lassen Sie denn auch
die Ihrigen suchen und irren, Mißgriffe tun, sich glücklich am Ziele finden oder unglücklich in die
43
Irre verlieren?
Wilhelm fühlt sich in gewisser Weise von dieser Gesellschaft ausmanövriert, denn er glaubt
zu wissen, dass er in den Händen der "Türmer“ nur ein Instrument zur Verwirklichung ihrer Ziele
ist. Die Turmgesellschaft wirkt befremdend auf ihn, nicht zuletzt deshalb, weil sie jene Instanz
ist, die Wilhelm ermöglicht, sich selbst mit seinen eigenen Dissonanzen, Enttäuschungen, Verunsicherungen wahrzunehmen.
1.2.2.1 Worin besteht Wilhelms Identität?
Der Empfang des Lehrbriefs aus den Händen des Abbés markiert für Wilhelm den Abschluss
seiner Lehrjahre und damit die Möglichkeit des Erwerbs einer Identität, die sich als völlige Einstimmung von Trieben und Vernunft, von Körper und Geist, somit als harmonische Beziehung
zu sich selbst, beschreiben lässt. Mariane stellte für Wilhelm den Inbegriff des Theaters dar. Mit
ihrem Verlust verschwindet für Wilhelm seine erste große Liebe, aber zugleich auch der Grund
seiner Neigung für das Theater. Seine späteren Versuche, das Theater zum Inhalt seines Lebens
zu machen, die Bühne als Ort seiner Bildung zu bestimmen, scheitern. Wilhelm gesteht sich
letztendlich diesen Irrtum ein. Identität zu gewinnen heißt, in der Relation mit sich selbst auch
den anderen, das Verschiedene im Gleichen, einzuschließen. Die Voraussetzung dafür ergibt
sich in dem Moment, wo Wilhelm bereit ist, Felix, den Inbegriff des Lebens, des Glücklichen
wortwörtlich, als seinen Sohn zu akzeptieren. Glück soll nicht so sehr auf dem Theater, in der
Kunst, sondern vielmehr im Leben, das ein größeres oder das echte Theater darstellt, gesucht
und gefunden werden:
Felix ist Ihr Sohn … Empfangen Sie das liebliche Kind aus unserer Hand, kehren Sie sich um, und
44
wagen Sie es, glücklich zu sein.
Wilhelm verlässt das Theater, von dem er sich Bildung und Glück erhofft hat. Das Theater erlangt für ihn nur noch als Metapher des Lebens eine Bedeutung:
Komm mein Sohn! Komm, mein Bruder, laß uns in der Welt zwecklos hinspielen, so gut wir
45
können.
Die Transformationen, die Wilhelm durchmacht, sobald er sich entschlossen hat, das Kind zu
sich zu nehmen, sind deutlich. Eine neue Art der Wahrnehmung der Welt installiert sich, denn
46
er „sah die Natur durch ein neues Organ“ an,
die Welt nicht mehr wie ein Zugvogel …, ein Gebäude nicht mehr für eine geschwind zusammengestellte Laube, die vertrocknet, ehe man sie verläßt. Alles, was er anzulegen gedachte, sollte dem
Knaben entgegen wachsen, und alles was er herstellte, sollte eine Dauer auf einige Geschlechter
47
haben .
43
WML, 8. Buch, 3. Kap., S. 543.
Ebd. S. 512.
45
WML, 8. Buch, 7. Kap., S. 585f.
46
WML, 8. Buch, 1. Kap., S. 513.
47
Ebd. S. 517.
44
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Wilhelms Verantwortung gegenüber seinem Kind bringt ihn in die psychische und moralische Lage eines Bürgers und beendet somit auch seine Lehrjahre: "In diesem Sinne waren
seine Lehrjahre geendigt, und mit dem Gefühl des Vaters hatte er auch alle Tugenden eines
Bürgers erworben". Aus diesem Gefühl heraus fasst nun Wilhelm den Entschluss eine Mutter
für das Kind zu finden und sie zu heiraten. Dass er zum Schluss nicht Therese, sondern Natalie,
seine lang gesuchte „Amazone“ heiratet, die aber auch über pädagogische Kenntnisse verfügt,
markiert Wilhelms letzten Schritt zum glücklichen Ziel, indem er „den ganzen Ring seines
Lebens“ schließt und damit seine Beziehung zu sich selbst, seine persönliche Identität,
harmonisch verwirklicht.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Wilhelm zu sich selbst kommt, indem er sich bildet.
Auf dem Theater erhofft er sich die Aneignung von Gewandtheit im Sprechen und einer bestimmten Art und Weise im Umgang mit anderen. Seine Bildung ist weder bürgerlich noch
aristokratisch. Sie ist aber auch nicht künstlerisch, denn er verzichtet zum Schluss auf das
Theater. Religiös ist sie auch nicht. Er konfrontiert sich aber mit all diesen Bildungsmöglichkeiten, die je einem bestimmten Identitätsmodell entsprechen. Er lernt sie kennen, probiert sie
unter Umständen auch aus – man vergleiche seinen Wunsch, dem künstlerischen Identitätsmodell nachzueifern – und scheint sich zum Schluss für das pädagogische Identitätsmodell zu
entscheiden. Bildung heißt hier mehr als Erziehung, die eher einer Dressur der menschlichen
Fähigkeiten vorkommt. Bildung, als Voraussetzung von Identität, bedeutet aber Erziehung durch
eine Kultur von Empfindung und Erhabenheit, durch Liebes- und Freundschaftsgefühle und
schließt menschliches Irren und Entsagen mit ein.
Wilhelm bildet seine Identität nicht letztlich mit Bezug auf das ihm Fremde, nämlich die
Turmgesellschaft, die ihm Anweisungen zu seiner persönlichen Entwicklung zu geben scheint.
Natalie selbst gehört ihr an als eine, die deren Erziehungsprogramm gefolgt ist. Dennoch setzt
sie ihre eigenen erzieherischen Prinzipien in die Praxis um, was aber wiederum auf die Toleranz
der Turmgesellschaft schließen lässt. Wilhelm scheint sich jedoch eher stärker an die Männer
anzuschließen, mit denen er Bekanntschaft schließt und von denen er auch „geleitet“ wird.
Man kann sich natürlich zu der Frage berechtigt fühlen, ob zum Schluss des Romans Wilhelm tatsächlich die ersehnte Einheit mit sich erreicht. Zieht man bei der Romananalyse die
anfangs angeführte Aussage Goethes in Erwägung („Denn im Grunde scheint doch das Ganze
nichts anderes sagen zu wollen, als daß der Mensch, trotz aller Dummheiten und Verwirrungen,
von einer höheren Hand geleitet, doch zum glücklichen Ziele gelange.“), so kann mit gutem
Grund behauptet werden, dass Wilhelm seine Identität realisiert, allerdings ist diese Identität
innerhalb der ganzen Lebensgeschichte des Protagonisten, da durch Zeit und Umstände bedingt, eher als eine relative zu betrachten, die wiederholt nach ihrer Bestätigung sucht.
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DER UNGEFÄHRE WEG IN DIE MITTE:
Verschlüsselungstechnik in Wilhelm Meisters Wanderjahre
und in den Wahlverwandtschaften
Vasile V. Poenaru
Den Schlüssel zum wundersamen Kästchen in Wilhelm Meisters Wanderjahre hat der
Lausejunge Fritz gefunden, das Kästchen selbst jedoch Felix geborgen. Aufbewahrt wurde es
aus der Initiative seines Vaters (des Freundes) Wilhelm an einem sicheren, seiner Bedeutung,
seiner innewohnenden Semantik entsprechenden Ort. Hersilie, die Freundin, stellt das Medium
dar, anhand dessen Kästchen und Schlüssel wieder vereint werden. Sie läßt es öffnen, erfährt
aber nie, was drin war. Denn offenbar war mehr drin als das, was man sich aus festumrissenen
begrifflichen Paradigmen heraus als Inhalt einer Form vorstellen würde. Das Kästchen ist die
unheimlich dünkende kritische Textmasse des Totalitätsromans, sein Inhalt ein Mysterium, das
es im eigentlichen Sinne gar nicht gibt, sondern nur als Widerspiegelung stufenweise vermittelter Befunde einer gesteigerten Selbstreflektion. Nicht vom Autor, vielmehr vom Leser
wird sie durchgeführt.
Bezeichnenderweise beginnt der Roman ja übrigens strenggenommen gar nicht mit einem
1
Anfang, sondern mit einer willkürlich als solche gesetzten “bedeutenden Stelle” , von der aus
Wilhelm sich daran macht, durch den Roman zu gehen. Und weil Wilhelm an dieser uns als
bedeutungsvoll anempfohlenen Stelle gerade dabei ist, etwas niederzuschreiben, dürfen wir
annehmen, daß die bedeutungsvollen Stellen im Text diejenigen sind, in denen der Akt des
Schreibens (und des Lesens) vollbracht wird. Jede Stelle, zu der man gerade ankommt, ist bedeutungsvoll, insofern man sich darauf versteht, ihr Bedeutung abzugewinnen bzw. beizumessen.
Schon bevor er den totalen Roman mit all seinen oft irreführenden Verzweigungen in die
Welt der Rezeption setzt, gibt der Dichter den Ton der im Hintergrund seiner Überlegungen
waltenden Ausrichtung von Themenkomplexen an, die er gegeneinander ausspielt. Zeit und
Raum werden transzendiert, relativiert, aus der Perspektive des ver- und entschlüsselnden
Geistes über das nicht immer behagliche Medium des geheimnisvollen Wortes aufgehoben,
erschlossen, in uneigentlicher Form disseminiert, an den Mann gebracht, wieder zurückgenommen, verwesentlicht und in ein mutmaßliches Kontinuum zwischen Anstand und Zustand sprachlicher Elementarpartikel gesetzt; da, wo es kein Da gibt: “Ich scheine mir an
keinem Ort/ Auch Zeit ist keine Zeit/ Ein geistreich aufgeschloßnes Wort /Wirkt auf die Ewig2
keit.“
Die Wirkung einer Dichtung vermag die engeren empirisch bedingten Kategorien nur insofern zu transzendieren, als der Prozeß der Rezeption, der (teilweisen) Entschlüsselung ihrer Bedeutungsstruktur ein geistreicher ist. Nur dann wird die Wirkung auf die Ewigkeit gewährleistet. Nur dann sitzt jeder Satz.
Das bedeutende Kästchen steht vor mir, den Schlüssel, der nicht schließt, hab ich in der Hand, jenes
3
wollt ich gern uneröffnet lassen, wenn dieser mir nur die nächste Zukunft aufschlösse.
1
Wilhelm Meisters Wanderjahre. S. 15. (Siehe Literatur am Ende des Aufsatzes!)
Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 1.
3
Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 494.
2
Vasile V. Poenaru
Mit diesen Worten wandert Hersilie gleichsam als eine lebendige Metapher an der Schwelle
des Textes herum. Der Schlüssel steht für die Eigenart des menschlichen Geistes, den Dingen
Bedeutungen beizumesen. Das Kästchen ist eine Vision, das bedeutungsstrotzende Paradigma,
auf das es der unruhige Geist in seinem freiwilligen oder eben angezwungenen Drang nach
Totalität abgesehen hat und das sich allein durch Anschaulichkeit und /oder Erkenntnis kaum
erschließen läßt. Die Anschaulichkeit totaler Erkenntnis, das einverleibte Bedürfnis einer alle
Instanzen und Perspektiven der Rezeption in die Gewachsenheit möglicher Seinsentfaltung
intergrierender Visionen bringt bereits Faust I zum Ausdruck. “Schau alle Wissenschaft und
4
Samen/ Und tu nicht mehr in Worten kramen.”
Die nächste Zukunft des Schreibenden, die nächste Zukunft des Lesenden: Aus hermeneutischer Perspektive ließe sich somit womöglich der Begriff Text schlechthin definieren. Die
nächste Aktualisierung der jeweils bestmöglichen aller sinnstiftend aufgehobenen Bedeutungskonstellationen, die nächste glückliche Wahl eines Wortes als ungefähr gesetztes Konglomerat
aus Zeichenfunktion und Inhaltsfuntion, der nächste Gedanke, den zu hegen der Textfreund
sich anmaßt, die nächste kühne Tat der wandelnden Lektüre, innerhalb derer Autor und Leser
einander als Wanderer begegnen, innerhalb derer sich der Autor selbst begegnet: als
5
schreibende Instanz und als rezipierende Instanz zugleich „in einer Brust“ , in der dialektischen
Simultaneität dichterischer Verschränkungen.
6
Es gibt nichts außerhalb des Textes (Derrida ). Es gibt nichts außerhalb des Kästchens. Darf
man sich die Wanderjahre als ein immerfort hin und her-getragenes Kästchen denken, so ist
zwar für jeden offenbar, daß dieses Büchlein, daß dieses Kästchen an sich schön ist und für uns
schön sein könnte. Doch die Stunde der wahren Rezeption schlägt selten. Von außen betrachtet
wirkt der Inhalt des Buches anschaulich, ja erbaulich. Das Schöne bringt ästhetischen Genuß
und begriffliche Zusammenhänge. Das Erhabene jedoch droht das rezipierende Subjekt vollkommen zu überwältigen, als solches aufzuheben und dann als Quasi-Subjekt in einer sich
selbst objektivierenden allumfassenden Dynamik des Textes einzugliedern. Deswegen ist das
Erhabene gefährlich. Der magnetisierte Schlüssel generiert elektromagnetische und
semantische Felder zugleich, denen nur der Eingeweihte unter Umständen Sinn abzugewinnen
vermag. Reine Vernunft und Urteilskraft gesellen sich zum Sinnlich-Anschaulichen. Dazu das
Mysterium der Kommunikation zwischen der ersten und der zweiten Person, zwischen Mann
und Frau, zwischen Dichter und Leser, das immer eines vorerst ungeöffneten Vehikels als Bedeutungsträger bedarf.
Für welchen Richterstuhl eigentlich das Geheimnis gehöre, das wollen wir unter uns ausmachen; bis
dahin bleibe es unter uns; niemand wisse darum, es sei auch, wer es sei.(…) Gott sei uns gnädig!
Aber das Kästchen muß zwischen mir und Ihnen erst uneröffnet stehen und dann eröffnet das
weitere selbst befehlen. Ich wollte, es fände sich gar nichts drinnen, und was ich sonst noch wollte,
und was ich sonst noch erzählen könnte − doch sei Ihnen das vorenthalten, damit Sie sich desto
7
eiliger auf den Weg machen.
4
Faust I, S. 13.
Faust I, S. 32.
6
Derrida.
7
Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 350.
5
46
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Der ungefähre Weg in die Mitte: Verschlüsselungstechnik
in „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ und in den „Wahlverwandtschaften“
Goethe selbst sagte zu dem Roman: "Es gehört dieses Werk übrigens zu den incalcula8
belsten Produktionen, wozu mir fast selbst der Schlüssel fehlt.” Das ist eine starke Aussage, die
allerdings ihrerseits nicht nur die Interpretation fördert, sondern auch Gefahren birgt. Denn
wenn man sich ihrer als Schlüssel zum Roman bedienen will, muß man es wohl ebenfalls geschickt anstellen, muß man wohl ebenfalls in die tieferen Schichten des verpackten Wortes
eingeweiht sein: anders gesagt den Schlüssel des Autors mit hermeneutischer Vorbehalt anfassen und/oder betrachten, da sich keine Art von Totalität je aus teilweiser Perspektive vollkommen erschließen läßt.
Daß Farbe, Licht, Text und Sein ineinander gewachsene Elemente einer tiefgründigeren Erkenntnisinstanz darstellen, ist nicht nur an Goethes Spätwerk intuitiv spürbar. Hier jedoch hat
sie der Autor in höherem Grade zur Verschlüsselung der Bedeutungsstruktur seiner Dichtung
herangezogen. Das naturwissenschaftliche Prinzip und das künstlerische Prinzip bedingen und
begründen einander, wobei über die eingebauten Ungereimtheiten hinaus ein jeweils in sich
folgerichtiges Ganzes gewährleistet wird. Weil die gleichsam ins Unendliche reflektierte und
umgeformte Textmasse jedoch dem Leser keineswegs etwa als fertiggestelltes Produkt dargereicht wird, sondern Autor und Leser sich in der Mitte treffen, um dem Text mehr Sinn zu
verleihen, kann man hierin von sinnstiftender Interaktivität sprechen. Es scheint, daß Goethe
zwei Werke „geglückt“ sind, die auf unsagbaren Wegen besonders aufschlußreich in einer vielschichtigen Bedeutungsstruktur „an den Leser“ gebracht werden, um unwillkürlich Gedanken
dämmern zu lassen.
Glück aber hat mit Zufall zu tun. Und gerade der Zufall ist es, der unter einnehmender Entfaltung schriftstellerischen Vermögens manipuliert wird. Aus dem Zusammenspiel des Möglichen mit dem Wahrscheinlichen gewinnt der Text ein semantisches Gefälle der Perspektiven,
durch deren Ineinanderwirken sich durchaus anregende Befunde ergeben, die zur inneren
Dynamik der Lektüre beitragen.
Entsagen fungiert bei Goethe als Verschlüsselungprinzip, weil in dieser Metapher ein unbeständiges Labyrinth von – auf Anziehung und Ablehnung basierenden – Welten steckt. Ob es
möglicherweise in dialektischer Art auch als Entschlüsselung herangezogen werden könnte, ist
eine Frage der Wahlverwandtschaft zwischen Leser und Text. Wer etwas will, muß dessen entsagen, um es – in veränderter Form − zu bekommen. Weil die tiefere Aussage des jeweiligen
Romans durch eine voreilige Formulierung bzw. Vergegenwärtigung ihre Eigentlichkeit und
somit ihre Gültigkeit einbüßen würde, kann kein unmittelbarer Bezug zwischen Bezeichnendem
und Bezeichnetem hergestellt werden, sondern nur um die Aussage herum formuliert, nur um
das Wort herum gesprochen, nur um das Schreiben herum geschrieben werden.
In den Wahlverwandtschaften wird der Begriff der Wahlverwandtschaft aus der Chemie
übernommen und auf die menschlichen Beziehungen übertragen. Das Wort Wahl ist freilich
irreführend, sind es ja gerade die zwingenden Momente der gegenseitigen Anziehung, dessen
sich die Individuen nicht zu entziehen vermögen und die sie dazu verleiten, alte Bindungen
aufzulösen und neue einzugehen. Die Wahlverwandtschaften zwischen Eduard und Charlotte,
zwischen Eduard und Ottilie, zwischen Ottilie und dem Hauptmann sind die sichtbarsten, aber
freilich keineswegs die einzigen des Romans, denn es gibt ja noch unter anderem etwa die
8
Goethe an Eckermann, 18. Januar 1825.
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Vasile V. Poenaru
Wahlverwandtschft zwischen Ottilie und dem Behülfen bzw. zwischen Ottilie und dem Architekten. Wenngleich diese dezentralen Wahlverwandtschaften nicht eigentlich aktiviert werden,
generieren sie Spannungsfelder innerhalb der Struktur des Textes, die an der Veranschaulichung
des Problemromans mitwirken.
Das infolge des doppelten Ehebruchs geborene Kind durchbricht den Erwartungshorizont
der Lektüre in mehrfacher Hinsicht. Es weist keine merklichen Bezüge auf seine „wirkliche“
Verwandtschaft (Eduard und Charlotte) auf, wohl aber zeigt es die äußeren Züge seiner „Wahlverwandtschaft“ (Hauptmann und Ottilie). Auf der einen Seite wird gerade dadurch, daß die
beiden Gatten die Ehe konsumieren, die Ehe gebrochen, was sich paradoxal anhört und den
Leser schockieren muß. Zugleich jedoch entsteht ein ausgesprochen bildstarker Zusammenhang
zwischen Ottilie und dem Hauptmann: eine gewissermaßen vermittelte Wahlverwandtschaft,
an die in unmittelbarem Sinne kaum zu denken wäre. Umso klarer wird am Beispiel der auf
Anhieb paradoxal dünkenden Wahlverwandtschaft zwischen Ottilie und dem Hauptmann, daß
hier vom Menschen unkontrollierbare Kräfte am Werke sind, die wenig mit dem freien Willen
zu tun haben. Wenn der Sinn des Romans in der Metapher des Kindes verschlüsselt liegt, dann
ist dessen Tod irgendwie ein Akt semiotischer Erlösung (was ja auch durch die Parallele zur
Jesus-Figur nahegelegt wird). Das Kind muß sein Leben aufgeben, um durch sein (zufälliges?)
Opfer die kollektive Schuld unzulänglicher Sinnhaftigkeit wiedergutzumachen. Den Sinn töten,
den Sinn eventuell wieder aufstehen lassen: Dies sind Stilmittel, anhand derer die Interpretation in das Gebiet des Unsagbaren, des Erhabenen, der Andacht gerückt wird.
Mögliche Deutungen des Romans sind in Ambiguität eingebettet und bergen das Risiko der
unentsprechenden Aktualisierung. Was für Bindungen das Einzelne (oder eben das Ganze) eingehen will, muß, soll oder darf, was für Assoziationen entstehen, was für Umstände bedeutungsvoll werden, entscheidet eine Instanz, die vertraut (verwandt) scheint, aber eben nicht
innerhalb des Selbst, sondern darüber hinweg die Qual der Modalverben aus einer unwahrscheinlichen Perspektive heraus definiert.
Der Leser hat die Wahl der Interpretation. Ob er sie aus freien Stücken trifft, ist eine Frage,
die zwar nicht formuliert wird, dabei aber freilich in der Luft schwebt. Besteht eine Wahlverwandtschaft zwischen dem Sinn des Lesers und einem jeweils zumutbaren Sinn der Lektüre,
dann ist der Leser nicht mehr frei, sondern muß diesem Sinn notwendig anheimfallen. Dann
besteht eine Wahlverwandtschaft zwischen dem rezipierenden Ich und einem sinnierenden Es.
Der Interpret läßt die Standortbestimmung fallen, an der er noch gerade festgehalten hatte,
und widmet sich ganz der neuen Offenbarung des gelobten Mehrwerts “frischer” Deutung.
Der Genuß des Textes fordert Entsagung an seinem Sinn. Wenn sich Autor und Leser gemeinsam auf den Weg in die ungefähre Mitte machen, um Position und Impuls des Textes ausfindig zu machen, dann tritt ein Konglomerat von Wahrscheinlichkeiten anstelle der einen
Wirklichkeit, die in der Fabel aufgehoben wird.
In Wilhem Meisters Wanderjahren wird der schon fast einer Geheimschrift entsprechende
Sinn des Textes anhand einer immer mehr ins Detail gehenden Reihe von Codes wenn nicht
veranschaulicht, so doch wenigstens angedeutet. Der allerletzte (und allerkleinste) Sprößling
aus dem Geschlecht des Zwergen Eckwald verfällt auf ästhetischer Ebene einer überaus
modernen Technik der Verkleinerung, deren Wirkung durch das ironische Moment der Aussage
noch gesteigert wird. Nicht nur war er von Anfang an extrem klein, sondern er wird immer
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Der ungefähre Weg in die Mitte: Verschlüsselungstechnik
in „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ und in den „Wahlverwandtschaften“
kleiner, und zwar so schnell, daß er sogar aus den Windeln herausfällt und nirgends mehr zu
finden ist. „Wenn die Dinge aus dem Namen herausfallen“, würde man es heute ausdrücken.
Die Windeln als Bezeichnendes bewahren zwar einen festen Umriß, aber der Knabe, das Bezeichnete schlechthin, ist ins Nirgenwdo entschwunden, oder eben ins Irgendwo. Dadurch wird
die Bedeutungsproduktion innerhalb der Rezeption erheblich potentiert.
Dazu gibt es auch eine auktorial betrachtet anregende Konsequenz der superstilisierten
Verkleinerungstechnik, die sich gut mit der eingebauten Rätselhaftigkeit des Romans in Zusammenhang bringen läßt. Der Autor, in den Lehrjahren ja noch so groß (und allwissend), wird
in den Wanderjahren immer kleiner, er verhält sich gegenüber der ungestümen Textmasse eher
selber wie ein Rezipient, und am Ende gibt es zwar immer noch den Text als Verpackung
(Windeln) des Autors, jedoch nicht mehr den Autor selbst, oder sagen wir lieber kaum mehr den
9
Autor selbst (Er ist, doch ist er kaum) . Da der Leser dem Autor, von dem er zwar weiß, daß es
ihn immer noch irgendwo in diskreteren Schichten des Seins, in sinngemäß verschlüsselten
Strukturen der Lektüre gibt, den er aber leider trotzdem nicht so recht finden kann, im Rahmen
der Interpretation weitgehend entbehren muß, schickt er sich denn dazu an, dessen „Windeln“,
dessen Buchstabenkonglomerat, dessen mit all seinen Leerstellen unheimlich zumutenden Text
mit einem neuen Bezeichneten zu füllen, etwa mit sich selbst. Dabei wird freilich auch der
Leser als Interpret immer kleiner, so daß er selber nicht mehr auf Anhieb wahrgenommen wird,
jedoch vieles wahrnimmt. Und vielleicht bietet sich dann dem zwingend verkleinerten Leser die
Gelegenheit, den zweckmäßig verkleinerten Autor in mancher Sub-Kategorie des semantischen
Feldes anzutreffen, das jener unvermerkt emsig webt, ob nun linksgedreht oder rechtsgedreht.
Beide Kleinkinder – in den Wahlverwandtschaften und in Wilhelm Meisters Wanderjahre –
verkörpern jeweils einen Sinn, der verlorengeht. Im Falle Ottos bedeutet das den Tod, den Abschied aus diesem Leben (und möglicherweise den Eintritt in ein anderes, wo der Sinn mehr
Beständigkeit in Anspruch nehmen darf), ein Verlorengehen im zeitlichen Sinne, wohingegen im
Falle des zusammenschrumpfenden Prinzen ein Verlorengehen im eigentlichen, das heißt im
räumlichen Sinne, erfolgt.
Mittler und Makarie agieren als Pförtner zum Text, sie haben viele Schlüssel, können vieles
erraten, verraten. Makarie hat Zugang zur kosmischen und zur atomaren Perspektive, sie
transzendiert die Dimensionen des physischen Raums, Vernunft und Urteilskraft. Sie erschließt
uneigentlichen Bedeutungskonstellationen des Textes, gestaltet Information, verwaltet Seme,
empfängt das Mysterium der Beichte, gibt es weiter als allgegenwärtige Vermittlerin einer
diskreten Vielgestaltigkeit und Vielschichtigkeit seiender Befunde, als mütterliche Verräterin
und Erlöserin der Sinne im Zeichen einer aufschlußreichen Totalität.
Mittler hingegen hält sich nur dort auf, wo sich etwas tut. Nur dann, wenn es drängt. Nur
so, damit sich Positionen ändern und Handlungsträger einander nähergebracht werden. Fast
würde man sagen, es besteht eine Wahlverwandtschaft zwischen Mittler und dem Plot. Er geht
weit weg über seine intendierte Rolle als bloßes Vehikel der Verständigung hinweg, indem er
Spannungsfelder generiert, anhand derer der verhängnisvolle Ablauf von Geschehnissen überhaupt erst möglich wird. Der ungefähre Weg in die Mitte führt zu einem perspektivischen Um-
9
Faust II, S. 94.
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Vasile V. Poenaru
schlag der Lektüre. Es fragt sich, inwiefern Mittler Bedeutung referiert und inwiefern er sie −
zwischen Sagen und Entsagen − produziert.
In den Wanderjahren muß der Leser Entsagung als mutmaßliches Prinzip der Lektüre immer
wieder in Kauf nehmen. Vieles wird vom Autor (vom Text?) wieder zurückgenomen, relativiert,
bezweifelt, das gerade als gegebene Tatsache eingeführt wurde. Die Konsequenzen dieser
Strategie des Zurücknehmens dringen in eigenartiger Weise in die Tiefenstruktur des unentwegt kapriziös umgeformten Stoffes. Wird der Akt des Lesens syntagmatisch erfaßt, so verabreicht eine jeweils ungenügend umrissene Instanz des Textes dem Leser ein Stück Lektüre, das
ihm dann freilich wieder weggenommen wird. Möglicherweise hat es aber der Leser mitsamt
den beiwohnenden falschen Sinn bereits konsumiert, ohne jedoch diesen entsprechend verdaut
zu haben. Wenn die unzuverlässige Information zurückgenommen, aufgehoben, widerrufen
wird, bleibt nichtsdestoweniger etwas von ihrem nur teilweise reflektierten Sinn am Leser
hängen.
Daß sich der Leser aber wegen dieser Imbiß-Technik der unbeständigen Textverabreichung
schließlich an sich das gründliche Verdauen der Sinne abgewöhnt, tritt gleichsam ein Wärmetod der Lektüre ein, die in Zusammenhang mit einer beschleunigtnen Manipulation und Verwaltung der Textstrukturen auf die Rezeption einwirken. Das Gesamtgefüge des aufgrund von Wahrscheinlichkeiten zusammengestellten Itinerariums des (wandernden und entsagenden) Interpreten
führt möglicherweise wo hin − aber eben doch nur möglicherweise.
In Nicht zu weit wird die erzählende Perspektive fast unmerklich kollektiviert. Mal is es
Odoard, mal der Autor, mal die an Makarie erinnernde gute Alte, und fast meint einer beim
Lesen, auch seine eigene Stimme in der angestrebten Gesamtheit der Schilderung mit zu vernehmen: nicht als Interpretation, sondern als willkürlicher oder vielleicht eher unwillkürlicher
Bedeutungsträger einer “gesagten“ Totalität, die individuelle Töne summiert und in einem
Augenblick – im wörtlichen Sinne – vorzeigt. Mitten drin im Kästchen, im Büchlein, im Wörtchen, das sich als Fragezeichen öffnet, wird der Schein erdichteter Bezüge sichtbar. Denn wer
das Auge öffnet, sieht das Wesen des Lichts, und wer sich dem Text gegenüber eröffnet, nimmt
das Wesen der Lektüre wahr.
Wie weit soll man es treiben, wenn man Gedanken hegt, wenn man Genüsse auskostet, wie
weit, wenn man entsagt? Wie ist es um die Entfernung zwischen Bedeutendem und Bedeuteten
bestellt? Inwiefern soll man seinen Trieben (der zwingenden Wahlverwandtschaft) folgen bzw.
Widerstand leisten? Wie weit kann man sehen, wie weit deuten? Wie machen wir uns ein Bild
von dieser Welt, wie sind wir im Bilde, und wem gehört das Bild? Wo kommt das „rechte“ Maß
der Erkenntnis, des Sinnlich-Sittlichen, des Ontologisch-Ästhetischen her? Wie wird einer in die
Mysterien eingeweiht, die das Moment der Aussage ermöglichen? Wie fängt einer den Klang
10
der Wörter im Blick ein? Im verweilenden Augenblick.
Die biomagnetischen, elektromagnetischen, linguistisch-akustischen und semantischen
Wellenlängen zeitigen möglicherweise durch das als begriffliche Möglichkeit bestehende unwahrscheinlich einweihende Moment der Resonanz das Prinzip einer jedwelchen festen Umrisse
entsagenden Totalität.
10
Faust II, S. 48.
50
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Der ungefähre Weg in die Mitte: Verschlüsselungstechnik
in „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ und in den „Wahlverwandtschaften“
Der Autor, der Leser, der Sinn, der sich selbst anhand einer unendlichen Reihe von Synthesen der
Selbstreflexion sucht, findet zwar den Schlüssel zu sich selbst, ja er findet sein Selbst innerhalb des
Kästchens, in dem er befangen ist und das er doch immer nur von Außen zu sehen meint. Doch “das
11
schiebt sich und verschiebt sich“ , weil der Text sich selbst fremd ist.
In den Wahlverwandtschaften werden Leben und Tod oft eher teilnahmslos verwaltet. Das
Schöne erscheint als eine verklärte und kalte Kategorie der Rezeption, die mehr mit selbstgenügender Geschäftigkeit zu tun hat als mit subjektiv menschlicher Wahrnehmung. Sogar der
Friedhof wird “verschönert“, uniformiert, kollektiviert, dem Bereich der Natur entwendet und dem
Kultus der Bildung des Kleinbürgertums als Opfer dargebracht. Auch die erstaunliche Verantwortungslosigkeit und freilich sprachlich meisterhaft (schmackhaft?) eingebettete Absurdität mancher kaum
folgerichtigen (und schon gar nicht sinnlich-sittlichen) Denkalgorythmen der gutbürgerlichen Aktanten
sprechen dafür, daß das Leben hier nicht eigentlich gelebt, sondern bloß veranschaulicht wird, und
zwar nicht in Anlehnung an ein organisches Prinzip, sondern durch anorganische Organisationsmodelle
der Materie.
Die die Instanz des Autors verkörpernde Hersilie wirft Wilhem vor, keinen interaktiven Umgang mit ihrer Korrespondenz zu pflegen sich nicht eigentlich am schriftlichen Verkehr mit ihr
zu beteiligen, sondern nur formale Antworten zum besten zu geben, die aus ihren Briefen
Monologe werden lassen. Hersilie rückt in die Mitte, um den Prozeß der Kommunikation einzu12
leiten, doch Wilhelm, so klagt sie, rührt sich nicht von der Stelle. So soll man nicht lesen,
scheint der Autor zu sagen. Wilhelm (der Leser) beschäftigt sich allzusehr mit seinen eigenen
Plänen, Visionen und Vorstellungen, mit seiner eigenen Interpretation von Teilchen und
Gesamtheiten, als daß er sich noch dem authentischen Akt des Lesens hingeben könnte.
Innerhalb des Romans ist Hersilie real, Natelie hingegen fiktiv. Doch in Wilhelms Briefen geht
es gleichermassen um Monologe, weil wohl zu den Nebenerscheinungen der Entsagung auch
ein gewisses Unvermögen der Kommunizierbarkeit im weiteren Sinne, ein Unvermögen der
Komparatistik gehört.
In ähnlicher Weise schreibt Eduard in den Wahlverwandtschaften Briefe an Ottilie, die er
selbst beantwortet, ohne das als einen Verlust an Tatsächlichkeit zu empfinden. Wenn der
Dialog sich einfach als doppelter Monolog gestaltet, ist das interaktive Prinzip der Kommunikation nur noch als Klischee vorhanden, als ein in seiner Selbstbezogenheit unzulängliches,
anhand der bürgerlichen Erziehung und Mode erstarrtes Bild, das vergeblich darauf wartet,
durch die Aktualisierung der Rezeption belebt zu werden.
13
“Vertraute Engelsbilder“ schauen in den Wahlverwandtschaften auf die Toten herab, die
möglicherweise in einem “freundlichen Augenblick” zu neuem Leben erwachen, was freilich
eine sehr fragliche Dynamik symbolischer Befunde ausmacht. All das Hin und Her mutmaßlicher Bedeutungsträger hilft dem Interpreten wenig, wenn die Strukturen der Textentfaltung
starr sind. Durch Manipulation des Toten das Lebendige hervorbringen: Dies ist die Herausforderung der Lektüre.
11
Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 351.
Wilhelm Meisters Wanderjahre, S. 348.
13
Die Wahlverwandtschaften, S. 261.
12
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Vasile V. Poenaru
Auch an Joseph dem Zweiten wird sichtbar, daß bloße Mobilität nicht ausreicht, um Vorurteilen, Schablonen und fertigen Interpretationen aus dem Weg zu gehen, denn die von ihm
und seiner Familie inszenierte Beweglichkeit eines Bildes (Die Flucht nach Ägypten) kann der
Anmaßung einer verabsolutierten Unbeweglichkeit des Bildes an sich nichts anhaben, das in
seiner kaum reflektierten Gesamtheit als vermeintliche Totalität hin und her getragen wird. Die
14
Wanderjahre aber sind fortzusetzen . Immer wieder muß der Leser der sich ihm aufzwingenden
Wahlverwandtschaft zu einer bestimmten, oft verführerisch anschaulichen und überaus einleuchtenden Bedeutungsstruktur entsagen, um eine echte Totalität der Bedeutung mit sich zu
führen und nicht das wohlklingende Gesamtbild einer verklärten, leblosen Klassik.
Literatur:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
14
GOETHE, JOHANN WOLFGANG (1998). Die Wahlverwandtschaften [UB 7835].
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GOETHE, JOHANN WOLFGANG (2002). Wilhelm Meisters Wanderjahre [UB 7827].
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Goethes
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Staufenburg.
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BÜRGER, CHRISTA (1977). Der Ursprung der bürgerlichen Institution
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BARTHES, ROLAND (1964). Mythen des Alltags. Frankfurt am Main
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52
ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
ZWISCHEN HUNDSSTALL UND HOLZPUPPEN
Zum Kunstgespräch in Büchners Lenz
Klaus F. Gille
1
Das sogenannte Kunstgespräch, nimmt in Büchners "Lenz" insofern eine Sonderstellung
2
ein, daß Büchner es nicht einer seiner Quellen entnommen, sondern fingiert hat. Lenz wird
3
zum Sprachrohr Büchners , das zunächst einmal der Selbstverständigung des Autors dient, ähn4
lich wie das Theatergespräch zwischen Camille Desmoulins und Danton in Dantons Tod (II,3)
5
und der Brief an die Familie vom 28. Juli 1835 .
Die Wahlverwandtschaft Büchners mit dem unglücklichen Poeten beruhte auf vergleichbaren Lebenssituationen. Sie beruht aber auch auf der vergleichbaren Notwendigkeit, als
Künstler gegen eine dominante Kunsttheorie und -praxis der älteren Generation einen eigenen
Weg zu finden und diesen auch in der Reflexion zu legitimieren.
Büchner teilte mit seinen jungdeutschen Schriftstellerkollegen, die Erfahrung der Zeitenwende, der im politischen Bereich von der Julirevolution 1830, im philosophischen vom Tode
6
Hegels 1831 und im ästhetischen vom Tode Goethes 1832 markiert wurde.
Dieser Epochenumbruch bot der jungen Schriftstellergeneration die Chance, die drückende
Last der Tradition abzuwerfen und die politischen und ästhetischen Prinzipen neu zu justieren.
Die Chance des Neuanfangs verdichtet sich in Heines Heines Dictum vom "Ende der Kunstperiode':
Meine alte Prophezeiung von dem Ende der Kunstperiode, die bei der Wiege Goethes anfing und bei
seinem Sarge aufhören wird, scheint ihrer Erfüllung nahe zu sein. Die jetzige Kunst muß zu Grunde
7
gehen […].
Büchner adaptiert im Kunstgespräch von Lenz die Vorstellung von der Kunstperiode. Sie
8
wird hier in dem umfassenderen Begriff "idealistische Periode" (233,32f.) aufgehoben und
wird, nach den zeitlichen Voraussetzungen der erzählten Handlung, nicht von ihrem Ende,
sondern von ihrem Anfang her betrachtet, und zwar mit einer chronologischen Ungenauigkeit
(1776 statt Ende der achtziger Jahre); das mag weniger literarhistorischer Unkenntnis Büchners
geschuldet sein als der Möglichkeit, die eigene, an den fiktiven Lenz gekoppelte realistische
Kunstkonzeption möglichst wirkungsvoll mit der der "idealistischen Periode" kontrastieren zu
können.
1
Büchner wird im folgenden zitiert nach der Ausgabe Büchner (Poschmann), s. Literaturverzeichnis.
Zur erzähltechnischen Integration des Kunstgesprächs vgl. Jansen 1975.
3
Vgl. Hauschild 1993, S. 504f., Werner 1999, S. 104f. Anders Meier 1983, S. 112f.
4
Büchner (Poschmann), Bd. I , S. 44f.
5
Büchner (Poschmann), Bd. I I, S. 410f.
6
Vgl. Dietze 1962, S. 121ff.
7
Heinrich Heine: Französische Maler. Gemäldeausstellung in Paris 1831. Zuerst im "Morgenblatt für gebildete Stände"
1831. Buchveröffentlichung 1834 als "Der Salon. Erster Band" 1834. Heine (Briegleb) Bd. III, S. 72.
2
8
Pilger 1995 untersucht die Begriffsgeschichte und resümiert: "Der von Büchner verwendete Begriff 'idealistische
Periode' scheint demnach über den engeren Bereich der Philosophie hinauszuweisen und der Bezeichnung eines die
Künste und Wissenschaften gleichermaßen umfassenden Epochenzusammenhang zu dienen" (Pilger 1995, S. 105)
Klaus F. Gille
Eine zentrale Rolle spielt dabei der Anteil, den Goethe an ihr hatte. Der Rückgriff auf die
Gedanken des jungen Goethe entspricht der zeitgenössischen Goethediskussion. Für das Kunstgespräch schöpfte Büchner aus Lenz und Goethe, und zwar positiv aus deren ästhetischen
Sturm-und-Drang-Positionen, sowie in negativer Abgrenzung aus Goethes klassischer Ästhetik.
Die Probleme, die im Kunstgespräch angeschnitten werden, lassen sich auf zwei Hauptaspekte
zurückführen, denen einige Nebenaspekte zugeordnet werden können.
Erstens: Welche Konsequenzen ergeben sich angesichts der für Büchner zentralen politischsozialen Problematik für die in der Kunstperiode ästhetizistisch verengte Gegenstandswahl?
Zweitens: Wie ist, gegenüber einer traditionell "idealistischen" Kunstpraxis eine neue
"realistische" Technik zu finden?
Zu den Nebenfragen gehören die Funktionsbestimmung des Dichters und die Frage nach der
optimalen Wirkung des Kunstwerks.
Erstens: Gegenstandswahl
Büchner läßt seinen fiktiven Lenz zu Kaufmann, der hier als "Anhänger" der "idealistischen
Periode" (233, 32f.) fungiert, wie folgt sprechen:
Er sagte: Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht, wie sie sein soll, und wir können wohl nicht
was Besseres klecksen; unser einziges Bestreben soll sein, ihm ein wenig nachzuschaffen. Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist's gut; wir haben dann nicht zu fragen,
ob es schön, ob es häßlich ist. Das Gefühl, daß, Was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen
Beiden und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen. (233, 37 ff.)
Büchner verwendet hier den alten Topos vom Dichter als 'Second maker", der für den Sturm
9
und Drang besonders wichtig war , zusammen mit der Leibnizschen Vorstellung von der besten
aller möglichen Welten. Die Einsetzung des Kunstschaffens in einen quasitheologischen
Kontext ermöglicht die Legitimation der Verengung und Erweiterung des Gegenstandsbereiches
von Kunst. Verengung insofern, als der Spielraum des 18. Jahrhunderts zwischen Nachahmung
10
und Schöpfung (imitatio und creatio) auf erstere fixiert wird, Erweiterung, weil die
traditionelle Fixierung, nur das Schöne sei auch kunstwürdig, aufgebrochen wird. Büchner
rekurriert hier auf Goethes Schrift "Diderots Versuch über die Malerei. Übersetzt und mit An11
merkungen begleitet" (1799) , in der Goethe in polemischer Auseinandersetzung mit dem
Franzosen einen autonomen und auf das Schöne beschränkten Kunstbegriff entwickelte. Das
12
Häßliche ist demnach wohl der Natur , nicht aber der Kunst zuzuordnen. Eine von Diderot
beschriebene "leidige, groß- und schwerköpfige, kurzbeinige, grobfüßige Figur würde man wohl
13
schwerlich in einem Kunstwerke dulden, wenn sie auch noch so organisch konsequent wäre."
Es ist deutlich, daß Büchners Widerspruch sich gerade an dieser Position entzündet.
9
So die Formulierung Shaftesburys (der Dichter sei ein "second maker, a just Prometheus under Jove"); Zur Geschichte
dieses Topos vgl. Schmidt 1988, I, S. 255ff. Zu dieser Vorstellung beim historischen Lenz vgl. Büchner MA, S. 544.
10
Vgl. zur Problemstellung Schmidt 1988, Bd. I, S. 10ff.
11
Vgl. Büchner MA, S. 544; Poschmann in Büchner (Poschmann) , Bd. I, S. 836. Th. M. M. Mayer 1982, S. 76ff. Der
Diderot-Bezug wird (mich) nicht überzeugend, bestritten von Meier 1983, S. 99.
12
Goethe JA, XXXIII, S. 207f.
13
Ibid., S. 211.
54
ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
Zwischen Hundsstall und Holzpuppen. Zum Kunstgespräch in Büchners "Lenz"
Gegen die kunsttheoretischen Positionen des klassischen Goethe kann Büchner seinen
fiktiven Lenz den jungen Goethe ausspielen lassen: "Die Leute können auch keinen Hundsstall
zeichnen." (234,11f.); der"Hundsstall" läßt sich nach übereinstimmender Forschungsmeinung
14
auf Goethes Falconet-Aufsatz von 1776 beziehen , wo es heißt: "Er [der Künstler] mag die
Werkstätte eines Schusters betreten oder einen Stall, er mag das Gesicht seiner Geliebten ,
seine Stiefel oder die Antike ansehn, überall sieht er die heiligen Schwingungen und leise Töne,
15
womit die Natur alle Gegenstände verbindet."
So wie sich der junge Goethe damals von den Verengungen der akademischen traditionellen
16
Kunstlehre befreite , so befreit sich Büchner hier von denen der Kunstperiode. Mit der
Nennung des "Hundsstall" eröffnet Büchner der Kunst das Gemeine, Niedrige, Geringe und gibt
ihr damit eine soziale Dimension, die wiederum den politischen Ambitionen des Hessischen
Landboten entspricht.
Zweitens: Die Suche nach einer "realistischen" Technik
Die soziale Begründung der Gegenstandswahl ist im Kunstgespräch mit der Suche nach
einer neuen Technik verknüpft.
Da wollte man idealistische Gestalten, aber Alles, was ich davon gesehen, sind Holzpuppen. Dieser
Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur. (234,12ff.)
Büchner hätte sich hier auf Schillers Rezension der Gedichte Gottfried August Bürgers
(1791) berufen können. Hier hatte Schiller das Prinzip der Idealisierung (also der Typisierung
und Stilisierung) begründet, und alles Individuelle und Lokale verworfen. Dem entspräche etwa
in der Tradition Winckelmanns die Dichotomie von griechischer Plastik und niederländischer
17
Porträtkunst.
Mit der Abweisung des Apoll von Belvedere und der Raphaelschen Madonna (235, 11ff.)
und der Ausspielung der "Holländischen Maler" gegen die "Italienischen" (235, 19ff.) bezieht
Büchner eine Gegenposition. In Schillers Konzept bedeutet Idealisierung Affektunterdrückung:
Aus der sanftern und fernenden Erinnerung mag er [der Dichter] dichten […] aber ja niemals
18
unter der gegenwärtigen Herrschaft des Affekts.
Gerade um Affekte und Empfindungen ging es aber Büchner.
Die Berechtigung der Affekte lag für Büchner auf der produktionsästhetischen Seite in dem
19
Gestus des Mitleidens , und in dem Bestreben, aus der Not einer geringeren Sprachkompetenz
seiner Protagonisten die Tugend einer Aufwertung der Körpersprache, also von Gestik und
14
Büchner MA, S. 545
Goethe HA XII, S. 24.
16
Vgl. den Kommentar von von Einem, ibid., S. 572.
17
Winckelmann 1755 (1969), S. 13
18
Schiller dtv GA, Bd. X, S. 169.
19
Von dem Gestus des Mitleidens ist, wenn man Poschmann ( Büchner [Poschmann], Bd. I, S. 834 ) folgt, die Ablehnung derer bestimmt, "von denen man sage, sie geben die Wirklichkeit" (ibid. S. 233,34f.). Poschmann nennt als
Beispiel für diese Haltung "die gleichgerichtete Kritik an dem 'kaltblütigen' mechanischen Realismus, mit dem David die
'letzten Zuckungen' der auf die Gasse geworfenen Gemordeten des September 1792 nachzeichnete, in 'Dantons Tod'
(Büchner (Poschmann), Bd. I , S. 45,15-19). Anders Meier 1983, S. 97f.
15
ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
55
Klaus F. Gille
20
Mimik, zu machen. Aber auch auf auf der rezeptionsästhetischen Seite markiert der Affekt
einen tiefgreifenden Dissens zwischen der Kunstperiode und Büchner. Seinem fiktiven Lenz
macht "das unbedeutendste Gesicht […] einen tiefern Eindruck als die bloße Empfindung des
Schönen" (235, 6ff) und bei der Betrachtung des Apoll von Belvedere oder einer Raphaelschen
Madonna fühlt er sich "sehr tot, wenn ich in mir arbeite, kann ich auch wohl was dabei fühlen,
21
aber ich tue das Beste daran." (235, 15f.). Was Büchner, wie auch der historische Lenz
sozusagen widerwillig und als Mangel konzedieren, ist nun allerdings gerade konstitutiv für die
Wirkungskonzeption der Weimarer Klassik, die auf die Mobilisierung der Einbildungskraft durch
22
Verfremdung vertraut, die durch das Stilisationsprinzip geleistet wird. Dem interesselosen
Wohlgefallen der Kunstperiode setzt Büchner die Forderung nach unmittelbarer Sensibilisierung
des Rezipienten entgegen.
Abschließend kann festgestellt werden, daß Büchner sich mit dem Kunstgespräch in einen
Diskurs einklinkt, in dem die zunehmende Autonomisierung der Kunst seit der Mitte des 18.
Jahrhunderts problematisiert wird. Das Dictum des fiktiven Lenz, "dem lieben Gott […] ein
wenig nachzuschaffen" (234, 1ff) ist noch der Vorstellung einer vernünftigen und gottgelenkten Weltordnung verpflichtet, deren "Schattenriß" (Lessing) der "sterbliche Schöpfer" zu
liefern habe. Diese Position wird wie im Zeitraffer durch Lenz' weiteren Aufenthalt im Steintal
23
demontiert und dementiert, - ein für Büchners poetische Praxis durchaus gängiges Verfahren .
Der Schattenriß mutiert zum Weltriß.
Die Welt, die er hatte nutzen wollen, hatte einen ungeheuren Riß, er hatte keinen Haß, keine Liebe,
keine Hoffnung, eine schreckliche Leere und doch eine folternde Unruhe, sie auszufüllen. Er hatte
Nichts. (246, 33ff.)
Von Kunst ist hier nicht mehr die Rede. Die quasi-religiöse Funktion, die ihr die Früh24
romantik noch zuerkannt hatte kann einem Lenz nichts mehr bringen, der den Zugriff des
"Atheismus" erfährt (242, 20) und am Theodizee-Problem verzweifelt (248, 35ff.). Und doch ist
das nicht das letzte Wort Büchners. Denn Büchner hat ja mit seinem Lenz einen der schönsten
Prosatexte der deutschen Literatur geschrieben. Er tat das mit den neuen Gegenständen und
der neuen Technik, die im Kunstgespräch angedacht werden.
Literatur:
20
Vgl. Poschmann in Büchner (Poschmann), Bd. I , S. 839f. Büchner thematisiert das Problem in der Szene mit dem
dressierten Pferd (Woyzeck, Büchner (Poschmann), Bd. I , S. 151; vgl. auch die Szene Woyzeck mit dem Doktor, ibid., S.
157f.).
21
Poschmann in Büchner (Poschmann), Bd. I , S. 842 weist auf eine parallele Passage in Lenz' "Anmerkungen übers
Theater", nach der bei "Theaterstücken von Autoren á la Racine […] 'die arme Einbildungskraft des Zuschauers […]
das Beste dazu tun muß'." Vgl. weiter Meier 1983, S. 109.
22
Vgl. etwa Schiller mit Bezug auf den "Wallenstein": "Der Vers fodert schlechterdings Beziehungen auf die Einbildungskraft, und so mußte ich auch in mehreren meiner Motive poetischer werden. Man sollte wirklich alles, was sich
über das Gemeine erheben muß, in Versen wenigstens anfänglich konzipieren." (an Goethe, 24.11.1797,
Gräf/Leitzmann, 1912, Bd. I, S. 431; Goethes zustimmende Antwort ibid., S. 433. Vgl. ferner Gille 2002, S. 221f.
23
Vgl. Gille 1992 mit Bezug auf Dantons Tod.
24
Vgl. Stockinger 1994, S. 98f.
56
ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
Zwischen Hundsstall und Holzpuppen. Zum Kunstgespräch in Büchners "Lenz"
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ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
57
MEYRINK UND DAS THEOMORPHISCHE MENSCHENBILD
∗)
Mihai A. Stroe
MEYRINKs Werk sollte von der Perspektive der Archetypologie neu definiert werden, da es
auf dieser Ebene der ontischen Universalien eng mit dem romantischen Phänomen verbunden
ist. C.G. JUNG zählt MEYRINK in diesem Sinne dem ‘visionären Kunstschaffen’ zu; jenen Persön1
lichkeiten wie DANTE, NIETZSCHE, WAGNER, WILLIAM BLAKE , JAKOB BÖHME, E.T.A. HOFMANN, KUBIN,
SPITTELER, RIDER HAGGARD, BENOIT, GOETZ und BARLACH, für die, im Gegensatz zur psychologischen
Art des Kunstschaffens, besondere Gesetze gelten:
Der Wert und die Wucht liegen auf der Ungeheuerlichkeit des Erlebnisses, das fremd und kalt oder
bedeutend und erhaben aus zeitlosen Tiefen auftaucht, einerseits schillernd, dämonisch-grotesker
Art, menschliche Werte und schöne Formen zersprengend, ein schreckerregender Knäuel des ewigen
Chaos.
Das visionäre Schaffen ‘zerreisst’ den Vorhang (genauso wie es mit der Romantik der Fall
ist), auf den die Bilder des Kosmos gemalt sind,
von unten bis oben und eröffnet einen Blick in unbegreifliche Tiefen des Ungewordenen. In andere
Welten? Oder in Verdunkelungen der Geistes? Oder in vorweltliche Ursprünge der menschlichen
2
Seele? Oder in Zukünfte ungeborener Geschlechter? .
JUNG lässt schliesslich die Frage offen; und das weist auf die zwei Typen von Archetypen
hin: die JUNG’schen immanenten (Alphapunkte in der Vergangenheit) und die WILBER’schen
transzendenten (Omegapunkte in der Zukunft). Unserer Hinsicht nach, sind die zwei eigentlich
ein und derselbe Archetyp: der immanent-transzendente Archetyp als Alpha-und-Ome-gaPunkt.
Die archetypische Hypothese, die ich im vorliegenden Papier untersuche, ist, wie ich erwähnt habe, auch bei MEYRINK zu finden, wie JUNG im oben zitierten Exzerpt bemerkt. In diesem
Sinne sagt der österreichische Denker im Roman Das grüne Gesicht: “Es gibt eine unsichtbare
3
Welt, die die sichtbare durchdringt” ; das ist die göttliche Welt, die Welt der Ideen, von deren
Existenz MEYRINK überzeugt zu sein scheint:
Jedes Ding auf Erden ist nichts als ein ewiges Symbol, in Staub gekleidet! [...] Alles, was zur Form
4
geronnen ist, war vorher ein Gespenst. (MEYRINKs und BLAKEs Denken sind in dieser Hinsicht isomorph).
Im Roman Das grüne Gesicht stellt MEYRINK die folgende Frage:
Ist mein Körper etwas anderes als ein wimmelndes Heer lebendiger Zellen [...] die sich nach vererbter Gewohnheit von Jahrmillionen um einen verborgenen Kernpunkt drehen?
∗)
Vorliegender Text ist die erweiterte Fassung eines auf dem VI. Kongreß der Germanisten Rumäniens, Sibiu/Hermannstadt, 26.-29. Mai 2003, gehaltenen Vortrags.
1
Im vorliegenden Beitrag hebe ich viele Elemente hervor, die den Vergleich zwischen Meyrink und Blake (und den
visionären Romantikern im allgemeinen; ebenso zwischen Kubin und Blake usw.) als berechtigt erscheinen lassen.
2
C.G. Jung 1950, apud Dr. Eduard Frank 1957, S. 17-18.
3
Gustav Meyrink, Das grüne Gesicht, S. 259. Das ist offensichtlich eine romantische Weltanschauung (siehe Blake,
Novalis, Coleridge, Wordsworth, Hölderlin, usw.).
4
Gustav Meyrink, Der Golem, S. 80. Diese Welt der Ideen bezeichnet Meyrink als das Reich der Form (Gustav Meyrink
1992, ‘Der Albino’, S. 297).
Meyrink und das theomorphische Menschenbild
Er ahnte einen geheimnisvollen Zusammenhang zwischen dem Vorgang, den er gesehen, und den
Gesetzen der innern und äussern Natur und begriff, wie zauberhaft schimmernd die Welt vor ihm
wiederauferstehen müsste, wenn es ihm gelingen sollte, auch die Dinge in einem neuen Licht zu be5
trachten, die der Alltag und die Gewohnheit ihrer Sprache beraubt hatten.
Der Meyrinksche verborgene Kernpunkt ist die Welt der Archetypen, die Welt der Ursachen
(diese sind die transzendentalen, ontischen Archetypen): das ist MEYRINKs Grundziel: “Sein Geist
6
tauchte hinab in den Abgrund des Seins und des Reiches der Ursachen” . In dieser Welt sind
alle psychischen Kräfte enthalten:
Das Gemälde kann vermodern, das Malenkönnen kann nicht verlorengehen, auch wenn der Maler
stirbt. Es bleibt als vom Himmel geholte Kraft bestehen, die vielleicht für lange Zeit schlafen gehen
mag, aber immer wieder auftaucht, wenn das geeignete Genie geboren wird, durch das sie sich
7
offenbaren kann.
Hier sind die Keime der Jungschen Theorie der Archetypen unzweifelhaft präsent. Das
folgende Zitat erweist, dass bei MEYRINK die archetypische Hypothese das Ganze des Werkes
strukturiert:
8
Die schmalen, verborgenen Steige sind’s, die in die verlorene Heimat zurückführen : das, was mit
feiner, kaum sichtbarer Schrift in unserem Körper eingraviert ist, und nicht die scheußliche Narbe,
9
die die Raspel des äußeren Lebens hinterläßt, birgt die Lösung der letzten Geheimnisse.
10
Das Eingravierte ist das Angeborene, d.h. das Archetypische. MEYRINKs Jungsche Weltanschauung ist auch im folgenden bemerkbar:
“Die Seele ist nichts “Einzelnes” - sie soll es erst werden, und das nennt man dann: “Un11
sterblichkeit” ; Ihre Seele ist noch zusammengesetzt aus vielen “Ichen” - so wie ein Ameisenstaat aus vielen Ameisen; Sie tragen die seelischen Reste vieler tausend Vorfahren in sich – die
Häupter Ihres Geschlechtes. Bei allen Wesen ist es so. Wie könnte denn ein Huhn, das aus
5
Gustav Meyrink, Das grüne Gesicht, S. 120.
Gustav Meyrink 1992, ‘Die Weisheit des Brahmanen’, S. 111.
7
Gustav Meyrink, Das grüne Gesicht, S. 130.
8
Das ist zweifelsohne eine romantische Weltanschauung (siehe z.B. Hölderlin und Novalis).
9
Gustav Meyrink, Der Golem, S. 84.
10
Siehe Blakes Technik des Eingravierens, durch die er eine Ontologie der Linie entwickelt hat. Die Linie in dieser Ontologie ist der Raum der Differenziertheit (das ist die Meyrinksche feine, kaum sichtbare Schrift, die in unserem Körper
eingraviert ist), durch den die Schöpfung erst möglich ist. Diese physische-psychische Linie konstituiert was Blake als
die goldene Regel der Kunst und des Lebens bezeichnet: ‘The great and golden rule of art, as well as of life, is this: That
the more distinct, sharp and wirey the bounding line, the more perfect the work of art; and the less keen and sharp, the
greater is the evidence of weak imitation, plagiarism, and bungling. Great inventors, in all ages, knew this: Protogenes
and Apelles knew each other by this line. Rafael and Michael Angelo, and Albert Dürer, are known by this and this
alone. The want of this determinate and bounding form evidences the want of idea in the artist's mind, and the
pretence of the plagiary in all its branches. How do we distinguish the oak from the beech, the horse from the ox, but
by the bounding outline? How do we distinguish one face or countenance from another, but by the bounding line and
its infinite inflexions and movements? What is it that builds a house and plants a garden, but the definite and
determinate? What is it that distinguishes honesty from knavery, but the hard and wirey line of rectitude and certainty
in the actions and intentions. Leave out this line and you leave out life itself; all is chaos again, and the line of the
almighty must be drawn out upon it before man or beast can exist. Talk no more then of Correggio, or Rembrandt, or
any other of those plagiaries of Venice or Flanders. They were but the lame imitators of lines drawn by their
predecessors, and their works prove themselves contemptible dis-arranged imitations and blundering misapplied
copies’ (William Blake 1979, A Descriptive Catalogue, Number XV, Ruth. – A Drawing, S. 585). So ist Blakes ontische
Linie Meyrinks archetypische Schrift, die Gott in unserem Körper eingraviert hat.
11
Oder Individuation, Vergöttlichung, Vervollkommnung, usw.
6
ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
59
Mihai A. Stroe
einem Ei künstlich erbrütet wurde, sich sogleich die richtige Nahrung suchen, wenn nicht die
Erfahrung von Jahrmillionen in ihm stäke? – Das Vorhandensein des “Instinkts” verrät die
12
Gegenwart der Vorfahren im Leib und in der Seele” .
Ausserdem spricht MEYRINK von den ‘Urwäldern der Seelen’, d.h. der ursprünglichen Welt der
ontischen Energien. BLAKE schreibt in diesem Zusammenhang von den Wäldern des Entuthon
13
Benithon sic (d.h. des physischen Körpers) (the Forests of Entuthon Benython sic ); sie stellen
die psychische innere Struktur des Körpers und der Seele (für BLAKE Materie und Geist sind
praktisch dasselbe):
And every Generated Body in its inward form,
Is a garden of delight & a building of magnificence,
Built by the Sons of Los.
14
Diese monistische Anschauung in BLAKEs System findet man auch bei MEYRINK, indem er
15
vom Umstellen der Lichter spricht (die Kabbala bezeichnet dieses Phänomen als Makifim),
d.h. das Umstellen des Schwerpunkts des Menschen: das Herz muss man im Kopf und das Ge16
hirn in der Brust haben (oder das Denken im Herzen) , wenn man vergöttlicht sein will. Das
bedeutet, dass MEYRINK die Materie mit dem Geist nur durch die Geste des Umstellens der
Lichter wieder vereinigt, so wie in BLAKEs System und in der Kabbala. Mit anderen Worten, die
Wirklichkeit ist eine psychische (wie JUNG verkündigte), und die Materie ist nur durch die
psychische Einstellung des Menschen vom Geiste getrennt: nur eine fundamentale ontische
psychische Einstellung archetypischer Natur (d.h. voller numinoser Energie) kann diese
Trennung oder Dualität beseitigen, so dass die ursprüngliche Einheit der Materie und des
Geistes [die geistige Materie, oder der materielle Geist; siehe BLAKEs spiritual sensation, das
praktisch dasselbe darstellt; BLAKE, wie LARRISSY unterstreicht, betrachtet den Körper als absolut
17
identisch mit der Seele (Einheit der Materie und des Geistes, wie in BERKELEYs System) ]
wiederhergestellt sei, und die Dualität in eine einheitliche und zugleich differenzierende
Dialektik verwandelt werde.
MEYRINKs Werk weist ausserdem eine starke Kohärenz auf, und kehrt letztlich immer wieder
18
zu den selben Themen zurück , deshalb kann man wohl von Typologien und eine
archetypologische Denkstruktur bei MEYRINK sprechen. Dabei soll erinnert werden, was die
Kritiker Meyrinks bereits erwähnt haben, dass MEYRINKs Denken eine Weltanschauung aufbaut,
die sich in der Nähe von EDGAR ALLEN POE, dem amerikanischen Romantiker, befindet. In diesem
Zusammenhang bemerkt REITER, dass sich besonders in den 1890er Jahren eine spezifisch
deutschsprachige Phantastik zu regen begann, die durch die verstärkte Rezeption des Werkes
von POE und den französischen, englischen und russischen Phantastik-Autoren gefördert wurde,
19
und die einen Höhepunkt nach dem Ersten Weltkrieg erreichte . Seit den 1890er Jahren gab es
12
Gustav Meyrink, Der Golem, S. 247-248. Die gleichen Thesen hat Joseph Campbell vorgeschla-gen und wissenschaftlich erwiesen.
13
William Blake 1979, Milton, 1, 26, 25, S. 512.
14
William Blake 1979, Milton, 1, 26, 31-33, S. 512.
15
Gustav Meyrink, Das grüne Gesicht, S. 193.
16
Ebd., S. 194.
17
Edward Larrissy 1999, S. 66.
18
Ralf Reiter, ‘Das dämonische Diesseits, Phantastische Erzählen in den Romanen Walpurgisnacht und Der weiße
Dominikaner von Gustav Meyrink’, S. 8.
19
Ebd., S. 18-19.
60
ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
Meyrink und das theomorphische Menschenbild
20
zwar eine allgemeine Tendenz der ‘Abweichung von der Normalität’ (das romantische
Programm verkündete etwas Ähnliches: die Suche nach dem Progressiven, nach ewiger Neuheit, nach dem Exotischen, usw.), was eigentlich darauf hinweist, das Phantastische wurde zum
verbreiteten Phänomen, das als eine Art Neuromantik zu verstehen ist (auch wenn Kritiker wie
21
Wünsch von einer Nähe der Phantastik eines MEYRINK zu dem Expressionismus sprechen ). Die
deutschsprachige Phantastik entstand zwischen 1900-1930, und ihre Begründer sind u. a.
GUSTAV MEYRINK, HANNS HEINZ EVERS, KARL HANS STROBL (sein Eleagabal Kuperus ist eine Art
magnum opus der deutschen Phantastik), ALFRED KUBIN (seinen einzigen Roman, Die andere
Seite, 1909, stellt PETER CERSOWSKY neben MEYRINKs Der Golem und KAFKAs Werk), und FRANZ
SPUNDA (der, wie MEYRINK, magische Romane schrieb; die Handlung dieser Romane entfaltet
22
sich oft von okkultistischen Vorstellungen) .
Eine der wichtigsten Ideen in MEYRINKs System ist die Tatsache, dass das irdische Sein eine
unabänderliche Kette von Ursache und Wirkung, von schicksalhafter Verstrickung ist (siehe
23
WILBERs unendliches Netz der ontischen Verhältnisse, der semiotischen Felder : das ist das Bild
24
der vollständigen Kausalität): alles geschieht aus einer existentiellen Notwendigkeit heraus
25
(siehe Ananke der Griechen ). Eine weitere Idee, die zwar zum Gedankengut der
Archetypologie gehört, ist die folgende: die fatalen Handlungen der Ahnen prägen nach
MEYRINK das Leben zukünftiger Generationen (siehe z.B. ‘Meister Leonard’; siehe auch
SHELDRAKEs Idee einer morphischen Resonanz, und die JUNG’sche Idee des Thesaurus Intelligibilium: das sind intellektuelle geerbte Formen). So glaubt MEYRINK, es existieren in der menschlichen Natur verhängnisvolle, kritische Konstanten, die sich von Generation zu Generation erhalten, und oft unbewusst bleiben (diese Hypothese ist offensichtlich mit der JUNG’schen Lehre
vom Unbewussten vergleichbar). Die erwähnten Konstanten aber entfalten im entscheidenden
Moment durchschlagende Wirkungen (so operieren auch die JUNG’schen Archetypen: sie
steuern die Verhaltens- und Zeitrichtungen, sie steuern die ontische Entwicklung, den ‘Zeitpfeil’, den Ilya Prigogine in der modernen Wissenschaft theoretiesierte und erforschte; dabei sei
bemerkt, dass diese Idee Prigogine von Stanley Eddington übernahm, der eben die Entropie als
26
‘Zeitpfeil’ bezeichnete ). So ist die Aufgabe und Absicht des MEYRINK’schen Helden, ein
27
‘zweites, aller Materialität enthabenes’ Sein zu erstreben : das ist ein pattern of behaviour, das
alle romantischen Helden charakterisiert, deshalb kann man sagen, der MEYRINK’sche Held ist
romantisch. Im Roman Der Golem erreicht z.B. Athanasius Pernath, der als Symbol des vorzüglichen romantischen Suchenden betrachtet werden kann, den höheren Zustand von der Ver20
Vgl. M. Wünsch 1991, S. 72.
Ebd., S. 82.
22
Ralf Reiter, ‘Das dämonische Diesseits’, S. 22-25.
23
‘Interconnectedness or “weblike” nature of all life’, Ken Wilber 1995, S. 6; ‘The world is arranged holarchically,
precisely because it contains fields within fields within fields’, Ken Wilber 1995, S. 22..
24
Evelyn Konieczny, ‘Figuren und Funktionen des Bösen im Werk von Gustav Meyrink’, S. 81.
25
Francis E. Peters 1997, S. 37. Die Atomisten sprechen von einer mechanischen Notwendigkeit, die rein physische
Ursachen hat; diese entfaltet sich ohne ein gewisses Ziel (telos). Für Sokrates und Plato hat Ananke eine wichtige Rolle
in der Entstehungsgeschichte des Kosmos. Aber die Vernunft (Nous, Demiourgos, die göttliche Ursache, theion) überwältigt die physische Notwendigkeit (Vgl. Timaios, 47e-48a). Aristoteles, auf der anderen Seite, zeigt, dass Ananke als
physische Notwendigkeit eigentlich nicht von Nous, sondern vielmehr vom Telos (dem Zweck) gesteuert wird. Man kann
in dieser Hinsicht sagen, Parmenides (für diesen wird alles von Ananke bewegt) und Aristoteles beeinflussten Meyrink.
21
26
27
Ilya Prigogine 1997, S. 19.
Günther Kunert 1982, S. 26, apud Evelyn Konieczny, ‘Figuren und Funktionen des Bösen im Werk von Gustav
Meyrink’, S. 81.
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einigung des männlichen und weiblichen Prinzips nur mit Mirjam, die Tochter des Archivars
Schemajah Hillel (der Archivar in der noch heute bestehenden Altneuschule, einer schon 1270
erbauten Synagoge; er stellt das positive Vaterbild dar, im Unterschied zu dem negativen
Vaterbild, das durch Aaron Wassertrum dargestellt wird; hier ist Paul Moxnes’ Klassifizierung
der Grundarchetypen: der Vater, die Mutter, der Sohn, die Tochter, der Diener, der Weise, der
Held, der Besiegte; der Archetyp des Vaters bildet mit seiner antithetischen Form zwei Grundtypen: der gute Vater – der König, Gott, Zeus; der böse Vater – der Unmensch, der Teufel,
28
Hades ; bei MEYRINK, wie es ersichtlich ist, scheint somit das archetypische Schema richtig zu
funktionieren). Das ist die einzige Möglichkeit, die Materialität zu transzendieren, was auch
Grundziel der Romantiker ist.
Die Vereinigung der zwei Prinzipien (der sexuellen höchsten Archetypen) stellt unio mystica
oder coincidentia oppositorum dar, von denen JUNG spricht: dieser Prozess ist im Wesentlichen
das grosse alchemische Werk. Bei MEYRINK findet diese Vereinigung der Grundprinzipien nur im
29
Golem statt; in den folgenden Werken sind sie streng voneinander getrennt , darum ist Der
Golem als ein der zentralsten Interessengebiete für die archetypologische Analyse zu betrachten.
Da das ganze menschliche Sein determiniert (und prädeterminiert) ist, kann der Mensch in
MEYRINKs Anschauung für sein Handeln (d.h. für den Sündenfall) nicht zur Verantwortung gezogen werden. Im Roman Der Engel vom westlichen Fenster sagt sich Baron Müller über Fürstin
Assja Chotokalungin:
Ein armes Medium war sie gewesen im schlimmsten Falle, [...] ein Medium durch Schicksalsver30
flechtung, die wir gerechten Menschen hinterdrein so gerne «Schuld» nennen.
Ein Medium, das heisst ein Mittler, ein Zwischenraum zwischen zwei Welten, eine Schwelle,
die zwei Welten verbindet. Man muss in diesem Zusammenhang nicht vergessen, die Natur der
Romantik ist eben die der Schwelle.
Wie KONIECZNY bemerkt, gibt es bei MEYRINK vier Charaktertypologien: 1) böse, negative
Charaktere, die nicht dazu ausersehen sind, die höhere Daseinsstufe zu erreichen; ihre Funktion
ist die Behinderung, Verwirrung, Desorientierung und Kompromitierung anderer Darsteller,
deren Seelenheil nicht aufgegeben wird (so sind Aaron Wassertrum, Dr. Theodor Wassory und
Rosina Metzeles im Roman Der Golem; Edward Kelley und Fürstin Assja Chotokalungin im
Roman Der Engel vom westlichen Fenster usw.); diese Charaktere konstituieren was KONIECZNY
als die MEYRINK’sche ‘Kosmologie des Bösen’ bezeichnet hat; 2) Charaktere mit einer
verhalteneren Boshaftigkeit, die eine Chance eingeräumt bekommen, ihrem verhängnisvollen
Schicksal zu entrinnen (Innozenz Charousek im Roman Der Golem; dieser ist, nach KENNETH
31
MCLEISHS Klassifizierung der Archetypen, der Archetyp des Verwaisten ); 3) die grundsätzlich
guten Charaktere, die Suchenden, die ständig durch die Bösen kompromittiert werden, und für
die das Dasein stets eine Art Prüfstand ist (Athanasius Pernath im Roman Der Golem; John Dee,
Baron Müller im Roman Der Engel vom westlichen Fenster); 4) die guten Charaktere, die die
wirkenden Kräfte des Magischen, die archetypischen Kräfte personifizieren, und die schon zu
28
Vgl. Richard M. Gray 1996, S. 204-205.
Evelyn Konieczny, ‘Figuren und Funktionen des Bösen im Werk von Gustav Meyrink’, S. 82.
30
Gustav Meyrink, Der Engel vom westlichen Fenster.
31
Kenneth McLeish 1994, S. 43; dieser spricht von den folgenden, für das menschliche Leben fundamentalen, Archetypen: das Held (the Hero), der Verwaiste (the Orphan), der Reisende (the Wanderer), der Krieger (the Warrior), der
Märtyrer (the Martyr), und der Zauberer (the Magician).
29
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Meyrink und das theomorphische Menschenbild
Lebzeiten die höhere Daseinsform verwirklichen (der Archivar Schemajah Hillel im Roman Der
Golem; Master Gardener / Theodor Gärtner im Roman Der Engel vom westlichen Fenster).
So bemerkt man, dass MEYRINK nach einem archetypischen polaren Schema seine fiktive
Welt schafft. In diesem Schema sind die menschlichen Charaktere gradual definiert, sie sind die
Ausdrücke eines kosmologischen Prädeterminismus, der mit dem deterministischen Entwicklungsschema verbunden ist.
MEYRINKs Roman Der Golem (dieser sollte zuerst Der Ewige Jude, dann Der Stein der Tiefe
heissen, ehe daraus Der Golem wurde) ist die in einem gespenstisch-zeitlosen Prager Judengetto angesiedelte doppelbödige Geschichte des Athanasius Pernath und seines Wegs zur
32
spirituellen Erlösung (das entspricht der Grundstruktur der romantischen Einweihung und
Individuation). Der Roman enthält kabbalistische Chifren und mythologisch-okkulte Initiations33
fragmente , und dadurch ist der Roman, in dem es eine Verlagerung des Interesses vom
34
Individuellen auf das Typische (und unserer Hinsicht nach auch auf das Archetypische) gibt ,
noch enger mit dem romantischen Phänomen verbunden: die Romantik an sich (als ontische
Einstellung) ist ein Weg der Einweihung, der wie jeder spiritueller Weg endlos ist (so ist auch
der Prozess der Vergöttlichung des Menschen, oder Pernaths Weg zur spirituellen Erlösung): das
ist die ‘dreifache Expedition’, die ins Verborgene / Unsichtbare unternommen wird: in die Tiefe
der Natur (ins Erdinnere, wie z.B. bei NOVALIS, siehe das Bergwerk, oder bei BLAKE, siehe die
35
‘Geographie’ der Höhlen), in die Tiefe der Geschichte (in die Vorzeit) und in die Tiefe der Seele .
Ohne weiteres ist die MEYRINK’sche Expedition eine in die Tiefe der menschlichen Seele und
Kultur (also auch eine Expedition in die Tiefe der Geschichte). Die verschachtelten mythologisch-okkultistischen Elemente treten im 2. Roman MEYRINKs, Das grüne Gesicht (1916), noch
weitaus deutlicher zu Tage: in einem fiktiven Amsterdam nach Kriegsende führt MEYRINK eine
Figurenkonstellation vor, anhand derer der Erlösungsweg des Protagonisten Fortunat
Hauberrisser exemplifiziert und kommentiert werden soll (das ist ein vom Yoga inspirierter Weg
36
zur Erkenntnis) . Das grüne Gesicht ist ein Roman der langen Dialoge, Monologe und
Reflexionen (also eine Art Traktat), in dem MEYRINK mythische Modelle und Glaubensmodelle
ausdiskutiert. Stärker noch als Der Golem ist Das grüne Gesicht ein ‘Mythenpool’, in dem christliche, jüdische, ostasiatische, ägyptische und schwarz-afrikanische Mythologeme (als arche37
typische Strukturen) interagieren . Der Golem und Das grüne Gesicht sind wichtig aber auch,
weil man in ihnen die beste Darstellung der so genannten MEYRINK’schen Kosmologie des Bösen
findet: so z.B. ist Usibepu im Roman Das grüne Gesicht (ein Zulu Afrikaner) das Prinzip des
Bösen (das JUNG’sche Archetyp des Schattens; siehe auch KUBIN und BLAKE), das Gegenteil des
Haupthelden, Fortunat Hauberrisser. Usibepu bleibt trotzdem ohne eine bestimmte
Charakterisierung, was seiner negativen Natur nicht widerspricht: das Negative gehört der
Nichtdifferenziertheit, der Primitivität. Ein anderes Beispiel ist der Mensch ohne Bewusstsein,
dargestellt im Roman Der Golem durch Dr. Theodor Wassory. Dieser ist der Sohn des Milionären
Aaron Wassertrum (eines negativen Vaterbildes, wie ich gezeigt habe). Für Wassory, der eitel,
32
Ralf Reiter, ‘Das dämonische Diesseits’, S. 32.
Siehe Cersowsky, Dagmar Fischer, Heidemarie Oehm, apud Ralf Reiter, ‘Das dämonische Diesseits’, S. 32.
34
Vgl. Marco Frenschkowski 1995, S. 135.
35
Lothar Pikulik 1993, S. 15.
36
Ralf Reiter, ‘Das dämonische Diesseits’, S. 33-34.
37
Ebd., S. 34. Deswegen analysiere ich im vorliegenden Papier hauptsächlich den Inhalt dieser zwei Romane (Der
Golem und Das grüne Gesicht), die als Schlüsseltexte der deutschsprachigen Phantastik betrachtet werden (apud Marco
Frenschkowski 1995, S. 127).
33
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betrügerisch und geldgierig ist, ist der grösseste Wert die weltliche Macht und der weltliche
38
Reichtum ; diese weisen auf negative Kräfte, die durch Gottheiten wie Mammon dargestellt
sind. Des Weiteren, ist er ein Bild des falschen Retters (siehe die polaren Archetypen, positive
und negative); durch abscheuliche Methoden macht er sich als Augenartzt bekannt. Er begeht
Selbstmord (weil er dem Gedanken, er wird ins Gefängnis geworfen werden, nicht widerstehen
kann), also manifestiert er das negativste charakterielle Extrem der menschlichen Natur: das
Aufhören jeder Verbindung mit der Gottheit, das Versinken in Dunkelheit-Chaos-Vernichtung,
der Triumph der Katabasis, wo das Unbewusste das Bewusste verschlingt. Ebenfalls stellt
Rosina Metzeles aus dem Roman Der Golem das negative Weibliche dar, ein Bild des
moralischen Verfalls, des verschlingenden
Unbewussten. Sie ist das Bild des ewigen
39
Prostituierten (die rote Rosina ; sie erlebt eine sexuelle Promiskuität, durch die sie die Dionysische, orgiastische Dimension der menschlichen zügellosen, primitiven, instinktiven, wilden
Natur darstellt; siehe die Jungfrau-Babylon bei BLAKE, die ein biblisches Bild des Bösen
symbolisiert, das durch die Weiblichkeit wirkt, die die Sexualität zu einem Extrem führt: der
Grosse Babylon, die Mutter der Prostituierten: dies ist das BLAKE’sche Bild des Sündenfalles, der
sexuellen Negativität) im Gegensatz zur ewigen Jungfrau. Aber Rosina beinhaltet auch das Bild
der Nacktheit der absoluten Frau, indem sie das ontische Prinzip der weiblichen Anziehungskraft-Sensualität versinnbildlicht (ihr gelingt es, Athanasius Pernath zu verführen, als dieser
vom seelischen Standpunkt verwundbar war, siehe den Roman Der Golem). KONIECZNY hat recht,
wenn sie sagt, das Böse und das Hässliche ist bei MEYRINK auch ein ästhetisches Prinzip (ein
40
Ästhetikum) sui generis . Durch Negativität ist die ganze menschliche Natur analysiert und
offenbart. Und das ist auch etwas, das die Romantiker wie BLAKE oder NOVALIS ausführen. Wie
im Falle Hoffmanns, POEs und BAUDELAIREs, baut MEYRINK diese Art von Literatur aus einem
41
Mangel an Transzendenz auf . Das gilt für die Mehrheit der Romantiker, aber diese wählen als
Zuflucht die Vision und der offenbarende Traum, das Licht des Geistes. MEYRINK assimiliert die
Kräfte des Nächtlichen (siehe auch KUBIN). Dazu wird das romantische Ideal der Suche nach
Weisheit und nach der blauen Blume (das bei HOFFMANN relativ ist) bei MEYRINK das Herz des
42
Werkes .
Ein weiteres romantisches Charakteristikum MEYRINKs ist was J. CHR. MEISTER als mystischer
Solipsismus (mystische Ich-bezogenheit) bezeichnete: das ist die später entwickelte Geistes43
haltung MEYRINKs (Solipsismus ist offensichtlich ein wesentliches Merkmal der Romantiker). In
diesem Zusammenhang war MEYRINK vom Wirken metaphysischer Mächte in der Welt überzeugt, aber er lehnte immer jede Form von okkulter Pseudo-Wissenschaft ab. Für MEYRINK führt
die Technik des Rajayoga zur Loslösung von weltlichen Gesetzmässigkeiten, so dass der Atmanbegriff eine entscheidende Rolle bei ihm spielt: das ist die spirituelle Legitimation der Ich-Rolle,
44
und dabei ist Gott der Mensch selbst, das heisst das innerste Ich (siehe auch KUBIN und BLAKE).
Der MEYRINK’sche Weg führt zum kosmischen Dasein (was auch jeder Romantiker sucht), deshalb ist er so äusserst gefährlich (siehe z.B. den Irrweg des Schusters Klinkerbogk im Roman
38
Evelyn Konieczny, ‘Figuren und Funktionen des Bösen im Werk von Gustav Meyrink’, S. 34.
Ebd., S. 41.
40
Ebd., S. 75.
41
Ebd., S. 77. Dieses Phänomen ist wichtig auch bei Blake und Hölderlin z.B., und weniger bei Novalis (siehe die berühmte hölderlinische Dürftigkeit als metaphysischer Mangel).
42
Ebd., S. 79.
43
Ralf Reiter, ‘Das dämonische Diesseits’, S. 37.
44
Ebd.
39
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Meyrink und das theomorphische Menschenbild
Das grüne Gesicht, der seine Tochter ersticht). MEYRINK problematisiert immer das Verrennen in
esoterische Kulte und in Selbsttäuschungen. Dieses Verrennen wird durch den Erlösungsweg
des einzelnen, von der Gesellschaft als Sonderling empfundenen Protagonisten konterkariert.
Ab dem Roman Der Golem eigentlich gibt es bei MEYRINK nur Varianten und Implikationen
45
dieser erlösungssuchenden Ich-Philosophie (MEYRINK selbst war ein gesellschaftlicher
Aussenseiter, der sich nicht den Normen anzupassen versuchte). Durch sein Weltbild versucht
also MEYRINK die Weltlichkeit zu transzendieren (siehe auch z.B. Ophelia im Roman Der Weiße
46
Dominikaner : wie HÖLDERLINs Diotima-Melite oder NOVALIS’ Sophie-Mathilde, hat sie
etherische Züge, sie trägt ein grünes Gewand, Myrtenkranz und Schleier, und sieht wie ein
Wesen aus anderer Zeit und Welt; die transmundane Welt bei NOVALIS ist in diesem Sinne das
einzige Medium, durch das er Sophie als weibliches ewiges göttliches Prinzip erfahren kann),
um Glück und Ordnung archetypischer Herkunft jenseits der physischen Welt zu finden. Dazu
trug die zeitgenössische Gesellschaft bei, indem sie ihn in ein weltfremdes Pseudo-Universum
trieb. In diesem Sinne spricht KALKA von MEYRINKs tragisch-leidenschaftlicher Suche nach dem
47
Anderen, nach dem Unsichtbaren , die einer antibürgerlichen Satire entstammt. Wie etwa
BLAKE, versucht MEYRINK in seinem Werk (als Phantastik esoterisch verkleidet) nicht nur
epochale Krisenerfahrungen zu illustrieren, sondern auch seine persönliche Krise zu bewältigen.
Wie BLAKEs Werk, ist auch MEYRINKs ein Psychographieren der äusserlichen Welt und der
eigenen innerlichen Welt.
FRENSCHKWOSKI bemerkt, die typischen Gestalten in den Texten Der Golem und Das grüne Gesicht sind Verkörperungen des Schicksals des jüdischen Volkes; der Ewige Jude ist in dieser Hin48
sicht als Symbol der Ambivalenz jüdischer Geschichte zu verstehen (dazu ist er auch als vorzüglicher Archetyp des Reisenden zu betrachten). Er wurde in der Literatur zur Schablone für
ausserjüdische Reflexionen über den Gang der Welt-geschichte: die archetypische Struktur:
49
Leid , Tod, Erlösung, d.h. die Dynamik der Ana- und Katagenese, Schöpfung und Vernichtung,
und dann wieder Schöpfung. Bei MEYRINK aber ist der Ewige Jude, synkretistisch mit der
islamischen Figur des Chadir amalgamiert, kaum noch als Symbol fürs Judentum zu verstehen.
50
MEYRINKs Ewiger Jude ist nämlich ein unsichtbarer Seelenführer . Chidr ist eine arabische
Sagengestalt, eine zu allerlei Verwandlungen fähige Figur, die Reisenden begegnet und als
numinoser Helfer auftritt (siehe Elia im Judentum). Bei MEYRINK wird er zum Symbol einer
mystischen Vitalität, das vegetabilische Bild des Baumes (siehe in diesem Sinne das
51
kabbalistische Zentralsystem des sephirotischen Baumes ): MEYRINKs Chidher Grün symbolisiert
52
die Vereinigung des männlichen und des weiblichen Prinzips im sefirotischen Baum , also eine
coincidentia oppositorum, eine unio sacra. Auf der anderen Seite veranschaulicht die extreme
Antithetik Wassertrum-Hillel im Roman Der Golem die Unvereinbarkeit von Materie und
45
Ebd., S. 38.
Ebd., S. 104.
47
Joachim Kalka, ‘Das Unheimliche des Erzählens, Gustav Meyrink zwischen Okkultismus, Satire und Kolportage’, S.
112.
48
Marco Frenschkowski 1995, S. 130. Der Golem und Das grüne Gesicht sind, nach Frenschkowski, wie ich bereits
bemerkt habe, die zwei Schlüsseltexte der ganzen deutschen Phantastik (Ebd., S. 126).
49
Siehe Gustav Meyrink 1992, ‘Der Buddha ist meine Zuflucht’ und ‘Das ganze Sein ist flammend Leid’, S. 102-107,
bzw. S. 208-213; hier findet man eine Art Glaubensbekenntnis Meyrinks, was das Problem des Leides anbetrifft.
50
Marco Frenschkowski 1995, S. 133.
51
Ebd., S. 134.
52
Ebd., S. 139.
46
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53
54
Geist , von Immanenzverhaftetheit und Transzendierung ; diese Inkongruenz ist aber nicht als
endgültig zu betrachten, sie ist nicht eine undurchdringliche Grenze im Sinne von KANTs
insuperabile line, unüberwindlicher Grenze; sie ist nur eine Hypostase der Inkompatibilität
zwischen den zwei gegensätzlichen Welten. Diese Inkompatibilität kann man durch Initiation
überwinden: das ist das Ziel von MEYRINKs Werk, sowie von BLAKEs, NOVALIS’ und anderer
Romantiker Gesamtwerken. Diese extreme Inkompatibilität wird auch von der extremen Antithetik Mirjam-Rosina veranschaulicht: Mirjam ist die edle Gegenfigur zum Gassenmädchen
55
Rosina; Mirjam hat Talmud und Midrasch gelesen, sie ist naiv und unverdorben ; Rosina ist
eine Verführerin. Mirjam hat eine archetypische, numonise Natur:
Ein sonderbares Mädchen übrigens, diese Mirjam!
Ein Typus, wie ich ihn noch nie gesehen.
Eine Schönheit, so fremdartig, dass man sie im ersten Moment gar nicht fassen kann – eine Schönheit, die einen stumm macht, wenn man sie ansieht, ein unerklärliches Gefühl, so etwas wie leise
Mutlosigkeit, in einem erweckt.
Nach Proportionsgesetzen, die seit Jahrtausenden verlorengegangen sein müssen, ist dieses Gesicht
56
geformt [...].
So ist Mirjam eine Art ‘urfrauliches’ Bild (die JUNG’sche Animafigur), das nach arche57
typischen Gesetzen strukturiert ist :
Dass ich Mirjam viel zu oberflächlich beurteilt hatte, war klar [...] Schon ihr Gesichtsschnitt, der
hundertmal eher in die Zeit der sechsten ägyptischen Dynastie paßte – und selbst für diese noch
viel zu vergeistigt war – als in die unsrige mit ihren Verstandesmenschentypen, hätte mich warnen
58
müssen.
[Siehe denselben vergeistigten Typ von Frauen bei NOVALIS (Sophie, d.h. die himmlische
Weisheit, oder Mathilde, die himmlische Liebe), HÖLDERLIN (Diotima, d.h. Urania, das Himm59
lische-Uranische Licht) oder BLAKE (Jerusalem, d.h. die Freiheit des Geistes )].
Der mit dem islamischen Chidher identifizierte Ewige Jude (im Roman Das grüne Gesicht) ist
somit eine grosse geistige Führergestalt, ein Wegbegleiter zur JUNG’schen Individuation, zur
60
Selbstfindung des Protagonisten Hauberrisser . Athanasius Pernath im Roman Der Golem, auf
der anderen Seite, ist kein Jude, er lebt nur in der Prager Judenstadt des ausgehenden 19. Jahrhunderts bei Juden und in der Zeit der Assanierung, die offiziell erst 1917 abgeschlossen wurde,
er steht (drei Monate) im Gefängnis (das ist eine Art descensus ad inferos, eine Initiation, der
Archetyp des Abstiegs, die katagenetische Dynamik; nach dieser katabatischen Initiation ist die
53
Siehe bei Blake die Fragmentierung in der Schöpfung (division), die durch Urizen und die Gespenster (Spectres)
durchgeführt wird. Diese Fragmentierung weist auf die Unvereinbarkeit von Materie und Geist hin, da Urizen nach dem
Fall der Herrscher der Wässer des Materialismus ist.
54
Marco Frenschkowski 1995, S. 144.
55
Vgl. Meyrinkiana-Sammlung der Beyerischen Staatsbibliothek in München.
56
Gustav Meyrink, Der Golem, S. 115.
57
Siehe in diesem Sinne Blake: ‘those beautiful proportions / Of life & person; for as the Person, so is his life
proportion’d’ (William Blake 1979, The Four Zoas, IX, 140-141, S. 360).
58
Gustav Meyrink, Der Golem, S. 161.
59
Julia Rennert spricht von der ‘prometheischen Frau’ bei Blake, d.h. die Seele Amerikas (Julia C. Rennert 1995, S. 137),
die Versinnbildlichung des Strebens nach der Freiheit des Geistes, Jerusalem (spirituelle Freiheit).
60
Marco Frenschkowski 1995, S. 142.
66
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Meyrink und das theomorphische Menschenbild
61
tiefe Liebe zu Mirjam erwacht ), und, wie oben erwähnt, er ist das archetypische Bild des
Suchenden. Hillel ist in diesem Sinne eine Art Seelenführer, der seelenkundige kabbalistische
62
Weise, der in grosser Armut lebt und für Pernath zur Vaterfigur wird (zum Archetyp des guten
Vaters, des alten Weisen; Hillels christliche Güte ist augenfällig: die Bettler nämlich laufen vor
ihm davon, damit er ihnen nicht all sein Geld gibt und mit seiner Tochter selbst hungern muss).
Hillel ist somit die positive Lehrerfigur, die in völliger Gewissheit der Transzendenz lebt. Der
MEYRINK’sche Golem selbst ist, wie FRENSCHKOWSKI bemerkt, ein ambivalentes Symbol der
63
numinosen Kollektivseele des Ghettos : er ist das Bild des JUNG’schen kollektiven Unbewussten,
64
das über faszinierende Kräfte verfügt . Das Ghetto ist ausserdem eine Metapher für die
menschliche Existenz: für die Heimatlosigkeit inmitten von Menschen (siehe das Bild des
romantic outcast, des romantischen Ausgestossenen, z.B. bei BYRON, aber auch bei BLAKE: das
Bild Albions, als des vom Paradies Ausgestossenen), die das Ich des Erzählers Pernath zugleich
65
faszinieren und abstossen . In diesem Sinne ist das Bild des Ghettos (d.h. des Diesseits, der
physischen Welt) der Gegensatz des Hauses zur letzten Latern, das für MEYRINK ein Symbol für
die Transzendenz als Heimat ist. In diesem Haus zur letzten Latern erreicht Pernath sein Ziel
66
und seine Bestimmung . Das ist das letzte Ziel des MEYRINK’schen Helden, des Künstlers auf der
67
Suche nach sich selbst (wie etwa des romantischen Helden, der das Innere seiner SeelePsyche untersucht). Diese Tatsache definiert auch KUBINs Roman, Die andere Seite. KUBIN hatte
die Illustrationen für MEYRINKs Roman Der Golem gezeichnet, dann aber wurden diese zum
Nukleus von seinem eigenen Roman (Die andere Seite, München, Leipzig, Georg Müller, 1909).
Das Bild des Ghettos kann aber als Initiationsstufe auch das alchemische nigredo darstellen.
Es ist ein Bild des Eingesperrtseins, der Dunkelheit, also der schwarzen Phase des alchemischen
Prozesses, in der sich die katagenetische Dynamik sich am stärksten manifestiert, da in dieser
Phase alle Unreinheit beseitigt werden muss. Diese Dynamik ist im folgenden Text definiert:
Das Gefühl, als seien alle Dinge ringsum zu Asche zerfallen – als sinke der Raum mit rasender
Schnelle irgendwohin in einer unerklärlichen Richtung, immer tiefer hinab und hinab in das er68
stickende Reich der Vergangenheit [...].
Dieses Bild ist ein Ausdruck des alchemischen nigredo, das Ausbrennen aller Unreinheit
69
(siehe solche Bilder auch bei BLAKE ). Darauf folgt albedo oder geistige Erleuchtung, d.h. eben
61
Gustav Meyrink, Der Golem, S. 222-223.
Marco Frenschkowski 1995, S. 138.
Ebd., S. 139.
64
Das kollektive Unbewusste scheint auch eben in Meyrinks kreativer Tätigkeit operiert zu haben (auch wenn er
manche Informationen übernahm und überhaupt nicht wusste, was sie bedeuteten). So hatte Gerschom Scholem
Meyrink besucht, und Meyrink sagte ihm das folgende: ‘Ich habe das zwar geschrieben, weiss aber nicht, was es bedeutet. Vielleicht können Sie es mir erklären’; deswegen spricht Scholem von Meyrinks ‘Pseudokabbala’ (Gerschom
Scholem 1977-1994, S. 163-166, apud Marco Frenschkowski 1995, S. 151). Meyrink fragte Scholem auch: ‘Wissen Sie,
wo Gott wohnt?’, und Scholem antwortete: darauf ‘ [...] wo man ihn hereinlässt’. Das war Meyrink neu, und so kam er
zu seiner ersten Bekanntschaft mit dem berühmten Yogawerk The Serpent Power von Sir John Woodroffe alias Richard
Avalon, von dem Meyrink wahrscheinlich das einzige Exemplar in Deutschland besass (Vgl. Gerschom Scholem, 19771994, S. 169 ff., apud Joachim Kalka, ‘Das Unheimliche des Erzählens, Gustav Meyrink zwischen Okkultismus, Satire
und Kolportage’, S. 113).
65
Marco Frenschkowski 1995, S. 143.
66
Ebd., S. 143-144.
67
Ebd., S. 151.
68
Gustav Meyrink 1992, ‘Der Saturnring’, S. 90.
69
‘Falling, falling, Los fell & fell, /Sunk precipitant, heavy, down, down, / Times on times, night on night, day on day -’.
(William Blake 1979, The Book of Los, II, 5, 27-29, S. 258). Das ist ein kosmogonisches Fallen.
62
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was MEYRINK und jeder Artifex finden will. KHUNRATH zeigt in diesem Zusammenhang, es gibt
vier alchemische Phasen, die durch Vögel symbolisiert werden: putrefactio-Rabe (oder nigredo),
albedo-Schwan, cauda pavonis-männlicher Pfau (die Phase der scheinenden Farben) und
70
rubedo-Phönix . BLAKE verwendet in diesem Sinne das Bild des Schwanes als Symbol des
71
albedo in Jerusalem . NOVALIS, auf der anderen Seite, verwendet das Bild des Phönix als Symbol
des rubedo am Ende des Klingsohrsmärchens: Sophie - die himmlische Weisheit - ruft der Fabel
(Dichtung) zu: ‘Der Phönix gehört dir’, und auf den Flügeln des Phönix sitzt Fabel, über dem
Thron, der sich zum Hochzeitsbett verwandelt, schwebend. Wie HIEBEL zeigt, ist dieser ThronHochzeitsbett nichts anderes als das, was die Alchimisten die chymische Hochzeit nannten: das
ist der Phönix, der mit dem Bild des Feuers/der Flamme verbunden ist; der Phönix ist ein altes
Symbol der Alchimisten für die Auferstehung des Christus. Der Phönix ist in der Alchemie mit
72
dem Lapis, dem ‘güldenen Stein’ identisch, die Stufe der erlangten Initiation . JUNG hat in
diesem Sinne demonstriert, es gibt einen Isomorphismus zwischen dem Lapis und Christus.
MEYRINK auf der anderen Seite entwickelt das Symbol des Hauses zum Pfau, von dem Apulejus
Ochs im 1. Kapitel des Fragments Das Haus des Alchemisten sagt, dass es ihm ‘seit Jahren die
73
Welt bedeutet’ . MEYRINKs Asche kann deswegen auch auf das Bild des Phönix als Ausdruck
des rubedo, der höchsten alchemischen Stufe, hinweisen. MEYRINK verwendet aber auch das Bild
74
des Raben . So spricht er in der Erzählung ‘Das Fieber’ von einem ‘Traum von einem Raben, der
75
ein Herz ausgebrütet’ . Der Rabe versinnbildlicht das nigredo-putrefactio (siehe KHUNRATH),
76
und, da MEYRINK von einem ‘schneeweißen’ Raben spricht , kann er gleichzeitig auch das
77
albedo darstellen (den Übergang von nigredo zu albedo ). Das Herz kann tatsächlich das
rubedo symbolisieren. MEYRINK stellt deshalb durch zwei symbolische Elemente das ganze
alchemische Opus Magnum vor: die Individuation, die Vergeistigung, die Vergöttlichung. Die
78
Morphologie des descensus ad inferos spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass der Held
‘Down from the dismal North the Prince in thunders & thick clouds– / As when the thunderbolt down falleth on the
appointed place– / Fell down, down rushing, ruining, thundering, shuddering, / Into the Caverns of the Grave & places
of Human Seed / Where the impressions of Despair & Hope enroot forever: / A world of Darkness.’ (William Blake 1979,
The Four Zoas, III, 139-144, S. 295). Das ist das psychische-energetische Bild des Sündenfalles.
‘Then fell the Legions of Mystery in madd’ning confusion, / Down, down thro’ the immense, with outcry, fury & despair,
/ Into the wine presses of Luvah; howling fell the clusters / Of human families thro’ the deep’. (William Blake 1979, The
Four Zoas, IX, 722-725, S. 376). Das ist das Bild der Reinigung, wie bei Meyrink: das alchemische nigredo (‘the wine
presses of Luvah’ stellen das ontische Filter, anhand dessen die Reinigung verwirklicht werden kan). Blakes Emphase
‘down, down’, wie Meyrinks ‘immer tiefer hinab und hinab’, unterstreicht die katagenetische Dimension des nigredoputrefactio als eines ontischen Reinigungsprozesses.
70
H. Khunrath 1602, apud Alexander Roob 1997, S. 115.
71
William Blake 1979, Jerusalem, 11.
72
Friedrich Hiebel 1951, S. 139.
73
Meyrinkiana IV, S. 20, apud Manfred Lube 1980, S. 204. Lube zeigt, das Rad des Pfauen war im Glauben der Völker
(Vgl. Bächtold-Stäubli, Sp. 1568-70) ein Bild des gestirnten Firmaments, in der christlichen Kirche das Sinnbild der
Unsterblichkeit. Diesen Pfau aber wollte Meyrink auch als Alchemistensymbol verstanden wissen (Manfred Lube 1980,
S. 205). Nach Khunrath bedeutet der Pfau das alchemische cauda pavonis, die Phase der scheinenden Farben, d.h. die
Phase nach der Reinigung und Erleuchtung, und eben vor der grossen Vereinigung mit der Gottheit. Diese Phase der
alchemischen Transformation versteht Khunrath wahrscheinlich als Schwelle zwischen Erleuchtung und dem Beginn
der Vereinigung mit dem Göttlichen, in der sich das ganze Spektrum der Farben manifestiert.
74
Gustav Meyrink 1992, ‘Tschitrakarna, das vornehme Kamel’, S. 162-169; ‘Das Fieber’, Ebd., S. 254-260.
75
Gustav Meyrink 1992, ‘Das Fieber’, S. 254.
76
Ebd., S. 257.
77
Siehe ein ähnliches Bild: den weißen Neger, in Gustav Meyrink 1992, ‘Der Albino’, S. 303.
78
Die katagenetische Dimension/Dynamik des nigredo-putrefactio.
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Meyrink und das theomorphische Menschenbild
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in der Erzählung ‘Das Fieber’ ‘immer weiter ging [...] immer dem Sonnenuntergang zu’ . Der
Sonnenuntergang bedeutet, wie es ersichtlich war, die Katagenese, die De-Kosmisierung, oder
descensus ad inferos, die nächtliche Reise, das alchemische nigredo-putrefactio. UNDERHILL
spricht in diesem Zusammenhang von drei Phasen der alchemischen Transformation, in der das
prima materia drei Farben annimmt: schwarz, weiss und rot. Diese Farben entsprechen den
80
traditionellen Stadien des mystischen Pfades: Reinigung, Erleuchtung, Vereinigung . So be81
82
deutet nigredo Reinigung, albedo Erleuchtung , rubedo Vereinigung , d.h. die unsagbare Vereinigung des Begrenzten mit dem Unbegrenzten (siehe das Streben der Romantiker nach der
interliminalen Dimension, nach der Interfinität), die Vereinigung des Menschen mit Gott, deren
83
Eregebnis das Magnum Opus, der vergöttlichte oder spirituelle Mensch ist (der Rote Drachen).
Rubedo bedeutet also lunar-solare, weiblich-männliche, androgynische VereinigungErleuchtung (siehe BLAKE: Albion, dessen Name einen alchemischen Hinweis enthält - albedoErleuchtung -, ist der ursprüngliche Zwitter, und das Drama der Prophetischen Bücher findet in
seiner Psyche statt: Spaltung-Schöpfung-Ausdehnung – die drei Prozesse sind simultan; dann
finden aufeinanderfolgende Vereinigungen des Weiblichen mit dem Männlichen und zwischen
verschiedenen Einheiten statt, und letztlich die Vereinigung der ganzen Schöpfung mit dem
göttlichen Licht durch das Aufheben der physischen Sinne und das Öffnen der ewigen Welten).
MEYRINK stellt somit durch das Bild des schneeweißen Raben, der ein Herz ausgebrütet, möglicherweise das gesamte Magnum Opus vor (nigredo-albedo-rubedo, siehe UNDERHILLs Klassifizierung). In diesem Sinne sind MEYRINKs biblische Worte für die alchemische Interpretation
relevant: “Es Schien Das Licht In Der Finsternis, Und Die Finsternisse Haben Es Nicht Begriffen 84
85
-!” (siehe dazu das Tor zum Phönix aus der gleichnamigen Erzählung , das unserer Hinsicht
nach das Symbol des rubedo zweifelsohne enthält).
MEYRINK spricht des Weiteren häufig über Verwesung, und das ist offensichtlich das alchemische Bild des nigredo-putrefactio. KUBIN, auf der anderen Seite, verbindet das Symbol
des Pelikans mit dem Westen des Traumlandes, wo sich das Gebiet der Sümpfe befindet (ein
KUBIN’sches Bild für putrefactio), das für ihn eine Versinnbildlichung des descensus ad inferos
86
darstellt (er spricht von den ‘Dämonen des Sumpfes’ ). Der Archetyp/das Urbild des descensus
ad inferos weist aber offensichtlich auf das Christliche Opfer hin. In diesem Zusammenhang ist
für die christliche Ikonographie der Pelikan das Symbol des Todes und der Auferstehung Jesu
Christi; das KUBIN’sche Bild des Pelikans ist darum mit dem alchemischen Symbol des Phönix87
rubedo verbunden . Nigredo (das descensus ad inferos) bedeutet in diesem Sinne das Ausbrennen des Gefängnisses, d.h. der Ursache des MEYRINK’schen Eingesperrtseins: die Unreinheit
der Welt. Nur die Vergeistigung kann diesen Zustand des Eingesperrtseins vernichten, und so
79
Gustav Meyrink1992, ‘Das Fieber’, S. 255; siehe auch das Bild der roten Strahlen der sinkenden Sonne in Gustav
Meyrink 1992, ‘Chimäre’, S. 320.
80
Evelyn Underhill 1995, S. 239.
81
Der Zustand des Mondes oder des Silbers; ‘die reine jungfräuliche Königin’, der Pfad der Erleuchtung, der höchste
Gipfel vor der Vereinigung mit dem Absoluten.
82
Die Vervollkommnung des alchemischen Goldes, ‘die Heirat des Mondes mit der Sonne’, die Vereinigung des menschlichen Geistes mit dem göttlichen; siehe Blake: für ihn ist die Vereinigung der Seele mit Gott das Ziel des Werkes.
83
Evelyn Underhill 1995, S. 239-240.
84
Gustav Meyrink 1992, ‘Das Fieber’, S. 258.
85
Vgl. Meyrinkiana V, 28, apud Manfred Lube 1980, S. 116.
86
Alfred Kubin, Die andere Seite, S. 105.
87
Jean Chevalier und Alain Geerbrant 1994, Bd. 3, S. 64.
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dem Geist seine Freiheit wiedergeben (eben was Christus durch seinen Tod und Auferstehung
erfüllt hat). Das ist das Ziel des Magnum Opus, und das ist MEYRINKs Hoffnung.
MEYRINK interessieren fast ausschliesslich archetypische Kategorien: Wiederholung (siehe
die Kraft des Mythos zu wiederholen, und die Kraft der Sprache zu wiederholen, so wie DELEUZE
88
89
aufweist ), Nachahmung, Unendlichkeit (siehe die Romantik), Fühllosigkeit (siehe JUNGs
Schatten als Archetyp der negativen Persönlichkeit, des ‘Trickster’). So sagt MEYRINK in ‘Bal
Macabre’:
90
Zwischen Sekunde und Sekunde liegt immer eine Grenze, die ist nicht in der Zeit , die ist nur gedacht. Das sind so Maschen, wie bei einem Netz [...] und diese Grenzen zusammengezählt sind
noch immer keine Zeit, aber wir denken sie doch [...] Und wenn wir nun in diesen Grenzen leben
und die Minuten und Sekunden vergessen und nicht mehr wissen, - dann sind wir gestorben, dann
leben wir den Tod. [...] Da ist Ruhe, immer Ruhe. [...] Da ist die schweigende Gegenwart, die ihr
nicht kennt, da ist kein Früher und kein Später.
Da liegt die schweigende Gegenwart, die ihr nicht kennt! – Das sind die verborgenen Maschen
91
zwischen Sekunde und Sekunde im Netz der Zeit.
Mit anderen Worten (und von WILBERs Perspektive), die Zeitlichkeit ist nicht ein kontinuierlicher, sondern ein diskontinuierlicher Prozess, deshalb können auch die Phänomene sich entwickeln, deshalb können die Lebewesen physische und geistige Sprünge erleben.
Der Augenblick, der zur göttlichen Welt führt ist NOVALIS’ blaue Blume. MEYRINK glaubt, es
gibt einen solchen Augenblick überall in der zeitlichen Sphäre. So ist die zeitliche Sphäre für
die ewige ganz durchdringlich und durchsichtig (das entspricht der christlichen Lehre): das
Göttliche kann überall in der physischen Sphäre Fenster zum Himmel öffnen (das scheint auch
BLAKEs Meinung zu sein: siehe sein spiritual sensation). Aber die ewige Gegenwart des Überzeitlichen ist in MEYRINKs Beschreibung, wie man bemerken kann, mit dem Tod vergleichbar: es ist
natürlich eine negative Darstellung der geistigen Welt. Das ist ein Ausdruck von MEYRINKs
Relativismus (siehe auch NOVALIS’ Relativismus): die Zeit ist eine psychische Erscheinung, sie
hängt vom Beobachter ab: wenn dieser die Zeit vergisst (d.h. wenn er nicht mehr den Zeitverlauf wahrnimmt), so hört sie auf zu existieren.
Es gibt eine ständige Spannung in MEYRINKs Werk, eine wesentliche Ambivalenz, die sich in
der esoterischen Suche stets nach etwas hinter allem Gegenständlichen, hinter dem sprachlich
92
Vermittelbaren , widerspiegelt: das ist eine Suche nach der Welt der Archetypen (wie ich
bereits gezeigt habe, alle Erscheinungen des Wunderlichen, Seltsamen und Sonderbaren laden
in der Romantik zu Einweihungen/Einführungen ein: sie alle sind Schwellenmotive, die meta-
88
Gilles Deleuze 1995.
Kalka interpretiert diese Kategorien als kalte Abstraktionen. Vgl. Joachim Kalka, ‘Das Unheimliche des Erzählens,
Gustav Meyrink zwischen Okkultismus, Satire und Kolportage’, S. 114.
90
Siehe Blake: es gibt einen einmaligen und vereinigenden Augenblick jedes Nacht-Tag-Zyklus; wenn man diesen
findet, transzendiert man die Zeitlichkeit: man tritt ins illud tempus, in den Individuationszustand, in die Welt der
Archetypen ein: ‘There is a Moment in each Day that Satan cannot find, / Nor can his Watch Fiends find it; but the
Industrious find / This Moment & it multiply, & when it once is found / It renovates every Moment of the Day if rightly
placed’, (William Blake 1979, Milton, 35, 42-45, S. 526).
91
Gustav Meyrink 1992, ‘Bal Macabre’, S. 67.
92
Joachim Kalka, ‘Das Unheimliche des Erzählens, Gustav Meyrink zwischen Okkultismus, Satire und Kolportage’, S.
117.
89
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Meyrink und das theomorphische Menschenbild
physische Erkenntnis versprechen, so dass die ganze romantische Dichtung Übergangsdichtung
ist, die einen Hinteren Raum zu erschliessen sucht: die Welt der Archetypen).
Diese Suche nach etwas hinter allem Gegenständlichen führt im besonderen im Roman Das
grüne Gesicht zu einer stets höheren Wachheit:
Von einer Sprosse immer hellern und hellern Wachseins zur andern mußt du steigen, wenn du den
93
Tod überwinden willst, dessen Rüstzeug: Schlaf, Traum und Betäubung sind.
Das ständige Gewinnen an Wachheit aber, nach TEILHARD DE CHARDINs System, bedeutet auch
ein Gewinnen an Komplexität, d.h. an Bewusstsein (‘das Gesetz der Komplexität und des
Bewusstseins’, das TEILHARD DE CHARDIN formulierte, und das den Prozess der Entwicklung
steuert, beschreibt ein äusserst einfaches Phänomen: ‘je mehr Komplexität es gibt, desto mehr
94
Bewusstsein gibt es’ ). Die MEYRINK’sche Suche nach höherer Wachheit bedeutet demnach die
JUNG’sche Individuation, den Prozess, durch den der Mensch zu immer höheren Bewusstseinszuständen gelangt. Dieser Prozess ist der Weg zum Zentrum, der ‘schwierige Weg’ (das
95
Durohana der Inder) , der diskontinuierliche psychische Ablauf, die Einweihung, die
96
Konsekrierung, der Zugang zum Realen, zum Dauerhaften, zum Wirksamen . Wachheit ist für
MEYRINK der Schlüssel zum Steuern des Innern und zur Wahrheit:
Der Schlüssel zur Macht über die innere Natur ist verrostet seit der Sintflut. Er heisst: - - Wach sein.
97
Wach sein ist alles ; Es gibt nur ein wahres Wachsein.
98
Das ist ein unendlicher Prozess:
Das ist der erste zögernde Schritt zu einer langen, langen Wanderung von Knechttum zu
Allmacht.
Auf diese Art geh vorwärts von Aufwachen zu Aufwachen [...] Lies die heiligen Schriften der Völker
der Erde: durch alle zieht sich wie ein roter Faden die verborgene Lehre vom Wachsein; - es ist die
Himmelsleiter Jakobs, der mit dem Engel des Herrn die ganze “Nacht” gerungen hat, bis es “Tag”
99
wurde und er den Sieg gewann.
In dieser Hinsicht ist MEYRINKs und BLAKEs Denken gleichartig; BLAKE ausserdem verwendet
das Bild der Himmelsleiter Jakobs als Bild der Golgonooza (das der ganzen Schöpfung selbst).
So bedeutet das Reale von BLAKEs und MEYRINKs Perspektive Wachsein, das unendliche Wachsen
des Bewusstseins, oder, in JUNG’scher Terminologie, die endlose Individuation-Assimilierung des
kollektiven Unbewussten.
Wachheit ist demnach der Schlüssel zur Welt der transzendentalen und immanenten
Archetypen. Nur durch Wachheit kann der Mensch Zugang zur göttlichen Welt gewinnen: ‘In
100
Wahrheit unsterblich ist nur der erwachte Mensch’ . Aber MEYRINK definiert die Menschen als
93
Das grüne Gesicht, 1917, S. 249, Vgl. Joachim Kalka, ‘Das Unheimliche des Erzählens, Gustav Meyrink zwischen
Okkultismus, Satire und Kolportage’, S. 117.
94
Ken Wilber 1995, S. 113.
95
Vgl. Mircea Eliade 1999a, S. 23.
96
Ebd., S. 24.
97
Gustav Meyrink, Das grüne Gesicht, S. 207.
98
Gustav Meyrink, Der Golem, S. 80.
99
Gustav Meyrink, Das grüne Gesicht, S. 208.
100
Ebd., S. 260.
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101
‘schlafende Götter’. BLAKEs Anschauung ist identisch: Albion, der ursprüngliche Mensch ist
der Schlafende auf dem Felsen der Ewigkeit:
Awake, thou sleeper on the Rock of Eternity! Albion awake!
The trumpet of Judgment hath twice sounded: all Nations are awake,
But thou art still heavy and dull. Awake, Albion awake!
Lo, Orc arises on the Atlantic. Lo, his blood and fire
Glow on America’s shore. Albion turns upon his Couch:
He listens to the sounds of War, astonishd and confounded:
He weeps into the Atlantic deep, yet still in dismal dreams
102
Unwaken’d [...].
Der Urmensch wird somit nach dem Sündenfall zu einem schlafenden Gott.
Das Schlafen bedeutet für MEYRINK (wie für BLAKE) das Eingesperrtsein in der Welt des Unbewussten, ohne dass das Bewusstsein die Möglichkeit haben könne, die Inhalte dieses Un103
bewussten zu assimilieren (wie es im Prozess der Individuation der Fall ist ). Deswegen ist das
104
MEYRINK’sche Weltbild das Bild einer vergitterten Welt :
Die Träumenden [...] sehen durch die Maschen eine vergitterte Welt, - sie erblicken nur irreführende
Ausschnitte, richten ihr Handeln darnach ein und wissen nicht, dass diese Bilder bloß sinnloses
105
Stückwerk eines gewaltigen Ganzen sind.
101
Ebd., S. 209.
William Blake 1979, Milton, 1, 23, 3-10, S. 506.
103
Novalis sagt in diesem Sinne im Allgemeinen Brouillon, ‘einst wird der Mensch beständig zugleich schlafen und
wachen’ (Hans-Joachim Mähl 1986, S. 373.). Das ist praktisch Jungs Idee der Individuation; in diesem Zustand sind das
individuelle und das kollektive Unbewusste und das Bewusstsein in einem dynamischen Gleichgewicht, indem das
Bewusstsein den Thesaurus Intelligibilium des Unbewussten assimiliert; der ‘individuierte’ Zustand. Muschg ist der
Meinung, dass die Romantik hat jetzt drei wirksame Potenziale: die Verabsolutierung der Poesie (als einer
hierophanischen, göttlichen Sprache), die Reanimation der Mythen (also die Reanimation der Archetypen), und die
Vergeistigung der Welt (der Begriff des Geistes selbst ist ein bürgerlich gewordener Spross der Romantik) (Adolf
Muschg 1993, S. 9.). So muss der Mensch, nach dem romantischen Programm, nur die Schwelle überschreiten, welche
zum Dialog der Unitotalität, zur unendlichen Kommunikation führt.
104
Es gibt in Meyrinks Werk sehr viele Bilder des physischen und geistigen-psychischen Eingesperrtseins: das verschlossene Zimmer, worin man die Gespenster gabannt hat (d.h. die physische Welt, in der das kollektive Unbewusste
versperrt ist), das Gemach ohne Zugang, das vergitterte Fenster des Innern (auch das Verschliessen der Tore der Sinne:
‘Verschlossen wurden da die Tore seiner Sinne’, Gustav Meyrink 1992, ‘Der Buddha ist meine Zuflucht’, S. 104), das
Zusammensperren starker Tiere (Meyrink 1992, ‘Schöpsoglobin’, S. 132), das Zimmer, dessen Eingang niemand finden
kann (Meyrink, Der Golem, S. 58), die verschlossenen Herzen (Meyrink, Der Golem, S. 68), ‘die Reihe der Begebenheiten
im Leben’ als ‘Sackgasse’ (Meyrink, Der Golem, S. 84), das Zimmer ohne Zugang (Meyrink, Der Golem, S. 265), die Sträflingszellen (Gustav Meyrink 1992, ‘Das ganze Sein ist flammend Leid’, S. 208), menschliche Schemen, gefesselt an
Händen und Füssen (Gustav Meyrink 1992, ‘Der Tod des Selchers Schmel’, S. 217) (siehe auch bei Blake solche Bilder
von Menschen, gefesselt an Händen und Füssen, z.B. die Illustrationen für The Visions of the Daughters of Albion), der
Kern in der Nuß (Gustav Meyrink 1992, ‘Der Albino’, S. 297), das blinkende Zepter gefesselter, schlafender Macht
(Gustav Meyrink 1992, ‘Chimäre’, S. 319), das gebundene, gefangene Leben (Gustav Meyrink 1992, ‘Der Schrecken’, S.
374), das Eingeschlossensein im gläsernen Tempel (Gustav Meyrink 1992, ‘Der Untergang’, S. 387). Siehe auch Kubins
Bild: die Erde als hölzernes Gefängnis (Alfred Kubin, Die andere Seite, S. 126).
105
Gustav Meyrink, Das grüne Gesicht, S. 207.
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Meyrink und das theomorphische Menschenbild
Die Idee des gewaltigen Ganzen gehört freilich der Lehre von der Grossen Kette des Seins,
und ist die Hauptquelle der holonischen Theorie. Das Bild der vergitterten Welt findet man auch
bei BLAKE im berühmten Bild des mind-forg’d manacles:
In every cry of every Man,
In every Infant’s cry of fear,
In every voice, in every ban,
The mind-forg'd manacles I hear.
106
Die Erde, mit anderen Worten, ist vergittert, weil der Mensch sie mit seinem Geist, der
seinen Körper steuert, vergittert hat; die Ketten der Materie sind die Ketten des Geistes. So
kann sich der Mensch befreien, nur wenn er die psychischen Ketten losreisst. In diesem Zusammenhang zeigt MEYRINK, dass das Paradies kein Ort ist, sondern ein Zustand:
Natürlich ist das Paradies kein Ort, sondern ein Zustand; das Leben auf Erden ist doch auch nur ein
107
Zustand.
So sind MEYRINKs und BLAKEs Denksysteme isomorph und archetypisch.
Gott ist für MEYRINK auch nur ein Zustand, den der Mensch erreichen muss:
Was der Fromme für Gott hält, ist nur ein Zustand, den er erreichen könnte, wenn er fähig wäre, an
108
sich selbst zu glauben.
Die Götter sind also, wie im JUNG’schen System, psychische Kräfte oder Zustände. Die Götter
sind also die Prinzipien, die vom Bewusstsein assimiliert werden müssen, wenn der Mensch
seine selbst geschaffenen Ketten losreissen will, wenn er die BLAKE’schen mind-forg'd manacles
entzweibrechen will.
In diesem Sinne ist MEYRINK (so wie BLAKE), wie KALKA bemerkt, ein Meister des Zerreissens
von Realitätsgefügen, des Öffnens von Spalten und Rissen mit ihren subversiven Per109
spektiven . Dieser Raum des Öffnens von Spalten und Rissen ist eben der Raum der psychischen Entwicklung, der ontischen Sprünge (siehe WILBER, LASZLO, PRIGOGINE, usw.). Wenn er in
den Romanen am Ende die Welt wieder in der Ewigkeit zusammenfügen will, endet die
110
Phantastik: da beginnt die Offenbarung eines esoterischen Weges der Verwandlung . Diese
Verwandlung-Individuation entspricht der zeitgenössischen Philosophie des ‘gesteigerten
111
Lebens’ und der Kultivierung des Nicht-Alltäglichen in der Literatur .
In diesem Sinne spiegelt der gespenstische Handlungsraum des Prager Ghettos den
Menschen in der ontischen Krise wider: das ist der Ort der Angst und der existentiellen Bedrohung, beherrscht von Hass und latenter Aggression (primitive menschliche Eigenschaften),
106
William Blake 1979, Songs of Experience, ‘London’, S. 216.
Gustav Meyrink, Das grüne Gesicht, S. 241.
108
Ebd., S. 260.
109
Joachim Kalka, ‘Das Unheimliche des Erzählens, Gustav Meyrink zwischen Okkultismus, Satire und Kolportage’, S.
124. Siehe Blakes Fragmentierung (division), die aber im Blakeschen System auch eine kreative Funktion hat: die
Schöpfung ist nur durch Fall-Fragmentierung möglich, die Schöpfung bedeutet somit die Spaltung des einheitlichen
Prinzips, d.h. die Geburt der Mehrheit aus der göttlichen ursprünglichen Einheit. Siehe auch die wesentliche Funktion
des Fragmentarischen in der Romantik.
110
Ebd.
111
Vgl. Clemens Ruthner, ‘Jenseits der Moderne, Abriß und Problemgeschichte der deutsch-sprachigen Phantastik
1890-1930’, S. 81.
107
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das ist das verschlingende Inferno heilloser Menschenverachtung, die existentielle Sackgasse,
112
die Welt des Zwielichtes und der dämmernden Schatten , die Sphäre der Negativität, der
chthonischen, lunaren Kräfte. So ist der Golem eine Art Hohlform, eine Verkörperung des Un113
fertigen (siehe die Natur des JUNG’schen Schattenarchetyps als Persönlichkeitskomponente:
jene Eigenschaften und Fähigkeiten, die verdrängt wurden, oder einfach unentwickelt blieben),
und gleichzeitig eine Herausforderung, sich auf die eigentliche humane Identität zu besinnen,
deren Vollendung die Überwindung des Golems voraussetzt (der Prozess der JUNGschen
Individuation setzt auch die Überwindung des Schattens voraus: das bedeutet die Assimilierung
der Inhalte des kollektiven und des persönlichen Unbewussten). So ist der MEYRINK’sche Golem
eine amorphe Erscheinungsweise, eine gespenstische Figuration der Identitätsängste. Das
Ghetto ist in diesem Zusammenhang, nach RUTHNER, die räumliche Krisenchiffre für die
Situation des modernen Menschen; die MEYRINK’sche phantastische Szenerie ist aber eklektisch:
114
sie enthält Elemente aus der Kabbala, der Alchemie, der ägyptischen Mythologie, usw .
Athanasius Pernath ist somit MEYRINKs Demonstrationsfigur einer exemplarischen Erlösungsgeschichte. Die Rückgewinnung von Pernaths lebensgeschichtlichen Einheit führt zu seiner
Wiedergeburt und in die Athanasie, d.h. Unsterblichkeit: am Anfang seines Weges steht der
Golem (der Archetyp des Schattens) als unvollendete Hohlform und am Ende der gekrönte
115
Hermaphrodit als Erlösungsfigur, in der sich Weibliches und Männliches harmonisch voll116
enden . Die Individuation bei MEYRINK bedeutet also die Verschmelzung des individuellen
Menschen mit dem universellen Sein, und dadurch wird das unvollkommene Bild (der Golem)
117
wieder eins mit seinem kosmischen Urbild (das Archetyp des Lichtes): der Schatten (das
Lunare, das Chthonische, das Negative) wird vom Bewusstsein (das Licht, das Solare, das
Uranische, das Positive) assimiliert. Das entspricht der kabbalistischen Lehre von der Einheit des
118
Mikro- und Makrokosmos . Der Mensch als Mikrokosmos ist eins mit dem Weltall; das ist die
Theorie der Entsprechungen, die man nicht nur im kabbalistischen Denken trifft: sie ist
fundamental eben auch für das organische Denksystem der Romantiker.
Es gibt, nach MEYRINK, magnetische Strömungen, die den einzelnen Menschen mit dem
Weltall verbinden:
Das Leben des Menschen [...] setzt sich aus mehreren magnetischen Strömungen zusammen, die
119
teils innerhalb, teils außerhalb des Körpers kreisen.
So ist MEYRINKs Denken mit dem organischen Denksystem der Romantiker eng verbunden.
Im Roman Der Golem ist das Endziel des Weges ein rechteckiger Bau aus gelbem Stein, wo
Osiris mit dem Kopf eines Hasen auftaucht. Osiris aber, wie JUNG bemerkt, hat nie einen Hasenkopf in der ägyptischen Tradition gehabt; das musste MEYRINK erfunden haben, und dabei ist es
112
Ebd., S. 89. Ruthner bemerkt, es gibt in diesem Roman Verweise auf die Entwicklung zur Massengesellschaft in der
Phase der Industrialisierung, auf die Krise des bürgerlichen liberalen Individuums unter dem Druck kollektiver Entfremdung (Ebd.).
113
Ebd.
114
Ebd.
115
Der Held im Golem kommt am Ende zu einem verschlossenen Tor; dieses versperrte Tor trägt das Symbol des
Hermaphroditen.
116
Clemens Ruthner, ‘Jenseits der Moderne’, S. 90.
117
Ebd.
118
Ruthner zeigt, es gibt einen kabbalistischen Heilsentwurf im Roman Das grüne Gesicht, einen yogistischen im
Weißen Dominikaner, und einen taoistischen im Engel vom Westlichen Fenster, (Ebd., S. 90).
119
Gustav Meyrink 1992, ‘Das Wachsfigurenkabinett’, S. 124.
74
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Meyrink und das theomorphische Menschenbild
vielleicht wichtig zu erwähnen, dass Set in derselben Tradition, der der Widersacher von Osiris
ist, einen Tierkopf mit langen Ohren trägt (Set ist der ägyptische Teufel, der einen Hasenkopf,
120
Eselkopf oder den Kopf eines Okapi, einer Art Antilope von Kongogebiet, hat ). MEYRINK kann
deshalb dadurch (durch das Bild des Osiris mit dem Kopf eines Hasen) ein ambivalentes Symbol
darstellen wollen: die Vereinigung des Lichtprinzips und des Prinzips der Dunkelheit im Bild des
gekrönten Hermaphroditen, das eine Erlösungsfigur darstellt, in der sich Weibliches (das
Chthonische-Nächtliche-Irdische-Unbewusste) und Männliches (das Uranische-SolareHimmlische-Bewusste) harmonisch vollenden. BLAKE selbst spricht in Milton und Jerusalem von
121
dem ‘Female-male’ und der ‘Male-female’ , welche Vorbilder (diese sind trotzdem, wegen des
spirituellen Falles, missgestaltete Vorbilder) des individuierten Menschen androgynischer Natur
122
sind (siehe JUNG: Anima ist die Frau im Manne, und Animus der innere Mann in der Frau ).
Mirjam erklärt dem Herrn Pernath die Natur dieser Transformation:
Also, wenn ich sage, ich muß doch einmal heiraten, so meine ich damit [...] Es gehört mit zu
meinen Träumen [...] mir vorzustellen, daß es ein Endziel sei, wenn zwei Wesen zu einem verschmelzen – zu dem, was -- haben Sie nie von dem ägyptischen Osiriskult gehört? – zu dem verschmelzen, was der “Hermaphrodit” als Symbol bedeuten mag [...] Ich meine: Die magische Vereinigung von Männlich und Weiblich im Menschengeschlecht zu einem Halbgott. Als Endziel! –
123
Nein, nicht als Endziel, als Beginn eines neuen Weges, der ewig ist – kein Ende hat.
Man kann freilich in dieser Anschauung von MEYRINK das romantische Programm der unendlichen Fülle in unendlicher Einheit wiederfinden.
JUNG zeigt in diesem Zusammenhang, die Juden haben einen Eselkopf in Jerusalem angebetet und sie widersetzten sich der Anbetung des Osiris; so verehrten sie dessen Widersacher,
Set. Isis und Horus (Horus ist der Sohn von Isis und Osiris), auf der anderen Seite, sind als Vor124
läufer von Maria und Christus erwähnt , darum spielen die ägyptischen Elemente in der
MEYRINK’schen Symbolik letztendlich die Funktion einer christlichen Epiphanie (das Bild von
Osiris am Ende des Romans deutet auf die christliche Vergöttlichung-Individuation hin).
Die Vereinigung des Mikro- und Makrokosmos (bzw. des Bewussten und Unbewussten) wird
bei MEYRINK im Golem auch durch eine berühmte Episode symbolisiert: der Held dieses Romans
setzt nähmlich statt des seinigen einen fremden Hut (den des Athanasius Pernath) auf, und so,
wie JUNG gezeigt hat, wird er in ein fremdes, phantastisches Erleben versetzt, in das ihn das
Unbewusste verstrickt. Der fremde Hut verleiht ihm (dem MEYRINK’schen Träumer) nähmlich die
fremde Natur des Menschen, dem der Hut eigentlich gehört (d.h.Athanasius Pernath), da der
Hut wie eine Obervorstellung ist, die die ganze Persönlichkeit eines Menschen enthält, und
genauso wie die Krönung dem Herrscher die göttliche Sonnennatur erteilt und der Doktorhut
dem Doktor die Gelehrtenwürde, so wirkt diese Hutumtauschung wie ein Hervortreten des Unbewussten. Das Unbewusste steht nähmlich wie ein Schatten mit seinen Figuren hinter ihm,
und drängt in das Bewusstsein (siehe JUNGs Beschreibung der Individuation). Dieser Hut aber ist
ein Hut eines Athanasius, d.h. eines Unsterblichen, eines Zeitlosen, eines allgemeingültigen,
archetypischen, immer existierenden Menschen, der sich vom einmaligen Individuum unterscheidet. Der Hut, der den Kopf umfängt ist rund wie der Sonnenkreis der Krone, und das ist,
120
C.G. Jung 1991, S. 322-323.
William Blake 1979, Milton, I, 19, 33 und Jerusalem, III, 75, 14-18.
122
Marie-Louise von Franz 1994, S. 336-345.
123
Gustav Meyrink, Der Golem, S. 179.
124
C.G. Jung 1991, S. 323.
121
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nach JUNG, eine Anspielung aufs Mandala, und somit auf eine unvergängliche Dauer, die dem
125
Helden eben durch die Mandalanatur des Hutes erteilt wird : das ist seine Individuation, seine
Vergöttlichung.
Der Weg der Individuation ist aber ein schwieriger (siehe das Durohana der Inder), und es
ist interessant zu bemerken, was JUNG unterstreicht: dem Helden des Romans Der Golem von
MEYRINK bot das Gespenst [d.h. der Golem, das kollektive Unbewusste; MEYRINK selbst spricht
126
von dem Gespenst als von dem ‘Symbol der Massenseele’ ; “Meschliche Antlitze zogen in
langen Reihen an mir vorüber [...] mein eigenes Geschlecht, meine eigenen Vorfahren [...]
durch Jahrhunderte heran, bis die Züge mir bekannter und bekannter wurden und in ein letztes
Gesicht zusammenflossen: das Gesicht des Golem, mit dem die Kette meiner Ahnen ab127
brach” ; so ist der Golem die archetyische Kristallisierung der Epochen und des Zeitgeistes, er
ist das kollektive Unbewusste] eine Handvoll Körner an, die er aber verwarf: JUNG erklärt in
diesem Zusammenhang, dass der Stein (lapis) schwer zu finden ist, weil er ‘exilis’ unansehnlich
ist [die Körner scheinen keinen Wert zu haben, aber die sind eben die Manifestierung einer
Epiphanie, des philosophischen Steines (Lapis); siehe die Analyse auf alchemischer Ebene], weil
er ‘in via eiectus invenitur’, weil er das Billigste ist, das überall vorkommt, ‘in planitie, in
128
montibus et aquis’ . Damit will JUNG bemerken, dass MEYRINKs Roman ein alchemischer ist;
unserer Hinsicht nach, entspricht das der Wahrheit, wie es weiter noch ersichtlich sein wird.
Diese chiffrierten Inhalte, die JUNG entdeckt hat, bedeuten eben die Manifestierung der
‘anderen Seite’, d.h. der psychischen unsichtbaren Prozesse: der dynamischen Welt der Archetypen, der Welt des Thesaurus Intelligibilium. Diese andere Seite, die im vorliegenden Papier
analysiert wird, so wie sie mit den Augen eines KUBIN, MEYRINK, BLAKE oder NOVALIS gesehen
wird, ist für die oben erwähnten Autoren, nach JUNG, die intuitive Funktion als Lebens129
trägerin (die ontische Funktion des kollektiven Unbewussten ist, nach JUNG, die folgende:
das Unbewusste ist die Matrix der Zukunft, die Gebärmutter aller Schöpfung). Diese andere
Seite des Intrapsychischen ist darum immer phantastisch, da dort immer die diskreten
psychischen-geistigen Phänomene stattfinden; das ist die Sphäre des paradoxen
Differenzierten-Einheitlichen, des geistig Monistisch-Unterschiedlichen, die Sphäre der
Unitotalität. Aber MEYRINK, wie JUNG, glaubt, dass das Archetypische an sich eigentlich sehr
einfach ist: es kann durch die einfachen Zahlen ausgedrückt werden. Hier sind MEYRINKs eigene
Worte:
[D]as letzte fehlende Glied in der Kette: Mathematische, rein gedankliche Größen die Achsen des
Weltalls!
Kein Rest, kein Kern mehr, um den sich die Eigenschaften scharen, bloß Gleichgewichtgebärende
130
Zahlen; - und ihr Verhältnis zueinander allein des Lebens einzige Wurzel .
Je tiefer man auf holarchische Ebene absteigt, desto mehr nähert man sich den ‘Bausteinen’
der Wirklichkeit, welche die Pythagoreer, aber auch JUNG, GÖDEL, CANTOR, und, wie es ersichtlich
ist, MEYRINK, mit den Zahlen identifizierten. CANTOR, wie GÖDEL, glaubte, die Zahlen sind Gottes
125
C.G. Jung, 1971-1990a, S. 176.
Gustav Meyrink, Der Golem, S. 51-52.
127
Ebd., S. 155.
128
C.G. Jung 1971-1990a, S. 193.
129
Vgl. C.G. Jung, 1971-1990b, S. 80.
130
Gustav Meyrink 1992, ‘Das verdunstete Gehirn’, S. 242.
126
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Meyrink und das theomorphische Menschenbild
131
Bausteine . HEISENBERG und JEANS, auf der anderen Seite, glaubten auch, wie MEYRINK, die
höchsten Bausteine des Universums sind mathematische Formen (MEYRINKs Mathematische,
rein gedankliche Größen als Achsen des Weltalls), die nur den Augen des Verstandes sichtbar
sind; diese sind natürlich mit den Formen der Vernunft oder den Ideen (als grossen Mustern,
auf denen die ganze Welt der Erscheinung ruht) PLATOs und PYTHAGORAS’ vergleichbar. WILBER
fasst die archetypische Hypothese wie folgt zusammen: die physische Welt wird als Reduktion
oder Kondensierung der grossen psychischen Formen, die sich jenseits der Sinneswahrnehmung
132
befinden, betrachtet; diese Formen enthalten in potentia alle möglichen Welten . MEYRINKs
Denksystem deswegen schliesst die archetypische Hypothese zweifellos ein, und dadurch seine
romantische Tendenz beweist.
Diese Hypothese spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass der Held im Roman Der
Golem eine Reihe von Visionen hat und sein Bewusstsein verliert, da er in die bodenlose Tiefe
133
des Unbewussten stürtzt , und dadurch unbekannte mnemische Inhalte aus dem kollektiven
Unbewussten aktiviert (er sieht Figuren, die einen Kreis um ihn bilden und goldene Hiero134
glyphen auf der Brust tragen; das ist ein magischer Kreis, den JUNG als Individuation deutet ;
JUNG glaubt, die erwähnten Körner, die der Held ablehnt, sind er selbst, deshalb kommen sie auf
ihn zu, und um ihn einen magischen Kreis bilden). So ist Der Golem, nach JUNG, ein Versuch,
sich mit Figuren des kollektiven Unbewussten auseinanderzusetzen: Mirjam, eine Jüdin, ist die
Animafigur; Hillel, ihr Vater, ein alter Kabbalist, ist das typische Bild des weisen Alten (der
weise Alte steht oft physisch oder spirituell in einer vaterähnlichen Beziehung zur Anima); der
Golem ist das furchterregende Ding, das Negative-Numinose (sehr ambivalent); Athanasius
Pernath ist eine geheimnisvolle Figur, die merkwürdige Gestalt, die zu Beginn als Liebhaber von
Mirjam auftaucht, und für die sich auch der Held der Geschichte interessiert; durch den Hut
gelangen die Phantasien und Ideen von Athanasius, dem Unsterblichen, in seinen Kopf;
135
Athanasius ist, nach JUNG, der unsterbliche Anteil des Helden , das Zentrum, das Mandala, der
‘Diamantkörper’ (‘der Funke des ewigen Feuers’), der ‘Seefalke’, Nous, der unsterbliche Weltgeist, der vom Himmel ins Meer hinabstieg, durch den alles entstanden ist. So ist der Mensch in
136
der MEYRINK’schen Weltanschauung ein chaotisches Meer, in das ein göttlicher Funke fällt .
Der Golem ist eine völlig negative Figur, der totale Schatten des Unsterblichen. Er begann in
der jüdischen Tradition als ein Klumpen Ton, und wurde durch Magie zum Leben erweckt, indem man den heiligen Namen auf seine Stirn schrieb; so ist der Golem ein lebendiges Geschöpf,
das keine Seele hat, ein Mechanismus, der nur dadurch getötet werden kann, dass man den
Namen auslöscht. MEYRINK benutzt ihn als Personifizierung des schrecklichen Ungemachs, das
137
den Helden durch seine Visionen befällt (jede religiöse Einweihung setzt Risiken und Ge138
fahren voraus; die tibetanische Initiation gčod, von der Mircea Eliade spricht , stellt in diesem
Sinne das extremste Beispiel dar; siehe auch bei BLAKE die Monster der Tiefe, monsters of the
deep, und die Gespenster, Spectres, die negative psychische Entitäten sind). Am Ende der
Geschichte hat der Held im Roman Der Golem eine Art klärende Vision. Nach vielen Abenteuern
131
Robin Robertson 1995, S. 82.
Ken Wilber 1995, S. 231-232.
C.G. Jung 1991, S. 332.
134
Ebd., S. 333.
135
Ebd., S. 544-545.
136
Ebd., S. 545.
137
Ebd.
138
Mircea Eliade 1999b, S. 639.
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(diese entsprechen dem romantischen Weg der Initiation: sie stellen die Individuation dar)
kommt er zum Haus, wo Hillel und Mirjam leben wollen (ein schlichtes, weisses Haus in einem
Garten mit einem Holzgitter davor) und, wie oben erwähnt, findet hier ein versperrtes Tor, das
das Bild des Hermaphroditen trägt. JUNG meint, dieses Bild könnte Gott selbst sein (siehe auch
KUBIN), da die Mystiker immer Gott als zugleich männlich und weiblich darstellen. Athanasiusder Unsterbliche und Mirjam sind im Traum des Helden praktisch eine Figur, sie sind
zussammengezogen; so gibt es zu Ende der Geschichte, wie JUNG unterstreicht, zwei männliche
139
Figuren und eine weibliche: diese symbolisieren die Idee der Dreieinigkeit
(der Held,
Athanasius Pernath und Mirjam; siehe auch BLAKEs Dreieinigkeit: Urthona-der unsterbliche
Sohn Gottes; dieser wird Los-Zeit, der vorzügliche Held, etwa wie der MEYRINK’sche Held, der
alles durchstehen muss, um völlig individuiert zu werden; Tharmas, der geheimnisvolle Unsterbliche, etwa wie Pernath; und Luvah, der Gott der Liebe, der milde Unsterbliche, etwa wie die
weibliche Figur Mirjam; Urizen entspricht in diesem Zusammenhang als archetypische Funktion
dem Golem). So ist der Hermaphrodit bei MEYRINK ganz eindeutig ein Gott, drei Personen in
140
einer .
Der Weg zu dieser Dreieinigkeit (oder zur Individuation) ist der bereits erwähnte schwierige
Weg der Romantiker; nach den Gnostikern ist es in diesem Sinne nicht wichtig, ob der Weg
141
hinauf- oder hinabgeht: ‘Der Weg hinauf und der Weg hinunter ist ein und dasselbe’ . Etwas
Ähnliches sagt BLAKE: ‘Es fällt wenig ins Gewicht, ob ein Mensch den richtigen Weg einschlägt
oder den falschen, so er ihm nur ernsthaft und hingebungsvoll bis ans Ende folgt, denn beide
142
Wege können ihn an sein Ziel führen’ . So wählte MEYRINK, dem Weg des Golems, des
Negativen-Chthonischen, zu folgen, und, in der Tat, das Ende des Weges ist, wie es schon ersichtlich ist, die klärende Vision, die Individuation, die Vergöttlichung des Menschen. Der Erfolg
dieser Erfahrung ruht auf dem grundlegenden Glauben MEYRINKs an die Wirklichkeit der
geistigen Welt: diese ist nach ihm (wie nach RUDOLF STEINER, mit dem MEYRINK in seinem Haus in
143
Starnberg zusammengetroffen war) so gewiss wie die Wirklichkeit der sinnlichen Welt . Der
Weg des Negativen-Chthonischen bedeutet aber auch der Weg des Weiblichen (siehe die
äusserst besondere Bedeutung des Weiblichen im romantischen Phänomen), da das Weibliche
immer mit der Nacht, dem tief Irdischen und Lunaren verbunden ist. MARZIN bemerkt in diesem
Sinne, dass in MEYRINKs Werken (wie im Roman Das grüne Gesicht) die Frauen dem Helden als
144
Katalysator dienen, um eine Stufe höheren Bewusstseins zu erreichen (das ist, anders gesagt,
die JUNG’sche Individuation), oder sonst kaum eine Funktion haben. MEYRINK benutzt dabei
Geheimlehren, die ihm helfen, eine Überzeitlichkeit anzulegen. So z.B. bemerkt man, wie
MARZIN betont, dass MEYRINK das ideale Bild des Menschen als aus einer Dreiheit (die in zehn
Sefirot gegliedert ist) bestehendes Geschöpf betrachtet. Der himmlische Mensch (der wie Gott
139
C.G. Jung 1991, S. 547.
Ebd.
141
Vgl. Heraklit, Fragm. 69, apud C.G. Jung 1991, S. 421.
142
Vgl. David V. Erdman, 1967.
143
Manfred Lube 1978, S. 82. Steiner würdigte, in respektvoller Weise, in einem seiner Vorträge Meyrinks Erkenntnisse
auf dem Gebiet der Mystik (Vgl. der Vortrag im Zyklus ‘Gegenwärtiges und Vergangenes im Menschengeiste’, Berlin,
1920). In diesem Sinne sah Jung in Meyrink einen Vertreter des visionären Kunstschaffens und stellte ihn in eine Reihe,
die von Dante über Hoffmann zu Nietzsche und Wagner führt (Vgl. Florian F. Marzin 1986, S. 39). Raine sieht in diesem
Zusammenhang Blake als einen der sechs Genien der modernen Welt (Kathleen Raine 1965). Diese Anschauungen
beweisen, dass die vier Autoren, die ich im vorliegenden Papier untersuche, für das moderne Denken wichtig sind, da
sie Meisterwerke der Geistesgeschichte schuffen.
144
Florian F. Marzin 1986, S. 52.
140
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Meyrink und das theomorphische Menschenbild
ist) enthält in sich die obere Dreiheit (Intelligenz-Binah, Weisheit-Hochma und Krone-Kether)
(ein Beispiel von einem himmlischen Menschen ist Athanasius Pernath: er vollzieht in seinem
Leben den Aufstieg von der unteren auf die mittlere und geht bei seinem Tod in die obere Drei145
heit ein ). Der himmlisch-irdische Mensch (der wie ein Gott-Mensch ist) enthält in sich die
mittlere Dreiheit (Gerechtigkeit-Geburah, Liebe-Hesed und Schönheit-Tiphereth) (ein Beispiel
von einem himmlisch-irdischen Menschen ist Hillel: er erreicht im irdischen Leben diese
mittlere Dreiheit). Der irdisch-himmlische Mensch (der wie ein Mensch-Gott ist) enthält in sich
die untere Dreiheit (Pracht-Hod, Festigkeit-Netzah, und Fundament-Yesod) (ein Beispiel von
einem irdisch-himmlischen Menschen ist der Held: er strebt immer nach den oberen Dreiheiten,
wie die echten Romantiker). So vereinigt sich das in den zehn Sefirot getrennte Prinzip des
Männlichen (Pracht-Hod, Gerechtigkeit-Geburah und Intelligenz-Binah; das ist die linke Seite
des sephirotischen Baumes), das zur Krone des ideellen Wertes führt, mit dem Prinzip des
Weiblichen (Festigkeit-Netzah, Liebe-Hesed und Weisheit-Hochma; das ist die rechte Seite des
146
Baumes der Sefirot), das in der Schönheit seine höchste Vervollkomnung erfährt (das Weibliche ist in diesem Sinne das absolut Schöne). Am Ende des Romans Der Golem entwirft
MEYRINK sein Gottesbild:
Das Flügeltor ist der Gott selbst: ein Hermaphrodit aus zwei Hälften, die die Türe bilden: die rechte
weiblich, die linke männlich. – Er sitzt auf einem kostbaren, flachen Thron aus Perlmutter [...] und
sein goldener Kopf ist der eines Hasen. Die Ohren sind in die Höhe gestellt und dicht aneinander,
147
dass sie aussehen wie die beiden Seiten eines aufgeschlagenen Buches.
So ist die rechte Seite, wie im Baum der Sefirot, weiblich, und die linke männlich. Gott bedeutet demnach für MEYRINK die höchste coincidentia oppositorum (siehe auch KUBIN).
MEYRINK benutzt, wie ich bereits bemerkt habe, u.a. die Geheimlehre der Kabbala, um eine
Überzeitlichkeit anzulegen, die das Menschliche mit dem Göttlichen verbindet. Prag des 16.
Jahrhundert ist auf diese Weise mehr als das des 19. Jahrhunderts; das Judenviertel blieb seit
148
dem Mittelalter fast unverändert, so dass die Menschen als Relikte archetypischer Natur
erscheinen: MEYRINK transformiert die Handlung auf höherer Ebene in die Mystik des Mittelalters. In diesem Sinne gibt es im Golem keinen rationalisierten Gottesbegriff: Gott ist ein deus
149
absconditus, ein verborgener, unsichtbarer, geheimer Gott .
So ist der grösste Unterschied zwischen den Arten von Hierophanien, die in der reinen und
in der ‘negativen’ Romantik erscheinen, die Tatsache, dass in der negativen Romantik (z.B. eines
MEYRINK oder KUBIN) das Bild Gottes das eines deus absconditus ist, d.h. eines Gottes, der zwar
immer anwesend ist, der aber nie, oder fast nie, sich in eine ‘sichtbare’ Epiphanie manifestieren
lässt. Von der Kabbala übernahm MEYRINK die Lehre vom Menschen als demiurgischem Be150
stimmter seines eigenen Erlösungsweges ; dieses Bild des Menschen als eines Demiurgen
weist auf MEYRINKs Verwandtschaft mit den Neuromantikern hin, die auch von solch einem
145
Ebd., S. 55.
Siehe auch B. Jansen 1922, S. 21.
Gustav Meyrink, Der Golem, S. 278.
148
Vgl. S. Mayer 1975, S. 203, apud Florian F. Marzin 1986, S. 55.
149
Siehe auch die Hauptgestalt im Roman Das grüne Gesicht, Chidher Grün; obwohl nicht real existierend, hat Meyrink
ihn zum Vehikel der Handlung gemacht; er ist ein Prinzip, das nicht konkretisierbar ist, er erscheint nur als Vision und
in Gesprächen, er ist nirgends im Roman ergreifbar (Vgl. Florian F. Marzin 1986, S. 83-85). A. Keyserling sieht im
grünen Gesicht die Beschreibung des ‘mystischen Weges’ (Vgl. A. Keyserling 1966, apud Florian F. Marzin 1986, S. 86).
150
Marzin zeigt, die Charaktere in Meyrinks Büchern gehen einen individuellen Weg zur Erlösung: das ist das Eingehen
in eine höhere Bewusstseinsebene (Florian F. Marzin 1986, S. 71).
146
147
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Verständnis des Menschenbildes ausgegangen waren. (Die Schaffung eines künstlichen
Menschen – des Golem – ist eine gottgleiche Tat; dadurch wird der Mensch wie Gott; der
künstliche Mensch ist aber nicht lebensfähig, so muss in letzter Konsequenz dieser Versuch
151
scheitern; siehe die komplizierte Geschichte des Golem-Schaffens ). Es gibt im Roman Der
152
Golem viel Esoterik, aber auch Manierismus: das Doppelgängermotiv (der Golem
und
Chidher, das grüne Gesicht, als Doppelgänger des schöpferischen Menschen; MARZIN glaubt
aber, Chidher Grün habe die Funktion eines deus ex machina, der dem Ingenieur Fortunat
Hauberrisser – dem Protagonisten als Abbild des Autors, der das Bild des Suchenden ist – den
153
Weg zur höheren Daseinsebene zeigt ) hat manieristische Züge, es ist ein Spiel mit der Duali154
tät der Gestalten, das auf die Natur Gottes als Janus Bifrons hinweist, ein Gott, der die Kraft
hat, tief in die Vergangenheit und in die Zukunft hineinzusehen. Die zwei Gesichter des Janus
sind eben die Darstellung der Schwelle (siehe die Schwelle als Fundament der Romantik)
zwischen der materiellen und der spirituellen Welt, sowie zwischen der Vergangenheit und der
Zukunft: in Gott sind die zwei im Paradox der coincidentia oppositorum vereinigt. Hauberrisser
im Roman Das grüne Gesicht wird am Ende zu einer Janusgestalt:
Wie ein Januskopf konnte Hauberrisser in die jenseitige Welt und zugleich in die irdische Welt
hineinblicken und ihre Einzelheiten und Dinge klar unterscheiden:
er war hüben und drüben
ein lebendiger Mensch.
155
Indem der Mensch die Natur Gottes als Janus Bifrons erreicht, hat er Leben in sich: er wird
auf diese Weise archetypisch und verewigt. So ist der MEYRINKsche Mensch eine Schwelle
zwischen den zwei Welten, die er in sich durch Vergeistigung vereinigt. Im Roman Der Golem
erfährt Athanasius Pernath die höchste Stufe der menschlichen Existenz als hermaphroditisches
Dasein durch die Vereinigung des männlichen und des weiblichen Prinzips im Baum der Sefirot;
dieser Baum der Sefirot wirkt im Menschen wie eine coincidentia oppositorum, so dass, wenn
der Mensch diesen Baum (im JUNG’schen Sinne) assimiliert, alle Antagonismen aufgehoben
werden. Das ist der MEYRINK’sche Weg zur Erlösung, zur Vollkommenheit, die Überwindung auch
des Geschlechtlichen im Hermaphroditen, im androgynen Dasein, das eine engelgleiche Zustandsform darstellt. In diesem Sinne ist Sephardi im Roman Das grüne Gesicht das Prinzip des
kabbalistischen Weges zum Heil, indem er versucht, Eva von Druysen und Hauberrisser zur
höheren Existenz zu verbinden. Erst nach Evas Tod ist Hauberrisser in der Lage, seine in der
diesseitigen Welt verhaftete Existenz mit Hilfe von Chidher Grün zu überwinden. Hauberrisser
wird in diesem Sinne zum Zwitterwesen auf der Ebene des Bewusstseins, da er an zwei Welten
156
(oder Bewusstseinsstufen, -dimensionen; siehe BLAKEs Weltanschauung) Anteil hat . Ebenso
erlebt NOVALIS die ‘aufblitzenden Enthusiasmus Momente’ nur am Grabe der Braut (sein
151
Gerschom Scholem 1996; besonders der 5. Kapitel, ‘Reprezentarea Golemului în rela iile ei telurice şi magice’, S.
176-218.
152
Scholem glaubt, der Golem Meyrinks bedeutet das Materialisieren der kollektiven Seele des Ghettos von Prag, aber
auch das Alter Ego des Helden, des Künstlers, der seine Selbsterlösung sucht. Der Golem ist somit das eigene nichterlöste Selbst (Vgl. Gerschom Scholem 1996, S. 176-177).
153
Florian F. Marzin 1986, S. 76-77.
154
Siehe auch R. Hocke, ‘Die Welt als Labyrinth’, apud Florian F. Marzin 1986, S. 57.
155
Gustav Meyrink, Das grüne Gesicht, S. 280.
156
Florian F. Marzin 1986, S. 79. Das Leitmotiv im Roman Das grüne Gesicht ist die Überwindung des Körpers durch
den Geist, das Erreichen einer höheren Existenz (Vgl. Eduard Frank, ‘Vorwort zu Gustav Meyrink Das grüne Gesicht’, S.
11, apud Florian F. Marzin 1986, S. 82).
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Meyrink und das theomorphische Menschenbild
Sophienerlebnis): das bedeutet für ihn, wie ich bereits zeigte, Blicke in die transmundane Welt,
in den göttlichen Urgrund, in dem die isolierten Einzelkräfte zur liebenden Vereinigung gelangen, und aus dem auch alle lebendige Entfaltung hervorgeht: das ist NOVALIS’ ontischer
Grund, in den der Mensch einkehren muss, um aus diesem sich zu erneuern. MARZIN bemerkt in
diesem Zusammenhang, dass man auch im Roman Das grüne Gesicht MEYRINKs Schwäche bei
der Darstellung von Frauengestalten bemerken kann; diese
Tatsache definiert was MARZIN als
157
die ‘maskuline Ausrichtung der Meyrinkschen Esoterik’
bezeichnet (siehe etwas Ähnliches
auch bei BLAKE: in diesem Fall aber die Ursache ist verschieden: BLAKE benutzt ein Übermass an
Männlichkeit, da das Männliche das himmlische-uranische-solare Sakrale darstellt, wobei das
Weibliche das irdische-chthonische-lunare Sakrale verkörpert). Die Rolle der Frau ist demnach
bei MEYRINK auf eine Hilfsfunktion zur Erhöhung des Mannes reduziert; die Frau verkörpert, wie
158
bei BLAKE, den negativen ontischen Pol , und sie kann spirituell auch nur durch das Gegengeschlechtliche erhöht werden. (Das Weibliche wird durch das Männliche erhöht, so wie das
Männliche nur durch das Weibliche erhöht werden kann). So ist das MEYRINK’sche Menschenbild ein dualistisches und deterministisches: der Mensch steht zwischen zwei sich bekämpfenden Prinzipien (wie in vielen anderen traditionellen religiösen Systemen) und ist durch
159
die Geschichte determiniert . Das Prinzip des Guten ist oft in MEYRINKs Werken eine Bruderschaft der Wissenden, die die Geschicke der Welt lenken, die das Böse bekämpfen, und den
Auserwählten helfen, ihren Weg zu finden. Der Auserwählte ist immer ein Mann, der das
Prinzip der Macht (Kraft) repräsentiert, das immer mit der Männlichkeit verbunden ist. Es gibt
160
bei MEYRINK keine Frau, die diesen Weg beschreitet; sie kann bestens dem Manne helfen .
Ich glaube, MEYRINK hat das Bild des Golem verwendet, da er dadurch das Symbol der
Unitotalität im Menschen andeuten wollte (siehe NOVALIS’ und BLAKEs ähnliches Menschenbild
und die Theorie der Entsprechungen zwischen Mikro- und Makrokosmos: der Makrokosmos ist
im Mikrokosmos in abyssal konzentrierter Form enthalten; siehe auch SCHELLINGs Anschauung).
In diesem Sinne zeigt SCHOLEM, dass zu Beginn der Schöpfung der Mensch nur als Golem geschaffen wurde, der in sich die Kraft des ganzen Universums enthielt, und dass erst am Ende er
161
beseelt wurde . Der Mensch als Golem somit ist der ursprüngliche, primitive Mensch, der aus
rein geistiger Kraft und Lehm gemacht wurde (aus dem besten Kern des Erdmittelpunktes) (Vgl.
162
G. SCHOLEM hebr. ’adama = Erde ), und der alle Energien der Schöpfung einschloss. Dieser
Mensch ist eine ‘Abbreviatur’ des Ganzen (siehe die Etymologie des Wortes Adam: es ist die
Abbreviation der Bestandteile, der Elemente, aus denen der Mensch geschaffen wurde, oder die
der Namen der vier Himmelsrichtungen, von denen der Lehm/die Elemente genommen
163
wurde/wurden ) (die Orientierungsvierzahl als archetypischer ontischer Grundstruktur ist ein
Fundament der JUNG’schen Archetypologie), der Mensch ist die Unitotalität (siehe NOVALIS und
BLAKE). So wird es ersichtlich, dass MEYRINK durch den Golem die längst verlorene Verbindung
mit dem Spirituellen wiedergewinnen will: der Golem ist absichtlich eine ambivalente Figur, die
zwar das kollektive Unbewusste darstellt (Hillel, der himmlisch-irdische Mensch, ist dabei,
dieses kollektive Unbewusste zu assimilieren; der Held, der irdisch-himmlische Mensch, strebt
157
Florian F. Marzin 1986, S. 87.
Siehe auch Meyrinks Engel vom Westlichen Fenster (Vgl. Florian F. Marzin 1986, S. 87).
159
Florian F. Marzin 1986, S. 96.
160
Ebd., S. 98.
161
Vgl. Gerschom Scholem 1996, S. 181.
162
Ebd., S. 182.
163
Vgl. Louis Ginzberg, Legends of the Jews, Bd. V, 1925, S. 72; Max Förster 1908, S. 477-529 (apud Gerschom Scholem
1996, S. 179, und 235, 7).
158
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danach, dieses Assimilieren durchzuführen; und Pernath, der himmlische Mensch, hat das
kollektive Unbewusste völlig assimiliert), die aber auch das Bild des Menschen als Unitotalität
einschliesst (siehe das Menschenbild in NOVALIS’ und BLAKEs System).
Es ist deswegen offensichtlich, dass MEYRINKs Werk viele romantische Elemente aufweist,
164
die um das Motiv der Individuation und der spirituellen Wiedergeburt zentriert sind, und die
eine besondere Wissenschaft der geistigen Einweihung konstituieren. Das MEYRINK’sche Idealbild des Menschen ist das der Unitotalität, der allumfassenden coincidentia oppositorum. Das
ist in nuce MEYRINKs ideales, theomorphisches Menschenbild: Gottesbild und ideales Menschenbild sind in MEYRINKs System isomorph.
Literatur:
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C.G. JUNG, Gestaltungen des Unbewussten. Mit einem Beitrag von Aniela Jaffé, Zürich, 1950.
C.G. JUNG, ‘Traum und Traumdeutung’, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 1971-1990a, Kap.
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C.G. JUNG, Typologie, dtv, München, 1971-1990b.
164
Im Roman Das grüne Gesicht spricht Meyrink von der christlichen Mystik der Wiedergeburt, deren Ziel das ewige
Leben ist (Gustav Meyrink, Das grüne Gesicht, S. 67 und 75); das ist ein wesentliches Element in Blakes, Novalis’ und
Jungs Denksysteme.
82
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Meyrink und das theomorphische Menschenbild
18. C.G. JUNG, Seminare, Traumanalyse, Nach Aufzeichnungen des Seminars 1928-1930, Walter-Verlag,
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19. JOACHIM KALKA, ‘Das Unheimliche des Erzählens, Gustav Meyrink zwischen Okkultismus, Satire und
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20. A. KEYSERLING, Die Metaphysik des Uhrmachers von Gustav Meyrink, Wien, 1966.
21. H. KHUNRATH, Amphitheatrum sapientiae aeterna, 1602
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23. ALFRED KUBIN, Die andere Seite, Ein phantastischer Roman, Rowohlt, Bonn, 1999 (erste Ausgabe 1909).
24. GÜNTHER KUNERT, ‘Die Banalität des Horrors’, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, nr. 221, 24 Sept.,
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27. MANFRED LUBE, Gustav Meyrink, Beiträge zur Biographie und Studien zu seiner Kunsttheorie, Dissertationen der Universität Graz, dbv-Verlag für die Technische Universität Graz, 1980
28. HANS-JOACHIM MÄHL, ‘Novalis und Plotin, Untersuchungen zu einer neuen Edition und Interpretation
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31. KENNETH MCLEISH, Key Ideas in Human Thought, Bloomsbury, London, 1994.
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Ausgabe, 1913). Aus dieser Novellensammlung werden zitiert die folgenden Texte: ‘Der Albino’, ‘Bal
Macabre’, ‘Der Buddha ist meine Zuflucht’, ‘Chimäre’, ‘Das Fieber’, ‘Das ganze Sein ist flammend Leid’,
‘Der Saturnring’, ‘Schöpsoglobin’, ‘Der Schrecken’, ‘Der Tod des Selchers Schmel’, ‘Tschitrakarna, das
vornehme Kamel’, ‘Der Untergang’, ‘Das verdunstete Gehirn’, ‘Das Wachsfigurenkabinett’, ‘Die Weisheit des Brahmanen’.
33. GUSTAV MEYRINK, Der Engel vom westlichen Fenster, Leipzig, Zürich, Grethlein, 1927, Neuausg.
München, Langen Müller, 1995.
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klassisch-romantische Zeit, 53/1993, S. 1-12.
38. FRANCIS E. PETERS, Termenii filosofiei greceşti, Humanitas, Bucureşti, 1997.
39. LOTHAR PIKULIK, ‘Schwelle und Übergang, Zu einem Schlüsselmotiv der Romantik’, in Aurora, Jahrbuch
der Eichendorff-Gesellschaft für die klassisch-romantische Zeit, 53/1993, S. 13-24.
40. ILYA PRIGOGINE, The End of Certainty: Time, Chaos, and The New Laws of Nature, Free Press, Simon &
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41. KATHLEEN RAINE, William Blake, Longmans, Green & CO, London, 1965.
42. RALF REITER, ‘Das dämonische Diesseits, Phantastische Erzählen in den Romanen Walpurgisnacht und
Der weiße Dominikaner von Gustav Meyrink’ (Schriftenreihe und Materialien der Phantastischen Bibliothek Wetzlar, Bd. 19)
43. JULIA C. RENNERT, ‘Narratives of Negativity - Blake's Verbal and Pictorial Messages in America a
Prophecy’, in Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, Neue Folge, 36/1995
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Mihai A. Stroe
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45. ALEXANDER ROOB, The Hermetic Museum: Alchemy & Mysticism, Benedikt Taschen Verlag, Köln, Lisboa,
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49. RUDOLF STEINER, Vortrag im Zyklus ‘Gegenwärtiges und Vergangenes im Menschengeiste’, Berlin, 1920
50. EVELYN UNDERHILL, Mistica, Studiu despre natura şi dezvoltarea conştiinŃei spirituale a omului, I, Fenomenul mistic, Biblioteca Apostrof, Cluj, 1995.
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53. M. WÜNSCH, Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne (1890-1930), Definition. Denkgeschichtlicher Kontext, Strukturen, München, Fink, 1991.
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PHÄNOMENOLOGIE UND POETIK DES WASSERBILDES
bei Georg Trakl
Laura Cheie
Die Wasservorstellung gehört, anthropologisch betrachtet, zu den ältesten und konstanten
Erinnerungsbildern der Menschheit, die deren Phantasie aus dem mythischen bis ins wissenschaftlich-artistische Zeitalter stets grundlegend begleitet und angeregt haben. Als das Urbild
der weltschöpfenden, lebensgebärenden, lebenserhaltenden und -regenerieren-den, urmütterlichen Materie bestimmt das mythische Wasser die ersten kosmologischen Erklärungsmodelle
und prägt auch die ursprünglichen Moralvorstellungen der Menschheit. Mit der göttlichen
Läuterungsfähigkeit des heiligen Wassers verbinden sich bekanntlich christliche aber auch unchristliche Rituale der Purifikation, d.h., mit Trakl gesprochen, die “Taufe in keuschem Wasser”,
das Versinken in die vergeistigte Bläue dieses uralten Elements. Die Vorstellung des Wassers als
kosmische oder ins Kosmische tendierende Matrix des Lebens, als feminine, mütterliche
Substanz regte auch die künstlerische Einbildungskraft der vor allem mit der Romantik an1
setzenden Moderne an, welche vom altindischen Gedankengut zu profitieren begann .
Für das allerdings betont anthropozentrische Denken europäischer Autoren wurden insbesondere die von antiken Mythen Griechenlands vermittelten Wasservorstellungen literarisch
kreativitätsfördernd: das bevölkerte Wasserreich Poseidons, jene von Nymphen, Najaden,
Nereiden bewohnten und beseelten Gewässer, das dunkle Wasser der Styx oder des Acheron,
welches das Reich der Lebendigen vom Totenreich trennt und in Begleitung des Fährmanns
Charon in die Unterwelt führt, vor allem aber der Wasserspiegel des Narziß, der später zu einer
Identifikationsfigur des Dichters stilisiert wurde. Mit ihrem direkten Bezug zum Menschen und
zur menschlichen oder menschenähnlichen Existenz setzt in der Mythologie des alten
Griechenland eine nachträglich vielfältig verarbeitete Tendenz zur Psychologisierung des
Wassers an. Aus einem Objekt der Erkenntnis wird das Wasser eine Erkenntnis und insbesondere Selbsterkenntnis vermittelnde Substanz. Die kosmische Mutter, auf die Dimensionen
eines natürlichen Spiegels gebracht, verliert zwar ihre kolossale, weltumfassende Ausdehnung,
gewinnt aber an Tiefe. Denn der abgrundtiefe Wasserspiegel eines Brunnens oder eines Sees
beginnt spätestens seit der Romantik nicht nur oberflächliche Bilder zu reflektieren, sondern
entwickelt jene magisch-mystischen Fähigkeiten, das Innerste des Ich oder das Göttliche zu
offenbaren, psychologische oder metaphysische Tiefen zu spiegeln. Wasserbilder gehören schon
früh, mit der vergehenden Zeit oder den fließenden Tränen assoziiert, dem Leid und dem
Schmerz, zu einer von Melancholie und melancholischem Wahnsinn geprägten “Seelenland1
G. Kleefeld identifiziert in den Wasserbildern Traklscher Lyrik psychoanalytisch gedeutete Hypostasen
der Mütterlichkeit: “Im Rahmen der primärnarzißtischen Szenen Trakls spielt als symbolische Repräsentanz der archaischen Mutter das Wasser eine prominente Rolle: Gestalt, die lange in Stille blauer
Wasser gewohnt... Als Varianten zu “Wasser” erscheinen hier die Begriffe “Höhle” und “Gewölbe”; dieses
Variantenparadigma umschreibt den Ort pränatalen Daseins, die Welt ozeanischen Gefühls - den Schoß
der Mutter.” G. Kleefeld, Mutterbilder. Symbolische Beziehungsfiguren in den Gedichten Georg Trakls, in
Trakl - Forum 1987, hrsg. von Hans Weichselbaum, Salzburg, 1988, S. 71 - 99, hier S. 88.
Laura Cheie
schaft”. So z.B. in Shakespeares berühmter, durch seine wiederholte Wiederaufnahme gleichsam zu einem literarischen Mythos gewordenen Todesszene der durch Leid dem Wahnsinn verfallenen und im Wassertod verunglückten Ophelia.
Die Psychologie der poetischen Wasservorstellung, so wie sie Gaston Bachelard in seinem
2
Essay über das Wasser und die Träume sehr nuanciert beschrieben hat , findet ihren Ausgangspunkt im Erlebnis einer narzißtischen Selbstbespiegelung, die zwischen schauen und sich
zeigen, wahrnehmen und sich vom eigenen, versunkenen, vom Wasser subtil verklärten Bild
verführen lassen, schwankt. Die Begegnung mit sich selbst im verführerischen Wasserspiegel
mutet traumhaft an, denn, ungleich einem Wandspiegel, der das eingefangene Bild in akkurater
Regungslosigkeit und Detailtreue wiedergibt, vermag der bewegte Wasserspiegel die
reflektierte Erscheinung in einer irrealen Unbestimmtheit ihrer Verwandlungs- möglichkeiten
darzustellen. Das Bild ruht nicht im Wasserspiegel, sondern wird von der Bewegung des
Wassers traumhaft, quasi geisterhaft umgestaltet. Das Unheimliche, Phantomatische und zugleich hypnotisch Anziehende, das den Wasserbildern anhaftet, regte selbstverständlich auch
Trakls Phantasie an, in dessen Dichtung Narziß namentlich auftaucht und die Selbstbespiegelung im Wasser eine man könnte sagen definitorische Gestik seiner Gestalten ist:
Der Mond steigt auf, es blaut die Nacht,
Erblüht im Wiederschein der Fluten Ein rätselvolles Sphinxgesicht,
Daran mein Herz sich will verbluten.
(Die drei Teiche in Hellbrunn 1. Fassung)
Oder an anderer Stelle, diesmal das Geisterhafte auf den Wasserspiegel selbst beziehend:
Aus geisterhaftem Weiherspiegel
Winken Früchte, leuchtend und schwer.
(Zeitalter)
Die vom Wasser gespiegelte Wirklichkeit scheint somit ihren realen Charakter einzubüßen
und im fluiden Medium schattenhaft zu gespenstern. Über das Schattenhafte verbindet sich bei
Trakl der wirklichkeitsauflösende Wasserspiegel mit Vorstellungen stygischer Gewässer, welche
von seinen Gestalten in nächtlichen Kahnfahrten, einem ungewissen Totenreich zutreibend,
befahren werden. Jener schon, der zum Wasser hinabsteigt - und damit den Weg der alten
Schatten zum Kahn Charons zurückzulegen scheint - und in den Wasserspiegel schaut, erblickt
nicht nur sein eigenes Bild, sondern auch Totes:
Im hellen Spiegel der geklärten Fluten
Sehn wir die tote Zeit sich fremd beleben
heißt es im frühen Gedicht Einklang. Der Blick in die Tiefe des Wasserspiegels, erläutert
Bachelard, entspricht in der Psychologie der Wasservorstellung des öfteren einem Blick in die
2
Gaston Bachelard, Apa şi visele. Eseu despre imaginaŃia materiei, Trad. de Irina Mavrodin, Ed. Univers,
Bucureşti, 1995.
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Phänomenologie und Poetik des Wasserbildes bei Georg Trakl
3
Tiefe der Zeit . Es ist die “tote Zeit”, die fremd, möglicherweise verfremdend, vom Wasserspiegel
belebt wird. Später bezieht Trakl das Tote auf die Schauenden selbst, sich grundsätzlich von der
antiken Vorstellung des dunklen Styx als Schwelle zum Reich der Toten anregen lassend: “Und
die Schatten der Verdammten steigen zu den seufzenden Wassern nieder.” (Psalm). Allmählich
nehmen bei Trakl aber diese Wassern des Todes selbst eine leichenhafte Gestalt an, wie an den
Variationen des Gedichtentwurfs Wo an schwarzen Mauern... ersichtlich ist. Dem Spiegel
seufzender Wasser wird hier der befremdende Prozeß organischer Auflösung übertragen. Bildliche Voraussetzungen zur Verwandlung seufzender Wasser in verstorbene und faulende sind
schon in den toten Landschaften der frühen Dichtung nachzuweisen:
Gestank steigt aus dem Brunnenspiegel
Und schwarz, verfallen, abgeschieden
Verdämmern rings die Rebenhügel.
(Im Weinland)
Trakls stygische Gewässer sind nicht nur unheimliche Spiegel oder Schwellen zum Totenreich, sie sind auch vom Tode bewohnte Orte. Hier galt zunächst das Shakespearsche Urbild der
Ophelia als anregende Vorlage. Ein frühes Gedicht, das den Titel Märchen trägt, “erzählt” von
einer Kleinen, “die im Weiher heut ertrank”. Später, in dem als “Steinbruch” verwendeten Gedichtkomplex Lange lauscht der Mönch... aus dem Jahre 1912, heißt sie tatsächlich Ophelia.
Eigentlich nichts besonders Befremdendes, wenn man die Ophelia-Faszination der Zeit bedenkt.
Im Unterschied aber zu den Ophelien-Bildern des Expressionismus, wie sie beispielsweise bei
Georg Heym im gleichnamigen Gedicht oder bei Benn in Schöne Jugend zu finden sind, in
welchen von der schönen, jungfräulichen Braut nur mehr eine groteske Wasserleiche übrigbleibt, zeigt Trakl keine Absicht, die tradierte Vorstellung gewaltsam oder zynisch zu
dekonstruieren, denn “Schön ist Opheliens Wahnsinn” mit der bleichen, kindlichen oder
glühenden Schwermut ihrer verbogenen Lider. Sie ist keine Wasserleiche, sondern eher so wie
4
sie Hamlet in der ersten Szene des dritten Aktes sah, eine Nymphe . Auf der dritten Textstufe
des Trakl-Textes wird auch der Wahnsinn Opheliens auf die Nymphe verschoben:
Da sie am Abend dem Wahnsinn der Nymphe lauscht,
3
Idem, Ibidem, S. 62 - 63.
4
Vgl. William Shakespeare, Sämtliche Werke, ins Deutsche übertragen von August Wilhelm Schlegel,
Dorothea und Ludwig Tieck, Wolf Graf Baudissin, Ferdinand Freiligrath, Friedrich Bodenstedt, Gottlob
Regis, Karl Simrock, Wiebaden: R. Löwit, o.J., S. 813: “Die reizende Ophelia. - Nymphe, schließ / In dein
Gebet alle meine Sünden ein”. Nymphisch in “weinende Gewässer” wird sie auch der Königin später, in der
Beschreibung ihres Wassertodes, erscheinen: “Es neigt ein Weidenbaum sich übern Bach / Und zeigt im
klaren Strom sein graues Laub, / Mit welchem sie phantastisch Kränze wand / Von Hahnfuß, Nesseln,
Maßlieb, Kuckucksblumen. / Dort, als sie aufklomm, um ihr Laubgewinde / An den gesenkten Ästen aufzuhängen, / Zerbrach ein falscher Zweig, und nieder fielen / Die rankenden Trophäen und sie selbst / Ins
weinende Gewässer. Ihre Kleider / Verbreiteten sich weit und trugen sie / Sirenen gleich ein Weilchen
noch empor, / Indes sie Stellen alter Weisen sang, / Als ob sie nicht die eigne Not begriffe, / Wie ein Geschöpf, geboren und begabt / Für dieses Element.”, Akt IV, Szene VII, S. 825, in der Übertragung von August
Wilhelm Schlegel.
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Laura Cheie
Den dunklen Flöten im dürren Rohr;
des Herbstes vergilbten
dürren
Böse ihr Bild im Sternenweiher beschaut.
Finster
Die Nymphen der Trakl-Dichtung steigen leise aus Brunnenspiegel oder ziehen in den
Wasserdunkel, sie ruhn versteckt im Rohr oder neigen sich über Quellen. Das Sich-überWassern-Neigen oder, wie im oberen Beispiel, das Beschauen des eigenen Bildes im “Sternenweiher” ist aber ein typisch narzißtischer Gestus. Hingegen entspricht “Versunkenes Wohnen in
blauen Höhlen der Schwermut” - ein Bild das wir demselben Gedichtkomplex entnehmen aufgrund der bei Trakl üblichen obsessiven Verwandtschaft von (blauer) Höhle und Wassergrab(en) dem Ophelia-Komplex. Es scheint so als könnte man von einer Kontamination
zwischen Narziß und Ophelia, jenem der Bilder an der Oberfläche des Wassers und insbesondere sein Bild wahrnimmt und jener die wie schlafend im Wasser “wohnt”, sprechen. Eine
Verdichtung der beiden Urbilder versucht Trakl nur wenige Zeit später, Anfang 1913, im Gedichtentwurf Gestalt die lange..., in dem der mythische Narziß in der Kühle blauer Höhlen
imaginiert wird als Variation des versunkenen Wohnens in der Stille blauer Wasser:
Gestalt, die lange in Stille blauer Wasser gewohnt
Narziß der Kühle in blauen Höhlen
Die für Trakl typische Zusammenführung von narzißtischer Selbstbespiegelung und dem
ophelienhaften, toten oder todähnlichen Wohnen im Wasser verbindet zwei Perspektiven des
Wasserbildes, genauer jene der reflektierenden Oberfläche mit derjenigen der transparenten
Tiefe. Das derart verdichtete Wasserbild scheint sich Anfang 1913, nur einen Monat nach der
Entstehung von Gestalt die lange..., allmählich zu einer bildgenerierenden Matrix zu verfestigen.
In einem ebenfalls als “Steinbruch” verwendeten Gedichtentwurf, Wenn wir durch unserer
Sommer purpurnes Dunkel..., entwickelt es Trakl über mehrere Variationen hinweg, die verschiedene Textstufen durchziehen, in Richtung abstrakter Vertiefungen “männlicher Schwermut”:
1.
Textstufe:
Umschlungen laß uns neigen auf blaue Wasser,
neigen wir uns
tauchen in
Die dunklen Spiegel männlicher Schwermut.
dunkle Grotte
2.
Textstufe:
Wir aber schauen in blaue Wasser
Die dunklen Spiegel unserer schweigenden Schwermut.
Tiefer umsäumt uns die Kühle blauer Wasser
O die dunklen Spiegel männlicher Schwermut
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Phänomenologie und Poetik des Wasserbildes bei Georg Trakl
3. Textstufe:
Weht uns die Kühle blauer Wasser an,
Die dunklen Spiegel männlicher Schwermut
4. Textstufe:
Weht uns die Kühle milchiger Wasser an,
Die weiße Grotte männlicher Schwermut.
O mein Bruder reift der Wahnsinn mondener Nächte herein.
5. Textstufe:
Weht uns die Kühle blauer Wasser an,
das Schweigen
Antlitz steinerner
Die dunkle Grotte männlicher Schwermut,
runde
Als feststehend erscheint zunächst der Parallelismus Wasserspiegel - Wassergrab. Durch die
Oszillation zwischen “Spiegel” und “Grotte”, der reflektierenden Oberfläche und der bewohnbaren Tiefe, deutet sich aber schon auf der ersten Textstufe einen Ansatz zur Verschmelzung
der Perspektiven und zur Abstraktion an. Als “Grotte männlicher Schwermut” wird das Wasserbild verinnerlicht, zugleich könnte es aber auch auf eine bei Trakl nicht ungewöhnliche Veräußerlichung der Seele im wie magisch spiegelnden Element verweisen. Das Eintauchen in den
Wasserspiegel, das durch Variation dem Sich-Neigen über Wassern gleichgestellt wird, könnte
somit eine doppelte, abstrahierende und die Abstraktion neu konkretisierende Perspektive eröffnen: die Versenkung in die seelische Tiefe der Melancholie, die wiederum der Mensch erst
durch deren Kontemplation im Wasserspiegel erkennt und quasi konkret bewohnen kann.
Sieht man nun von den Inhalten und ihrer Verankerung in vorgeprägten mythischliterarischen Vorstellungen ab, so könnte man an der Verdichtung von Wasserspiegel und
Wassergrab, der simultanen, geraden und senkrechten Ausrichtung des Bildes eine konstante
Struktur erkennen, über die der Übergang von einer Poesie der Wasserbilder zu einer vom
Wasserbild inspirierten Poetik möglich erscheint. Zuvor muß man mit Gaston Bachelard einsehen, daß vor allem die Dichter einen Blick nicht nur für das “Was”, sondern auch für das
“Wie” des Wasserbildes entwickelten, zumal das Wasser selbst wie ein Auge der Erde die Welt
“ansieht” und in diesem Ansehen neu zusammensetzt. Das vermittelt dem Schauenden neue
Wahrnehmungs-, dem Dichtenden neue Einbildungsmöglichkeiten.
Das Wasser “sieht” in den Himmel - Trakl spricht diesbezüglich von dem “Antlitz steinerner
Wasser” - , es spiegelt diesen und wird in der Reflexion mit ihm identisch, ein “Sternenweiher”.
Das Wasserbild ist aber zugleich mehr als ein verkehrter Himmel durch seine Fähigkeit, alle
Niveaus der Wirklichkeit neben- und übereinanderlegend abzubilden. Es verkürzt die reale,
hierarchische Perspektive und bringt alles auf die Gerade der spiegelnden Oberfläche. Es
gruppiert auf eine neue Art die reflektierten Elemente der Wirklichkeit, indem es deren
Substanz auflöst und diese quasi substanzlosen Schatten im Wasserspiegel abstrakter erscheinen läßt. In einer neuen Syntax bildlicher Bezüge bietet es eine eigenartige Vision der
Welt oder die Vision einer anderen, neu zusammengesetzten Welt. Die traumhaft anmutenden
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Laura Cheie
Überblendungen, Verdichtungen, Kreuzungen und Zusammenstellungen von Bildern auf der
reflektierenden Oberfläche des Wassers erschöpfen sich aber nicht in der reinen Spiegelung des
Himmels und der umstehenden Natur. Denn es steigen Bilder auch aus der transparenten Tiefe
des Spiegels selbst und gesellen sich zum Gespiegelten. Um die Dimension der Tiefe ergänzt
wird die Wasseroberfläche eine ambivalente Schnittfläche von oben und unten, Spiegelung und
Transparenz, die zu einer eigenartigen Symbiose von unterschiedlichen Bildern führt. So entstehen neue, doppelt ausgerichtete Formationen, in welchen beispielsweise Fische und Sterne
einen irrealen, höchst poetischen Raum osmotischer Seinsmöglichkeiten finden. Und so wird
auch der Wasserspiegel auf eine natürliche Weise wieder magisch und phantasievoll. Dem in
die Tiefe des Wassers Schauenden offenbart sich nun ein quasi surrealistisches Bild: die
kosmische Simultaneität aller Sphären in einer zugleich traumhaften Verwachsenheit. Das
Wasser erweitert damit seine mimetische, bilderaufnehmende Funktion in Richtung einer
kreativen, bilderschaffenden und bilderanregenden. Erst diese Verlagerung vom mimetischen
zum kreativen und kreativitätsfördernden Wasserbild in dessen poetischen Wahrnehmung
konnte, wie Bachelard an der Lyrik Edgar A. Poes eingehend veranschaulichte, eine moderne
Poetik des Wasserbildes entstehen lassen.
Eine solche Poetik läßt sich auch an Trakl-Texten nachweisen. Wir wollen uns aus Raumgründen auf ein einziges Gedicht konzentrieren, daß in der Trakl-Forschung eine besondere
Beachtung erfahren hat. Ruh und Schweigen dürfte, laut Sauermann und Zwerschina, im
5
September oder Oktober 1913 entstanden sein und wurde aufgrund der Verwendung des
6
Motivs “blaue Blume” auf die kreative Novalis- Rezeption hin interpretiert . Das Gedicht zeigt
eine zunächst sehr augenfällige Symmetrie durch seine Gliederung in vier Dreizeiler. Die ersten
zwei führen schon in eine sonderbare Landschaft ein:
Hirten begruben die Sonne im kahlen Wald.
Ein Fischer zog
In härenem Netz den Mond aus frierendem Weiher.
In blauem Kristall
Wohnt der bleiche Mensch, die Wang’ an seine Sterne gelehnt;
Oder er neigt das Haupt in purpurnem Schlaf.
In der die erste Strophe dominierenden Kontrastbewegung zeichnet sich, wie schon in der
7
Trakl-Forschung erkannt , eine eigenartige Dialektik von Sonnenuntergang und Mondaufgang,
5
Georg Trakl. Sämtliche Werke und Briefwechsel, Innsbrucker Ausgabe, historisch-kritische Ausgabe der
Werke und des Briefwechsels mit Faks. der handschriftlichen Texte Trakls, hrsg. von Eberhard Sauermann
in Zusammenarbeit mit Hermann Zwerschina, Basel, Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern, 1995
(Bd.II), 1998 (Bd. III), Bd. III, S. 245.
6
Z. B. der neuere Aufsatz von Hans Esselborn, “Blaue Blume” or “Kristallene Tränen”? Trakl’s Poetology
and Relation to Novalis, in Eric Williams (Hrsg.), The Dark Flutes of Fall. Critical Essays on Georg Trakl,
Columbia, 1991, S. 203 - 232.
7
Cf. Károly Csúri, Theorie und Modell, Erklärung und Textwelt. Über Trakls “Ruh und Schweigen”, in Weltbürger - Textwelten, hrsg. von Leslie Bondi, Günter Helmes, Egon Schwarz, Friedrich Voit, Bern / Berlin /
90
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Phänomenologie und Poetik des Wasserbildes bei Georg Trakl
die zugleich im exemplarischen Sinne auf eine archaisch-archetypisch anmutende Sonnenbzw. Mondzeit der Menschheit verweisen könnte. Umgekehrt werden biologische Rhythmen auf
die Himmelssterne übertragen: die Sonne stirbt und wird “begraben”. Dem Tod der Sonne folgt
eine Art Wassergeburt des Mondes, deren poetische Verbildlichung die kreative Wahrnehmung
des Wasserspiegels transparent werden läßt. “Aus frierendem Weiher”, welcher in der Nacht
durch die Spiegelung des Himmels zum “Sternenweiher” wird, zieht der Fischer den Mond. Daß
ein solches Bild eine natürliche, empirisch erfahrbare Überblendung verschiedener Wirklichkeitsniveaus im Wasserspiegel in eine poetische Metapher verwandelt und somit das
dichterische Schreiben an der bildlichen Syntax dieser obsessiv bewahrten Wasservorstellung
orientiert, ist unschwer nachvollziehbar. Hermetischer klingt dagegen die zweite Strophe, obwohl feine Entsprechungen, wie jene zwischen dem “frierenden Weiher” und dem “blauen
8
Kristall” die Strophen miteinander verknüpfen, ja sogar spiegelbildlich aufeinander beziehen.
Auch ohne die Varianten zu berücksichtigen läßt sich im “blauen Kristall” das ins Eisige
kristalliner Transparenz stilisierte Wasser vermuten. Zieht man jedoch den Variantenapparat zu
Hilfe, so läßt sich auch die Bildlichkeit der zweiten Strophe deutlich auf ein Wasserbild zurückführen und zwar auf jenes, das die reflektierende Oberfläche und die transparente Tiefe zu
kombinieren scheint. Schon auf der ersten Textstufe entwickelt sich das Bild aus der Matrix der
Wasservorstellung:
Ein schmales Tier erscheint. In uralter Bläue
Wohnt schreitend die Gestalt, ehmals in dunklen Wassern,
Weiße Wange an purpurne Fische gelehnt.
Ein ophelienhaft anmutendes “Wohnen” in “dunklen Wassern” scheint hier auf Trakl eigene
Weise veranschaulicht zu sein. Die aber zugleich als schreitend imaginierte Gestalt könnte auf
Perspektivenverschmelzung im Wasserbild deuten, wenn beispielsweise ein dem Wasser entlang
spazierender Mensch in der Spiegelung des fluiden Elements wahrgenommen wird. Auf der
zweiten Textstufe beginnt sich das Bild aus der Matrix des Wasserbildes herauszuentwickeln
und himmlische Bezüge einzugehen:
Ein Tier hinsinkt. In uralter Bläue
Wohnen die strahlenden Augen, ehmals in dunklen Wassern,
Erscheint ein Strahlendes, das gewohnt
Bleiche Wange an purpurne Schlangen gelehnt.
Die flackernde Sterne gelehnt
Über die Variation des Strahlenden und aus dunklen Wassern Erscheinenden beginnt sich
eine auch von Csúri an der Oberfläche der Endfassung erkannten Mond - Mensch - Analogie zu
Frankfurt am Main / New York / Paris / Wien, 1995, S. 128 - 151, insbesondere S. 137 - 140.
8
Vgl. Károly Csúri, Theorie und Modell, .... S. 138: “Interessant ist der Übergang von der 1. zur 2. Strophe:
schon rein grammatikalisch lassen sich «aus frierendem Weiher» und «in blauem Kristall» miteinander
verknüpfen. Semantisch könnte man in erster Näherung den «friehrenden Weiher» und das «blaue
Kristall» als Spiegelbilder begreifen. Das «blaue Kristall» als eine versteirnerte bzw. eisige, das heißt eine
gesteigerte motivische Variante des «frierenden Weihers» dar.”
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91
Laura Cheie
9
profilieren . Vorgezeichnet wird hier, durch die Verschiebung des Strahlenden versunkener
Augen auf eine nicht weiter bestimmte Lichtgestalt, der Mondaufgang aus den nächtigen
Wassern. Die an purpurnen Schlangen gelehnte Wange in der folgenden Verszeile, die noch auf
mögliche Wassertiere Bezug nimmt und dadurch einem nachvollziehbaren Wasserbild einverleibt werden kann, wird aber schon in der nächsten Variation scheinbar aus allen empirischen
Zusammenhängen gehoben, wenn der bleiche Mensch seine Wange an flackernden Sternen
lehnt. Das Bild mutet surrealistisch an und einem Wasserbild nicht mehr zugehörig, doch entspricht seine poetische Logik jenen Verbindungen und Überblendungen, die vom natürlichen
Wasserspiegel und Wassergraben angeregt werden. Denn in der gleichzeitigen Spiegelung von
Mensch und Himmel schafft zunächst das Wasser in seiner traumhaft verkürzenden Perspektive
die Metapher der himmlisch beheimateten Gestalt und der versunkenen Gestirne. Dem Dichterblick bleibt es aber vor allem vorbehalten das poetische Potential solcher Naturbilder zu erkennen und von den spontanen Gebilden dieser natürlichen Vorlage in vertieftem Schauen zu
lernen. Auch wenn das obsessiv modellierende Wasserbild verschwindet, bleibt, wie in der
letzten Variation der vorhin besprochenen Textstufe, das bildstrukturierende Prinzip des
Wasserbildes erhalten. Mit Bachelard gesprochen, geht die Poesie der Wasserbilder dadurch in
eine Poetik des Wasserbildes über. Dieser Poetik entspricht auch die Chiffre des bleichen
Menschen im blauen Kristall, die Wange an seine Sterne gelehnt. “Oder er neigt das Haupt in
purpurnem Schlaf”, heißt es ebenfalls kryptisch in der folgenden Verszeile. Von der Wasservorstellung aus betrachtet könnte man in dieser Bewegung, die Trakl formal als Alternative zum
vorigen, vom Wasser inspirierten Bild dichtet, die bekannte Bewegungsspur eines narzißtischen
Gestus identifizieren. Stimmt das, dann bringt die zweite Strophe von Ruh und Schweigen einen
neuen Bildentwurf der Verdichtung narzißtischer und ophelienhafter Gebärden.
9
Ibidem, S. 138-139: “Wie der Mond unlängst «in frierendem Weiher» wohnte, so wohnt nun der bleiche
Mensch «in blauem Kristall». Es liegt demnach nahe, den «blauen Kristall» als das kosmische Spiegelbild
des «frierenden Weihers» und den «bleichen Menschen» als das menschliche Spiegelbild des «Mondes»
anzusehen. Die Mond - Mensch - Analogie wird auch durch die Fortsetzung des Zitats bekräftigt: «In
blauem Kristall / Wohnt der bleiche Mensch, die Wang an seine Sterne gelehnt»”.
92
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TRADITIONALISMUS VERSUS MODERNISMUS
am Beispiel von Thomas Mann und James Joyce
Carmen Elisabeth Puchianu
Die Diskussion um Traditionlismus und/oder Modernismus scheint sich gerade an Schriftstellern zu entfachen, deren Leben und Werk nicht zufällig mit sog. Endzeiten zusammenhängen, oder anders: deren Leben und Werk in mehrfacher Weise im Umkreis von Zeitenwende(n) stehen, so daß eine gewisse Variabilität, ein gewisses Schwanken zwischen den
Fronten sozusagen eine augenfällige Konstante und Gemeinsamkeit ausmacht. Nicht zu unrecht oder gar von ungefähr trifft solches auf sowohl Thomas MANN als auch auf James JOYCE
zu. Allein eine biographische Skizze vermag einem überraschende Gemeinsamkeiten im Lebensablauf
der beiden Schriftsteller zu enthüllen, wie im Folgenden zu zeigen sein wird.
Biographischer Abriß
Als echte Generationskollegen machen MANN (geb.1875) und JOYCE (geb.1882) rein biographisch ähnliche Erfahrungen: Beide stammen aus gehoben patrizischen Familien, wobei das
Verhältnis zur Mutter bzw. das mütterliche Erbteil wesentlich bestimmender wirken sollte für
die spätere Laufbahn. Keineswegs erfreulich ist beider Erfahrung mit der Schule zu nennen.
Wurde MANN zunächst privat unterwiesen, und bedeutete ihm der spätere Schulbesuch im
besten Falle eine lästige Pflichtausübung , muß JOYCE eine beinahe militärisch strenge Erziehung vom Typus der Jesuitenschule über sich ergehen lassen.
In Lübeck schafft Mann nur das Einjährige und geht aus der Obersekunda ab, in München
nach dem Familienumzug reicht es zumindest für ein Jahr Studium an der Technischen Hochschule (1895-96), während JOYCE 1898 auf das katholische University College in Dublin geht
und nach vier Jahren ein Diplom für neue Sprachen erwirbt. In Paris beginnt er ein Medizinstudium, das er allerdings nach einem Jahr abbricht.
Beide finden ihre eigentliche Berufung im Musischen, so daß beide früh den Schritt hin zur
Literatur wagen und dies mit nicht geringem Erfolg. Die dichterische Auseinandersetzung mit
der eigenen Jugenderfahrung erfolgt für beide Autoren in dem jeweils ersten Roman: in Die
Buddenbrooks (1900) und A Portrait of the Artist as a Young Man (1916). Beide heiraten etwa
um die selbe Zeit ( 1905 bzw. 1904) und suchen offensichtlich ihr gefährdetes Künstlertum im
Schutze disziplinierter und gediegener Bürgerlichkeit zu hegen. Wähnt Mann in der Ehe nicht
lediglich jene leidigen „Hunde im Souterrain“ zu bändigen, die ihm stets unterschwellig zu
schaffen machen, sondern vor allem seinem Status als Repräsentant gerecht zu werden, muß
Joyce ähnliche Absicht gehegt haben.
Früher oder später gehen beide den Weg des Exils, wobei Joyce zwar die Grenzen Europas
nicht verläßt, seinem Heimatland Irland jedoch endgültig den Rücken zuwendet. Mann verschlägt das Schicksal wesentlich weiter, trotz ständiger Bemühung um eine Rückkehr. Letzte
Station wird für den einen wie für den andern die Schweiz sein. Beide teilen die gleiche Begabung, - manche möchten eher von einer Einschränkung sprechen: sie sind beide gleichermaßen große Finder statt Erfinder von Geschichten.
Beide stützen sich größtenteils auf Wirklichkeit und eigenes Erleben, wenn es um das
Schreiben geht. Beide leisten Großes im Epischen, dilettieren viel mehr im Lyrischen wie
Carmen Elisabeth Puchianu
Dramatischen. Notwendig für ihre Romane erweist sich stets die topographische Kulisse der
jeweiligen Heimatstadt: Lübeck und Dublin fungieren als variables aber allgegenwärtiges
Medium, sozusagen als notwendige „Lebensform“, um mit Thomas Mann zu sprechen, darauf
Alltägliches sich zum Mythischen oder Parodischen wandelt. Nicht zuletzt sei hier darauf hingewiesen, daß beide Schriftsteller eine auffallende Anfälligkeit zeigen zu Krankheiten realer
oder auch nur hypochondrischer Art: MANN äußert oft Beschwerden des vegetativen Nervensystems, der Atem- und Luftwege, sowie häufige "Affektationen" stomatologischer Natur,
während JOYCE sich bekanntlich zahlreicher Augenoperationen unterziehen mußte.
Auch wenn es nebensächlich erscheinen mag, will hier schließlich darauf hingewiesen
werden, daß beide immer wieder das Glück haben, weibliche Gönner und Mäzene anzutreffen,
die sich äußerst förderlich für ihre entsprechenden Karrieren auswirkten. Gemeint sind Agnes
MEYER und Sylvia BEACH.
Eine „unvermutete Beziehung“
Die hier angedeutete Skizze reicht sicherlich nicht aus, um eine Parallele zwischen den genannten Autoren ins Auge zu fassen oder gar zu rechtfertigen. Zumal m.E. der jüngere James
JOYCE den älteren kaum auf irgendeine Weise zur Kenntnis genommen oder dessen Werk näher
gekannt zu haben scheint, obzwar ihm die deutsche Literatur nicht gerade fremd gewesen ist.
Es ist eher Thomas MANN gewesen, der sich bewußt mit dem jüngeren Autor in ein Verhältnis zu bringen gewußt hat. Eine erstaunliche Haltung auf jeden Fall für die Kenner des
Schriftstellers, der gerade seinen Zeitgenossen gegenüber grundsätzlich zurückhaltend wenn
nicht gar geringschätzig reagiert. JOYCE und KAFKA dürften da Ausnahmen gebildet haben.
Es ist entschieden ein außerordentlicher Fall, daß bei Ihren literarischen Studien der Autor zugegen
ist und mit Ihnen sein Werk betrachtet. Zweifellos hätten Sie es vorgezogen, von Monsieur Voltaire
oder Segnor Cervantes einige persönliche Bemerkungen über ihre berühmten Bücher zu hören. Aber
das Gesetz der Zeit und der Zeitgenossenschaft bringt es nun einmal mit sich, daß Sie mit mir vorlieb nehmen müssen, mit dem Verfasser des ZAUBERBERGS, der nicht wenig verwirrt ist, sein Buch
den großen Werken der Weltliteratur als Studienobjekt eingegliedert zu sehen. Die Generosität Ihres
verehrten Lehrers hat es nun einmal für richtig gehalten, daß auch ein modernes Werk im Zyklus
dieser Stunden gelesen und analysiert werden solle (...),
so Thomas Mann in seiner Einführung in den Zauberberg. Für Studenten der Universität
1
Princeton aus dem Jahre 1939 .
Man beachte im obigen Zitat die Schlüsselbegriffe „Gesetz der Zeit“ sowie „Zeitgenossenschaft“ und „modernes Werk“: der Autor , so viel ist klar, versteht sich als Vertreter neuer,
gegenwärtiger, also moderner Literatur und setzt sich ab von einer bestehenden Tradition, einer
Reihe, die er mit den berühmt gewordenen Büchern eines Cervantes und Voltaire exemplifiziert.
Einiges an Selbstgefälligkeit und Selbstbewußtsein klingt mit wie jedes Mal, wenn Thomas
MANN sich bekennerisch zu äußern beliebt. Selbstgefällig auch dadurch, daß die gewählte
Reihe keineswegs eine zufällige ist, sondern eine traditionelle Orientierung der Romanliteratur
bedeutet, der MANN sich nur zu gern zugesellt. Die Gesellschaft wird ihm gar nicht abzusprechen sein, ebenso wenig wie seine Zeitgenossenschaft, also seine Modernität, oder anders:
seine Zugehörigkeit zur Moderne.
1
Thomas MANN: Gesammelte Werke, Bd.12, Aufbau-Verlag, Berlin, 1956, S. 431-46.
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Traditionalismus versus Modernismus am Beispiel von Thomas Mann und James Joyce
Wenige Jahre später, 1942, äußert sich Mann abermals über einen seiner Romane, indem er
das Beiwort „modern“ ins Spiel bringt: es geht um die Josephstetralogie, deren Entstehung mit
dem Wunsch des Verfassers zusammenhängt,
diese reizvolle Geschichte (gemeint ist die biblische) mit modernen Mitteln - mit allen modernen
Mitteln , den geistigen und technischen - zu erneuern und erzählerisch frisch hervorzubringen (...):
2
Dabei verbanden sich diese Experimente fast sofort mit dem Gedanken einer Tradition (...)
Und wieder rückt Mann sich zweideutig in die unmittelbare Nähe sowohl von Moderne als
auch von Tradition, wenn er von dem Vorhaben spricht, über den biblischen Joseph zu
schreiben. Denn hier klingt GOETHE nach und dessen Absicht, die Geschichte auszugestalten
zum Erzählwerk. Der Nachfahre weiß nicht allein von der Tradition, er setzt sie fort, indem er
das Vermögen des epischen Erzählers ausnutzt aus dem belanglos Anekdotischen, dem Alltäglichen eine weitläufig bedeutsame Geschichte zu spinnen, in alle Einzelheiten einzugehen und
dem Moment Bestand und Würde zu verleihen. Aber nicht nur das: denn in dem gleichen Vortrag (siehe Gesammelte Werke, Bd.12) entwirft MANN eine, man möchte glauben, Endzeitsituation des Romans schlechthin: poetologisch bekennt er sich dem modernen Zeitgeist und
führt uns die Sackgasse vor Augen, die das Genre erwartet:
Der dritte Joseph ist durch seinen erotischen Inhalt der romanhafteste Teil eines Werkes, das als
Ganzes genötigt war, aus dem Roman etwas anderes zu machen als man gemeinhin darunter versteht. Die Variabilität dieser literarischen Form war immer schon sehr groß. Heute aber sieht es beinahe so aus, als ob auf dem Gebiet des Romans nur noch das in Betracht käme, was kein Roman
3
mehr ist.
Wortwörtlich wiederholt Mann seine Sentenz von der Entwicklung des Romans in seinen
Aufzeichnungen zum Faustus-Roman 1949, interessanterweise in unmittelbarer Verbindung
mit einer Bemerkung über seinen Zeitgenossen James JOYCE, dessen Bücher er allerdings nie
gelesen hat:
Sehr aufmerksam las ich ein Buch, das nicht unmittelbar zur Sache sprach, aber durch seine klugen
Analysen mir vieles die Situation des Romans und meine eigene Stellung in seiner Geschichte Betreffende ins Bewußtsein rief: James Joyce von Harry Levin. (...) Schriften wie die von Levin und
Campbells großer Kommentar zu Finnegans Wake haben mir manche unvermutete Beziehung und
(...) sogar Verwandtschaft klargemacht. Mein Vorurteil war, daß neben Joyces exzentrischem
Avantgardismus mein Werk wie flauer Traditionalismus wirken müsse. (...)
As his subject matter reveals the decomposition of the middle class /.../ Joyce`s technique passes
beyond the limits of realistic fiction. Neither the Portrait of the Artist nor Finnegans Wake is a
novel strictly speaking and Ulysses is a novel to end all novels.
Das trifft wohl auf den Zauberberg, den Joseph und Doktor Faustus nicht weniger zu, und T.
S. Eliots Frage whether the novel had not outlived its function since Flaubert and James (...)
korrespondiert genau meiner eigenen Frage, ob es nicht aussähe, als käme auf dem Gebiet des
4
Romans heute nur noch das in Betracht, was kein Roman mehr sei. .
2
Thomas MANN, ebenda, S. 447.
Thomas MANN, ebenda, S. 454.
4
Thomas MANN, ebenda, S. 237-38.
3
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95
Carmen Elisabeth Puchianu
Die Doppelbödigkeit derartiger Stellungnahmen erscheint m.E. besonders interessant, da es
um einen Autor geht, den die Schulgermanistik allzu gern einer gut bürgerlich-realisti-schen
Tradition zuordnet und weniger Rechnung trägt jener modernen, oder anders: avantgardistischen Qualität, die von bewußter Zeitgenossenschaft hervorgerufen wurde und daher
von solcher zeugt. Denn hier schon zeigt sich deutlich, was Tradition für den Schriftsteller bedeuten : ein bewußtes Anhängen an Vorlagen und Vorgaben, eine stilistische Identifikation mit
literarischem, angelesenem Text, ein persönliches Arrangement mit der Vergangenheit. Das
alles muß berechtigterweise dann zu dem Neuen führen und dem Ausbrechen aus der Tradition.
Das weitere Anliegen der Arbeit ist es , die hier angesprochenen Begriffe zu klären bzw. zu
zeigen, welcher Tradition MANNs Romantheorie und -praxis angehört und in wiefern er, wie
JOYCE, einen berechtigten Anspruch erhebt, der literarischen Moderne anzugehören. Davon
ausgehend bezweckt die Analyse, den mittlerweile etwas vagen wie strapazierten Begriff der
Postmoderne auf MANNs Werk anzuwenden und eine vielleicht neue oder zumindest veränderte Lesart vorzuschlagen.
Thomas Mann und James Joyce zwischen Moderne und Postmoderne
Die rasche Entwicklung der Kunstrichtungen zur Zeit der vorigen Jahrhundertwende bewirkte, daß recht bald die sog. Moderne für tot erklärt wurde. Das zeigt sich bereits darin, daß
man statt Moderne gern andere Begriffe einsetz, wie Avantgarde oder Zusammensetzungen
darin entweder das Beiwort „Jung-“ oder „Neu-“ erscheint (z.B. das Junge Wien, Jugendstil,
Neue Sachlichkeit). Ein derartiger Verschleißprozeß bewirkte, daß ein „neuer“ Begriff zu
kursieren beginnt, und zwar der in den 60er Jahren in Amerika entstandene Begriff Postmoderne.
Postmoderne kann verstanden werden als Nach-Neuzeit oder als Ende der Neuigkeit der
5
Moderne (siehe: GRIMMINGER,16 ). Eine ähnliche Definition schlägt Brian McHALE vor, wenn
er den äußerst problematischen und nicht gerade beliebten Begriff mit dem Zukünftigen oder
mindestens dem erneuert Gegenwärtigen in Verbindung bringt. Es handle sich eher um einen
Verstärker (intensifier), der dem Begriff Moderne beigegeben wird.
Postmodernism, the thing, does not exist precisely in the way that the „Renaissance“ or „romanticism“ do not exist. (...) These are all literary fictions, discursive artifacts constructed either by
contemporary readers and writers or retrospectively by literary historians. And since they are
discursive constructs rather than real-world objects, it is possible to construct them in a variety of
ways(...) We can discriminate among constructions of postmodernism, none of them any less true or
6
less fictional than the others, since all of them are finally fictions.
Fiktion hin oder her, zwei Dinge scheinen festzustehen: man kann kaum von einer postmodernen Literatur sprechen, sondern im besten Falle von postmodernen Literaturen, und der
Begriff, wenn zwar etwas diffus, benennt den nicht mehr umkehrbaren Zustand einer NachGeschichte.
Es gibt keine Innovationen mehr, die Mittel sind erschöpft, mit ihnen hat sich das utopische Vertrauen auf die wunderbare Ankunft der Zukunft verbraucht. (...) Eine neue Unbekümmertheit / prägt
5
6
Rolf GRIMMINGER, Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Rowohlt, 1995.
Brian McHALE, Postmodernist Fiction. Routledge, London an New York, 1992, S. 4.
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Traditionalismus versus Modernismus am Beispiel von Thomas Mann und James Joyce
die Postmoderne/, mit einem hinterlassenen Erbe umzugehen, über das hinauszuschreiten nicht
mehr möglich ist. Insofern ist der postmoderne Zustand ebenso epigonal wie luxuriös ausgestattet:
Die babylonischen Türme der Bücher und der Medien des 20. Jahrhunderts stehen ihm zur Verfügung (...). Vor der grau gewordenen Zukunft spielt man mit den Kunstmitteln jeder möglichen
7
Vergangenheit.
Epigonal und luxuriös, Spiel mit allen Kunstmitteln der Vergangenheit: treffender läßt sich
weder der Zauberer kennzeichnen, der sich wohlweislich hinter seinem wettertollen Zauberberg
oder dem mythenträchtigen Joseph verbirgt, noch der Herr Satan hinter dem (post)modernen
Bloom-Odysseus oder dem geschichtsträchtigen H. C. E. Obwohl die theoretische Diskussion um
eine etwaige Gegenüberstellung von Moderne und Postmoderne verhältnismäßig spät aufkommt, nämlich im Anschluß an die 60er Jahre und dann besonders während der 70er und 80er
im 20. Jahrhundert fortgesetzt wird, scheint die Moderne wesentlich früher überwunden zu
sein.
Hanns-Josef ORTHEIL bezieht sich auf die amerikanischen Kritiker Irving HOME und Harry
LEVIN - Letzterer wird , wie eingangs zitiert, von MANN genannt im Zusammenhang mit seinen
Kommentaren über JOYCES Werk - und erwähnt , daß diese in den 50er und 60er Jahren einen
rapiden Bedeutungsverlust moderner Literatur diagnostizieren und fügt diesem Urteil ein
weiteres hinzu, nämlich die Einschätzung Leslie FIEDLERS, der über Ende der Ära des
Modernismus spricht, der „klassisch“ gewordenen Moderne,
kurz vor dem Beginn des ersten Weltkriegs begonnen und in den Kunstromanen von Joyce, Proust
8
und Thomas Mann ihren vollendetsten Ausdruck gefunden habe.
Die Moderne klagt über das Ende der Kunst und deren Möglichkeiten, während die Postmoderne den Endzustand sicherlich wahrnimmt und selbstreflektierend versucht, „sich der Gestaltungsformen der Tradition durch die Brille der Moderne zu bedienen“( ORTHEIL,812). Auf
diese Weise erweist sich das postmoderne Erzählen als ein Spiel, das auf der Voraussetzung
beruht, daß Leser und Erzähler wissen, daß es sich um ein Spiel handelt (ORTHEIL, 813). Das
Ergebnis wird sein: Ironie, metasprachliches Spiel, karnevaleske Maskerade, Parodie, also InterTexte, so daß man mit Recht wird behaupten können:
Viele postmoderne Erzählungen und Romane sind Erzählungen in traditionellem Gewand, die um
9
eine Vielzahl von (...) Inter-Texten gruppiert sind.
Nicht zuletzt modifiziert die Postmoderne das Verhältnis Autor-Werk nicht unerheblich: das
Werk erscheint nicht mehr als „Ausdruck einer schöpferischen Genialität des Autors“ sondern
ist viel mehr ein
künstliches Zeichen, das sich zu seiner Hervorbringung gleichsam des Autors bedient hatte. Der
Autor „verschwand“ im Werk, sein Schreiben unterlag den immanenten Gesetzmäßigkeiten des
10
Werks, das die gestalterischen Fähigkeiten des Autors dazu benutzte, sich zu entgrenzen.
Oft genug bekannte Thomas MANN, daß sich ihm seine Geschichten wie selbsttätig zu
Größerem, beinahe Uferlosem ausweiten, sich verselbständigen, um ein sich dem geneigten
7
Rolf GRIMMINGER,a.a.O.,S.16-7.
ORTHEIL, Texte im Spiegel von Texten. Postmoderne Literaturen, S. 805. In: GRIMMINGER, a.a.O., S. 805.
9
ORTHEIL, ebenda, S. 815.
10
ORTHEIL, ebenda, S. 810.
8
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Carmen Elisabeth Puchianu
Leser Zutragendes zu werden, das ein eigenes Leben führt. Und vielleicht teilt der Andere das
gleiche Los, denn beide sind Schriftsteller der geduldigen Montage, sie tragen zusammen in
jahrelanger Arbeit, bieten eine überwältigende Vielfalt an Gestaltungsformen und möglichkeiten auf und gewinnen der von der Moderne verloren geglaubten Einheit den ganzen
ästhetischen Reiz ab, der sich in ironischer oder parodistischer Brechung künstlerisch äußeren
kann (siehe: ORTHEIL, 803).
Autoren wie Thomas MANN und James JOYCE vermögen sich allerdings nicht vollständig
wegzudenken aus ihren Werken. In irgendeiner Form schreiben sie immer Auto-bio-graphie und
ordnen ihr Schreiben der Ironie, der Parodie, in einem Wort dem Strukturprinzip des mise-enabyme unter. Zwei grundlegend traditionelle Themen lassen sich mit der Postmoderne
assoziieren: jenes der Liebe (des Eros) und jenes des Todes. Beide Themen finden eine enge Verknüpfung, eine regelrechte Verstrickung, sowohl im Werk MANNs als auch in jenem von JOYCE.
Der Weg zum Tode führt bei MANN in der Regel über erotische Verlockung, in sofern sich diese
kombiniert mit krankhafter Empfindsamkeit und Abwegigkeit bzw. ästhetischer Vergeistigung
11
und Dekadenz. Wie an früherer Stelle angedeutet , kann der Tod zwar am Ende jedes Weges
seines Protagonisten harren, aber wie in kreisförmiger Wiederholung ergänzen sich die Pole.
Ähnliches geschieht in den letzten beiden großen Romanen von JOYCE. Am Ende des Weges
von Leo Bloom, der ihn zumindest in die Abgrundtiefe einer parodierten Unterwelt verschlägt,
steht bejahend das Leben, dessen „vicous circles“ sich mythisch im Finnegans Wake wiederholen. Das Schreiben, so McHALE, erweist sich im Sinne der Postmoderne als eine Flucht vor
dem Tod. So zeigt die Geschichte von Gustav von Aschenbach, des alternden Schriftstellers
klassischen Ranges, m.E. nicht allein das Zusammenspiel von Liebe und Tod, von Lockung und
Verführung, sondern sie illustriert ebenso den Versuch des Schriftstellers - des fiktiven wie des
realen - vor dem Tod in die Arme der (homo)erotischen Schönheit zu fliehen. Der Versuch erweist sich notgedrungen jedes Mal als äußerst verfänglich, zumindest im Fiktiven.
Death inhabits texts /.../, because writing carries within it always an element of death, the tragic
literary work - or simply the serious written work in general, the work which deals with life and
death honestly - often turns out to be in some wayâbout itself... That is to say, a work about death
12
often modulates readily, if eerily, into a work about literature.
Das läßt ebenso gut die Umkehrung zu: jedes Werk über Literatur ist ein Werk über den Tod!
Die gesamte Künstlerproblematik, so wie sie sich in den frühen Novellen MANNS bis zu den
späten Romanen über den ernsten zum ironisch-parodischen Tenor entwickelt, steht, nüchtern
und bei Lichte betrachtet für eine solche postmoderne Lesart. Ein Roman wie Der Zauberberg
kann außerhalb dieser Koordinaten gar nicht aufgefaßt werden, um mit HILLEBRAND zu
sprechen:
Das Ziel des Romans ist die Darstellung der Humanität, Darstellung der historischen wie kosmischen
Situation des Menschen. Der Roman ist der Schnittpunkt beider Linien(...) Aber der letzte Fixpunkt
11
Im Mittelteil ihrer Dissertation unternimmt die Verfasserin eine detallierte Analyse der Todesmotivik in Manns
Zauberberg in Verbindung mit der Handhabung der Erzählkategorie der Zeit im gleichen Roman.
12
Brian McHALE, a.a.O., S. 231.
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Traditionalismus versus Modernismus am Beispiel von Thomas Mann und James Joyce
des Lebens eröffnet sich nicht in der Summe aller Einzelheiten, ist nicht die Quantifizierung des
13
Daseinenden, sondern es ist der Tod.
Hans Castorp verliehrt seine angeborene Devotion vor dem Tode - nicht zuletzt durch die
Vermittlung sowohl des Eros als auch der (erzählerischen ) Ironie - und seine Humanisierung
führt zum Einbeziehen der Todesidee ins Leben, ohne sich von jener beherrschen zu lassen.
Darin besteht seine initiatorische Erleuchtung im Schnee-Kapitel.
Wenn es stimmt, daß postmoderne Literatur / postmodernes Schreiben eine Flucht vor dem
Tod anstrebt, dann stimmt es ebenfalls, daß jene / jenes darauf abzielt, den Tod zu simulieren
oder vorzuformen. Es geht gewissermaßen um eine Nachahmung des Todes durch die
Konfrontation verschiedener Welten und durch das Zusammenspiel verschiedener Realitäten,
um solcherart den eigenen Tod durchzuspielen. Solches geschieht im Erzählwerk MANNS
ebenso wie in jenem von JOYCE. Letzterer beendet mindestens drei seiner Prosawerke mit
einem Simulacrum des Todes: gemeint ist das Ende von The Dead, der Monolog der Molly
Bloom am Ende des Ulysses, sowie der „Untergang“ der Anna Livia Plurabelle in den Wassern
der Irischen See (siehe: Finnegans Wake) - eine sich ironisch steigernde Variation des
Schlaf/Traum/Todesmotivs, das in ähnlicher Form sowohl bei MANN als auch bei KAFKA anzutreffen ist. Entsprechend der postmodernen Poetologie fließen in den Ulysses und umso mehr in
den Finnegan eine Vielfalt von Diskursen in die Textstruktur ein. Dadurch zielt JOYCE vor allem
darauf ab, ein kollektives Bewußtsein darzustellen bzw. die Metapher des Bewußtseinsflusses
dahingehend zu reflektieren, daß sich hinter dem Bewußtsein kaum eine beständige Welt verbirgt, als viel mehr Typologien (diskursiver Art). Eine derartige Auffassung und
Darstelllungsweise läuft darauf hinaus, daß der Tod nicht nur begrenzt erscheint, sondern daß
eine Wiederkehr „by a commodius vicus of recirculation“ möglich wird. Den gleichen Kreis beschreitet auch der Zauberer, kehrt stets
zum Anfang, zur Entstehung der Welt, der Himmel und des irdischen Alls aus Tohu und Bohu durch
14
das Wort, das frei über der Urflut schwebte und Gott war
zurück, um über der Dinge „Ur-Kunde“(13) zu erzählen unter der Schirmherrschaft des
(Ab)Gottes Thot von Schmun, dem ägyptischen Gott der Schreibkunst, der als „Zeitenwanderer“
(20) den Weg weist von tiefster Hölle zu den obersten Rängen und nicht ganz fremd ist jenem
Shem the Penman, dem Hochstapler-Künstler aus JOYCES Finnegan, der seinerseits eine
Wiederholung des Stephen Dedalus zu sein scheint...
Halb Gott, halb Scharlatan, ist Thot dem Erzähler zugetan, der zwar in der Geschichte ist,
aber nicht die Geschichte selbst: „er ist ihr Raum, aber sie nicht die seine, sondern er ist außer
15
ihr, und durch eine Wendung seines Wesens setzt er sich in die Lage, sie zu erörtern“. Die
Geschichte quillt aus dem Born,
aus dem alles Geschehen quillt, und erzählt geschehend sich selbst/.../ Hundertmal ist sie erzählt
worden und durch hundert Mittel der Erzählung gegangen. Hier und heute geht sie durch eines,
13
Bruno HILLEBRAND, Theorie des Romans.Erzählstrategien der Neuzeit. Fischer Verlag, 1996, S. 283.
Thomas MANN, Die Geschichten Jaakobs, Fischer Verlag, 1990, S. 12.
15
ThomasMANN, Joseph in Ägypten, Fischer Verlag, 1990, S. 616.
14
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worin sie gleichsam Selbstbesinnung gewinnt und sich erinnert, wie es denn eigentlich im Grauen
16
und Wirklichen einst mit ihr gewesen, also, daß sie zugleich quillt und sich erörtert.
Das ist Mythos vom besten und Metatext zugleich, wie fast alles im Werk des Zauberers:
Inszenierung von Aufstieg zum Leben und Fall in den Tod und umgekehrt auch. Der mythische
Roman situiert sich, wie der Doktor Faustus, eindeutig an dem Rand des Modernismus, denn er
„nimmt an der Epoche seiner Entstehung teil, an der postmodernen Suche nach gültigen Bin17
dungen“.
Thomas MANN und James JOYCE: sie erscheinen gern als große Finder in ihren Büchern,
spiegeln ihr Ich in wiederholbarer Nachfolge und mannigfacher Form: mal als lebensuntüchtiger Künstler und „Bürger auf Irrwegen“, mal als alternder Ästhet oder vom Klimakterium
und dem späten Ostern der Sinne heimgesuchte Matrone , mal als keuscher Träumer oder gehörnter Ehemann und geistiger Vater, schließlich als Scharlatan und Hochstapler höherer
Schule. Was sich dabei dem geneigten Leser darbietet, ist m.E. ein grandioses Fest
karnevalesker Aufmachung, so ganz im Sinne BAHTINS und der Postmoderne.
Statt eines Fazits
Fazits
Ging JOYCE den Weg der Zerschlagung alter Formen und Traditionen, schafft MANN Romane unter
„ironischer Beibehaltung, wenn auch Auflockerung der überkommenen Form“.18
Beide verschreiben sich dem Prinzip der Ironisierung von Inhalten und der Parodierung der
Form, so daß mythische Geschichten entstehen von der Art der Joseph-Romane oder des Wake.
Es handelt sich dabei um Kunst, die im Zeichen des Endzustandes und der Endzeit steht. Und
beider Ziel ist es, wahr und rücksichtslos das Ende einer Epoche und einer künstlerischen
Tradition darzustellen. Schrieb MANN über JOYCE, dieser zeige, wo Romane keine Romane
mehr sein können, so kann man schließlich das Gleiche auch über Mann selbst behaupten. Der
letzte große Roman, Doktor Faustus (1948), beabsichtigt nicht allein eine Synthese des
Künstlermotivs zu machen, sondern parodiert sämtliche Romane des Zauberers und verweist
dezidiert auf das unausweichliche Ende: nämlich auf Erstarrung und Sterilität des Künstlers
nicht aber der Kunstform selbst.
Zum Schluß: hier kann weder von „flauem Traditionalismus“ noch von "exzentrischem
Avantgardismus“ die Rede sein. Viel eher situieren sich Autoren wie Thomas MANN und James
JOYCE m.E. wesentlich mehr zwischen Moderne und Postmoderne , als zwischen Tradition und
Moderne. Oder anders: der Weg jedes Endzeitkünstlers führt notgedrungen von der Tradition
über die Moderne zur Postmoderne. Denn jede Anstrengung, sich der Gestaltungsformen der
Tradition durch die Brille der Moderne zu bedienen, muß letztendlich als spezifisch postmodern
gewertet werden19.
Literatur:
16
Thomas MANN, ebenda, S. 616.
Herbert LEHNERT:Thomas Mann und die deutsche Literatur seiner Zeit in: H. KOOPMANNS Thomas-Mann-Handbuch,
Kröner Verlag, Regensburg 1995, S. 159.
18
Hans MAYER, Thomas Mann, Suhrkamp, 1984, S. 182.
19
Siehe hierzu ORTHEIL, a.a.O., S. 812.
17
100
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Traditionalismus versus Modernismus am Beispiel von Thomas Mann und James Joyce
Primärliteratur:
Joyce, James:
1.
2.
3.
4.
The Dead in :Dubliners.Panther Books, Granada Publishing Ltd. London, 1984, S. 160-201
A Portrait of the Artist as a Young Man.Panther Books, London, 1983
Ulysses.Penguin Books, London, 1975
Finnegans Wake.Faber and Faber, London, 1972
Mann, Thomas:
1.
2.
Anna Karenina. Einleitung zu einer amerikanischen Ausgabe von Leo Tolstoi. Die Entstehung des Doktor Faustus.
Roman eines Romans. Einführung in den Zauberberg. Für Studenten der Universität Princeton. Joseph und seine
Brüder. Ein Vortrag. In: Gesammelte Werke, Bd. 12, Aufbau Verlag,Berlin, 1956
Die Kunst des Romans. Ein Vortrag für Princeton Studenten. In: Gesammelte Werke, Bd. 11: Der Zauberberg,
Aufbau, Berlin, 1968
Sekundärliteratur:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
ANGELOVA, PENKA: Romanwelten. Ansichten zum Roman des 20. Jahrhunderts. PIC Verlag, Veliko Tarnovo, 1995
BAUMGART, REINHARD: Drei Wege zum Werk: Thomas Mann. Franz Kafka. Bertolt Brecht. Fischer Verlag, 1993
DEMETZ, PETER: Formen des Realismus: Theodor Fontane. Kritische Untersuchungen. Carl Hanser Verlag, München,
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HERMINE OTT UND IHRE NAMENSSCHWESTERN
Annäherungen an Ferdinand von Saars Novelle Der ‚Exzellenzherr’
Margarete Wagner
Ferdinand von Saar hat an seinen relativ kurzen und vordergründig schlicht erscheinenden
Erzähltexten zumeist unverhältnismäßig lange gearbeitet und gefeilt. Ergebnis dieser Feinarbeit
sind außergewöhnlich dichte, von mannigfaltigen Beziehungsgeflechten und Anspielungen
durchzogene Texte, in denen jedes Wort, jede Nuance sorgfältig abgewogen und kunstvoll in
den Kontext gefügt ist. Demzufolge ist auch die Namensgebung in seinen Erzähltexten niemals
nur eine rein willkürliche, sondern immer mit einer zusätzlichen Bedeutungsgebung verbunden,
die allerdings oftmals über die übliche Namensdeutung hinausgeht.
In der Folge soll am Beispiel der 1882 fertiggestellten Novelle Der ‘Exzellenzherr’ demonstriert werden, w i e sich zugleich mit der Entschlüsselung eines Namens wichtige andere
Aspekte der Erzählung erschließen lassen. Für gewöhnlich stattet Saar immer nur w e n i-g e
Figuren in seinen Texten mit konkreten Namen aus – ein bewußter Kniff, um die Aufmerksamkeit des Lesers auf das nur spärlich Gebotene zu konzentrieren, um so zur Entschlüsselung anzuregen. In der Folge soll allerdings nur auf den Namen der weiblichen Hauptperson der Erzählung näher eingegangen werden.
Die Deutung des Familiennamens ‘Ott’
1
Der in Österreich gebräuchliche Familienname ‘Ott’ leitet sich von althochdeutsch ‘ōd’ in
2
der Bedeutung von ‘Besitz’ her und ist eine im Oberdeutschen gebräuchliche Kurzform zum
altdeutschen Personennamen Ottokar oder Otto, der im Mittelalter besonders als Kaisername
3
große Bedeutung erfuhr.
Diese Herleitung macht in Hinblick auf Hermine Ott und ihre Familie, bei der sich tatsächlich alles um den Besitz beziehungsweise Nicht-Besitz von Vermögenswerten dreht, durchaus
Sinn. Denn Vater Ott ist zu Beginn der Bekanntschaft zwischen Hermine und dem Exzellenzherrn, im Juni des Jahres 1861, noch „Vorsteher einer großen Fabriksniederlage in der Stadt“ (S
4
7/II,58) und bewohnt ein „mäßig große[s] Landhaus[ ]“ (S 7/II,57) auf dem freien Feld im
Wiener Vorort Döbling. Aber infolge der übermäßigen Fruchtbarkeit seiner zweiten Ehe verringert sich das Vermögen der Familie zusehends, obwohl der „mürrische[ ] und leutescheue[ ]“
(S 7/II,58) Mann versucht, durch „ausgedehnte[ ] Gemüsepflanzungen“ (S 7/II,57) sowie „Obstund Blumenzucht“ (S 7/II,58) den Etat des Haushalts aufzubessern. Die älteste Tochter aus
erster Ehe, die das unfreundliche Wesen des Vaters geerbt hat und aufgrund ihres feindseligen
Blicks vom Exzellenzherrn mit dem wenig schmeichelhaften Spitznamen einer ‘Meduse’ belegt
wird, kann – nachdem sich ihre Aussichten auf eine Heirat zerschlugen – n i c h t im Schoße
der Familie verbleiben, sondern muß sich darauf vorbereiten, ihren künftigen Lebensunterhalt
1
Maria Hornung: Lexikon österreichischer Familiennamen. St. Pölten, Wien 1989, S. 101b.
Max Gottschald: Deutsche Namenkunde. Unsere Familiennamen nach ihrer Entstehung und Bedeutung. 4. Aufl. mit e.
Vorw. u. e. bibliograph. Nachw. von Rudolf Schützeichel. Berlin 1971, S. 452ab.
3
Hans Bahlow: Deutsches Namenlexikon. Familien- und Vornamen nach Ursprung und Sinn erklärt. Frankfurt a. M.
3
1977 (suhrkamp tb 65), S. 370.
2
4
(S 7/II,58) = Ferdinand von Saars sämtliche Werke, Bd 7/Tl II,S. 58. – Zitiert nach: Ferdinand von Saars sämtliche
Werke in 12 Bänden, im Auftrage des Wiener Zweigvereins der Deutschen Schillerstiftung mit e. Biographie des
Dichters von Anton Bettelheim, hg. von Jakob Minor. Leipzig o. J. [1908], hier Bd 7: Novellen aus Österreich, Tl II, S. 58.
Hermine Ott und ihre Namensschwestern.
Annäherungen an Ferdinand von Saars Novelle Der ‘Exzellenzherr’
als Gouvernante zu verdienen – ein Umstand, der womöglich noch verstärkend auf ihre Übellaunigkeit wirkt. Hermine als Zweitälteste muß im Haushalt mithelfen und Mutterpflichten an
einer Schar von „wie die Orgelpfeifen“ (S 7/II,58) heranwachsenden, jüngeren Geschwistern
übernehmen, welche die kranke, offensichtlich durch zu viele Geburten erschöpfte Mutter nicht
erfüllen kann. Als sich Hermines Hoffnungen, vom um diese Zeit noch in den besten Jahren
stehenden und durchaus wohlhabenden Exzellenzherrn geheiratet zu werden, letztlich nicht
erfüllen, gibt sie dem Drängen der Familie nach und willigt in eine reine Versorgungsheirat ein.
Als nach dem Tod des alten Ott das Landhaus verkauft werden muß und die Familie in völlige
Verarmung fällt, nimmt Hermine sogar ihre gesamte verarmte Sippe, die verwitwete Mutter
und die noch unversorgten Geschwister in den Haushalt ihres ungeliebten Ehemannes auf und
schuldet ihm – neben den ungern erfüllten ehelichen Pflichten – noch zusätzliche Dankbarkeit.
Die ökonomischen Vorkehrungen von Hermines Vater sind offensichtlich noch stark von der
Biedermeierzeit geprägt, in der der Vater noch das unwidersprochene Haupt einer kinderreichen, eng zusammenhaltenden und zusammenarbeitenden Familie ist. Viele der im Vormärz
noch durchaus florierenden Fabrikationsstätten, die sich besonders in Wien und Niederösterreich angesiedelt hatten, gerieten bereits in den fünfziger Jahren, im Jahrzehnt des Neoabsolutismus, in finanzielle Bedrängnis, die sich ab 1863, als sich der Liberalismus etablierte,
dann infolge von weiteren Krisen, etwa den Folgen der 1859 verordneten Gewerbefreiheit und
der sich allmählich durchsetzenden kapitalistischen Marktwirtschaft noch steigerte. Erst ab
5
1867 konnte ein wirtschaftlicher Neuaufschwung erfolgen. Im Frühjahr 1861, zum Zeitpunkt
der ersten Begegnung Hermines mit dem Exzellenzherrn, befindet sich die Ottsche Fabrik schon
nicht mehr im allerbesten Zustand. Der Versuch, den Rückgang des Geschäfts durch billiges
Wohnen am Land und gärtnerische Selbstversorgung auszugleichen, erweist sich als Maßnahme nicht flexibel genug für das nun anbrechende Zeitalter eines dynamischen Kapitalismus.
Durch die Wirtschaftskrise der sechziger Jahre und durch den Tod Herrn Otts sinkt die Familie
vollends unter die Armutsgrenze.
Viel schwieriger erweist sich die Deutung des Namens ‘Hermine’.
Die Deutung des Namens ‘Hermine’
Der Vorname ‘Hermine’ ist die weibliche Form zu ‘Hermann’, einem Namen, der auf das Althochdeutsche zurückgeht und soviel wie ‘Heer’ und ‘Mann’, also im weitesten Sinne ‘Kämpfer’
6
oder ‘Krieger’ bedeutet und im Mittelalter sehr beliebt war.
Die weibliche Ausformung dazu erfuhr dagegen erst im 19. Jahrhundert weite Verbreitung
und fand so auch Eingang in die Literatur, wie etwa in Gottfried Kellers Das Fähnlein der sieben
7
Aufrechten, wovon in der Folge noch die Rede sein wird.
Da jedoch die zarte Hermine Ott – im Kontext betrachtet – genau das Gegenteil einer
Kämpfernatur ist, so vermag sie letztlich dem kriegerischen Appell in ihrem Namen in keiner
Weise zu entsprechen, sodaß sich natürlich die Frage erhebt, w a r u m Saar die weibliche
Hauptperson seiner Erzählung gerade mit diesem, und nicht mit einem passenderen Namen
5
Roman Sandgruber: Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart.
Wien 1995 (Österreichische Geschichte, hg. von Herwig Wolfram, Bd 10), S. 191, 237ff., 243-245.
6
Wilfrid Seibicke: Vornamen. 2., vollst. überarb. Aufl. Frankfurt a. M. 1991, S. 193b.
Lutz Mackensen: 3876 Vornamen. Herkunft, Ableitung und Koseform. Verbreitung. Berühmte Namensträger. Gedenkund Namenstage. 2. überarb. Aufl. München 1974, S. 85.
7
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103
Margarete Wagner
belegte. Da die Namenforschung im vorliegenden Fall nicht weiter führt, bedarf es weiterer
Hinweise und einer anderen Vorgangsweise, um diese Frage zu beantworten.
Bei Saar lassen sich immer wieder literarische Anspielungen, bisweilen offen, bisweilen aber
auch indirekt aufdecken. Schon das Geständnis des Exzellenzherrn über seine umfangreiche
Bibliothek: „Es sind zumeist ältere Werke [...], namentlich was die schöne Literatur betrifft“ (S
7/II,48), läßt bereits aufhorchen, und der Hinweis, daß sich der ungeduldige Galan im
Liechtensteinschen Garten bereits im Knabenalter „in die ‘deutschen Volksbücher’ oder in die
Märchen aus ‘Tausend und eine Nacht’ versenkt[ ]“ (S 7/II,62) hatte, lang ehe noch vom ersten
Rendezvous mit Hermine Ott die Rede war, lenkt den Verdacht zusätzlich in eine bestimmte
Richtung, der sich letztlich im Verein mit dem Namen ‘Hermine’ zur Gewißheit verdichtet. Denn
die Namengebung der Saarschen Figuren ist niemals nebensächlich, sondern enthält zumeist
konkrete Hinweise auf Mitzuwissendes und Mitzuverstehendes, das seinen Erzählungen noch
zusätzliche Dimensionen verleiht, die man provokant auch als Zeugen humanistischer Gelehrsamkeit ihres Autors bezeichnen könnte.
1838 bis 1841 war erstmals eine direkt aus dem Arabischen ins Deutsche erfolgende Übersetzung der Märchen aus Tausend und einer Nacht durch Gustav Weil erschienen, die allerdings
8
gekürzt, adaptiert und dem damaligen Geschmack und Moralgefühl dermaßen angepaßt war,
daß sie durchaus Lesestoff für einen noch knabenhaften Exzellenzherrn sein konnten, der um
9
diese Zeit etwa zwischen dreizehn und sechzehn Jahren zählte. Und zeitlich gesehen verhält es
sich auch mit den Deutschen Volksbüchern ähnlich, die zwar bereits 1807 von Johann Joseph
10
von Görres gesammelt und veröffentlicht worden waren, aber durch Gustav Schwabs Nach11
erzählungen in drei Bänden ab 1836/37 erst richtig populär wurden.
Tancred und Erminia. Torquato Tassos Befreites Jerusalem
Die Deutschen Volksbücher mit ihren Sagen aus der abendländischen Helden- und Ritterzeit
und die Märchen aus tausend und einer Nacht, die in die Ritterzeit des Morgenlandes versetzen,
sind als indirekte Hinweise auf Torquato Tassos (1544–1595) Befreites Jerusalem (1570–1575)
zu werten, das von der Befreiung der ‘Heiligen Stadt’ durch die Kreuzfahrer unter der Führung
12
von Gottfried von Bouillon handelt.
8
Tausend und eine Nacht. Arabische Erzählungen, zum erstenmale aus dem Urtext vollst. u. treu übers. von Gustav
Weil, mit 700 Ill., 4 Bde. Berlin 1965. – Vgl dazu auch Wiebke Walther: Alf Laila wa-Laila. In: Kindlers Neues Literatur
Lexikon, hg. von Walter Jens, Bd 18. München 1988, S. 97b-101b, bes. 99b.
9
Mehr über empirisch-historisch nachvollziehbare Daten und Zeiträume sowie über das Alter des Exzellenzherrn vgl.
Margarete Wagner: „Wen solche Lehren nicht erfreun, verdienet nicht, ein Mensch zu sein.“ – Ein vorzeitig abgebrochener Opernabend und seine Folgen. Überlegungen zu Ferdinand von Saars Novelle „Der ‘Exzellenzherr’“. In: Prima
le Parole e poi la Musica. Festschr. für Herbert Zeman zum 60. Geburtstag, hg. von Elisabeth Buxbaum u. Wynfried
Kriegleder. Wien 2000, S. 225-245, hier bes. 225f., 229ff. u. 242, Anm. 4.
10
Jochen Schmidt u. Redaktion Kindlers Literatur Lexikon: Johann Joseph von Görres: Die Teutschen Volksbücher.
Nähere Würdigung der schönen Historien-, Wetter- und Arzneibüchlein, welche teils innerer Wert, teils Zufall, Jahrhunderte hindurch bis auf unsere Zeit erhalten hat. In: Kindlers Neues Literatur Lexikon, Bd 6 (Anm. 8), S. 422b-423b.
11
Gustav Schwab: Die Deutschen Volksbücher, wiedererz. von dems., 3 Tle mit den Ill. der Ausg. von 1859 u. e. Nachw.
von Karl Riha u. Georg Bollenbeck. Frankfurt a. M. 1978 (it 380).
12
Vgl. dazu auch Kobaus Ausführungen über Saars künstlerische Identifikation mit Benvenuto Cellinis feinziselierender
Goldschmiedekunst und der in Goethes Torquato Tasso abgehandelten Problematik eines von Mäzenatentum abhängigen Hofdichters. – Ernst Kobau: Rastlos zieht die Flucht der Jahre... Josephine und Franziska von Wertheimstein –
Ferdinand von Saar. Wien, Köln, Weimar 1997, S. 354-387.
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Hermine Ott und ihre Namensschwestern.
Annäherungen an Ferdinand von Saars Novelle Der ‘Exzellenzherr’
Die zarte, unkämpferische Erminia – der Name ist die italienische Form zu Hermine – in
ihrem resignativen Verzicht auf den ‘geliebten Feind’ Tancred entspricht in ihrem Grundmuster
der ebenso sanften wie wehrlosen Hermine Ott, da sie einer miteinander im Hader liegenden
Welt nicht gewachsen zu sein scheint. Über sie heißt es bei Tasso:
Die Arme liebt und glühet, unbeachtet
Und so durchaus ist hoffen ihr verwehrt,
Daß sie die stille Glut, in der sie schmachtet,
13
Mehr mit Erinnrung als mit Hoffnung nährt (T 6,60) .
In der Figur der Erminia, die „[b]leich und entstellt, in gänzlicher Bethörung, / [...] ein Bild
des Grams und der Verstörung“ (T 6,64) den Anblick des ‘geliebten Feindes’ Tancred ersehnt, um
zugleich aus Furcht vor seiner Gefährdung zu erzittern, zeigt sich, wie Liebe und Menschlichkeit
in diesem furchtbaren Ringen um eine einzige Stadt ‘um der höheren Ehre Gottes willen’
scheinbar auf der Strecke bleiben und sich erst im schlußendlich erkämpften Endfrieden wieder
Geltung verschaffen werden.
Ähnlich dem Exzellenherrn ist der einzige Fehler des ritterlichen Tancred „der Liebe holde
Raserei“ (T 1,45), wobei der normannenblütige Neapolitaner für sich jedoch gänzlich andere
Prämissen setzt als Saars mißglückter ‘Held’ einer österreichischen Beamtenlaufbahn der
Gründerzeit. Zwar steht auch Tancred in seinem Kampf einer Dreiheit weiblicher Ausformungen
gegenüber, drei edlen heidnischen Prinzessinnen, die es allerdings n i c h t zu verführen,
sondern zu bekehren gilt. Ebenso steht der Exzellenzherr – zwischen Wunsch, Furcht und Wirklichkeit zerrissen – wie ein zweiter Paris von Troja vor der Wahl zwischen kämpferischer
14
Intellektueller, Hausmütterchen und erotischer Verführerin. Saar zeigt ihn allerdings nicht in
einen Glaubens-, sondern in einen Geschlechterkampf verwickelt, den letztlich alle Beteiligten
verlieren müssen.
Die amazonengleiche Kämpferin Clorinde entspricht der intellektuellen Ottschen Meduse.
Bei Tasso gehört der dianenhaft jungfräulichen Clorinde, der auch viele Züge der Pallas Athene
anhaften, Tancreds ganze Liebe. Er muß sie allerdings erst töten, um s i e – beziehungsweise
ihren heidnischen Glauben – zu überwinden. Wie die ältere Ott-Tochter, die gleichfalls keinen
Finger im Haushalt rührt, „[d]enn [...sie] dünkt sich zu gut für derlei“ (S 7/II,58), ist auch Clorinde hausfraulich unbegabt:
Seit ihrer frühsten Jugendzeit verschmähte
Sie schon der Weiber Sitt’ und Lebensart.
Arachnens Arbeit, Nadel, Spinngeräthe,
Ward nimmer mit der stolzen Hand gepaart (T 2,39).
13
(T 6,60) = Torquato Tasso: Das befreite Jerusalem, Buch 6,Strophe 60. – Zitiert nach: Torquato Tasso: Das befreite
Jerusalem, aus dem Italien. übers. von J. D. Gries. Leipzig o. J. [1872] (RUB 445-448), hier S. 117. – Es wurde hier
bewußt eine Übersetzung gewählt, die Ferdinand von Saar möglicherweise gekannt hat. Es ist aber auch nicht auszuschließen, daß er das Werk in der Originalsprache gelesen hat, denn – laut Selbstaussage – war ihm die italienische
Sprache „ziemlich geläufig“. Vgl. Anton Bettelheim: Ferdinand von Saars Leben und Schaffen. In: Ferdinand von Saar:
Gesamtausgabe des erzählerischen Werkes, Bd 3. Wien 1959, S. 365-417, hier 384.
14
Herbert Hunger: Lexikon der griechischen und römischen Mythologie mit Hinweisen auf das Fortwirken antiker Stoffe
und Motive in der bildenden Kunst, Literatur und Musik des Abendlandes bis zur Gegenwart, 8., erw. Aufl. mit 115 Abb.
Wien 1988, S. 387f.
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Margarete Wagner
Ihr drohender Blick beim Zweikampf – „[e]in reißend Thier dem Mann“ (T 2,40) erscheint
sie – versetzt den tapferen Tancred aber keineswegs in Furcht. Die Überwindung der Widerstrebenden bedeutet für ihn vielmehr höchster Genuß, wenn es heißt:
Ihr Auge flammt, als ob es Blitze sprühte,
im Zorne hold; wie wär’s im Lächeln gar? (T 3,22)
Der bei weitem zahmere Exzellenzherr dagegen zieht sich schon beim bloßen Anblick der
Meduse oder beim moralinsauren Gouvernantengehabe Hermines bei ihrem ersten und einzigen
Rendezvous fluchtartig zurück – er erweist sich starken oder sich stark gebärdenden Frauen
gegenüber also als schwach.
15
Clorindes Genese gleicht in vielerlei Hinsicht dem Danae-Mythos , wobei hier jedoch die
List des ewig lüsternen Göttervaters, sich Danae in Gestalt eines Goldregens zu nähern, durch
ein Bildnis des heiligen Georg ersetzt wird, der Clorindes Mutter n i c h t durch Verführung,
sondern durch Sympathiezauber in frommen Bann schlägt:
Das Abbild einer heiligen Geschichte
Dient’ ihrem Wohngemach zur frommen Zier:
Ein Mädchen, weiß und roth von Angesichte,
Gefesselt bei dem Drachen, sieht man hier,
Indeß ein Ritter mit des Speers Gewichte
Bekämpft und tödtet das gewalt’ge Thier.
Hier warf sie oft sich nieder im Gebete,
Bekannte stillen Fehl und weint’ und flehte. (T 12,23)
Die Gestalt des heiligen Georg mit dem Drachen ist aber im Grunde nichts anderes als die
16
christliche Ausformung des alten Perseus-Mythos, womit der mythologische Bogen zur Figur
der Ottschen Meduse geschlagen wäre, deren verstörender Anblick den Exzellenzherrn so sehr
17
verschreckt, daß er es verabsäumt, wie ein zweiter Perseus Andromeda beziehungsweise
Hermine Ott aus den Klauen des ‘Meeresungeheuers’ zu befreien, für das man getrost ihre
dominante Schwester, ihre belastende Familienkonstellation oder ihre Preisgegebenheit an gesellschaftliche Zwänge setzen könnte.
Ähnlich Hermine, die von ihrer stärkeren und klügeren Schwester abhängig ist, steht
übrigens auch Erminia im Schatten Clorindes, deren Tapferkeit sie bewundert. Sie schlüpft
sogar heimlich in Clorindes Waffenrock, um in dieser Verkleidung zu Tancred zu gelangen.
(T 6,81-114) Hermine Ott dagegen wird „unwahr“ (S 7/II,73), wie sie es gegen Ende ihres
Lebens selbst formuliert, indem sie sich des „verächtliche[n] Blick[s] und des scharfen und
schneidenden Ton[s]“ (S 7/II,66) der Meduse bedient, um solcherart ‘maskiert’ oder gewappnet
dem Exzellenzherrn ihr erstes Rendezvous zu gewähren. Dabei hätte es durchaus den sogenannten „goldene[n] Träume[n]“ (S 7/II,59) des Exzellenzherrn entsprochen, an der Seite
Hermines in ländlicher Abgeschiedenheit „[s]einen Kohl selbst [zu] bauen“ (S 7/II,59). Das
Philemon-und-Baucis-Motiv als idealistischer Lebensentwurf findet übrigens auch bei Tasso
eine Parallele: Erminia gelangt auf ihrer überstürzten Flucht aus dem Schlachtengetümmel
schließlich in ein bukolisches Idyll, in dem ein Greis und seine treue Gattin hausen wie weiland
Philemon und Baucis in der antiken Mythologie. –
15
Hunger: Lexikon der griechischen und römischen Mythologie (Anm. 14), S. 112.
Hiltgart L. Keller: Reclams Lexikon der Heiligen und der biblischen Gestalten. Legenden und Darstellungen in der
bildenden Kunst. 4., durchges. u. erg. Aufl. Stuttgart 1979 (RUB 10154), S. 219.
17
Hunger: Lexikon der griechischen und römischen Mythologie (Anm. 14), S. 405ff.
16
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Hermine Ott und ihre Namensschwestern.
Annäherungen an Ferdinand von Saars Novelle Der ‘Exzellenzherr’
Die verführerische Armida mit ihrem venushaften Zaubergarten wiederum, der
[...] keins im Morgenland an Schönheit gleicht.
Was Frauendienst, was Zauberkunst verrichte,
das Alles ist ihr gleich bekannt und leicht (T 4,23),
ähnelt jenem „außerordentlich schöne[n] Weib[ ]“ (S 7/II,68), das den Exzellenzherrn erst in
seine Netze verstrickt, um ihn schließlich um fast sein gesamtes Erbe zu erleichtern.
Tancred und der fromme Gottfried von Bouillon dagegen besitzen als christliche Ritter die
moralische Kraft, der gefährlichen erotischen „Zauberin“ (T 5,65) zu widerstehen. Denn Tancreds Herz ist gefeit gegen derlei Verführungskünste durch seine Liebe zur wehrhaften und
keuschen Clorinde,
Weil seine Brust, von anderm Trieb befangen,
Nicht Raum mehr hat für eine neue Glut;
Denn wie durch Gift dem Gifte wird entgangen,
So ist vor Lieb’ auch Liebe sichre Hut. (T 5,65).
Tancred gerät zwar in Armidas Gefangenschaft und wird in ihr Zauberschloß mit seinem
‘Garten der Lüste’ gebracht, welche sich beide auf einer kleinen Insel inmitten eines bodenlosen
toten Sees befinden (T 10,60-72) – eine klaustrophobische Vorstellung, die große Ähnlichkeit
mit dem Hörselberg der Frau Venus aufweist – er kann jedoch befreit werden, o h n e daß
seine Liebe zu Clorinde ins Wanken gerät. Der Exzellenzherr dagegen verliert sich wie ein
zweiter Tannhäuser beinahe ausweglos in seinem Wiener ‘Venusberg’.
Tancred dagegen wird – als er nach Damaskus gebracht werden soll – durch den jugendlichen Helden Rinaldo befreit. An seiner Statt gerät Rinaldo – selbst eine jüngere und leidenschaftlichere Inkarnation Tancreds – in die Fänge Armidas und erliegt ihrem becircenden
Liebeszauber. Doch auch Armida vermag dem nun anhebenden Liebeskampf nicht unversehrt zu
entgehen: Auch sie verliebt sich – ohne es zu wollen – in Rinaldo, und zwar umso heftiger, als
Rinaldo ihrem allesbezwingenden Zauber Widerstand entgegensetzt. In der Entscheidungsschlacht um Jerusalem überwindet schließlich die Liebe zu Rinaldo den Zorn der schönen
Heidin, und die beiden Liebenden finden zueinander. Rinaldo schwört:
[...] Ich will aufs neue
Der Väter alten Thron dir auferbaun (T 20,135),
und Armida gibt sich endlich bezwungen:
Sieh, spricht sie, deine Magd; mit mir verfüge
Wie dir’s gefällt, dein Wink ist ihr Genüge (T 20,136).
Tancred hingegen scheitert zwar im Liebeskampf, indem er unwissentlich den Tod Clorindes
verursacht, zeigt aber in der Wahl seiner Geliebten großen Mut und aufrechte Beständigkeit.
Weder erliegt er den Lockungen der Venus noch der Versuchung, sich von der schwächlichen
Erminia bewundern zu lassen, wie es der bürgerlich domestizierte Beamte des 19. Jahrhunderts
für sein Image als Haupt der Familie für unabdingbar erachtet. Tancred wählt vielmehr die ehrliche Auseinandersetzung mit einer starken, kämpferischen, moralisch integeren und im Grunde
unbequemen Frau, wodurch seine Ehre, sein Mut und seine Männlichkeit umso strahlender und
heldischer hervortreten – was man vom Exzellenzherrn mit seiner Empfindlichkeit, Eitelkeit,
moralischen Laxheit und seinen kleinen schönfärberischen Unaufrichtigkeiten nicht behaupten
kann.
Nach blutigem Zweikampf bleibt Tancred, der ohne Clorinde nicht mehr leben möchte und
daher den Tod sucht, schwer verletzt auf der Wallstatt liegen und wird schließlich von Erminia
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Margarete Wagner
gefunden, gerettet und gepflegt. Sie reinigt seine Wunden mit ihren Haaren und verbindet sie
mit ihrem Schleier. Auf die Frage des zum Leben wiedererweckten Tancred: „wer, mitleid’ge
Pflegerin, bist du?“, seufzt sie,
[...] von Freud’ und Furcht entglommen,
Und sanftes Roth deckt ihre Wangen zu.
Von allem, spricht sie, wird dir Kunde kommen;
Jetzt, als dein Arzt, gebiet’ ich Still’ und Ruh.
Denk’ auf Belohnung, du genesest wieder.
Dann legt sie auf den Schooß sein Haupt darnieder. (T 19,114)
Und so steht am Ende von Tancreds Heldentum und am Ende des großen Kampfes das Bild
der Pietà: der mit Wunden geschlagene Krieger, gebettet in den Schoß einer ‘mater dolorosa’,
der bereits leise Hoffnung auf Dankbarkeit in der nun anbrechenden Friedenszeit erwartungsfroh die Wangen rötet, während Hermine Ott, vor Hoffnungslosigkeit verkümmernd, immer
blasser und schwächer wird, ehe sie ihr Leben aushaucht.
Die ungleichen Schwestern. Paul Heyses Barbarossa
Neun Jahre vor Saars Erstfassung zur Novelle Der ‘Exzellenzherr’ war Paul Heyses Novelle
Barbarossa (1869) erschienen, in der gleichfalls das Motiv der ungleichen Schwestern abgehandelt wurde und die Saar sicherlich gekannt haben dürfte, zumal sich bei Saar des öfteren
18
Bezüge zu Heyses Werken nachweisen lassen. Schauplatz der Handlung ist allerdings – wie so
oft bei Heyse – Italien in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts. Abgesehen von der
Namengebung und den süßen siebzehn Jahren der beiden Heldinnen gibt es auch rein äußerlich
betrachtet eine große Ähnlichkeit zwischen den Italienerinnen Erminia und Maddalena und den
Döblingerinnen Hermine und Meduse Ott: es handelt sich um das schwesterliche Gegensatzpaar der Schönen und der Häßlichen. Damit enden aber auch schon die Parallelen.
Die ungleichen Schwestern sind im Grunde genommen ein uraltes Märchenmotiv und
können entweder paarig oder als Kleeblatt auftreten, etwa als ‘Golmarie’ und ‘Pechmarie’ in
Frau Holle oder als Die weiße und die schwarze Braut; die Dreierkonstellation, wie sie auch bei
der Paris-Wahl vorliegt, findet sich etwa in Aschenputtel, im Dummlingsmärchen Die Bienenkönigin, im Bärenhäuter oder in Einäuglein, Zweiäuglein und Dreiäuglein, und zwar immer als
19
Gegensatzpaar von schön und häßlich, fleißig und faul oder gut und böse. In Ferdinand von
Saars Erzählung nimmt der Exzellenzherr gleichfalls eine sehr subjektive Wertung vor, die mit
den bekannten Märchenkonstellationen übereinstimmt, denn Hermine ist schön, fleißig, lieb
und gut, die Meduse häßlich, faul, unliebenswürdig und böse, die Maitresse jedoch schön, faul,
mehr als liebenswürdig und durch und durch schlecht.
Das im Märchen verordnete Arbeitspensum besteht für Hermine darin, sich durch eigenverantwortliches Handeln ihr Lebensglück zu sichern. Die Märchenheldin gerät dabei in den
Machtbereich des Dämonischen, der zumeist mütterlich-weiblich ist und immer etwas Feenoder Hexenhaftes an sich hat, und gelangt durch Überwindung von Furcht oder Ekel zur Belohnung. Auch Hermine Ott läßt sich von der sowohl mütterlichen als auch kupplerischen alten
Gärtnersfrau zum verbotenen Rendezvous beschwatzen, kann aber ihre Furcht und Unsicherheit
nicht zur Gänze überwinden und bittet ihr schwesterliches Gegenbild um Rat. Damit verläßt sie
18
Wagner: „Wen solche Lehren nicht erfreun, verdienet nicht ein Mensch zu sein“ (Anm. 9), S. 231.
Vgl. Barbara Gobrecht: Mädchen: Das gute und das schlechte Mädchen. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, hg. von Rolf Wilhelm Brednich, Bd 8. Berlin, New York 1996,
Sp. 1366-1375.
19
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Hermine Ott und ihre Namensschwestern.
Annäherungen an Ferdinand von Saars Novelle Der ‘Exzellenzherr’
aber den bereits eingeschlagenen Pfad der Selbstfindung und verliert schließlich in den Augen
ihres Verehrers all ihre Reize, als sie sich gar hinter der gouvernantenhaft strengen Maske der
Meduse versteckt.
Im Vergleich zur Heyseschen Erminia wird Hermine Ott als zart und anmutig, kindlich und
unschuldig geschildert, also als typische Kindfrau, ähnlich dem Mädchen Seraphine in der
Erzählung Der Sündenfall (S 10/IV,235-273).
Die Italienerin Erminia wirkt dagegen fast monumental, wie „in Rom die Bildsäulen [...],
20
Musen und Venusse und Minerven“ (H I/3,460) , mit denen sie verglichen wird. Sie ist zwar
schlank, aber keineswegs kleinwüchsig oder gar schwächlich, denn Kraft, Rasse und Temperament verraten allein schon
über der Stirn die dicken, blauschwarzen Ringelhaare, die sie hinten in einem schweren Nest von
Zöpfen zusammensteckte, daß ein solcher Nacken dazu gehörte, eine solche Last zu tragen. (H
I/3,460)
Und auch ihr Gesicht wird nicht verniedlicht, wie dies bei der Beschreibung von Hermine
Ott der Fall ist, sondern es ist
wie mit dem Meißel gemacht, die Augen groß und schön geschweift, mit einem Blick – zugleich
trotzig und sanft; ein Mund, roth wie Erdbeeren, oder wie eine eben aufgebrochene weiße Feige.
(H I/3,460)
Zwar wirkt auch in Hermine Otts Gesichtchen die Reinheit der Linien „wie gemeißelt“ (S
7/II,56), doch wird im Gegensatz zu Erminia das Kindliche und Niedliche in „der sanft gewölbten Stirn und dem zierlichen Näschen bis zu den zarten Schultern hinab“ (S 7/II,56) betont
und durch ein delikates, beinahe schon impressionistisch hingetupftes, malerisches Farbenspiel
ergänzt, wenn von dem
feine[n] Gesichtchen von glänzenden braunen Haaren umrahmt, [...von] den zarten Schultern [...],
die weiß unter weißem Tüll hervorschimmer[]n [...und ihren] Wangen, die wie der Untergrund der
schön gezeichneten Brauen rosig gefärbt [sind und] allmählich eine brennende Korallenröte
an[nehmen] (S 7/II,56),
die Rede ist, sodaß letztlich die Darstellungsweisen beider Mädchengestalten einander
gegenüberstehen wie ein antikisierendes, großformatiges Gemälde eines Künstlers wie Anselm
von Feuerbach einer mit zarten Pastelltönen gefärbelten Nippesfigur.
Ähnlich großangelegt wie eine antike Porträtplastik schildert der Exzellenzherr eher die
Meduse, die im Grunde nicht so sehr häßlich, als vielmehr ausdrucksstark überhöht wird, mit
den gleichfalls „dunklen Haare[n]“, die sich „über die blassen Schläfen hinweg nach rückwärts
wie Schlangen“ (S 7/II,57) zusammenringeln und den starrenden, „finsteren Augen“ mit dem
intensiven Blick, in dem „trotz der eisigen Gleichgültigkeit [...] etwas so tief Feindseliges [lag],
daß [der Exzellenzherr] unwillkürlich [s]eine Schritte beschleunigte.“ (S 7/II,57)
Im Unterschied zur Meduse ist Erminias jüngere Schwester Maddalena unzweideutig
häßlich „wie der Teufel, ein kleines, wildes, klumpfüßiges Geschöpf mit langen Armen und
kurzen Beinen, das im Gehen und Hocken einer Kröte glich“ (H I/3,460). Sie wird von ihrer
älteren Schwester geleitet und gepflegt, wie übrigens ja auch die Meduse ihre jüngere
20
(H I/3,460) = Paul Heyse: Gesammelte Werke, Reihe I/Bd 3,S. 460. – Zitiert nach: Paul Heyse: Gesammelte Werke, hg.
von Markus Bernauer in 5 Reihen zu 26 Bden, Reihe I, Bd 3: Italienische Novellen. Nachdr. d. Stuttgarter Ausg. 1924.
Hildesheim, Zürich, New York 1984, S.456-485, hier 460.
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Schwester berät und bevormundet. – Die Darstellung der ungleichen Schwestern Erminia und
Maddalena hat im übrigen in mancherlei Hinsicht mehr Parallelen mit der schönen und stolzen
21
Olga Worel und ihrer älteren Schwester, einem „unschöne[n], verwachsene[n] Geschöpf“ in
der Novelle Die Familie Worel. – Bei Heyse allerdings dankt die häßliche Maddalena für die
schwesterliche Fürsorge durch besondere Anhänglichkeit, denn
[s]tatt die ältere Schwester scheel anzusehen und ihr Gift ins Glas zu brauen, vergötterte sie sie
förmlich, daß keiner von den jungen Burschen verliebter in die Erminia sein konnte, als der arme
Tropf, die Maddalena. (H I/3,460)
Nach Erminias Ermordung schließt sie sogar deren Geliebten, den schwedischen ‘Kapitän’
Sture oder ‘Sor Gustavo’ – wie ihn der Binnenerzähler nennt – wie ein heiliges Vermächtnis in
ihr Herz und dient ihm, solange es ihre physischen und psychischen Kräfte gestatten.
Die Meduse dagegen lehnt ganz offensichtlich den Exzellenzherrn ab, sie nimmt ihm
gegenüber eine – seiner Meinung nach – überkritische Haltung ein und rät Hermine zur verhängnisvollen Liebeprobe.
Die groß angelegte, vitale und selbstbewußte Erminia weist, wiewohl bitterarm, zunächst
die besten Partien ab. Etwa einen reichen Engländer oder den geschwätzigen Apotheker, Signor
Angelo, dessen Spitzname ‘Fra Angelico’ an die kindlich zarten, blassen Madonnenbilder dieses
Quattrocento-Meisters gemahnt (denen im Grunde das etwas farb- und saftlose Vorstadtmädel
Hermine Ott gleicht). Sie weist aber auch den schönen, reichen und haltlosen Gastwirtssohn
Domenico Serone ab, dessen Spitzname ‘Barbarossa’ schon auf seine Wildheit schließen läßt,
denn er kann Erminias Abweisung nicht ertragen, ermordet sie und geht unter die Räuber.
Erst bei Gustav Sture wird Erminia schwach, wobei diese Herzensschwäche freilich nicht
ihre Charakterstärke schmälert, denn sie folgt unbeirrt und unbekümmert dem Zug ihres
Herzens und fragt nicht kleinlich nach Konventionen. Sie zieht mit Sture zusammen und lebt
mit ihm in wilder Ehe, die freilich – nach Erledigung aller Formalitäten – legalisiert werden soll.
Ihr starkes, feuriges Temperament und ihre konsequente, ungebrochene Haltung, mit der sie
auch gegen Sittengesetze verstößt, schlagen Sture, der „in Rom [...] allerlei angebändelt“ (H
I/3,462) hatte – was ihn in diesem Punkt mit dem Exzellenzerrn verbindet – so sehr in Bann,
daß er mit ihr sein restliches Leben verbringen möchte.
Ganz anders dagegen Hermine Ott, das unselbständige, weiche Kindmädchen, das sich
selbst nicht zu helfen weiß, sondern den Rat der großen Schwester einholen muß, da die
Gängelung durch die Mutter krankheitshalber nicht erfolgen kann. Sie ist Produkt einer
Mädchenerziehung, die keine geraden, eigenständigen, tatkräftigen und selbstbewußten
Charaktere formt, sondern ratlose, hilflose, furchtsame, geduckte Geschöpfe, die ihren eigenen
Gefühlen nicht vertrauen und inaktiv das Elend auf sich zukommen sehen, ohne sich zu
wehren.
Eine stolze Erminia würde sich niemals mit einem ungeliebten oder unwürdigen Mann verheiraten lassen, selbst ihr gewaltsamer Tod ist noch ein Triumph ihrer ungebrochenen Stärke
und Furchtlosigkeit – womit sie in eine Reihe zu stellen wäre mit jenen starken und vitalen
22
Frauen, wie etwa Prosper Mérimées Carmen (1845), deren Opernbearbeitung von Georges
Bizet vertont wurde und nach anfänglicher Ablehnung erst infolge der Aufführung an der
21
Ferdinand von Saar: Dissonanzen. Die Familie Worel, krit. hg. und gedeutet von Günter Karrasch. Tübingen 1999
(Ders.: Kritische Texte und Deutungen, hg. von Karl Konrad Polheim, Bd 9), S. 31,33f.
22
Gerhard Wild und Redaktion Kindlers Literatur Lexikon: Prosper Mérimée: Carmen. In: Kindlers Neues Literatur
Lexikon, Bd 11 (Anm. 8), S. 573a–574b.
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Hermine Ott und ihre Namensschwestern.
Annäherungen an Ferdinand von Saars Novelle Der ‘Exzellenzherr’
23
Wiener Hofoper im Oktober 1875 ihren Siegeszug auf den Opernbühnen der Welt antrat. Die
Bedeutung des weiblichen Vornamens ‘Hermine’, der in seiner deutschen Form eine um 1800
24
aufkommende Bildung zu Hermann ist und eigentlich ‘Krieger’ bedeutet, charakterisiert somit
eindeutig Erminia und nicht die kleine Ott.
Denn Hermine Ott läßt sich mit einem „lebensfrohe[n,] junge[n]“ (S 7/II,75), aber ungeliebten Mann verkuppeln, der sich in lauten, turbulenten Gesellschaften von „platter Behäbigkeit, inmitten nicht allzufein[er] Scherze[]“ (S 7/II,70) am wohlsten fühlt und offenbar
keine Sensibilität für ihre geknickte, feinempfindende Frauenseele aufbringt, sondern sie
möglicherweise sogar seinen Unmut über die Verarmung ihrer Familie, ihr säuerlich-duldendes
Gewährenlassen der ehelichen Pflichten, ihre Kinderlosigkeit und ihre körperliche Hinfälligkeit
fühlen läßt. Und so ist Hermines Siechtum Ausdruck für ihren Rückzug aus einer unerträglichen
Realität, für ihre innerliche Schwäche und Resignation und zugleich Aussage über ihre verfehlte ‘Backfischerziehung’ und die unhaltbare, entwürdigende Stellung der Frau und besonders
der kleinbürgerlichen Ehefrau in der Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
Was die beiden Figuren Erminia und Hermine noch verbindet, sind ihre hausfraulichen
Tugenden. Erminia übernimmt notgedrungen die Rolle der Hausfrau, da ihre Mutter infolge
ihrer Armut in Trunksucht verfällt und Maddalena aufgrund ihrer Krankheit zur Verwahrlosung
neigt. Mutter und Schwester bedürfen in ihrer Hilflosigkeit einer starken, führenden Hand, und
Erminia übernimmt klaglos die Pflichten einer Hausfrau, Mutter, Erzieherin und Ernährerin.
Denn sie füllt auch den leergewordenen Platz ihres früh verstorbenen Vaters aus und sorgt mit
Spinnen und Bortenwirken, das sie auch ihre hilflose Schwester lehrt, für den Unterhalt ihrer
arbeitsunfähigen Mutter. Mit dieser Ernährerfunktion ist jedoch auch eine gewisse Selbständigkeit und Handlungsfreiheit verbunden, die Hermine Ott niemals für sich beanspruchen kann.
Zwar übernimmt auch Hermine Ott den Haushalt der kranken, offensichtlich durch zu viele
Geburten erschöpften Mutter und übt Mutterpflichten an einer Schar von heranwachsenden
jüngeren Geschwistern, jedoch ohne jegliche Befehlsgewalt. Zuletzt nimmt sie sogar ihre
gesamte verarmte Sippe, die verwitwete Mutter und die noch unversorgten Geschwister, in den
Haushalt ihres ungeliebten Mannes auf und ist ihm zusätzlich noch zu Dank verpflichtet.
Hermine Ott bleibt zeit ihres Lebens in ein Gespinst von Unfreiheit verstrickt: Niemals kann
sie sich aus der Abhängigkeit von ihrer Mutter lösen, die sie einerseits zu einer Pflichtheirat
gedrängt haben dürfte und die nun weiterhin das Eheleben ihrer Tochter kontrolliert. Die Rolle
ihres Vaters wird aus dem Erzählten nicht so ganz deutlich, doch ist anzunehmen, daß
Hermines Mutter nur mit Einverständnis ihres immerhin als eigensinnig geltenden Mannes gehandelt haben dürfte, da ja auch die Verarmung der Familie letztlich Ergebnis des unbelehrbaren Starrsinns des Vaters ist. Daneben ist Hermine aber auch von ihrer älteren Schwester, der
intellektuell überlegenen Meduse, abhängig und zuletzt von dem ihr aufgenötigten, ungeliebten Ehemann.
Von ihrer sozialen Stellung her unterscheiden sich Erminia und Hermine Ott jedoch grundlegend. Erminias Familie lebt in einer halbverfallenen Hütte außerhalb des Dorfes und hält sich
hauptsächlich durch die Früchte eines Olivenbaumes und durch ihre und ihrer Schwester Handarbeit über Wasser, was doch sehr an die prekäre Situation der Familie Kratochwil in Saars
Erzählung Die Troglodytin (S 9/III,117-160) erinnert, nur daß hier der alte Kratochwil in den
23
24
Paul Stefan: Georges Bizet. Zürich 1952, S. 226ff.
Mackensen: 3876 Vornamen (Anm. 7), S. 85.
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Margarete Wagner
Elendssuff verfällt, während der Alkoholismus bei älteren, verwitweten Frauen doch eher ein für
die damalige Zeit noch brisanteres Thema war. – Wilhelm Buschs komische Aufarbeitung des
Motivs in seiner Bildgeschichte Die fromme Helene war übrigens drei Jahre vor Heyses
25
Barbarossa, also 1872, erschienen, während etwa Emile Zolas’ Figur der Säuferin Gervaise im
26
Roman Der Totschläger erst 1877, also vier Jahre nach Heyses Novelle entstand.
Während sich bei Erminia Schönheit, weibliche Tugenden und klarer Verstand, also die
Eigenschaften von Venus, Hera und Athene in einer Person vereinen, sodaß sich kluges Abwägen und bedenkenlose Leidenschaft einander die Waage halten, verkörpert Hermine Ott nur
noch die Eigenschaften Heras, und auch diese o h n e den antiken Machtanspruch und die
olympische Vollebigkeit. Denn sie regiert nicht als Göttermutter den Olymp, dirigiert nicht als
Himmelskönigin ihren Göttergatten und ahndet nicht als eifersuchtschnaubende Rächerin jeglichen Verstoß gegen Sitte und Ordnung, sondern sie ist lediglich ein gedrücktes Hausfrauchen,
dem sogar der Kindersegen versagt bleibt. Verstand und Mut sind abgespaltene Eigenschaften,
die nun ihrer älteren Schwester zugeordnet werden, der ihrerseits wiederum der Sinn für häusliche Behaglichkeit und erotisches Raffinement mangelt. Alle sinnliche Vitalität konzentriert
sich ganz in der Figur jenes raffinierten, ‘außerordentlich schönen Weibes’, die jedoch nicht nur
kein Gemüt, sondern auch keinerlei Moral besitzt und nicht im Traum daran denkt, sich etwa
ihren Lebensunterhalt als abhängige Hausfrau am heimischen Herd oder als Gouvernante im
Einsatz ihrer intellektuellen Fähigkeiten hart zu erarbeiten, wie dies die gehorsame Hermine
und die redliche Meduse planen, sondern mit ihrer dominanten erotischen Ausstrahlung
gimpelhafte junge Herrn aus gutem Hause um ihr Vermögen bringt, wie ihre literarischen Vorbilder, die edle und sentimentale Maitresse Marguerite Gautier in Alexandre Dumas’ 1848 er27
schienenem Roman Die Kameliendame oder das ‘monstre antique’, die ‘mouche d’or’ in Emile
28
Zolas Roman Nana, der gerade erst (1879/80) erschienen war.
Hermine, die Meduse und die Maitresse sind – jede für sich genommen – im Grunde von der
Gesellschaft künstlich gezüchtete weibliche Zerrbilder, die jeweils nur Abspaltungen eines vollwertigen, selbstbestimmten Frauencharakters sind.
Die freie Schweizerin Hermine Fryman.
Fryman. Gottfried Kellers Das Fähnlein der sieben Auf
Aufrechten
Ein weiteres Vor- beziehungsweise Kontrastbild zu Hermine Ott bildet die zwanzig Jahre
davor (1861) entstandene Figur der Hermine Fryman aus Gottfried Kellers Novelle Das Fähnlein
der sieben Aufrechten, die bewußt als ein typisches Beispiel einer ‘Schweizer Nationalliteratur’
konzipiert war.
Auch Kellers Hermine ist wie Hermine Ott gerade erst siebzehn Jahre alt. Und auch sie ist
29
hausfraulich, denn sie „lernt einkaufen“ (K 5/266,7) , wie Frau Hediger, ihre Schwiegermutter
in spe, rühmend zu berichten weiß, und ist auch geübt in weiblichen Handfertigkeiten, wie
25
Wilhelm Busch: Historisch-kritische Gesamtausgabe, hg. von Friedrich Bohne, Bd 2. Wiesbaden, Berlin 2002, S. 203293, bes. 282-187 (Kapitel 16). – Vgl. dazu auch Gert Sautermeister: Wilhelm Busch: Die fromme Helene. In: Kindlers
Neues Literatur Lexikon, Bd 3 (Anm. 8), S. 415a-416a.
26
Ingrid Peter: Emile Zola: L’Assomoir. In: Kindlers Neues Literatur Lexikon, Bd 17 (Anm. 8), S. 1053a-1054a.
27
Redaktion Kindlers Literatur Lexikon : Alexandre Dumas fils: La dame aux camélias. In : Kindlers Neues Literatur
Lexikon, Bd 4 (Anm. 8), S. 942b-943b.
28
Richard Mellein: Emile Zola: Nana. In: Kindlers Neues Literatur Lexikon, Bd 17 (Anm. 8), S. 1065b-1066b.
(K 5/266,7) = Gottfried Keller: Sämtliche Werke, Bd 5/S. 266,Zeile 7. – Zitiert nach: Gottfried Keller: Sämtliche Werke
in sieben Bänden, hg. von Thomas Böning, Gerhard Kaiser, Kai Kaufmann u. Dominik Müller, Bd 5: Züricher Novellen, hg.
von Th. Böning. Frankfurt a. M. 1989 (=Bibliothek deutscher Klassiker 46), S. 266,7.
29
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Hermine Ott und ihre Namensschwestern.
Annäherungen an Ferdinand von Saars Novelle Der ‘Exzellenzherr’
etwa der nützlichen Strickkunst (5/266,35). Denn – früh verwaist – weiß sie ihrem Vater bereits
den Haushalt zu führen. Dies alles schlägt sich ihr jedoch keineswegs dämpfend auf’s Gemüt,
denn ungeachtet ihrer Pflichten ist sie „immer lustig“ (K 5/266,9f.). Mit ihrer Resolutheit bei
aller Holdseligkeit bezwingt sie letztlich nicht nur ihren eigenen starrsinnigen Vater, den alten
Zimmermann Fryman, der sie an einen Unwürdigen mit Vermögen zu verkuppeln versucht,
sondern auch den sturköpfigen Schneider Hediger, der aus lauter Anständigkeit eine Verbindung zwischen seinem Sohn Karl und der Tochter des reichen Fryman verhindern möchte.
Daß sie auch über einen wachen Verstand verfügt, zeigt sich nicht nur darin, daß sie weiß,
was für sie selbst gut ist, sondern auch, daß sie für das Wohl und Wehe aller derjenigen, die ihr
lieb sind, richtige Entscheidungen zu treffen vermag. So korrigiert sie beispielsweise den Redeentwurf ihres Vaters, tadelt den unangebrachten Inhalt und die vielen eingestreuten ‘Alsos’ (K
5/281,30) und erreicht damit letztlich, daß ihr Vater seinen Plan für eine Rede fallenläßt und
stattdessen ihr Liebster Karl eine Chance erhält, sich zu bewähren. Aber auch ihren Herzensfreund Karl weiß sie sich mit Entschiedenheit und Witz vom Leibe zu halten, ohne ihn gleich in
die Flucht zu schlagen, wie dies Hermine Ott bei dem keineswegs mehr unerfahrenen
Exzellenzherrn gelingt. Denn da ist auch noch ihre liebliche und jugendfrische Schönheit, mit
der sie zugleich keck und sanft, abwehrend und fordernd ihren Anbeter Karl so sehr in Bann
schlägt, daß er zeit seines Lebens damit beschäftigt sein wird, Schleier für Schleier zu lüften,
um endlich zum Kern ihres Wesens zu gelangen.
Beim großen Preisschießen steht sie ihm zur Seite und „lacht[ ], aber nur mit den Augen,
mit dem Munde sagt[ ] sie ernsthaft: ‘Du mußt einen Becher gewinnen.’“ (K 5/294, 10ff.) Karl
erliegt dem Bezwingenden und Bestimmenden in Hermines Augen, das ihn jedoch nicht ins
Verderben führen soll, sondern zum höchsten Glück, denn
noch nie hatte er ihre Augen so gesehen; es glühte etwas Herbes und Tyrannisches mitten in der
lachenden Süßigkeit ihres Blickes, zwei Geister sprachen beredt aus seinem Glanze: der befehlende
Wille, aber mit ihm verschmolzen die Verheißung des Lohnes, und aus der Verschmelzung entstand
ein neues geheimnisvolles Wesen. Tu mir den Willen, ich hab Dir mehr zu geben, als Du ahnst!
sagten diese Augen [...]. (K 5/294,32f. – 295,1-5)
Und so geschieht es, daß die alten Herrn eine neue Zeit feiern, „die den Menschen wieder
zu erziehen beginnt, daß er auch ein Mensch wird“ (K 5/300,15f.), während bereits aus ihrer
Mitte ein junges Pärchen hervortritt, das diese Bedingungen erfüllt. Die darin festgehaltene
Verklärung jenes Augenblicks, als Keller „sich als Bürger und Liberaler im größten inneren
Gleichklang mit seinem Staat befand, als nämlich aus dem alten Staatenbund der moderne
30
Schweizer Bundesstaat, in Zürich zudem eine liberale Regierung entstand“ , wich jedoch im
Laufe der Jahre der Ernüchterung. 1889, also im Alter von siebzig Jahren, formulierte er seine
zunehmende kritische Distanz dazu in einem für die Gemeinnützige Gesellschaft der Kirchengemeinde Neumünster verfaßten Lebenslauf, in dem er gestand, daß
»Das Fähnlein der sieben Aufrechten« [...] als Ausdruck der Zufriedenheit mit den vaterländischen
Zuständen gelten konnte, als Freude über den Besitz der neuen Bundesverfassung[.] Es war der
schöne Augenblick, wo man der unerbittlichen Konsequenzen, welche alle Dinge hinter sich her
schleppen, nicht bewußt ist und die Welt für gut und fertig ansieht. (K 7/363,16-22)
Wie sehr jedoch unterscheidet sich die hochgemute Darstellung der Menschen- und
Mädchenerziehung zu Beginn des modernen Schweizer Bundesstaats von der in Österreich ge30
Vgl. K 5/451.
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Margarete Wagner
pflegten zur Zeit des Niedergangs der Monarchie! Hier Hermine Fryman, die scherzend ihrem
Liebsten Karl verspricht, ihn künftig „unter den Pantoffel [zu] kriegen [... s]o sehr [sie] kann“ (K
5/302,1ff.), wobei sich allerdings zwischen ihnen „ein Recht und eine Verfassung“ (K 5/302,3f.)
herausbilden sollen – dort Hermine Ott, die ihren Herzallerliebsten nicht recht zu halten und zu
reizen versteht und in der ihr aufgezwungenen Versorgungsehe ohne Recht und Verfassung
leise zugrunde geht.
Das bald kratzbürstige, bald nachgiebige Mädchen Hermine Fryman mit ihrem fröhlichen,
derb-neckenden Tonfall ist eine Mischung aus Weichheit und Härte, Hausfraulichkeit, Schönheit und Klugheit – das Idealbild einer Schweizer Frau, eines gesunden und kräftigen
Menschenschlags, geformt von einer guten und weisen Erziehung und Produkt eines vernünftig
geführten Staatswesens.
Und interessanterweise versteht sich gerade das muntere Liebespärchen aus der bedächtigbiederen Schweiz virtuos auf die hohe Kunst des leichten Flirts, während ausgerechnet die
beiden Protagonisten aus der heiteren, walzerseligen Wienerstadt, Wiege der schönsten
Schubertschen Liebeslieder und glänzende Kapitale der phäakischen Lebenslust, in schwerfälliger Unbeholfenheit voreinander erstarren und verstummen.
Im Vergleich zu Kellers Schweiz ist Saars geliebtes Österreich krank und moralisch geschwächt, die Gesellschaft verkommen und auch die Menschen, und hier besonders die Besten
unter ihnen, sind von einem inneren Siechtum befallen, nämlich der Hoffnungslosigkeit und der
Resignation. Und so ereilt die immer folgsame kleine Hermine Ott in all ihrer Unschuld zuletzt
dasselbe Schicksal wie das artige, in der Klosterschule erzogene, „erst so blühende[ ]
Denischen“ in Gottfried Kellers Novelle Die Berlocken: beide enden sie als „gedrückte[ ] Hausfrauchen, [...als] bescheidene[ ] aufgewärmte[ ] Sauerkräutchen“ (K 6/ 338,10f.).
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HUGO VON HOFMANNSTHALS ESSAYS –
eine "alles verschlingende Unform"?
Marianarescu
Mariana-Virginia Lăz
L zărescu
Es steht heute für die Literaturwissenschaftler fest, daß Hofmannsthals Essays eine besondere Wirkung in und außerhalb seiner Zeit erreicht haben und zum Teil immer noch einen
Sonderplatz im Rahmen seines Werks sowie der gesamten deutsch-österreichischen Literaturgeschichte einnehmen. Wenn man die Essayistik Hofmannsthals als einen wesentlichen Teil
seines Schaffens betrachtet und diese zu analysieren beabsichtigt, fragt man sich zunächst, ob
ein solches Unternehmen bei einer "in sich kreisenden und auf sich selber zurückverweisenden
Gattung wie dem Essay"1 lohnend sein kann.
Jedes Zuwenden dem Werk Hofmannsthals wird für den Exegeten immer eine "Versuchung"
sein, einen besonderen Reiz ausmachen, jede Wiederholung stellt zugleich einen Neuansatz dar.
Sehr wichtig scheint es mir, in gewissen Zeitabständen vor allem die Themenkomplexe seiner
Essays, die nach seinem Tod in zahlreichen wissenschaftlichen Beiträgen vereinzelt behandelt
wurden, wiederaufzunehmen und den Versuch zu machen, diese Inhalte neu zu beleuchten.
Struktur- und Stiluntersuchungen zu Texten, die nicht als Reden oder Aufsätze, sondern als
Essays bezeichnet werden, führen meines Erachtens zu pertinenten Schlußfolgerungen im Hinblick auf einen wesentlichen Teil im gesamten Schaffen des österreichischen Schriftstellers. "In
der Tat soll man den Dichter innerhalb der Werke suchen, nicht rund herum um die Werke."2
Der Essayist ist ein Grenzgänger zwischen Kunst und Wissenschaft, ein kunstvoller Außenseiter unter den Fachleuten, ein Rechtloser im Zeitalter der Spezialisten und dennoch einer, der
mit seiner Lust am Formulieren an einem Problem das Neue, in einer Gestalt das Wesenhafte
sieht und nennt.
Der Essay Hofmannsthals ist ein literarisches Kunstwerk, das mir als ein einheitliches Gefüge erscheint, dessen Elemente in individueller Weise gestaltet sind, d.h. als ein organisches
Gebilde, das einen ihm und nur ihm eigentümlichen Stil aufweist. Dieses Gebilde ist in sich geschlossen und autonom.3
Bekanntlich hat Hofmannsthal den Begriff Essay für seine Arbeiten vermieden und dafür
4
Ausdrücke wie "Feuilleton", "Aufsatz", "Prosaarbeit" oder "Kleine Sachen" verwendet. Die Erklärung dafür ist die "distanziert-kritische Haltung" Hofmannsthals zu der literarischen Form,
die zur Modegattung deklariert worden war. Für ihn ist der Essay "die alles verschlingende Un-
1
S. Klaus Günther Just (1966): Versuch und Versuchung. Zur Geschichte des europäischen Essays. In: Übergänge.
Probleme und Gestalten der Literatur. Bern/München: Francke. S. 7-24. Hier S. 7.
2
Hugo von Hofmannsthal (1979/1980): Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Hrsg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Bd. 8 Reden und Aufsätze I 1891-1913. Bd. 9 Reden und Aufsätze II 1914-1924. Bd. 10
Reden und Aufsätze III 1925-1929. Buch der Freunde. Aufzeichnungen 1889-1929, hrsg. von Bernd Schoeller und
Ingeborg Beyer-Ahlert in Beratung.mit R. Hirsch. Frankfurt a. M: Fischer. (Im Text gekürzt als RA). Hier Bd. 10. S. 436.
3
Näheres über die Terminologie bei Axel Spree (1996): Interpretation. In: Arbeitsbuch: Literaturwissenschaft. Hrsg. von
Thomas Eicher und Volker Wiemann. Paderborn u.a.: Schöningh. S. 167-215. Hier S. 176 f.
4
Vgl. dazu auch Bärbel Götz (1992): Erinnerung schöner Tage. Die Reise-Essays Hugo von Hofmannsthals. Würzburg:
Königshausen & Neumann. S. 14.
Mariana-Virginia Lăzărescu
5
form" . Weder Lessing noch Herder, weder Hillebrand noch Hofmannsthal bezeichnen ihre Texte
als Essays.6
In den Aufzeichnungen aus dem Nachlaß 1891 notierte aber Hofmannsthal am 2.X.:
7
"Ein Essay: Boulanger," was, literaturgeschichtlich gesehen, einen wichtigen Hinweis darstellt.
An einer anderen Stelle der Aufzeichnungen aus dem Jahre 1892 erwähnt er ebenfalls das
Wort "Essay":
11.XI. - Mögliche Essays. Wille zur Macht.
a) Nietzscheb) Rubens
c) Marie B[ashkirtseff]
8
9
d) Bahr
e) Goethe-Tyrannos
d) Rothschild.
Er bezieht sich auf ein wesentliches Merkmal dieser Gattung, wenn er in den Aufzeichnungen aus dem Nachlaß 1893 meint:
Formlosigkeit in einem Kunstwerk (V. Essay). - Man weiß nicht, was man damit anfangen soll. Form
hinterläßt Harmonie, Befriedigung wie Trostrede gelöstes Problem; gibt eine Ahnung der
10
kosmischen Harmonie, befriedigt kosmogonische Triebe (Semper).
Interessant ist die Aufzeichnung aus dem Jahr 1911: " 'An appreciation' (als Kunstwort für
eine Form des Essays) - eine 'Anerkennung', schöner Terminus, ins Deutsche ohne Preziosität
nicht übersetzbar."11
Man kann aus den genannten Beispielen schlußfolgern, daß für Hofmannsthal die experimentelle Haltung sowie der Stil des Essays als Kunstwerk verlockend waren. Gleichzeitig hütet
er sich davor, das Wort "Essay" oft zu gebrauchen, mag sein wegen der Unsicherheit über den
Gegenstand des Essays und weil er nicht der Verfasser von Gelegenheitsarbeiten sein wollte, für
was der Essay um die Zeit galt. Bekanntlich wurde der Essay um die Jahrhundertwende zu
einem formalen Problem und zu einem inflationären Begriff. Hofmannsthal hätte Dieter Bachmann zugestimmt, daß der Trivialgebrauch des Ausdrucks "Essay" ebenso vielfältig wie vage
12
ist. Hofmannsthal schrieb vor allem also Aufsätze, Rezensionen, Reden oder Feuilletons, die
heutzutage als Essays aufgefaßt werden.
Zwar gebrauchte Hofmannsthal die Bezeichnung "Essay" kaum zu Lebzeiten, doch er gilt als
einer der wichtigsten und produktivsten deutschsprachigen Essayisten am Anfang des 20. Jahrhunderts. Seine Essays, wie wir sie heute zu nennen pflegen, bedeuten Tradition, Bildung und
Kultur. Wer Hugo von Hofmannsthals Texte verstehen möchte, wer sich an eine Interpretation
seines Werkes heranwagen will, der möge sich mit der Essayistik auseinandersetzen. Die Entwicklung seiner Essayistik stimmt nämlich mit dem Werdegang eines Dichters überein, seine
Essays sind seine Biographie.
In der traditionellen Gattungspoetik wird dem Essay kein Platz eingeräumt, da er sich weder
als epische noch als lyrische noch als dramatische Form auffassen läßt. Von daher ist sein Ver5
RA II. S. 128.
Vgl. Gerhard Haas (1969): Essay. Stuttgart: Metzler. S. 30.
7
RA III. S. 336.
8
sic!
12
Vgl. Dieter Bachmann (1969): Essay und Essayismus. Stuttgart, Berlin u.a.: Kohlhammer. S. 9.
6
116
ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
Hugo von Hofmannsthals Essays – eine "alles verschlingende Unform"?
hältnis zu den herkömmlichen Gattungen problematisch, was möglicherweise auch Hofmannsthal so empfunden haben könnte und als Erklärung für seine Zurückhaltung dieser Gattung
gegenüber aufgefaßt werden könnte.
Hofmannsthal vertritt im Hinblick auf die Essayistik zugleich die Tradition und die
Neuerung, er erinnert an William Hazlitt durch den Gesprächscharakter seiner Essays und an
Charles Lamb durch die Verwendung der Zitate und Redewendungen aus der älteren Literatur.
Er versteht es wie kein zweiter jedem Thema einen spezifischen Reiz abzugewinnen, mag es
sich um literarische, um historische, um bildende Künste und Musik, um Theater oder um gelegentliche Äußerungen handeln.13
Hofmannsthal hatte meines Erachtens die seltene Gabe, sich in das Werk eines Dichters
liebe- und kunstvoll zu versenken. Ich glaube, die Akzente richtig zu setzen, wenn ich behaupte, daß seine Position als Theoretiker vermittels seiner Essays in der Literaturgeschichtsschreibung und in der Literaturkritik ebenso diskutabel wie produktiv ist. In der essayistischen
Auffassung Hofmannsthals lassen sich im Laufe seines Lebens und Schaffens mehrere deutlich
abgegrenzte Etappen erkennen.
In den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts ist Hofmannsthal auf der Suche nach einem
eigenen aus der Fülle der zeittypischen Erscheinungen herausgefilterten Standpunkt. Seine
lebhafte Auseinandersetzung mit dem Dilettantismus und dem Künstlertum, mit dem zeitgenössischen Denken und Schaffen werden nach 1902 etwas konservativer und kulturzentrierter.
Indem man sich mit der Essayistik Hofmannsthals beschäftigt, arbeitet man an dem Versuch, den Essay innerhalb der Nationalliteratur zu fixieren. Seine Essays über die Gestalten
deutscher und österreichischer Dichter setzen sich zu einem Kapitel deutscher Literaturgeschichte und zu einer originellen Literaturkritik zusammen, die ohne Pedanterie, sondern mit
Phantasie realisiert wird.14 Erwähnt seien hier u.a. die Essays über Lessing, Goethe, Schiller,
Grillparzer, Stifter, Raimund, Reinhardt usw.
Der Essay hat in vielen Fällen fragmentarischen und experimentellen Charakter. Das
Fragmentarische hat im Schaffen Hofmannsthals eine große ästhetische Bedeutung. Wichtige
Leistungen des Wiener Dichters sprechen zu uns heute in Fragmentform. Der Essay als
literarische Ausdrucksform war für die Zeit des Autors in besonderem Maße charakteristisch.
Die besondere Leistung und die Funktion des Essays um und nach 1900 ist die Frage nach
der überlieferten Kultur und die Auseinandersetzung mit der eigenen Zeit, die auf ihren Wert
für die Zukunft geprüft wird. Somit steigt der Aktualitätsgrad und die Position des Essays in der
modernen Literatur, der zum Modewort und zur Allerweltsform wird, was bei Hofmannsthal ein
bewußtes Distanzverhalten gegenüber dieser Form auslöst.15 Die Funktion, die der Essay unter
13
Hermann Kähler [(1980): Zum Essay. Probleme literarischer Subjektivität in Essayistik und Publizistik der frühen
zwanziger Jahre. In: Weimarer Beiträge 26/1980. Heft 12. S. 92-113. Hier S. 98] erwähnt in bezug auf die Essayistik
Heinrich Manns drei geistige Hauptkomponenten des Essays: die künstlerische, die politisch-moralische und die
wissenschaftlich-analytische. Auch spricht er von Reden, Zeitungsartikeln, Flugschriften, Aufrufen als von operativen
Formen, in denen sich ein Autor direkt tagespolitischen Aufgaben stellte.
14
Vgl. auch Richard Exner (1962): Zum Problem einer Definition und einer Methodik des Essays als dichterischer Kunstform. In: Neophilologus. 46. Jg. S. 169-182. Hier S. 169.
15
S. G. Haas a.a.O. S. 23.
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117
Mariana-Virginia Lăzărescu
anderem bei Hofmannsthal hat, ist die genaue Kontrolle des Wirklichkeitsbildes einerseits, die
scharfe Selbstkontrolle andererseits. In jedem Essay treten jene schönen Sätze auf, die wie der
Same des ganzen Essays sind, aus denen er immer wieder hervorgehen kann.
Max Bense fragt sich, ob alle großen Essayisten Kritiker sind. Ist es nicht auffällig, daß alle
16
Zeitalter, denen der Essay kennzeichnend zukommt, wesentlich kritische Zeitalter sind? "Der
Essay entspringt dem kritischen Wesen unseres Geistes, dessen Lust am Experimentieren einfach eine Notwendigkeit seiner Seinsart, seiner Methode ist. [...] Der Essay ist die Form der
17
kritischen Kategorie unseres Geistes" , postuliert ebenfalls Bense. "Kritik ist nur eine der
18
Formen des Indirekten", schrieb Hofmannsthal in seinen Aufzeichnungen.
Theodor W. Adorno behauptet, daß der Essay auch auf das Verhältnis von Natur und Kultur,
das sein eigentliches Thema zu sein scheint, reflektiert. Freiheit in der Wahl der Gegenstände,
seine Souveranität gegenüber allen "priorities" von Faktum oder Theorie verdankt er dem, daß
19
ihm alle Objekte gleich nah zum Zentrum sind: zu dem Prinzip, das alle verhext.
Hannelore Schlaffer gelangt zur Einsicht, die Struktur des Essays ist dialogisch und die
Perspektivierung von Erkenntnis korreliert ein experimentelles Denken, das erwägt, verwirft und
neu beobachtet. Symptomatisch erscheint Schlaffer der schnelle Wechsel von Thema und Motiv
im Essay, die Liebe zum Detail, zum sinnlich Wahrnehmbaren, zum Augenblick, zum Zufälligen,
20
Unverbürgten.
Subjektive Meinung ist von Anfang an das konstitutive Element der Gattung Essay, behaupte ich mit Schlaffer. Dennoch braucht sie sich nicht unmittelbar zu äußern. Der Essayist
kann eine spezifische Meinung im Bild eines Dritten figurieren. Deshalb ist das Porträt bevorzugter Gegenstand des Essays, denn im Porträt beschaut sich das bürgerliche Publikum und
kommt über sich selbst ins Gespräch. Klassisches Beispiel solcher Porträtkunst ist Friedrich
Schlegels Aufsatz über Georg Forster, insofern in dem vorgeführten Charakter alle Möglichkeiten des Essays personifiziert und thematisiert sind. Bei Hofmannsthal haben wir als Beispiele
die Essays über Balzac und Lessing.
Zwei vorherrschende und voneinader abhängige Themen hat also der Essay im 20. Jahr21
hundert: Zivilisationskritik und Kunstverehrung, stellt man mit Schlaffer fest. Und diese
Themen findet man auch bei Hugo von Hofmannsthal wieder.
Beim Lesen von Hofmannsthals Essays hat man den Eindruck, daß jeder Gedanke nur eine
Spiegelung sei, oder eine Brechung, oder eine Fortsetzung, oder eine Variation jedes anderen
Gedankens, was die malerischen und poetischen Perspektiven und Durchblicke, die sich auf fast
16
Max Bense (1952/1972): Über den Essay und seine Prosa. In: Plakatwelt. Vier Essays. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1952. S. 23-37. Nachgedruckt in: Deutsche Essays. Prosa aus zwei Jahrhunderten in 6 Bänden. Hrsg. von Ludwig
Rohner. München: Deutscher Taschenbuch Verlag. Bd. 1. 1972. S. 48-61.
17
Ebd. S. 55.
S. Aufzeichnungen Bd. 10. S. 541.
19
Adorno, Theodor W. (1958/ 81971): Der Essay als Form. In: Noten zur Literatur I. Frankfurt/Main: Suhrkamp. S. 9-49.
20
Vgl. Hannelore Schlaffer (1975): Der kulturkonservative Essay im 20. Jahrhundert. In: Studien zum ästhetischen
Historismus. Hrsg. von Hannelore Schlaffer und Hein Schlaffer: Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 140-173. Hier S. 141.
21
Vgl. dazu auch Dietmar Goltschnigg (1997): Essay. In: Literaturwissenschaftliches Lexikon: Grundbegriffe der
Germanistik. Hrsg. von Horst Brunner und Rainer Moritz. Berlin: Erich Schmidt. S. 91-93. Hier S. 92.
18
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Hugo von Hofmannsthals Essays – eine "alles verschlingende Unform"?
22
jeder Seite ergeben, erklärt. Es gibt bei ihm keine Theorie, bemerkt Gerlach sehr richtig, es sei
denn, man nehme dieses Wort in seinem Ursinn: theoria bedeutete Anschauen oder Betrachten,
und visio ist eine beinahe genaue Übersetzung davon. Alles geht sofort ins Bildhafte über und
entfernt sich nie ganz vom Gefühlten, Erlebten. Das gerade ist ein gewichtiger Punkt in seiner
Zeitkritik, daß so viele das Leben bestimmende Mächte, zum Beispiel das Geld, immer mehr in
die Namenlosigkeit der Abstraktion, in den Mechanismus irgendeines Kalküls hineingezogen
wurden.
So ergibt sich bei Hofmannsthal nur ein lockeres Netz von Anschauungen, mehr oder
weniger verstreute Beobachtungen, Bemerkungen, Betrachtungen. Begriffe und Definitionen
bleiben beweglich, nach allen Richtungen offen. Aber der Versuch, einzelne Aspekte in einer Art
Systematik herauszuheben, wollte und mußte unternommen werden: es kann niemals gleichgültig sein, was ein bedeutender Dichter zu den Grundfragen des Zusammenlebens gedacht
hat. In seiner Dichtung ging es ihm um nichts Geringeres als um eine vollständige Darstellung
des menschlichen Schicksals, um neue Antworten auf die uralte Frage: Was ist der Mensch?
Auf der Suche danach eignete er sich nicht nur das geistige Erbe der Vergangenheit mit
stupendem Fleiß an, sondern schloß auch die Erkenntnis vieler seiner Zeitgenossen ein. Er las
Werke über Probleme der Wirtschaft ebenso wie der Technik, der Philosophie oder irgendeiner
Wissenschaft; solange in ihnen eine Beziehung des Autors zu den Grundfragen des Menschseins zum Ausdruck kam, entzog er sich grundsätzlich keinem Wissensgebiet. Die Lehren, die er
daraus entnahm, schlugen sich sowohl in seinen dichterischen Werken nieder, verwandelt und
oft nur schwer wiederzuerkennen, als auch in seiner Prosa, die ja eben weithin auch eine
dichterische ist. Sein Kompaß war nicht der des Philosophen, ausgerüstet mit allen Figuren des
spekulativen Denkens, noch der des an den konkreten Erfahrungen der Wissenschaft geschulten
Praktikers, noch überhaupt des realistischen Weltkenners, sondern er war der Kompaß eines
Dichters.
23
Der Essay hat, um mit Ludwig Marcuse zu sprechen, zwei Pole: den Dichter und den Philosophen. Auf der Achse zwischen dichterischem Echo und philosophischer Systematisierung
liegen seine Möglichkeiten. Diese Auffassung läßt sich auch auf Hofmannsthal übertragen. Da
die Grenzen zwischen Furcht, Schicksal, Gedicht und Begriffssystem gleitend sind, stehen Gedicht, Essay und Philosophem auch in seinem Fall nicht hart nebeneinander.
Der Philosoph hat an der Kultur-Gestalt, die er ausphilosophiert, kein Interesse; er sucht
ihre Formel; ihr umfassendstes, also farblosestes Gesetz; des Phänomens knappsten, präzisesten, prallsten Begriff; er sucht die konzentrierteste logische Fixierung, um das eigenwillige
Gebilde in seinen Begriffskosmos einbauen zu können.
Hofmannsthal - neben Rudolf Borchardt, neben Heinrich Mann - Meister des dichterischen
Essays, kennt nicht die Hybris letzter Abstraktion. Tauchen Probleme auf, so flieht er vor dem
klobigen Begriff, weil er den differenzierten Begriff nicht besitzt: sicher ist Goethe und
Shakespeare, Keller und Wilde stärker begriffen worden; sicher aber sind sie noch nicht reiner
wiedergegeben worden. Der Dichter Hofmannsthal läßt die Gestalt gar nicht erst bis in den
Brennpunkt des intellektuellen Bewußtseins. Schon im Stadium der Empfängnis führt das Er22
Vgl. Hans Hartmut Gerlach (1974): Politik und Gesellschaft im Essaywerk Hugo von Hofmannsthals. Michigan / USA:
University Microfilms Ann Arbor (Phil. Diss. 1966).
23
Vgl. Ludwig Marcuse (1921/1922): Der Essai des Dichters. In: Blätter des Deutschen Theaters. Jg. 8. Heft 6. S. 47 f.
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Mariana-Virginia Lăzărescu
lebnis zu einer Art Nachdichtung. Das Gedicht wird von seinem Kern her - in diesem Zurückgehen liegt die dichterische Abstraktion - noch einmal gedichtet unter freier, auswählender
Benutzung der originalen Formulierungen.
In den Essays von Hofmannsthal wird eine Aussage gegen eine andere Aussage, eine
Möglichkeit gegen eine andere gestellt, eine Position wird zunächst behauptet, danach fraglich
gemacht und in der Schwebe gelassen. Argumente werden eingeführt, das Sichere wird durch
Wendungen wie: ich meine, ich glaube, ich behaupte oder es scheint, daß..., möglicherweise,
vielleicht usw. relativiert. Daraus geht die einem echten Essay typische Spannung zwischen
24
Objektivitätsanspruch und Subjektivitätscharakter der Aussage hervor. Dementsprechend ist
25
die Forderung des Hofmannsthalschen Essays die nach dem Wahren aller echten Kunst , um
Weissenberger zu paraphrasieren.
Hofmannsthal bevorzugt in seinen Essays gewisse Themenkreise, aber grundsätzlich ist er
allen Stoffen offen. Der Essayist fühlt sich immer als Erbe, der Essay ist häufig das Produkt oder
der Ausdruck von Krisenzeiten. Der Schriftsteller hat auch diesmal die Rolle des Vermittlers, er
wägt Wichtiges gegen Unwichtiges aus, er wertet Vergangenes oder Vergessenes neu und
ordnet Vorgeformtes und Vorgegebenes.
Im Falle Hofmannsthals hat man die Gewißheit, daß der Essay, der von der einschlägigen
Literatur meistens als formlos bezeichnet wird, eigentlich nach klaren ästhetischen Regeln
komponiert ist. Hofmannsthal liebt die Leitmotive, die Antithesen, das Kontrapunktische und
Fugenmäßige. In der anscheinenden Diskontinuität liegt die Kohärenz des Textes.
Hofmannsthal ist unermüdlich auf der Suche nach Erkenntnis, wobei er oft auch den Leser
miteinbezieht. Seine Theorie ist der aufmerksame Blick auf den Einzelfall, auf das hervorstechende Detail, auf das Leben im allgemeinen. Die Philosophie seiner Essays ist Lebensphilosophie und Lebenskritik.
Seine Themen sind zum Teil typisch für die Gattung des Essays, zum Teil sind es von seiner
Zeit aufgedrängte Themen wie: Bildung, Natur, Kultur, Politik, Sprache, Heimat.
Das kritische Element äußert sich bei Hofmannsthal besonders prägnant. Seine Essays sind
immer auch Theorie, Kommentare, Paraphrasen, kleine Exegesen, Experimente. Das Fragment
läßt das Ganze erahnen, das Kleine hat einen Bezug zum Großen. Die Tatsache, daß seine
Essays oft gegen die Zeit geschrieben sind, daß sie diese kritisieren, verleiht ihnen eine leicht
utopische Note.
Von Interesse sind nicht nur die literarischen Phänomene, sondern auch die moralisierenden
und die soziologischen Aspekte. Alles spricht den Leser als einen hellhörigen Gesprächspartner
an und ruft ihn zum Nachdenken auf. Weltläufigkeit kennzeichnet Essayisten wie Hofmannsthal, Bahr, Thomas Mann, Kassner und Burckhardt.
Bei Hofmannsthal ist der Essay fast ausschließlich Bekenntnis, er will im Essay unverschlüsselt bekennen. Er will gehört werden, und zwar nicht nur von dem auserlesenen Publikum
eines Lesezirkels, sondern von der Nation. Hermann Broch wendet den Begriff Bekenntnis-Prosa
24
S. G. Haas a.a.O. S. 43 f.
Vgl. Klaus Weissenberger (1985): Der Essay. In: Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen
Kunstprosa. Hrsg. von K. Weissenberger. Tübingen: Niemeyer. S. 105-125. Hier S. 123 f.
25
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Hugo von Hofmannsthals Essays – eine "alles verschlingende Unform"?
vor allem auf den Aufsatz Die Farben an (aus den Briefen des Zurückgekehrten). Dieser Aufsatz
ist noch ein Beweis dafür, wie wenig der Dichter vom Essayisten geschieden werden darf. Der
26
Essay ist auch meiner Meinung nach aus dem Werk nicht herauszulösen. Hofmannsthal
spricht mal als liebender mal als zürnender Kritiker der österreichisch-deutschen Nation. Das
Bekennen wurzelt im Betroffensein, im Ergriffensein, also in einem zutiefst dichterischen Zustand, wäre mit Exner zu ergänzen.
In Shakespeares Könige und große Herren (1905) nimmt er Bezug auf Karl Werders Aussagen über Shakespeare, um eigentlich seine Meinung und Auffassung über den großen
englischen Dramatiker sowie seine Verehrung auszudrücken: "Shakespeares Sachen sind Darstellung, nicht bloße Schilderung. Wer sich von ihm nur erzählen lassen will, der mißversteht
ihn. Wer ihn nur hört, indem er ihn liest, liest ihn nur halb und mißhört ihn darum. Gespielt will
27
er sein [...]." Hofmannsthal erwähnt auch in seinen Aufzeichnungen die Bedeutung von
28
Shakespeares Gleichnissen und Metaphern, aus denen sein Stil richtig zu erkennen ist.
Otto Ludwigs Studien über Shakespeare erscheinen Hofmannsthal ebenfalls beispielhaft,
29
denn Shakespeare hat seine Stücke aus dem Herzen der Schauspielkunst herausgeschrieben.
Für Hofmannsthal ist jeder schöpferische Regisseur "ein Dichter und immer wieder von Zeit
zu Zeit nimmt das Schicksal aus denen, die 'eine Bühne in sich tragen' und in schwelgerischer
30
Einsamkeit Shakespeare für sich spielen, einen heraus und gibt ihm eine wirkliche Bühne."
Der Vorliebe Hofmannsthals für die Gestalt begegnen wir in mehreren Passagen. Mal ist die
dichterische Gestalt, mal die Bühnengestalt gemeint:
Die Gestalten Shakespeares sind nicht nach den Sternen orientiert, sondern nach sich selber; und
sie tragen in sich selber Hölle, Fegefeuer und Himmel und anstatt ihres Platzes im Dasein haben sie
ihre Haltung. Aber ich sehe diese Figuren nicht jede für sich, sondern ich sehe sie jede in bezug auf
31
alle andern und zwischen ihnen keinen leblosen, sondern einen mystisch lebenden Raum.
Die Gestalt ist die lebendige Erscheinung, wir vermögen nur die Gestalt zu lieben, und wer
die Idee zu lieben vorgibt, der liebt sie immer als Gestalt. Die Gestalt erledigt das Problem, sie
beantwortet das Unbeantwortbare, pflegte Hofmannsthal zu sagen.
Die Idee des Ganzen ist ein Leitmotiv in den Essays und entsteht auch aus der Summierung
der Gestalten: "Das Drama, ich meine nicht nur das Drama Shakespeares, ist ebensosehr ein
Bild der unbedingten Einsamkeit des Individuums wie ein Bild des Mit-Einander-da-Seins der
Menschen. In den Dramen, die Kleists kochende Seele in ihren Eruptionen herausgeschleudert
hat, ist diese Atmosphäre, dieses Mit-Einander der Gestalten vielleicht das Schönste des
26
Vgl. auch R. Exner (1961/1962): Zur Essayistik Hugo von Hofmannsthals. In: Schweizer Monatshefte. 41. Jg. S. 182198. Hier S. 187.
27
RA I. S. 34.
28
Aufzeichnungen Bd. 10. S. 581 f. und 585 f.
29
RA I. S. 34.
30
Ebd. S. 41 f.
31
Ebd. S. 52.
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Mariana-Virginia Lăzărescu
32
Ganzen." Zum eigenartigen Stil Hofmannsthals gehören die Konstruktionen mit Durch33
kopplungsbindestrich nach dem Muster der im zitierten Text vorkommenden.
Eine Gruppe von Essaytexten bekunden Hofmannsthals Interesse und Bewunderung für die
Schauspielkunst. Die schauspielerische Gabe versteht Hofmannsthal als einmalige intuitive
Fähigkeit, alle Leidenschaften zu erfassen, alle Rollen zu spielen, die das Leben dem Menschen
in so unwahrscheinlicher Vielfalt zuweist. Durch die Kunst des Dichters und des Mimen werden
34
der tiefere Sinn, die Tragik und der Jubel des Lebens erfaßt. Eleonora Duse ist ein Beispiel für
die Fähigkeit, verschiedene Charaktere wie die Kameliendame von Dumas oder Fedora von
Victorien Sardou oder Nora von Ibsen überzeugend darzustellen: "Die Duse spielt nicht sich, sie
35
spielt die Gestalt des Dichters", behauptet Hofmannsthal.
Hofmannsthal manifestiert besonderes Interesse an den Bestrebungen der jungen Secessionisten-Gruppe, wobei er wichtige Aufschlüsse über sein Verhältnis zur bildenden Kunst
zuläßt. Seine Zeilen geben eine zusammenfassende Darstellung aus dem Blickwinkel der
wechselseitigen Betrachtung von Literatur- und Kunstgeschichte. Hofmannsthals Verhältnis zur
bildenden Kunst ist vorwiegend von seiner Teilnahme an den Problemen seiner Zeitgenossen
bestimmt. Seine Schriften zu Fragen der Kunst sind die eines authentischen Kritikers und
Mentors, dadurch daß sie sich durch ein hohes Maß an unmittelbarer Beteiligung kennzeichnen.
Ein Leitmotiv der frühesten Aufsätze über neue Kunstbücher und Ausstellungen moderner
Kunst ist die Idee des "ästhetischen Menschen", dessen Bemühung, die "Umgebung zu
36
stilisieren und das Gewöhnliche als Schauspiel zu genießen" , in einer Studie über Walter
Pater zur ästhetischen Lebenshaltung erhoben wird:
"Wir sind fast alle in der einen oder anderen Weise in eine durch das Medium der Künste
37
angeschaute, stilisierte Vergangenheit verliebt" , heißt es so vielsagend bei Hofmannsthal.
Puvis de Chavannes und die englischen Präraffaeliten sind die vornehmsten Vertreter eines
Kunstgeschmacks, der etwa die Farben eines Bildes rühmt, weil sie "viel schöner als alle wirk38
39
lichen Dinge" sind und der in einem Kunstwerk die reinigende, "veredelnde Sprache" der
Gebärden sucht. Nur das Künstliche, Geformte, zu stilisiertem Dasein Geläuterte besitzt Wirklichkeitsanspruch - alles andere ist bloßes Material, dem erst der Zugriff des Künstlers
bleibenden, sinngebenden Umriß zu verleihen vermag.
32
Ebd.
Der Durchkopplungsbindestrich steht im allgemeinen bei Wortgruppen und Sätzen als Erstgliedern substantivischer
Komposita vom Typ "Sieg-ist-möglich-Strategie". Vgl. dazu Wolfgang Fleischer et. al. (²1996): Stilistik der deutschen
Gegenwartssprache. Frankfurt/Main u.a.: Peter Lang. S. 238.
33
34
Bei Hermann Eichbichler: Die Legende einer Wiener Woche. Hugo von Hofmannsthal: Eleonora Duse. In: Dolomiten/1.8.1985.
35
RA I. S. 470.
36
Vgl. Hofmann, Werner (1955): Hofmannsthal als Kunstkritiker. In: Wort in der Zeit. Graz: Stiasny 1.Jg. Folge 3/1955.
S. 167-173.
37
RA I. S. 196.
38
Vgl. W. Hofmann a.a.O.
39
Ebda.
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Hugo von Hofmannsthals Essays – eine "alles verschlingende Unform"?
Hofmannsthal hat den Präraffaeliten und dem Präraffaelitismus vier Essays gewidmet:
Algernon Charles Swinburne (1892), Über moderne englische Malerei (1894), Walter Pater
(1894) und Englischer Stil" (1896).
In den frühen Essays zur zeitgenössischen bildenden Kunst bringt Hofmannsthal einerseits
40
seine Abneigung gegenüber dem Eklektizismus, der "Krankheit des Jahrhunderts" , zum Ausdruck, andererseits begrüßt er fortschrittliche Persönlichkeiten wie Khnopff und Rops, Klinger
und Franz Stuck, vor allem aber die Vertreter der englischen Malerei. Er würdigt die
Präraffaelitten als Entsprechung zur Eindringlichkeit und sparsamen scharfen Prägnanz eines
41
42
Dante . Ihre "Durchseelung des Leiblichen" - etwa in der allegorienreichen Kunst eines
Burne-Jones - wird gegen den antikisierenden Idealismus Winckelmanns ausgespielt.
Entscheidend ist die Frage, ob "eine künstlerische Individualität die freie Kraft gehabt hat, eine
neue, aus lebendigen Augen erschaute Perzeption des Weltbildes in einer Weise darzustellen,
43
die sich der Seele des Betrachters zu übertragen geeignet ist." Der Künstler wird zum Visionär
und Mythenbildner, in der Nähe des Dichtens, Denkens und Träumens. Die Formel von der Kunst
44
als einer "Natur auf Umwegen" erklärt Hofmannsthals Absage an naturalistische Mimesisvorstellungen sowie an ästhetizistische Künstlichkeit.
Die vier genannten Essays sind der Beweis für Hofmannsthals Verhältnis zu den englischen
Künstlern und deren Zugehörigkeit zu einer großen und bedeutenden Strömung, die vom 19.
zum 20. Jahrhundert überleitete. Sein Engagement in der Debatte zum englischen Ästhetizismus beweisen Aufzeichnungen, briefliche Hinweise, Aufsätze, Rezensionen, Essays. Seine
Faszination wird von der Zeichensprache der Bilder sowie von der Vermittlerrolle der Kunstkritik
verursacht. Ursula Renner nennt zwei wichtige Komplexe bei Hofmannsthal, nämlich einen
ästhetischen und einen außerästhetischen und gesellschaftlichen, denen ein Moment der
45
Kommunikation und Vermittlung gemeinsam ist. Der Kritiker hat eine Schlüsselfunktion, besonders ist John Ruskin als begnadeter Kritiker zu erwähnen. Der Kritiker verbindet Rezeptionsund Produktionsprozeß und vermittelt zu äußerer Lebenswelt und schöpferischer Innenwelt.
Somit erfreut sich der Künstler und Kritiker einer doppelten Kompetenz: er malt und nimmt
Stellung zum Gemalten. In Gedichten Stefan Georges, in Bildern eines Burne-Jones oder Puvis
de Chavannes sieht Hofmannsthal eine neue künstlerische Ausdruckssprache verwirklicht.
Fühlen und Schauen werden zusammengebracht. Hofmannsthal macht sich die Position von
Ruskin zu eigen, wenn er fordert, daß die Menschen wieder lernen müßten, "daß die Malerei
eine Zauberschrift ist, die, mit farbigen Klecksen statt der Worte, eine innere Vision der Welt,
der rätselhaften, wesenlosen, wundervollen Welt um uns übermittelt" und die "keine gewerb46
liche Tätigkeit" sei . Das Sprechen über Kunst soll folglich nicht von Journalisten oder Wissenschaftlern, sondern von künstlerisch begabten Kritikern oder Künstlern selbst gesichert werden.
40
RA I. S. 523.
RA 1. S. 549.
42
RA I. S. 551.
43
RA I. S. 527.
44
RA I S. 549.
45
Vgl. Ursula Renner (2000): "Die Zauberschrift der Bilder". Bildende Kunst in Hofmannsthals Texten. Freiburg im
Breisgau: Rombach. S. 177 f.
46
RA I. S. 526 f.
41
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Mariana-Virginia Lăzărescu
Bei keinem deutschen Dichter hat Metaphorik so viel mit Essayistik zu tun wie bei Hofmannsthal, weil der metaphorische Prozeß bei Hofmannsthal nicht aus dem Werke, nicht aus
der Methode des Werkes herauszulösen ist. Belege haben wir zahlreiche in seinen Äußerungen
47
über die Bedeutung des Metaphorischen. "Ich bin ein Dichter, weil ich bildlich erlebe" , pflegte
Hofmannsthal zu sagen. In seinem Essay "Philosophie des Metaphorischen" (1894) erklärt Hofmannsthal das Wesen der Metapher darin, daß sie in einer hellsichtigen Darstellung des seltsam vibrierenden Zustandes zu uns kommt, "über uns kommt in Schauer, Blitz und Sturm". Der
Metapher als einer plötzlichen blitzartigen Erleuchtung verdanken wir das Erahnen des großen
Weltzusammenhanges, sie läßt schaudernd die Gegenwart der Idee, den ganzen mystischen
48
Vorgang spüren, den uns die Metapher leuchtend und real hinterläßt. Wie sehr Hofmannsthals Sprache bildlicher Ausdruck ist, entnehmen wir den meisten Stellen seiner Essays, wie z.B.
Gabriele d'Annunzio (1894), Sommerreise (1903) u.a. Die Metaphorik will bis ans Ende eines
Essays duchgehalten und "durchkomponiert" sein. Deshalb gibt uns seine Arbeitsweise wichtige
Aufschlüsse über die Gattung des Essays sowohl in seinem Schaffen als auch allgemein.
In der Wendung zur stilisierten Form hat Hofmannsthal das Bedürfnis nach intensiviertem
Ausdruck und nach neuen Wirklichkeitsschichten. Die Abkehr von der Natur vollzieht sich als
Ablehnung der platten, kleinlichen Naturnachahmung, als Protest gegen einen müden Gartenlaube-Naturalismus und als Bekenntnis zum Kunstwerk als einer Angelegenheit der Form und
nicht des Inhaltes: "Ich glaube, daß der Begriff des Ganzen in der Kunst überhaupt verlorengegangen ist. Man hat Natur und Nachbildung zu einem unheimlichen Zwitterding zusammengesetzt, wie in den Panoramen und Kabinetten mit Wachsfiguren. Man hat den Begriff der
49
Dichtung erniedrigt zu dem eines verzierten Bekenntnisses."
Das Widersprüchliche und Schwankende sind Wesenszüge, welche die Schriften des jungen
Loris mit den vielfach divergierenden Bestrebungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts teilen,
50
51
meint sehr richtig Werner Hofmann . Hofmannsthal lobt die "subtile Expressivität" der
52
Präraffaeliten, die "Kunst eines beherrschten Gemüts" wie Puvis de Chavannes und die
53
kleinen, heute längst vergessenen Impromptus der Marie Bashkirtseff .
Hofmannsthal hat als erster die Karikatur und deren bedeutungsvolle entwicklungsgeschichtliche Zwischenstellung in der Malerei des 19. Jahrhunderts eindeutig erkannt und
dargestellt, möchte ich mit Hofmann präzisieren. Die Entdeckung der formbefreienden
Möglichkeiten der Karikatur ist einer der interessantesten geistesgeschichtlichen Prozesse des
19. Jahrhunderts. Die stärksten Impulse kamen aus Frankreich. Die ersten literarischen Entdecker der Karikatur als Ausdruckskunst waren Baudelaire, Gautier und Champfleury. In
Deutschland hat Muthers "Geschichte der Malerei im 19. Jahrhundert" ihrem vertieften Ver-
47
RA III. S. 382.
RA I. S. 192.
49
RA I. S. 15.
50
Vgl. Werner Hofmann (1955): Hofmannsthal als Kunstkritiker. In: Wort in der Zeit. Graz: Stiasny Verlag. 1. Jg. Folge
3/1955. S. 167-173.
51
RA I. S. 548.
52
RA I. S. 573 f.
53
RA I. S. 163 f.
48
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Hugo von Hofmannsthals Essays – eine "alles verschlingende Unform"?
ständnis gedient. In der Besprechung des ersten Bandes dieses Werkes schimpft Hofmannsthal
54
gegen die tote, stilisierte Welt und bekennt sich zu Delacroix.
Hofmannsthal ist in vielen Fällen der französischen Kunstkritik verpflichtet, geht aber bei
der Entdeckung des durch die Karikatur bereicherten Formempfindens völlig neue Wege. In dem
Aufsatz Franz Stuck (1893) spricht Hofmannsthal von der "Gabe der eindringlichen, übereindringlichen Charakteristik", die der Künstler von der Karikatur besitzt. Diese ist eine wahre Vor55
schule, in der man "das Lebendige ornamental und das Ornament lebendig verwenden" lernt.
Hofmannsthal bezeichnet als eine "wichtige künstlerische Eroberung" die Fähigkeit, "die Dinge
56
unbeschadet ihrer konventionellen Bedeutung als Form an sich zu erblicken".
Man kann mit Hofmann feststellen, daß "Stilisierung" und "Lebensnähe" die beiden
Prinzipien darstellen, um die Hofmannsthal das ereignisvolle Kunstgeschehen seiner Zeit
57
gruppiert. In dem Aufsatz über Hermann Bahr (1891) schreibt Hofmannsthal, daß gerade der
heterogene Charakter dieser verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten das Wesentliche des neuen
Kunstvorhabens sein wird: "Der dargestellte Vorgang, eine Synthese von brutaler Realität und
lyrischem Raffinement, ist fast ein Symbol der heutigen Kunstaufgabe überhaupt. So hat Bahr
selbst das Problem gefaßt: aus Zolaismus und Romantik, aus der Epik der Straße und der Lyrik
58
des Traumes soll die große, die neue, die mystische Einheit werden."
Hofmannsthal hat sich besonders in seiner Studie über Victor Hugo mit der Vermischung
verschiedener Ausdrucksebenen auseinandergesetzt. Er hat das Prinzip der Stilmischung, eine
der wichtigsten Ausdrucksmöglichkeiten des 20. Jahrhunderts, in der Ariadne auf Naxos angewendet.
Hofmannsthals Schriften der 90er Jahre fassen die Atmosphäre des Jahrhunderts zusammen: seine Südfranzösischen Eindrücke (1892) schildern die Welt von Van Gogh, seine
Studie Englischer Stil (1896) erinnert an die Bildnisse der Café-Concert-Mädel von ToulouseLautrec.
Eine mögliche Zäsur in der langen Reihe der kunstkritischen Aufsätze wäre nach Hofmann
zwischen den in den Blättern für die Kunst 1897 erschienenen Aphorismen und der Studie über
Victor Hugo zu setzen. Die Ansprache im Hause des Grafen Lanckoroński (1902) leitet einen
neuen Abschnitt ein, dessen Wesenszüge sich am offenkundigsten in der gewandelten
Naturauffasssung belegen lassen: "Wirklich, wir stehen hier vor dem Reiche der Kunst wie vor
59
dem der Natur, als vor einem schlechthin unendlichen." Der Einfluß Goethes wird hier deutlich und kennzeichnet die gesamte Vorstellung vom Kunstwerk, die Hofmannsthal entwickeln
sollte.
Was Hofmannsthal als Darstellung einer Familien- und Entwicklungsgeschichte sowie als
kritische Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Kultur geplant hatte, endete schließlich
als Darstellung eines subjektiven Kunsterlebnisses in den Briefen des Zurückgekehrten (1907),
54
RA I. S. 519 f.
RA I. S. 530.
56
Ebd.
57
Gemeint ist der Aufsatz Die Mutter in: RA I. S. 100-105.
58
Ebd. S. 104.
59
RA I. S. 24.
55
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125
Mariana-Virginia Lăzărescu
60
die für Hofmannsthal als "halbpolitische Publikation" gelten. Auch in dem Inhalt der Briefe, in
denen sich essayistische Ansätze herauskristallisieren, kann die Veranschaulichung von zwei
Erlebnisweisen als Hauptanliegen der modernen Kunst erkannt werden. Die eine gipfelt in der
Verfremdung der Umwelt, die andere erlebt den Kosmos als ein wesenhaftes, sinnvolles Ganzes,
in das der Mensch eingebunden ist. Eine kritische Analyse des deutschen Lebensstils leitet die
Beschreibung von Erlebnissen der Wahrnehmungsentfremdung ein.
Bereits 1894 beschrieb Hofmannsthal dieses Erlebnis des Unwirklichwerdens an einigen
61
Werken des Engländers John Reid. Mit dieser Beschreibung wird die verfremdende Wirklichkeitsmagie der surrealistischen Malerei vorweggenommen.
Hofmannsthals starkes Empfinden für die Kraft der Farben wird im fünften und letzten Brief
des Zurückgekehrten zu einer tragisch gefärbten "Weltanschauung", die Goethesche Züge
trägt: "Und warum sollten nicht die Farben Brüder der Schmerzen sein, da diese wie jene uns
62
ins Ewige ziehen?"
Erst nach einem guten Jahrzehnt, ein Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, sollte
Hofmannsthal wieder öffentlich zu Kunstfragen Stellung nehmen: er spricht zu den Mitgliedern
des österreichischen Werkbundes über Die Bedeutung unseres Kunstgewerbes für den Wieder63
aufbau. Auch hier hat sich das vertiefte Kunsterlebnis der Briefe des Zurückgekehrten erhalten: die Kunst gehört nun dem Leben an, sie ist eine Tätigkeit, die über den ästhetischen
Bezirk hinausreicht und in alle Lebensbezirke organisch eingreift. Der Vortrag enthält treffende
Beobachtungen zur künstlerischen Zeitproblematik und ihrer Lösung. Erwähnt werden die Kunst
Josef Hoffmanns und Vorschläge zur urbanistischen Neugestaltung der Großstädte, die unter
dem Schlagwort der "Trabantenstädte" in der Zwischenkriegszeit an manchen Orten verwirklicht wurden. Hofmannsthal unterscheidet die Gegebenheiten des deutschen Werkbundes, der
den österreichischen Bemühungen viel an begriffliche Schärfe voraus hat, vom Wiener Werkbund, dessen Weg stärkere Bodennähe und engere Beziehung zu den "heimatlichen Quellen"
kennzeichnet. Von den deutschen Brudergenossenschaften ist zu lernen "die Schärfe der
Formulierung, das, was in der begrifflichen Umreißung der Ausdruckskultur, in dem
64
Sichklarwerden, in dem Begriff durchgeistigter Arbeit festgelegt ist."
Werner Hofmann geht auf die einzigartige geistesgeschichtliche Parallele des Vortrags ein,
da im gleichen Jahr 1919 Walter Gropius in Weimar das Bauhaus mit einem Manifest ins Leben
rief, das vom Künstler eine neue, gemeinschaftliche Werkgesinnung forderte. Gropius wollte
Sinnbilder für einen neuen, kommenden Glauben schaffen. Auch Hofmannsthal hofft, daß aus
den Kunstgewerbeschulen einmal Bauhütten, Zentren des freien geistigen Lebens werden
60
Vgl. Ellen Ritter (1988): Hugo von Hofmannsthal: Die Briefe des Zurückgekehrten. In: Jahrbuch des Freien Deutschen
Hochstifts. Hrsg. von Christoph Perels. Tübingen: Niemeyer. S. 226-252. Hier S. 252.
61
Gemeint ist der Aufsatz Internationale Kunst-Ausstellung 1894 in RA I. S. 534-545.
62
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden a.a.O. Bd. 7 (1979). Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe. Reisen. S. 571.
63
RA II. S. 55-68.
64
RA II. S. 60.
126
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Hugo von Hofmannsthals Essays – eine "alles verschlingende Unform"?
könnten; auch er spricht von einer "Gemeinschaft von Gewerbetreibenden, Industriellen,
65
Künstlern, Lehrern, Schülern".
Das Weimarer Bauhaus wurde zu einem der wesentlichsten Faktoren der modernen Formentwicklung. Nach Hofmannsthal entspricht die reine, abstrakte Form weniger den schöpferischen Anlagen des Österreichers als jenen des Deutschen, weil die "inneren Überein66
stimmungen des Ästhetischen und Ethischen" , wie Hofmannsthal sie haben möchte, stärker
als in Deutschland von den Kräften der Tradition abhängen.
Eine Reihe von Aufsätzen ästhetischen Inhalts erweisen sich somit als erlesene Proben der
Interessenweite und der Formkunst des Dichters. Der österreichische Dichter stellt kunstkritische Wirksamkeit, ausgeprägte Intuition und Blickschärfe unter Beweis, zeigt weniger bekannte Parallelen auf, hat aktiven Anteil an wesentlichen Strömungen der modernen Kunst.
67
Seine Texte stehen geistesgeschichtlich gesehen, meine ich mit Ursula Renner , zugleich in
einem seit der Romantik über den französischen Symbolismus bis zur Jahrhundertwende sich
fortschreibenden Prozeß ästhetischer Selbstreflexion.
65
RA II. S. 58.
RA II. S. 65.
67
Vgl. Ursula Renner (2000): "Die Zauberschrift der Bilder". Bildende Kunst in Hofmannsthals Texten. Freiburg im
Breisgau: Rombach. S. 41.
66
ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
127
GHETTOÖFFENTLICHKEIT – JÜDISCHER KULTURBUND BERLIN
between National Socialist Regulations and Self-Assertion
Corina Petrescu
After Adolf Hitler became Germany’s Chancellor, Jews saw themselves pushed outside the
general public sphere and into a narrow universe, which the authorities defined for them. This
space was at the same time public and private. It was public because anyone labeled by the
establishment as Jewish could participate within its limits in various activities; and it was private because non-Jewish participation was not allowed and Jews could not trespass its bor1
ders. Inside this Ghettoöffentlichkeit the Jewish community in Germany had to come to terms
with its new social position and redefine its own identity. It proceeded to do so in the same
manner in which its members had debated any social, economical or political change over the
course of centuries: it engaged in public discussions. The diverse Jewish press which existed
until 1938 constitutes proof of this inner Jewish dialogue and favors the consideration of this
sphere as a pseudo-public-space in which a discussion room was opened for Jews. Inside this
space the Jüdischer Kulturbund, the Cultural Association, occupied a special place. The focus of
this article is the Jüdischer Kulturbund Berlin. Its existence and importance alone are analyzed
as a pseudo-public space of inner Jewish dialogue. While I am aware of the differences between this association and its counterparts in other German cities and, especially, in rural areas, I will not extend my analysis to include these aspects.
Until the time of the large emigration in the mid-1930s, the Kulturbund afforded employment for a number of artists who had been removed from their regular positions due to the
2
Law for Civil Service. These jobs provided the artists with an important creative outlet, an opportunity to continue in their work and gain experience vital after their emigration. It also
eased their financial worries by allowing them to earn some of the money necessary for this
emigration. To audiences it offered the illusion of normalcy, which had ceased to surround
them but was very much needed in those troubled times. Although a form of escapism, it nevertheless soothed the pains and worries of people who still needed to feel they were dignified
human beings and not everything the Ministry of Propaganda or the Führer of the Third German Reich had declared them to be. In all its forms, the Kulturbund was the way in which German Jewry understood to express itself within the new German state. In the header of the first
number of its newsletter, Monatsblätter, under the title Fanget an! its initiator, Kurt Singer,
acknowledged that the enterprise was meant as a flight from reality into the magical world of
theater and music and allowed no doubt about the circumstances under which such an action
was taking place: in the context of the Jews’ separation from the general public, at a time
when self-help was all that was left for the Jews, as their identity as Jews in Germany was
1
Saskia Schreuder, Würde im Widerspruch. Jüdische Erzählliteratur im nationalsozialistischen Deutschland 1933-1938,
(Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 2002) 55, footnote 1.
2
On April 7, 1933, the Reichstag of the new government formed by Adolf Hitler passed the Law Regarding the Restoration of the Professional Civil Service which stated that in order to remain employed during the new regime all civil
servants had to be of Aryan descend; anyone who failed to fulfill this racial requirement was to be released from duties. Non-Aryans were considered all those who were “descended from non-Aryan, especially Jewish parents or grandparents, (…) even if only one parent or grandparent [was] of non-Aryan descent, (…) especially (…) if one parent or
grandparent was of Jewish faith.” [Paragraph 17 of the Law Regarding the Restoration of the Professional Civil Service
cited in Paul Mendes-Flohr and Jehuda Reinharz (Ed.), The Jew in the Modern World. A Documentary History, (New York
and Oxford: Oxford University Press, 1995) 642].
Ghettoöffentlichkeit –Jüdischer Kulturbund Berlin between National Socialist Regulations and Self-Assertion
becoming more and more problematic. Therefore, he emphasized that the work of the Kulturbund was conceived as an expression of both the Judaic faith and the German culture that
people embraced, although to different degrees: “[…] unsere Arbeit und unsere Idee, [d]ie aber
heißt, die aber will und schließt in sich ein: Bekenntnis zum Judentum, gesteigert durch das
3
Bewußtsein, deutschem Kulturgut der Jahrhunderte verhaftet und verbunden zu sein.” Simultaneously, the organization saw in its action a manner of distancing itself from the new German state, which it did not understand. In a letter to Fritz Wisten, Julius Bab wrote about both
of these goals of the Kulturbund:
Die Herrschaften wollen ja im Grunde nichts anderes als eine neue Ghettobildung – und darauf
läuft leider und notgedrungen das Unternehmen ja heran. [...] Wir denken natürlich an ein Theater
von sehr hoher Qualität, das sich bald genug auch die Beachtung der nichtjüdischen Kreise erobern
4
soll.
Such statements prove the degree to which German Jewry had internalized the cultural
principles of the country in which it had lived for so many generations. It also explains the high
number of Jews who in 1933 were taken by surprise and could not conceive of the fact that
Hitler would last in power more than any of the other ephemeral Weimar governments. In this
(…) haben die Juden auf die Bedrohung durch den Nationalsozialismus kaum anders reagiert als die
Mehrheit der deutschen Hitlergegner. Sie erkannten als Betroffene die heraufziehende Gefahr oft
früher und klarer, aber sie teilten als Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, Liberale,
Konservative unterschiedlicher Prägung die Vorstellungen, Irrtümer und Illusionen ihrer Partei oder
Gruppe. Als Geschäftsleute, als Akademiker oder Beamte waren sie ebenso standhaft oder kleinmütig wie ihre nichtjüdischen Berufskollegen, sie trafen sich mit
anderen gleichaltrigen Deutschen
5
in ihrer Skepsis oder in den verschiedenartigsten Erwartungen.
Another reason for their attitude could have been the long historical tradition of prejudice
and discrimination to which the Jewish population had become accustomed. While 1933
marked the onset of the process that reversed Emancipation, it was not the beginning of Antisemitism in Germany. Yet the Jewish community had persisted in its existence over the centuries and did not see why it would not also survive Hitler. George Clare has illustrated this
thinking:
We knew about his anti-Semitic tirades, of course; we knew about the 1933 anti-Jewish boycott,
but … having used anti-Semitism to help him achieve power, like so many demagogues before him,
did Hitler have any choice but to allow his storm-troopers their field-day? Had we not been there
before? What about Lueger’s anti-Semitic speeches? They had sounded just like Hitler’s … Had one
Jew ever been physically harmed under Lueger? Hitler was a rabble-rouser, just like the young
Lueger. Would he, now that he had achieved his ambition, behave any differently? In any case,
Germany’s powerful and traditional conservative forces were bound to make him toe the line. How
servilely Hitler bows before the ramrod old field marshal. How disdainfully that old soldier looks
down on that little man – the Bohemian lance-corporal, he calls him privately … The sound and the
6
fury of the early days could not last for ever. Even Hitler would have to mellow in the end.
3
Kurt Singer, “Fanget an!” Monatsblätter, (1)1933 cited in Akademie der Künste (Hg.), Geschlossene Vorstellung: Der
Jüdische Kulturbund in Deutschland, 1933-1941, (Berlin: Edition Hentrich, 1992) 236.
4
Julius Bab, letter to Fritz Wisten, May 19th, 1933, cited in Akademie der Künste (Hg.), 231.
5
Kwiet, Konrad und Helmut Eschwege, Selbstbehauptungen und Widerstand. Deutsche Juden im Kampf um Existenz
und Menschenwürde, 1933-1945, (Hamburg: Christians Verlag, 1986) 8.
6
George Clare, Last Waltz in Vienna. The Destruction of a Family 1842-1942, (London: Pan Books edition, 1982) 121122.
ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
129
Corina Petrescu
In his article in the first number of the Monatsblätter Arthur Eloesser identified the roots of
this connection in the love for the German language, “zu ihrer Größe und Rauheit, zu ihrer Innerlichkeit und Lieblichkeit,” that filled the speakers, as this was the only language they could
refer to as mother tongue. Through language came the union with the German Geistesgut,
which had enlightened and shaped the Jewish population in its “geistig-seelichen Aufbau” and
which they could not renounce simply upon request of the new authorities. On the contrary,
7
they felt it to be their duty to keep the faith in their old beliefs. Julius Bab repeated the same
idea in his contribution to the newsletter, when he wrote about the “doppelte Wurzel des
[jüdischen] Daseins” in Germany, Jewish by religious fate and German by intellectual becoming
8
and life style, and the impossibility to overcome this duality for as long as one lived. Kultur as
weapon against National Socialist defamations, this was the goal of the association. “Ein Jahrhundert lang” wrote Moritz Goldstein
haben wir die Teilnahme am europäischen Geist als ein bequemes Recht genossen. Jetzt sind wir in
eine Lage geraten, wo Heroismus dazu gehört, um weiter teilzunehmen. Es hängt von uns ab, von
unserer Zähigkeit, von unserer Empfänglichkeit, von unserer seelischen Kraft, von unserer Zuversicht, von unserem Schwung und unserer Leidenschaft, ob wir weiter daran teilnehmen können. Wir
werden weiter daran teilnehmen. Mag das, was man 9uns aufzwingt, als Ghetto gemeint sein: der
Geist wird darin herrschen. Darauf allein kommt es an.
The first three years in the existence of the Kulturbund, 1933-1936, mirrored these beliefs
to the highest degree as its leaders, Leo Baeck, Chief Rabbi of Berlin, Julius Bab, theater critic,
Joseph Rosenstock, conductor, Kurt Baumann, producer, Werner Levie, Dutch-born economist
and journalist, and Kurt Singer, physician, opera director, and choral conductor, were all products of the assimilation period. Hence, despite the emphasis laid on Jews and Jewishness, the
association was far from being completely Jewish and the program of its performances confirmed it. On October 1st 1933 the theater department opened with Gotthold Ephraim Lessing’s
Nathan der Weise; on November 14th of the same year the first opera production saw the curtain rising on Mozart’s La Noce de Figaro. The second season included among others Pirandello’s Six Characters in Search of an Author, Beethoven’s Fidelio, and Strauss’ Fledermaus; the
10
third Sophocles’ Antigone next to Rossini’s Barber from Seville and Bizet’s Carmen. Yet the
Zionists did not approve of such preferences. To them the Kulturbund publicized the image of a
German-Jewish coexistence, which in the political climate of 1933 and onwards was more
doubtful than ever. They asked for more Jewish culture, but without being able to define this
11
concept narrowly. While the discussions went on and on, the organization structured its pro12
gram in accordance with the principles contained in its name: Kulturbund deutscher Juden.
7
Arthur Eloesser, “Judentum und deutsches Geistesleben,” Monatsblätter, (1)1933 cited in Akademie der Künste (Hg.),
239.
8
Julius Bab, “Jüdisches Schauspiel,” Monatsblätter (1)1933 cited in Akademie der Künste (Hg.), 240.
Moritz Goldstein, “Kulturghetto?” Jüdische Rundschau, No. 60, July 28th 1933, 373.
10
“Aufführungsverzeichnis,” Akademie der Künste (Hg.), 376-402.
11
For a detailed examination of the discussions see Herbert Freeden, “Drinnen im Exil. Das Theater des Jüdischen
Kulturbundes 1933-1941,” Exil. Forschung, Erkenntnisse, XIII (1993), No. 2, 46-51.
12
When Kurt Singer imagined the creation of this organization he had given it the name Kulturbund deutscher Juden
1933, but Hans Hinkel made it clear from the start that the number 1933 had to disappear, as it constituted a symbol
in National Socialist iconography and the Party was not willing to share it with anyone, least of all the Jews. The
organization was founded bearing the name Kulturbund deutscher Juden, which in an article in the first issue of
Monatsblätter in late October Martin Buber proclaimed programmatic: “Für die deutschjüdische Kultur also ist seinem
9
130
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Ghettoöffentlichkeit –Jüdischer Kulturbund Berlin between National Socialist Regulations and Self-Assertion
Given all these considerations, the play Nathan der Weise was probably the most appropriate choice for the opening of an all-Jewish theater. Nathan, the main protagonist, was a Jew
who advocated the idea that before belonging to any religious denomination any human being
was defined by its humanity and hence possessed all the rights bestowed upon him by this
13
condition: “Sind Christ und Jude eher Christ und Jude,/ Als Mensch (…).” This message of the
th
18 century reflected an enlightened Germany where assimilated Jews and Christians had lived
and created culture together. In 1933 Berlin, although the majority of the city’s Jews continued
to be assimilated, they were beginning to lose their rights on the basis of their Jewishness. The
members of the directorial board were aware not only of this reality, but also of the fact that
the community which they served did not constitute a whole. They did not expect these differences to disappear merely because the German authorities had pushed all Jews together and
outside the general public view. Lessing’s play, with its Jewish theme and German author, was
seen as the only one work capable of bringing the new situation of the Jews into perspective.
Even before the premiere, the Jüdische Rundschau had demanded that the production reflect
the contemporary situation of the Jews, instead of an illusionary world of times long gone.
Objections to the choice of the play were not uttered as long as the production was not intended as a political statement in favor of the assimilationist camp. The editors paid less atten14
tion to the content of the play, which was well known, but to the attitude of the producers,
15
despite Kurt Singers assurance that the Kulturbund practiced art and not politics.
Nonetheless this assurance was deceitful as politics played a role in determining the cultural seasons of the organization. To quote Rebecca Rovit, “in light of the laws against Jewish
artists and the censorship of their work, it was vital not only to feature Jewish playwrights, but
also to stage the dramatic content in such a way as to foster a Jewish experience among spec16
tators.” Thus, the staged Nathan was more Jewish than Lessing had ever intended it to be:
Nathan appeared onstage humming Hassidic songs and his first words were a Hebrew blessing.
His religiosity was emphasized both by his murmur of Hebrew and the praying in which he
engaged in his home, which displayed a visible kneeler and a menorah. In the dialogue with the
templar which focused on ancestry, “reckt sich Nathans Gestalt in stolzer Würde, als ob durch
ihn das ganze jüdische Volk den Adel seiner Abstammung verteidigte” when the templar
remarked rather deridingly “Nicht zwar, als ob ich den geringsten Zweifel/ In Euern StammNamen nach dieser Bund gegründet worden, und zwar nicht als Verein, nicht als Gesellschaft, sondern eben als Bund.
‚Bund’ das bedeutet, daß die Menschen, die dazu gehören, nicht durch ein Interesse, nicht durch einen Zweck allein
sondern lebensmässig und unmittelbar verbunden sind“ [Martin Buber, Name verpflichtet, Monatsblätter (1)1933 cited
in Akademie der Künste (Hg.), 237]. In 1935 when according to the Gestapo a term such as deutsche Juden was
deemed an aberration it was removed from the title of the organization in order to be replaced with jüdisch. The name
thus became Jüdischer Kulturbund, Berlin e. V.
13
Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise in Werke, (München: Carl Hanser Verlag, 1971) 253.
“(…) darum halten wir es für wichtig, gleich zu Beginn darauf hinzuweisen, daß wir auch als Juden nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft zu schauen haben; wir wollen uns nicht damit trösten, daß vor 150 Jahren Lessing
den ‘Nathan’ schrieb, sondern wir wollen sehen, wie wir mit der heutigen Not der Juden fertig werden. Sollte die Aufführung des ‘Nathan’, die wir als künstlerisches Ereignis begrüßen würden, diesen klar und unklar angedeuteten Nebensinn haben, die deutschen Juden nach alter Melodie in eine Welt der Illusionen einzuspinnen, dann müßten wir uns
gegen dieses Beginnen aussprechen” (“Warum ‘Nathan der Weise’?” Jüdische Rundschau, No. 59, July 25, 1933, 365).
15
Kurt Singer, “Um die Tätigkeit des ‘Kulturbundes’,” Jüdische Rundschau, No. 63, August 8, 1933, 405.
16
Rebecca Rovit, “Collaboration or Survival, 1933-1938: Reassessing the Role of the Jüdischer Kulturbund,” Theater in
the Third Reich, the Prewar Years. Essays on Theater in Nazi Germany. Glen W. Gadberry (Ed.), (Westport, CON and London: Greenwood Press, 1995) 145.
14
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Corina Petrescu
baum setzte. Gott behüte!/ Ihr könnt ihn Blatt vor Blatt bis Abraham/ Hinauf belegen …” The
ending of the play also disregarded Lessing’s directions, as it did not show Nathan and the rest
of the characters embracing reconciliatory, but positioned the Jew outside the stage in exclu17
sion. Nevertheless this liberty allowed the producers to draw attention to the contemporary
fate of German Jewry, which seemed more important to them than considerations on staging
accuracy. The reviewer of the Jüdische Zeitung Chemnitz subscribed to this point of view when
he commented after the performance in Dresden:
wir wollen unsern jüdischen Nathan haben, den Nathan von heute und hier und den haben wir be18
kommen, - einmalig, unwiederholbar, unübertrefflich.
Despite this enthusiasm, there were also voices that rejected the modifications undertaken
in the Kulturbund production. Lutz Weltmann, the art critic of the Israelitisches Familienblatt,
wrote on October 11, 1933, that he would have preferred the original Lessing play to this adaptation which inserted unnecessary Jewish tones. While he found especially the leading actor,
19
Kurt Katsch, convincing, he believed that the performance failed to touch the majority of the
public. The artists and the audiences might have been Jewish, but that with which they could
identify was not Jewish art, either in the sense of works written by Jews or dealing specifically
with Jewish topics, but German and international art:
Auf diese Gemeinschaft wirkte nicht nur die Ring-Erzählung des ‘Nathan’, die ja von ihrer Wahrheit
dadurch nichts eingebüßt hat, daß das Judentum heute kaum je als Religionsgemeinschaft, sondern
als Rasse angesehen wird. Nicht nur wirkte auf sie jener Grundsatz der Duldung, die Lessing predigte und die sich im ‘Nathan’ auf alle Formen menschlichen Zusammenlebens erstreckt, wenn man
nach dem Sinne, nicht nach dem Buchstaben fragt. Gewiß: Wenn Recha Saladin fragt, ob nur das
Blut den Vater mache, und wenn Nathan erzählt, wie er nach seinem Unglück dem Christentum
Rache schwur, und dennoch nachher zum Klosterbruder sagt, er könne nie bereuen, was er dem
Christenkinde Recha Gutes getan … - wer von den Zuschauern verspürte da nicht sein eignes Hinundhergeworfenwerden in dieser Zeit? Und dennoch: - Wer aus dem ‘Nathan’ nur das jüdische
‘Zeitstück’
in sich aufnimmt, tut dem Dichter ebenso Unrecht, wie derjenige, der es als überholt
20
ablehnt.
The CV-Zeitung, who acclaimed the performance in general and welcomed the activities of
the Kulturbund, also disapproved of Karl Loewenberg’s directions with respect to Nathan’s isolation at the end of the play:
Sollte diese Nuance wirklich dem Lebensgefühl des weisen Nathan, seiner heiteren, fest in Gott
ruhenden
Resignation entsprechen, die er sich unter den furchtbarsten Schicksalsschlägen bewahrt
21
hat?
17
„Nathan der Weise. Die Premiere des ‚Kulturbundes’,“ Jüdische Rundschau, No.79/80, October 4, 1933, 624.
“’Nathan’ in Dresden,“ Jüdische Zeitung Chemnitz, November 17, 1933.
19
“Kurt Katsch, der Nathan, bedarf keiner Nachsicht. Sein Tonfall hat eine natürliche jüdische Melodie, seine Gesten
sind auf eine unaufdringliche Weise jüdisch, er will wirklich stets nie mehr als ein Jude scheinen und ist doch in erster
Linie Mensch, den Al-Hafi für gangesreif halt, den der Klosterbruder einen Christen nennt, den Saladin zum Freund
haben will. Einige Betonungen, die Lessings Diktion zugunsten des Jüdischen verbiegen, fallen wenig ins Gewicht. Eine
Leistung, die durch Sein und Können überzeugt.” (Lutz Weltmann, “Der Jüdische Kulturbund am Werk. Lessings ‘Nathan
der Weise’. Die erste Aufführung des Kulturbundes,” in Israelitisches Familienblatt, October 11, 1933)
20
Lutz Weltmann, Israelitisches Familienblatt, October 11, 1933.
21
Hugo Lachmanski, “Die Premiere des Kulturbundes. ‘Nathan der Weise’ im Berliner Theater,” CV-Zeitung, No. 38,
October 4, 1933.
18
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Ghettoöffentlichkeit –Jüdischer Kulturbund Berlin between National Socialist Regulations and Self-Assertion
These reactions illustrated “die Tatsache, daß jüdische Künstler vor jüdischen Menschen
22
spielen, keineswegs ein jüdisches Erlebnis war.“ Although the Zionist despised this approach,
it reflected the reality of Jewish life in Germany and, as Rovit suggests, “an all-Jewish performance of Nathan der Weise may have been a plea for tolerance, but it may also have been a calculated attempt to please all the segments of the prospective audience, which included Nazi
23
24
officials and Zionist Jews.” As time went by and the discussions became more ardent, the
leadership of the association had to cope both with accusations of lack of direction and de25
mands for more Jewish contents. Hence, in March 1934 Kurt Singer explained for the Israelitisches Familienblatt:
Was echt und wahr ist und edel und menschlich, was geistig und moralisch als Idee und Wort, als
Klang und Szene von jüdischen Menschen deutscher Sprache zu deutsch-redenden jüdischen Hörern
dringt und 26
künstlerisch geformt ihre Seelen spannt und entspannt – das gehört zu unserem Aufgabenkreis.
If this statement held true at the time of its utterance, hardly two years later the Kulturbund had to revise its position. From 1933 until 1935 the Kulturbund Berlin had thrived and
prospered as its performances had been well received and appreciated by the public who attended them. Furthermore the model of Berlin had been followed by other cities with Jewish
inhabitants and sister organizations had sprung out in Cologne, Frankfurt, Hamburg, and Munich, as well as in smaller centers. However the existence of the organization had continued to
be ambivalent as its purpose, although independent of the will of its organizers, was not only
that of offering employment to Jewish artists and a cultural life to Jewish audiences, but also
of isolating this part of the population from the manifestations of the general German public.
It had its contribution in rendering the Jews invisible in the context of German life, of building
27
indiscernible ghetto walls around the Jewish community. The instance, which made this tendency visible, was the forced unification of all local associations into a central organization in
April 1935: Reichsverband der Jüdischen Kulturbünde in Deutschland. As Matthias Harder has
argued, this unification concealed different reasons for its Jewish leaders and the National
Socialist authorities. For the former it denoted several considerations: it expressed the wish to
be more effective in their activities and also reach out to the provinces, which had no means of
forming their own organization, but also to escape the maze of bureaucracy in which each
Gestapo section had power of decision over its own circumscription and dealt with the Kulturbund as it liked. They saw the Reichsverband as a form of centralization that would persist in
taking into account the regional cultural differences of the member institutions. For the National Socialist decision makers the new organization mirrored the change of the regime with
respect to its Jewish policies: as Jews became more and more identified with the arch-enemy
of the Reich, the supervision of those who had not yet left the country also had to be intensified. Centralizing the associations was only one way of tightening the knot and sharpening the
22
Cited from Blättern des Jüdischen Frauenbunds by Herbert Freeden, “Jüdischer Kulturbund ohne ‘jüdische’ Kultur,”
Akademie der Künste (Hg.) 56-57.
23
Two Gestapo officials were present at each activity of the Kulturbund and reported to Hinkel’s office.
Rovit 144.
25
Freeden, “Drinnen im Exil,” 47
26
Kurt Singer, Israelitisches Familienblatt, March 15, 1934, cited in Freeden, “Jüdischer Kulturbund,” 57.
27
Lucy Dawidowicz, “Between Freedom and Ghetto: The Jews in Germany, 1933-1938,” The War Against the Jews
1933-1945, (New York: Bantam Books, 1986) 179.
24
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28
surveillance. The rules underlying the existence of the Reichsverband, which had been drawn
29
up by Reinhard Heydrich, left no doubt about these intentions.
In 1936 the Reichsverband organized a conference in which the association’s future cultural orientation was to be determined. Following the demands of the Zionists and under pressure from the authorities it was decided that the programs of the Kulturbund had promoted
too little authentic Jewish culture and had displayed a repertoire that had been too international. From the point of view of the former contesters such a fact prevented the population
from knowing and identifying with their real origins, while the latter claimed that unless they
acknowledged their own heritage and thus comprehended their misplacement within German
society, Jews would persist in their illusion that they were Germans and not leave the country.
Since at this point in time emigration was the most important issues on their Jewish agenda
the authorities did not welcome such instances and, therefore, demanded a stronger emphasis
on Jewishness in all the activities of the organization. To force this into being, as of 1937 all
German-born composers, with the exception of Händel, who was deemed a traitor for his preference of biblical topics and his affinity with England, could no longer be performed, as the
authorities saw something unworthy in the contact between the music, which they claimed to
30
be German and belong exclusively to them, and Jewish performers and listeners. Likewise,
literary works of German authors became taboo and, if an artist made comments against the
regime his/her works could not be performed afterwards. The case of the Jewish-American
writer Ossip Dymov who criticized the situation of German-Jews in a New York rally was ex31
emplary for this kind of censorship.
28
Matthias Harder, “Der Reichsverband Jüdischer Kulturbünde in Deutschland,” Akademie der Künste (Hg.), 246.
This roof organization incorporated all Jewish cultural organization in the Reich, schools and religious communities
being the only institutions allowed to exist independent of the Reichsverband whose seat was in Berlin; only Jews or
non-Aryans according to the Law for Civil Service could be members, however Aryan spouses of members could also
join the organization; performances could only be attended by members, or with special permission from the police
section of the region, in the case of Berlin the office of State Commissioner Hinkel; lectures, plays, films etc. had to be
approved by the office of Hans Hinkel and once they had received permission they could not be forbidden by the local
police section unless regional circumstances required it. However even in such a case the police section had to inform
Hinkel’s office in advance; performances could only take place in spaces owned, rented, or administered by Jews, but if
this was not possible one could only use the space of an Aryan if the rental agreement profitted the owner; every
performance was to be announced to the local police station ten days in advance; every change in organization or
among the personnel of a local branch was to be approved by the police section and the Hinkel’ office; tickets for
admission to any performances could not be sold publicly and only the Jewish press could advertise for the Reichsverband; the newsletter of the organization was Mitteilungen des Reichsverbandes jüdischer Kulturbünde and its content
had to be submitted to the Hinkel’ office for approval before publishing; the leadership of the Reichsverband and the
local leaders were responsible for any manifestations (whether verbal or physical), which contravened with the National Socialist ideology of the German state; any failure to comply with the regulations would resulted in the dissolution of the organization. Another stipulation although not expressed as a point on the list of rules was that any tendency towards assimilation on the part of the leaders of organizations comprising the Reichsverband was to be
strongly discouraged and reported to Heydrich himself. In order to prevent such a thing it was advised that the board
of the regional organizations be constituted from among the Zionist circles of the population [Der Politische Polizeikommandeur an die Politischen Polizeien der Länder, Berlin, August 13, 1935, cited in Akademie der Künste (Hg.),
246-247].
30
After the annexation of Austria the same rule applied also to composers born there.
31
Freeden, “A Jewish Theatre under the Swastika,” Leo Baeck Institute Year Book, I (1956), 152.
29
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Ghettoöffentlichkeit –Jüdischer Kulturbund Berlin between National Socialist Regulations and Self-Assertion
The discussions called into existence by these regulations were the old debates between the
different factions of the Jewish community, which had occupied the front pages of Jewish
journals since before Hitler’s rise, but had flourished especially afterwards. Yet, the government’s new regulation encouraged the Zionists in their request for more Jewish art on the
stages of the Kulturbund and a systematic training of the population in Jewish though, culture,
and life style. Plays from the international repertoire besides their “allgemein menschliche Tendenzen” also had to concord with “jüdische[s] Empfinden,“ „jüdische[r] Ethik und Tradition,“ „es
muss in einer Beziehung zur jüdischen Lebensanschauung stehen,” while purely Jewish topics
were define as:
der Stoff muß erstens der Tendenz des jüdischen Theaters als solchem entsprechen, er muß
zweitens bildend und erziehend auf die jüdischen Künstler 32und Zuschauer wirken und in der
Richtung der Entwicklung der eigenen nationalen Kunst laufen.
This turn of the authorities towards the Zionists should not surprise. During the years when
the regime was still searching for a solution to its Jewish problem, emigration, especially to
Palestine, was seen as the best way to remove the Jews from German society. The Zionists with
their call for a Jewish culture, their drive to move to Palestine, and their camps training people
for jobs, which would prove useful in the process of settling the country, were well received by
the National Socialist leadership. Hans Hinkel even went so far as to talk about Zionism in
terms of “jüdisches Volkstum” and approve of it as long as it led to removing the Jewish popu33
lation from Germany. However, the call for a Jewish national culture on the part of the Germans had little to do with concern for the development of a national identity -as was the case
with the Zionists- but rather with finding new ways of isolating Jews from society and repeating the fact that they were no longer welcomed in it. If, as leading National Socialists envisioned it, the Kulturbund was to promote massive emigration from Germany and thus make the
Reich judenrein, then it would have to do so by awakening in its members longings for their
own country by promoting their specific culture.
The Kulturbund in Berlin tried to comply with this requirement. After the conference, some
plays by East-European Jewish authors were performed, a Hebrew and a Yiddish expert were
added to the office of the association, and Singer made the promise to educate artists in Jewishness. The results were by far not the ones expected by the Zionists, and by August 1937 one
had to admit that the public was not willing to respond to all the attempts that had been made
to make it more Jewish. People did not understand the East-European Jewish culture and remained estranged from it, just as they did not cheer for the music of Schönberg, which they
failed to appreciate. Artists did not identify with East-European Jewish matters, and neither did
the audiences, which were strongly rooted in the post-emancipation German culture. People
attending the concerts and recitals of the Kulturbund were members of a generation, which
was proud of its assimilation and anchoring in German culture and had no intention of renouncing it. They had been the ones filling the halls of opera houses and theaters during the
Second Kaiser Reich and the Weimar Republic. They did not understand the East-European
Jewish art, and they did not even care to do so.
The degree of change which the organization had undergone in the years since its creation
was epitomized by Singer’s emotive declamation during the conference when he presented as
32
Chaim Borodianski, “Das jüdische Theater” in Akademie der Künste (Hg.), 279.
Hans Hinkel, "Die judenreine Theaterpolitik im deutschen Reich," Bremer Nachrichten mit Weser Zeitung: Bremer
neueste Nachrichten für Norddeutschland, September 9, 1936, 2.
33
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the dream performance the staging of a one-act-play by Chaim Nachman Bialik first in German
and then in Hebrew. He said:
Dann ist angebahnt, was Weg und Absicht eines Jahrzehnts sein könnte: der im westlicheuropäischen Kulturkreis verankerte Jude des Deutschlands von 1936 wird hingeführt zu dem Ursprung aller wirklichen eigentümlichen und34originalen Kultur, zur Sprache und damit erst zum
tiefsten Bewusstsein seines volkhaften Seins.
It completely ignored the fact that the majority of Jews in Germany had no avareness of
themselves as Jews and they were not in the least interested in developing one, they did not
speak Hebrew and did not care to acquire that knowledge. From this point of view Singer’s
prophecy was merely self-deceit, which in his case went so far as that he came to see all those
who did not join his efforts ino making the Kulturbund a prestigious organization as traitors
and even try to prevent artists from leaving the country. In a letter to William Steinberg he
explicitly asked the conductor not to offer jobs in Palestine to his musicians, because by leav35
ing Germany they destroyed his orchestra. In his enthusiasm he subscribed not only to the
myth of the Third Reich enduring for a thousand years, but imagined that equally the Kulturbund was going to last as long as Germany existed. He believed that National Socialist authorities posed no danger to Jews as long as the prescribed rules were followed without questioning. Likewise, Fritz Wisten delivered his utopian view of the situation in a speech in which he
almost denied the real conditions of Jewish existence in National Socialist Germany:
Dass wir keine Notwohnung bezogen haben, weil wir anderswo nicht spielen dürfen, sondern dass
wir einen Neubau errichten, in dem wir spielen wollen – unabhängig von der politischen Lage nicht aus äusserem Zwang, sondern aus innerer Notwendigkeit: weil wir Juden sein wollen, weil wir
Juden sein wollen und dadurch unsere Kunst dazu beitragen möchten, ein stolzes Geschlecht freier
36
Juden aufzuziehen!
Joachim Prinz joined him by declaring:
Ich möchte, dass den Schauspielern das Ressentiment genommen wird, dass sie meinen, das
Schicksal habe sie aus der grossen Welt in unsere kleine Welt geweht, der Sturm hätte sie aus dem
grossen Leben draussen in unsere engen Gassen hineingestossen. Ich wünschte sehr, dass jüdische
Schauspieler ohne Ressentiment bei uns sein und erkennen
würden, dass in unserer engen Welt mit
37
allem Gassenhaften grossartige und heilige Dinge leben.
These reactions can only be understood in the context of the time. Reading through the
house-regulations governing the Kulturbund one finds further evidence of this bitter selfdeception, which would have been best of mockery under other circumstances:
Wenn wir nicht alle wie ein Mann zusammenstehen, von höchstem Optimismus getragen, dann hat
der Kulturbund sein Existenzrecht eingebüsst. Gespräche din Mängel hervorheben und Gutes ver38
schweigen, sind allemal irreführend und schädigen Ansehen und Kraft des Kulturbundes.
34
Singer, „Die Arbeit der Jüdischen Kulturbünde – Rückschau und Vorschau“, in: Akademie der Künste (Hg.), 272.
Singer, letter to Kurt Sommerfeld, September 1937, cited in Kurt Sommerfeld, „Kein Bier für den Juden dahinten!“
Premiere und Pogrom. Der jüdiche Kulturbund 1933-1941. Texte und Bilder. E. Geisel und H. M. Broder (Hg.), (Berlin:
Siedler Verlag, 1992) 209.
35
36
Fritz Wisten, „Das Bildungsproblem des jüdischen Schauspielers” in Akademie der Künste (Hg.), 282.
Joachim Prinz, „Die kulturelle Situation der Juden in Deutschland und das jüdische Theater“ in Akademie der Künste
(Hg.), 278.
38
Internal regulations of the Kulturbund cited from Ingrid Schmidt, “’In Wirklichkeit ist es so!’ Angestellte und Arbeiter
im Jüdischen Kulturbund,“ Akademie der Künste (Hg.), 171.
37
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Ghettoöffentlichkeit –Jüdischer Kulturbund Berlin between National Socialist Regulations and Self-Assertion
39
Point 14 of these rules forbade political discussions under penalty of loosing one’s job and
stated almost with cinicism the only duties of the association’s members and implicitly of the
40
association itself: “Unsere Pflicht ist: schweigen und arbeiten.” Such a stipulation sheds light
on the constantly changing conditions under which the Kulturbund existed. If in 1933 the association could announce: „Der Kulturbund verfolgt den Zweck, die künstlerischen und wissenschaftlichen Interessen der jüdischen Bevolkerung zu pflegen und für die Arbeitsbeschaffung
41
zugunsten jüdischer Künstler und Wissenschaftler nutzbar zu machen“ as the years progressed its position became more and more problematic. The wall surrounding it became ever
thicker. On the one hand it isolated German-Jewry from German society and confined its existence to this organization; on the other it erected a barrier within the Jewish community itself,
as being Jewish was not enough to admit one to these representations of the Kulturbund. One
had to be a member and proudly display the Kulturbund identification card every time one ap42
proached the door of the building in the Kommandantenstraße. In 1934 the Kulturbund Berlin
numbered 20,000 members and this constituted the highest quota it ever reached. Considering
that it represented only 12.5% of the entire Jewish population of the capital, one can easily
observe that the majority kept its distance from the association. In 1937 Singer himself deplored:
Es ist allgemein bekannt,43daß ein grösserer Teil der Juden Berlins sich aus Grundsatz dem Jüdischen
Kulturbund fernhält (…).
Reason for this behavior was the protective anonymity conveyed upon its inhabitants by
the metropolis where Jews were harder identifiable as such and escaped stigmatization. Also,
people who had attended regular cultural performances before 1933 continued to do so even
after Hitler’s nomination as Chancellor and enjoyed the possibility to choose freely which show
to attend and where. For them becoming members of the Kulturbund implied not only limiting
their freedom of choice, but also stepping freely into a ghetto. This latter point presupposed
itself two frightening facts: it excluded them from manifestations of the German scene, and it
obliged them to confess to a kind of Jewishness, with which many failed to identify either religiously and, least of all, culturally. If in its opening phase the founding members had outlined
three tasks for the organization (quality performances of true art, help for the Jewish artists,
and the rebirth of a sense of community among Jews), it had become obvious that the last of
39
“Politische Gespräche im Hause sind absolut untersagt und können, wenn sie beobachtet werden, die fristlose Entlassung zur Folge haben.“ Cited in Schmidt 171.
40
Cited in Schmidt 171.
Satzung des Kulturbundes Deutscher Juden, cited in: Akademie der Künste (Hg.), 221.
42
The agreement reached on July 6, 1933, between Singer and Hinkel stipulated very precisely the conditions under
which the Kulturbund deutscher Juden would be able to function in the Third Reich: all members had to be Jews and
only Jews were allowed to attend performances; single-performance tickets could not be sold at the box-office, and
admission to all events was done on the basis of season subscriptions; programs had to be approved by the Prussian
Theater Commission or a government office named by the Commission at least one month in advance; members paid
the same monthly subscription rate, and there were no extra charges for individual events; advertisements or announcements concerning the Kulturbund could only be published in the Jewish press; and, upon joining the organization and paying the subscription each member was to be issued a photo identification card, which would assure admission to performances. In return the authorities promised police protection for members and audiences and no disturbances at any time through any National Socialist forces [Hinkel, letter to Kurt Singer, July 15 1933, cited in Akademie
der Künste (Hg.), 220].
43
Kurt Singer, „Der Jüdische Kulturbund wirbt“, cited in: Akademie der Künste (Hg.), 308.
41
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these prerogatives was the most difficult to fulfill, despite the fact that one journalist had gone
so far as to proclaim involvement in the Kulturbund as a personal and communitarian duty:
Kulturbund ist […] für jeden Juden eine selbstverständliche Pflicht, -einerlei, ob er selbst stark
künstlersich interessiert ist oder nicht, ob ihn die gegenwärtigen Leistungen seines lokalen Kulturbundes bereits voll befriedigen oder noch zu wünschen übrig lassen. Es ist die Pflicht, die des Opfers
wert ist, und wenn ein jeder seine Pflicht erfüllt, dann werden Worte und Klänge unsere
Tage kom44
menden Geschlechtern künden von einer Zeit, die sich ihrer Aufgaben bewußt war.
In the end the result remained unchanged.
The shot which resonated at the German Embassy in Paris on November 7, 1938 marked the
end of this relatively calm and culturally promising period in the existence of the association.
After its reopening in the aftermath of so called Kristallnacht, the Kulturbund had become a
Zwangsinstitution, which existed primarily because the German authorities had decided that it
was to subsist. As Barbara Müller-Wesemann remarked,
[d]er Streit um Inhalte und künstlerische Maßstäbe, um abendländische versus jüdische Kultur
hatte an Wichtigkeit verloren. Im Kulturbund zählte vorrangig
die Gemeinschaft,
Gemeinschaft mit der sich Kün45
stler, Presse und Zuschauer gleichermassen identifizierten.
The performance which reopened the association and the context in which it took place
prove the accuracy of these observations.
Although it had been declared closed on November 8, on November 12 the authorities con46
tacted Werner Levie with the request to reopen it. The organization was officially revalidated
and had to perform immediately. The controversies among the members of the Kulturbund with
respect to this request were not insubstantial, yet the decision to perform prevailed, as one
47
hundred twenty Jews were released from the protective custody of the Gestapo in order for
the performance to be possible. Herbert Freeden, who witnessed the disputes, wrote in later
years:
Zuerst waren wir stumm vor Verblüffung. Dann erhob sich eine erregte Debatte. Sollen wir uns zu
Bütteln der Gestapo machen, zu Handlangern der Pogromisten? Anderseits durften wir an diesem
Weg vorbei? Keine Farce war grotesk, wenn man mit ihr auch nur einen Menschen loskaufen
48
könnte.
49
Julius Bab concluded the discussions by justifying the necessity of the theater to play:
44
Charles A. R. Hartig, „Der Kulturbund als Aufgabe und Pflicht,“ Monatsblätter Hamburg, September 1st 1936, 5.
Barbara Müller-Wesemann, Theater als geistiger Widerstand: der Jüdische Kultubund in Hamburg 1934-1941,
(Stuttgart: M&P Verlag für Wissenschaft und Forschung, 1997) 317, my emphasis.
45
46
Kurt Singer was on a trip in the United States in an attempt to obtain financial support from the Jewish community
of New York City, so that Werner Levie led the association in his absence. When Singer heard about the riots he returned to Europe, but remained in Amsterdam as he was warned that the Gestapo intended to arrest him if he reentered Germany [Dr. E. G. Loewenthal, “Gemeinschaft der ethischen Idee,” Allgemeine Wochenzeitung der Juden in
Deutschland, Düsseldorf, Oktober 14, 1955, cited in Freeden, Jüdisches Theater in Nazideutschland, (Tübingen: J.C.B.
Mohr, 1964) 150].
47
Werner Levie, “Arbeitsbericht des Jüdischen Kulturbundes in Deutschland e.V. vom 1.10.1938 – 30.6.1939” cited in
Akademie der Künste (Hg.), 322.
48
Freeden, “Berlin, November 1938 – Goebbles-Befehl nach der Pogromnacht: Jüdisches Theater mußte weiterspielen,”
Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, 107(1988), 116.
49
Freeden talks about “[d]er Dramaturg, ein alter Berliner Theatermann” (116) without naming a name (Freeden,
“Berlin 1938,” 116), however according to the Almanac Pult und Bühne from 1938, Julius Bab occupied this function.
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Ghettoöffentlichkeit –Jüdischer Kulturbund Berlin between National Socialist Regulations and Self-Assertion
Im römischen Zirkus kämpften die Gladiatoren um ihr Leben. In unserem
Zirkus kämpfen wir für das
50
Leben unserer Kollegen.
Kollegen Befreien: das ist der Sinn aller Cirsenses.
In the evening of November 22 the curtain rose on Merton Hodge’s Rain and Wind, the play
which the actors had rehearsed before the pogrom. Freeden described the performance:
Die Portale des Theaters in der Kommandantenstraße waren weit geöffnet. Das Halbrund des Parketts und Ranges strahlte im alten Glanz. Die Kronen an der Decke leuchteten auf, und Platzanweiserinnen in schmucken Uniformen standen im Foyer und auf den rotten Teppichen, die zu den Logen
führten. Zu Hause warteten Frauen auf Nachricht von ihren verschleppten Männern und Söhnen, zu
Hause saßen Menschen auf den Trümmern ihrer Existenz – und hier im jüdischen Theater gingen
auf Befehl die Lichter wieder an.
Die Routine des Betriebes ließ kaum einen Unterschied gegenüber einer ‘normalen’ Vorstellung erkennen. Geschäftig liefen die Garberobiers hin und her, und vor ihren Spiegeln schminkten sich die
Spieler. Trotzdem war etwas da, das die unheimliche Spannung verriet: die Stille in den sonst so
lauten Ankleideräumen. Niemand lachte, niemand schimpfte. Hatte jemand etwas zu sagen, so
sagte er es im Flüsterton. Nur wenige Besucher waren gekommen, meistens Frauen und alte Leute –
und natürlich drei Männer, Aktenmappen unterm Arm, die unabweisliche Delegation der Gestapo.
Schließlich ging der Vorhang auf und das Lampenlicht zeigte den Salon einer schottischen Studentenpension, mit einem Kamin, in dem ein gemütliches Feuer flackerte. Am Anfang zitterten die
Stimmen der Schauspieler ein wenig, als die Scheinwerfer ihre Gesichter erhellten, aber bald erfaßte
sie die Magie der Bühne, und sie spielten einen Sektrausch nach einer Ballnacht. Das Grammophon
schnarrte einen Rumba, sie51lachten und tanzten – in ihrer Welt des Scheines und Gaukelspiels, eine
Woche nach dem Pogrom.
This evening synthesized the association’s existence until its end. From this moment on it
became a place of escape to a No-Man’s-Land where dreaming and remembering were still
possible. The programs distracted the audiences and gave them the opportunity to concentrate
on something that did not come howled through the radio. As Walter Jens wrote:
Mußte es, wenn Menschen in einem Land ohne Umwelt überleben wollten, nicht zumindest einen
winzigen Focus geben, in den jedenfalls der Versuch unternommen wurde – mehr konnte es nicht
sein -, den allgemeinen geistigen Zusammenbruch mit bescheidenen Mitteln zu konzentrieren, sehr
traurig und resignativ, aber gleichwohl mit einem winzigen ‚Dennoch’ in einer Zeit, deren Ausweglosigkeit durch ein gemeinsames Partizipieren großer und kleiner Kunst auf den Begriff
gebracht
52
und, trotz allen Klamauks und faden Gelächters im Spiel-Haus, bedacht werden konnte?
The Kulturbund fulfilled this role, especially since on December 6, 1938, Jews were banned
from attending any form of entertainment outside the Kulturbund and as of January 1, 1939,
53
all local organizations except the one in Berlin were closed. Within the new purely entertain50
Freeden, “Berlin 1938,” 116; my emphasis.
Freeden, “Jüdisches Theater in Nazideutschland,” 148-149.
52
Walter Jens, “Ein Bund im deutschen Ghetto,” Akademie der Künste (Hg.), 7.
53
This remaining organization was to be renamed Jüdischer Kulturbund in Deutschland, e.V. and its leaders had to
restructure their organization according to new directives from above: it became responsible for all activities involving
the Jewish population in Germany and as such it had to encourage and promote emigration; it could sent out branches
in different parts of the Reich, which had to have that specification in their names, but only with special permission
from local authorities; members could be only Jews and their Aryan spouses, however not all members had the same
rights. Three categories were established (“ordentliche Mitglieder” “ausserordentliche Mitglieder“ „aktive Mitglieder“)
to differentiate among them; application for membership had to be filed in writing to the management of the organization by September 30 of each year; the board had the authority to exclude every member from the organization for
behavior deemed “harmful” which included also not paying one’s membership fee; eight people composed the management group and their nomination had to be approved by the authorities; for special activities it could request the
51
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ing role the film bureau turned into the most popular office since it epitomized the public’s
desire for distraction. Furthermore, in the course of the years to come this role also change and
54
the organization seemed merely to fulfill an administrative function of carrying out orders.
After the outbreak of the Second World War in September 1939 the Kulturbund had to reconsider anew its modus operandi in order to survive.
This new intensified oppressive atmosphere found resonance in the last performance of the
Kulturbund’s theater. Without knowing that this was to be its final act, on August 9 1941, thr
Kulturbund staged Ferenc Molnár’s Spiel im Schloss. The review of the show displayed the distinct markers of the times when it was penned down. The cast as well as the critic were named
55
with the mandatory Israel or Sara, and the commentator, Micha Michalowitz, uttered no real
criticism. Tendencies of earlier critics to problematize the play or the staging were inexistent,
as the analysis included only an overview of the play’s content and laudatory remarks about
56
the entire cast. Given the circumstances nothing else was to be expected. As early as April
1934 the artistic personnel of the Kulturbund had been aware of the dangers threatening them
if the Jewish press reacted too critically to their activities. Therefore they appealed to the entire Jewish community for solidarity between the leaders of the organization, the artists, and
the press. By pointing out that the association existed on a tight budget, with minimal resources, and many of its members –firstly the most valuable ones – leaving the ensemble and
emigrating, although without spelling it out, the letter asked for self-editing on the part of the
press, as bad revues could easily have convinced the authorities to close down the establish57
ment. That kind of action would have brought about the end of any Jewish artistic endeavor
in the Third Reich. In late summer of 1941 objective artistic criticism was hardly possible anymore.
It is beyond any question that the National Socialist regime allowed and at times forced
the existence of the Kulturbund in order to make use of it in its relations with the international
diplomatic world. The founders and members of the organization had no doubt about it either,
but to many it was worth it, as with all the limitations separating Jews from Germans it proved
“daß Machtlosigkeit nicht Ohnmacht bedeutet und daß Geschlagensein sich mit der rebellischen Würde von Geschlagenen vereinen läßt – und mit der Schande der Schlagenden ohnehelp of other members who were not part of the leading group; the organization was under the direct supervision of
the Minister for Enlightenment and Propaganda who had the power to modify its regulations, to ban or dissolve it, and
to dispose of its funds, as he considered appropriate. At the same time the organization had to open its books to the
authorities every month in order to ensure financial viability, permission was to be obtained for any special expenses or
purchases, and employment granted only with approval from the Ministry of Propaganda. Werner Levie, in his quality
as new director, had to report on all activities two or three times a week. Another measure along the same lines was
the closing down of all Jewish newspapers and publishing houses, and the redirection of all activities in these fields to
the Kulturbund, which came to be responsible for every form of cultural manifestation involving the Jewis: music,
theater, lectures, film, and publishing [“Gesamtbericht 1.9.1939 – 31.8.1940” cited in Akademie der Künste (Hg.), 336337].
54
Sylvia Rogge-Gau, Die doppelte Wurzel des Daseins. Julius Bab und der Jüdische Kulturbund Berlin, (Berlin: Metropol,
1999) 155.
55
In August 1938 the German government passed the Globke Law according to which every Jewish man had to add
Israel to his name and every woman Sara so that the identification of Jews would be made easier. This decree would be
completed in September 1941 when it also became mandatory for Jews to wear the yellow David Star on their clothes.
56
“Molnárs ‘Spiel im Schloß’,” Das jüdische Nachrichtenblatt, August 15, 1941.
57
“Stellungsnahme des künstlerischen Personals” April 28, 1934, cited in Akademie der Künste (Hg.), 244-245.
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58
hin.” Considering that there were no other possibilities, participation in the Kulturbund was a
form of survival and self-assertion. Within this pseudo-public space a Jewish dialogue was
possible which continued to thematize Jewish concerns. Artists worked within assigned parameters, but they refused to abandon their double roots – German and Jewish – despite the
pressure put on them to produce Jewish art. Similarly, the audiences withstood conversion and
remained largely indifferent to staged Jewish works. In his life-long attempt to explain the
Kulturbund phenomenon, Herbert Freeden has underlined that the importance of this association consisted precisely in this refusal to be cut off from European culture, which indeed would
have meant ghetto-ization both at a cultural and intellectual level. Hence,
in ihrer hartnäckigen Weigerung, ihre Bindung mit Europa aufzugeben, ihre geistige Tradition zu
verleugen, wurde der Kulturbund für die deutschen Juden zu einer moralischen Kräfte-Reservoir,
und, wenn man so will, zu einem Element des ‚geistigen Widerstands,’ aber nicht zu einer
schöpferischen Quelle jüdischer Kultur. Kultur kann nicht ‚auf Befehl’ entstehen. (...) [D]er Kulturbund [suchte] einen von den Behörden aufgezwungenen Rahmen mit jüdischen Inhalten zu füllen,
während er sich gleichzeitig gegen den Ausschluß
aus der europäischen Kultur und gegen die Ge59
fahr einer geistigen Ghettoisierung stemmte.
Although this form of liberation did not produce overt opposition or physical freedom, for
the members who performed or attended the productions of the Kulturbund it brought about a
sense of dignity and toughness in their daily ordeal under National Socialism. The association
was significant for all those engaging in its activities as a way of preserving their sense of self
and heightening their quality of life in times of an acute crisis. It was also impossible for anyone to foresee what would happen in Germany during the years of National Socialism. The basic ideas upon which the regime built its repressive acts had existed from the very beginning of
the NSDAP’s entrance on the political stage, but few had taken them seriously enough to anticipate that one would attempt to implement them literarily, and no one could have predicted
the Shoah. After the Nurmberg Laws in September 1935, many influential Jews had thought
that these measures marked the end of expropriation, since the regulations fulfilled the major
requirement of the late 19th and early 20th century anti-Semitic parties: they reversed Emancipation. Pushed in their corner, “they assumed that their exclusion from public influence and
key commercial positions was all that was aspired to and that they would be assigned the
60
privileges and prohibitions of a national minority.” The claim that the association bears responsibility for the deaths in gas chambers seems exaggerated as it would be hard to imagine
that anyone would cancel or postpone emigration because they wanted to go to the theater
one more time. The Kulturbund might have offered people pleasant moments, which swept
them away from the worries of everyday life, but it did not numb their senses or destroy their
intellect so that they would not see the reality around them for what it was. Those who stayed,
did not stay because of the Kulturbund, but because they lacked the money to acquire visas or
acquaintances to write affidavits for them.
The Kulturbund also fulfilled an important social and humanitarian role as it created among
its members a sense of belonging.
Im Schutze seiner Mauer konnte sich allmählich ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickeln,
das über die Gewißheit des gemeinsamen Schicksals hinaus den Einzelnen vor der lähmenden Isolation bewahrte und, vom Austausch praktischer Ratschläge bei der Auswanderungsvorbereitungen
58
Jens 7.
Freeden, “Jüdischer Kulturbund,” 65-66.
60
Freeden, “Jewish Theater under the Swastika,” 142.
59
ZGR 1-2 (25-26) / 2004, 1-2 (27-28) / 2005
141
Corina Petrescu
bis zum tröstenden Zuspruch bei scheinbar unüberwindbaren
alltäglichen Problemen, viele seiner
61
Mitglieder zu solidarischem Handeln ermutigte.
However, to make the claim, as Fred K. Prieberg did, that the Kulturbund’s choice of music
and performances constituted the expression of its opposition to the regime or protest against
62
the way in which Jews were treated in Germany seems an overstatement. Inner immigration
might be a survival mode but it is not an oppositional stand. Besides, how many of the people
in the audiences of Mozart’s Figaro thought about the fact that the opera was the first one to
address the issue of individual liberties and perceived it as defiance of the authorities? It is
more plausible to say that, while maybe the idea was there on the part of the organizers, the
public enjoyed the music and took advantage of a moment of peace and relaxation. If for the
Gestapo supervisors Figaro was merely a comedy with excellent music, it is very likely that the
audiences saw in it the same thing. The merits of the organization consisted in preserving for
the Jewish community in Germany the kind of artistic and cultural life which in the political
context of the Third Reich the National Socialists threatened to extinguish. It was an effort to
maintain normalcy and to survive.
61
62
Müller-Wesemann 208-209.
Fred K. Prieberg, ”Musik unterm Davidsstern,“ Akademie der Künste (Hg.), 122-124.
142
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„WO DAS WORT AUFHÖRT, BEGINNT DIE MUSIK“
Zu Ingeborg Bachmanns Freundschaft und künstlerischer
Zusammenarbeit mit Hans Werner Henze
Delia Eşian
E ian
Mir ist völlig klar, dass die Freundschaft mit Dir die wichtigste menschliche Beziehung ist,
die ich habe, und das soll sie auch bleiben. Ich habe immer an Dich geglaubt, und an Dich
werde ich glauben bis ans Ende meines Lebens. Und wo und wann sich unsere Wege kreuzen
werden, es wird ein Fest sein.1
Dieses rührende Bekenntnis stammt aus einem Brief von Ingeborg Bachmann, den sie 1956
an den Komponisten Hans Werner Henze schrieb. Die Wege der beiden Künstler kreuzten sich
erstmals im Oktober 1952 auf der Tagung der Gruppe 47 auf Burg Berlepsch nahe Göttingen.
Der am 1. Juli 1926 in Gütersloh (Westfalen) geborene Hans Werner Henze, nur fünf Tage
jünger als die Klagenfurter Dichterin, zählt heute zu den bedeutendsten zeitgenössischen
Komponisten. Als dieser Ingeborg Bachmann auf Burg Berlepsch begegnete, erkannte er schnell
eine Seelenverwandte in der jungen Dichterin, denn die beiden im selben Jahr Geborenen
empfanden sich als eine Art Zwillinge im Geiste, deren Denken, Fühlen und Lebensauffassung
sich in höchstem Maße ergänzten2. Der Briefwechsel, der nach diesem Treffen zwischen den
beiden einsetzte, spricht ohnehin für ihre bewegende Freundschaft und künstlerische Arbeitsgemeinschaft3. Für Ingeborg Bachmann war Berlepsch bereits die zweite Tagung der Gruppe 47,
an der sie teilnahm. Im April 1952 lernte sie Hans Werner Richter kennen, den Initiator der
Gruppe 47, die sich als Organ zur Wiedereingliederung der jungen deutschen Nachkriegsliteratur in die ‚Weltsprache der modernen Poesie’ begriff. Von ihren Gedichten beeindruckt, lud
Richter die junge Dichterin zum nächsten Treffen der Gruppe 47 im Mai 1952 in Niendorf an
der Ostsee ein. Den Gruppenpreis in Niendorf erhielt Ilse Aichinger4 für ihre Spiegelgeschichte,
und ein Jahr später, 1953, Ingeborg Bachmann für ihre Gedichte. Im Verlauf weniger Jahre
avancierte Bachmann dann zur ersten Stimme in der westdeutschen Lyrik der fünfziger Jahre5.
Zu dem Zeitpunkt ihrer Begegnung hatten sowohl Ingeborg Bachmann als auch Hans
Werner Henze eine Schreibbiographie hinter sich, in der die Öffnung auf das künstlerische
Medium des anderen, die Musik bzw. die Sprache, den gemeinsamen Nenner für ihre spätere
künstlerische Zusammenarbeit bilden wird. Hans Werner Henze war auf der Suche nach einer
musikalischen Verbindung zum literarischen Text, da er in der Sprachähnlichkeit der Musik
1
Brief 72, 4. Oktober 1956, in: HÖLLER (Hg.) (2004), S. 123. Die im Folgenden zitierten Briefe verweisen auf diese
Ausgabe.
2
HAPKEMEYER (1990), S. 65.
Der Briefwechsel zwischen der österreichischen Literatin und dem deutschen Komponisten ist im September 2004
unter dem Titel Briefe einer Freundschaft im Piper Verlag in der Herausgabe von Hans Höller erschienen.
4
Ilse Aichinger hatte in Wien den Holocaust überlebt; nach 1945 schrieb sie den ersten international anerkannten
österreichischen Nachkriegsroman Die größere Hoffnung (1948).
5
Vgl. HÖLLER (1999), S. 73.
3
Delia Eşian
„eine größere Klarheit und bestimmtere Wirkung“6 belegt sah, während für Ingeborg Bachmann
der musikähnliche Ausdruck der Sprache eine Möglichkeit war, die Grenzen der Sprache zu
überschreiten. Die Grenzüberschreitung in der Sprache, eines der wichtigsten poetologischen
Postulate im Bachmannschen Schaffen, ist auf Ludwig Wittgenstein Frage nach der Sprache
zurückzuführen, und findet in einem seiner Kernsätze ihren Niederschlag: „Die Grenzen meiner
Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ (5.6)7. Dies vermag zu zeigen, dass die Grenzen
der Welt bzw. die Grenzen der möglichen Welten durch das gegeben sind, was sich in der
Sprache offenbaren kann. Bachmann vertrat die Meinung, dass die Grenze der Sprache hinter
der Musik zurückbleiben muss, denn für sie war Musik „der höchste Ausdruck“, etwas „was wir
durch Worte und durch Bilder nicht erreichen können.“8 In einer Gesprächsäußerung aus dem
Jahr 1999 erkannte Hans Werner diesbezüglich:
Wir waren ja total Mahler-verrückt. Wir waren ergriffen. Einmal hat sie zu weinen angefangen am
Schluß des Adagios in der Mahlerschen Sechsten. Ich habe die Musik angehalten und sie hat geweint. Warum? Es stellte sich heraus, daß sie so traurig war, weil sie fand, daß so etwas wie dieser
9
Mahlersche Gesang in der Poesie nicht möglich sei.
In ihrem 1959 erschienen Essay Musik und Dichtung stellt Bachmann fest, dass die Worte
des Dichters „den neuen Zustand“ suchen, „in dem sie ihre Eigenständigkeit opfern und eine
neue Überzeugungskraft gewinnen durch die Musik. Und die Musik sucht nicht mehr den belanglosen Text als Anlaß, sondern eine Sprache in harter Währung, einen Wert, an dem sie den
ihren erproben wird.“10 Die Musik, ihrerseits, legt sich durch die Worte fest: „Sie wird haftbar,
sie zeichnet den ausdrücklichen Geist des Ja und Nein mit, sie wird politisch, mitleidend, teilnehmend und läßt sich ein auf unser Geschick. Sie gibt ihre Askese auf, nimmt eine Beschränkung unter Beschränkten an, wird angreifbar und verwundbar.“11
Bachmann, die in einer Gesprächsäußerung aus dem Jahr 1971 behauptete, dass sie zur
Musik „eine vielleicht noch intensivere Beziehung als zur Literatur habe“12, fand in ihrer Kindheit über Kompositionsversuche zum Schreiben:
Ich habe als Kind zuerst zu komponieren angefangen. Und weil es gleich eine Oper sein sollte, habe
ich nicht gewußt, wer mir dazu das schreiben wird, was die Personen singen sollten, also habe ich
es selbst schreiben müssen. Dann ist es lange nebenher gelaufen. Aber ich habe ganz plötzlich aufgehört, habe das Klavier zugemacht und alles weggeworfen, weil ich gewußt habe, daß es nicht
reicht, daß die Begabung nicht groß genug ist. Und dann habe ich nur noch geschrieben. [...] Was
geblieben ist, ist vielleicht doch ein besonderes Verhältnis zur Musik. Aber viel dazugelernt habe ich
6
HÖLLER (Hg.) (2004), S. 407.
WITTGENSTEIN (1963), S. 89.
8
Nachlass Bl. 2358.
9
Interview mit Hans Werner Henze, in: ALBRECHT, GÖTTSCHE (Hgg.) (2000), S. 143–159; hier S. 149.
10
Musik und Dichtung, Bd. IV, S. 60–61, in: KOSCHEL et. al. (Hgg.) (1993): Ingeborg Bachmann. Werke. Bd. I–IV. Im
Folgenden verweist die römische Ziffer auf den jeweiligen Band, die arabische auf die entsprechende Seite in der vierbändigen Werkausgabe der Schriftstellerin Ingeborg Bachmann.
11
Musik und Dichtung, Bd. IV, S. 61.
12
Interview mit Ilse Heim (5. Mai 1971), in: KOSCHEL, von WEIDENBAUM (Hgg.) (1983): Ingeborg Bachmann. Wir
müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews. S. 107. Im Folgenden wird mit GuI der Titel dieser Ausgabe
geführt.
7
144
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„Wo das Wort aufhört, beginnt die Musik.“ Zu Ingeborg Bachmanns Freundschaft
und künstlerischer Zusammenarbeit mit Hans Werner Henze
eigentlich erst sehr viel später, als ich dann längst schon diese pedantische Genauigkeit gehabt ha13
be.
Nach eigenen Aussagen begann die junge Bachmann mit dem Schreiben in einem Alter, „in
dem man Grimms Märchen liest“14, also mit „zehn oder zwölf Jahren“15. Die ersten
Kompositionsversuche Hans Werner Henzes fallen auch im Alter von zwölf Jahren.
In seinem ersten Brief an die Dichterin bezeichnete Hans Werner Henze ihre Gedichte als
„schön, und traurig.“16
Im Frühjahr 1953 erhielt Bachmann auf der Tagung der Gruppe 47 in Mainz den Preis für
die Gedichte Die große Fracht, Holz und Späne, Nachtflug und Große Landschaft bei Wien und
wurde somit als Dichterin berühmt. Ein „neue[r] Stern am deutschen Poetenhimmel“17 war aufgegangen, so Blöcker, und obwohl sie eine österreichische Schriftstellerin war, wurden sie und
Ilse Aichinger18 rasch in die deutsche Szene integriert, wie viel später nur noch Thomas
Bernhard und Peter Handke.
Der Gruppenpreis ermutigte sie, als freie Schriftstellerin zu leben und endgültig aus Wien
wegzugehen. Dabei siedelte sie nach Italien um. Voraussetzung für das Wagnis dieses neuen
Anfangs waren auch erste Auftragsarbeiten, ein Hörspiel für den NWDR und ein neuer Text für
Henzes Ballettpantomime Der Idiot, ein lyrischer Monolog nach Dostojewskijs Roman, der Tatjana Gsovskys missglücktes Libretto ersetzen sollte19.
Bei ihrem Aufbruch nach Italien folgte Bachmann zunächst Henzes Einladung auf die Insel
Ischia. Ihre Umsiedlung nach Italien, zunächst nach Ischia und Neapel, dann nach Rom, fiel
dicht zusammen mit dem Erscheinen ihres ersten Lyrikbandes, Die gestundete Zeit (1953), mit
dem sie berühmt wurde. Ein Jahr später nach der Preiszuteilung, 1954, wurde Ingeborg Bachmann bereits als Repräsentantin der jungen «deutschen» Literatur vorgestellt, und ihr Porträt
auf der Titelseite der Wochenzeitschrift Der Spiegel (18. August 1954) abgebildet. Damit wurde
die 28jährige mit einem Schlag zur Berühmtheit, zur „Literaturdiva“, zur „Poetessa“, zur „Dame
Dichterin“20.
Von 1953 bis 1954 lebte die Dichterin mit dem homosexuellen Henze auf der Insel Ischia
und in Neapel. In den fünfziger Jahren war Ischia im Golf von Neapel noch eine unberührte
Insel, auf der ein fast archaisches Leben herrschte. Auch andere Künstler hatten sich dort
niedergelassen: die englischen Dichter Wystan Hugh Auden und Chester Kallmann sowie der
englische Komponist William Walton und seine Frau wohnten in unmittelbarer Nähe von
Bachmann und Henze. Die Dichterin und der Komponist hatten ein sehr diszipliniertes Arbeits-
13
Interview mit Andrea Schiffner (5. Mai 1973), in: GuI, S. 124.
Biographisches, Bd. IV, S. 301.
15
Interview mit Ekkehart Rudolph (23. März 1971), in: GuI, S. 83.
16
Brief 1, 1. November 1952, S. 11.
17
BlÖCKER, (1954), in: KOSCHEL, von WEIDENBAUM (Hgg.) (1989), S. 13–15; hier S. 13.
18
Ingeborg Bachmann wurde neben Ilse Aichinger als großes Ereignis in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur
gefeiert.
19
HÖLLER (1999), S. 82.
20
Vgl. WAGNER (1954), in: Der Spiegel (Hamburg) vom 18. 8. 1954. S. 26–29.
14
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Delia Eşian
programm: morgens wurde komponiert bzw. gedichtet, dann ging man gemeinsam im Meer
schwimmen, nach dem Mittagessen folgte die Siesta, danach wurde wieder gearbeitet21.
Im Hinblick auf das Zusammenleben mit Ingeborg Bachmann wird Henze später andeuten:
Wir lebten ein wunderbares, schönes, reines Leben. [...] Es gab so etwas wie einen Aufenthalt in
einem Land der Begeisterung, wo Eros und Intellekt und Jungsein und Glück zusammengehen, zusammenfließen. Und das war eigentlich auch dasjenige, was unsere Beziehung so sehr anders
22
machte als die üblichen zwischenmenschlichen Beziehungen sind.
Eben die Tatsache, dass ihre Freundschaft, „oder wie man diese Merkwürdigkeit nennen
will“23, frei von Sexualität war, verlieh ihr eine gewisse Unbeschwertheit.
Noch vor Bachmanns Abreise nach Italien begann die erste Zusammenarbeit zwischen dem
Komponisten und der Dichterin. Auf Hans Werner Henzes Wunsch schrieb Ingeborg Bachmann
im Sommer 1953 für dessen Ballettpantomime Der Idiot, nach Dostojewskijs Roman, den
Monolog des Fürsten Myschkin, denn mit der Textfassung von Tatjana Gsovsky war Henze nicht
zufrieden gewesen24. Diese erste gemeinsame Arbeit der beiden wurde aber erst am 8. Januar
1960 an der Städtischen Oper Berlin aufgeführt.
Im Dezember 1954 schloss Ingeborg Bachmann als Auftragsarbeit für den Nordwestdeutschen Rundfunk in Hamburg ihr Hörspiel Die Zikaden ab, für das Hans Werner Henze im
Januar 1955 die Musik schrieb. Darin verarbeitet Bachmann die Zeit auf der Insel Ischia, bzw.
das Leben einzelner Weltflüchtlinge, die in Einsamkeit und Isolation geraten sind. Das Motiv
der Zikaden hat einen philosophischen Hintergrund: Indem am Ende des Stückes die Passage
aus Platons Phaidros, die über die Metamorphose des Menschen zur Zikade berichtet, paraphrasiert wird, warnt die Hörspielautorin vor der Gefahr der Isolation des Künstlers und der
Weltflucht:
Denn die Zikaden waren einmal Menschen. Sie hörten auf zu essen, zu trinken und zu lieben, und
immerfort singen zu können. Auf der Flucht in den Gesang wurden sie dürrer und dürrer, und nun
singen sie, an ihre Sehnsucht verloren – verzaubert, aber auch verdammt, weil ihre Stimmen un25
menschlich geworden sind.
Auch Henze erkannte später die Gefahr der künstlerischen Isolation in Italien, wenn er sich
dazu äußerte: „So baute ich in Italien um meine Person und meine Arbeit eine eigene Welt
auf“26, worauf „ich merkte, daß ich in einer Einöde lebte, wo man aufhört zu denken und sich
nur noch mit Gefühlen abgibt, Gefühle kultiviert.“27
Warum aber zog Ingeborg Bachmann ausgerechnet nach Italien? Wie sich die Dichterin in
einem Interview aus dem Jahr 1973 äußerte, war es nicht die „romantische Italienliebe“, die sie
dahin ziehen ließ, sondern dadurch, dass sie an der Grenze mit Italien aufgewachsen war, war
21
Vgl. HOELL (2001), S. 74.
HENZE (1976), S. 33.
23
Aus einem Brief von Ingeborg Bachmann an Hans Werner Henze. Vgl. Brief 36, 1. November 1955, S. 69.
24
Vgl. hierzu den Brief, den Hans Werner Henze am 28. April 1953 an Ingeborg Bachmann schrieb: Brief 4, S. 15.
25
Die Zikaden, Bd. I., S. 268.
26
HENZE (1976), S. 146.
27
Ebd.
22
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„Wo das Wort aufhört, beginnt die Musik.“ Zu Ingeborg Bachmanns Freundschaft
und künstlerischer Zusammenarbeit mit Hans Werner Henze
dieses Land „etwas Selbstverständliches“ für sie, es war „ein Zuhause“28 – zumal Italienisch von
Kind auf ihre zweite Sprache gewesen war –, das einen positiven Einfluss auf sie und ihr
Schreiben ausübte:
[...] ich habe hier (in Rom, D.E.) zu leben angefangen und fürchte beinahe, hier nicht so rasch
wieder loszukommen. Am meisten fesselt mich vielleicht die große Vitalität Roms, die das Alte mit
dem Neuen auf eine so unbegreifliche Weise zu verbinden versteht. Der wirkliche Grund für das
Bleiben ist natürlich nicht zu erklären. Liebe zu einer Stadt und ihren Menschen ist eben Liebe. Ich
glaube, ich würde auch hierbleiben, wenn die Stadt einen schlechten Einfluß auf meine Arbeit
hätte. Nun stellte aber zu meinem Glück unlängst ein deutscher Kritiker einen positiven Stilwandel
seit meinem Italienaufenthalt fest. Er schrieb, die neuen Gedichte wären sinnlicher, unmittelbarer
29
und kräftiger geworden, und ich bin geneigt, ihm recht zu geben.
Henze berichtet, dass sie auf Ischia und in den neapolitanischen Jahren italienisch miteinander gesprochen haben, um die Sprache zu trainieren30, und auch der Briefwechsel zwischen den beiden wurde meistens in italienischer Sprache geführt.
Außer der positiven Wirkung auf ihr Schreiben führte Bachmanns Italienaufenthalt auch zu
einer Änderung ihrer Einstellung der Oper gegenüber, die dadurch ihre Arbeit mit Henze entscheidend beeinflusste. Im Januar 1956 besuchten die beiden an der Mailänder Scala die
Traviata-Inzsenierung von Luchino Visconti, in der Maria Callas die Titelrolle sang. Bachmann
entdeckte damals das Genre Oper und war fasziniert, vor allem von der griechischen Opernsängerin, die ihr einen großen Eindruck hinterließ: „Ecco un artista“, wird sie in ihrem Entwurf
Hommage à Maria Callas schreiben,
sie ist die einzige Person, die rechtmäßig die Bühne in diesen Jahrzehnten betreten hat, um den
[Zuhörer] unten erfrieren, leiden, zittern zu machen, sie war immer die Kunst, ach die Kunst, und sie
31
war immer ein Mensch, immer die Ärmste, die Heimgesuchteste, die Traviata.
Bachmanns bis dahin gleichgültige Einstellung zur Oper schlug dann um „in ein besessenes
Interesse für diese Kunstform, in einen anhaltenden Eifer, sie neu zu sehen und endlich zu begreifen.“32 Noch im selben Jahr versuchte sie, an dem Libretto Belinda (1956) für Hans Werner
Henze zu schreiben, was ihr jedoch aus Unkenntnis der besonderen Gesetze dieses Genres misslang.
Im Sommer 1957 vertonte der Komponist zwei Gedichte von Bachmann: Im Gewitter der
Rosen und Freies Geleit, das Henze als „eines der schönsten gedichte der welt“ in einem Brief
an die Dichterin bezeichnete, „bei dem es mir fast leid tut es durch töne zu ruinieren“33. Diese
Gedichte wurden als Aria I und Aria II als Teil der Nachtstücke und Arien bei den
Donaueschinger Musiktagen im Oktober 1957 uraufgeführt.
28
Interview mit Alicja Walecka-Kowalska (Mai 1973), in: GuI. S. 130.
Interview mit N. N. (Anfang 1955), in: GuI, S. 13.
30
Interview mit Hans Werner Henze, in: ALBRECHT, GÖTTSCHE (Hgg.) (2000), S. 153.
31
Hommage à Maria Callas, Bd. IV, S. 344.
32
Notizen zum Libretto, Bd. I, S. 433.
33
Brief 97, 29. Mai 1957, S. 161. In Henzes Briefen sind die Substantive meistens kleingeschrieben. Vermutlich hat der
Komponist unter dem Einfluss der Trakl-Lektüre diese Schreibweise angenommen.
29
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Delia Eşian
Als Henze von Visconti die Anregung zu einer Oper nach Kleists Drama Prinz Friedrich Homburg bekam, verfasste sie das Libretto. Die gemeinsame Arbeit am Homburg–Libretto fiel vor
allem in den Spätsommer 1958. Die Zeit von 1957 bis 1960, als die Erstaufführung der Oper
unter dem leicht geänderten Titel Der Prinz von Homburg an der Hamburger Staatsoper im Mai
1960 stattfand, ist die Zeit der intensivsten künstlerischen Zusammenarbeit34.
Das Libretto zu ihrer letzten gemeinsamen Oper, Der junge Lord (1964), basiert auf Wilhelm
Hauffs Der Affe als Mensch aus dessen Märchenalmanach Der Scheich von Alessandria und
seine Sklaven (1827). Darin kommen die spießbürgerliche Doppelmoral und die Fremdenfeindlichkeit zum Vorschein. „Es war unser beider Versuch, über Erlittenes zu lachen“35, wird Henze
im Hinblick auf die gemeinsame Arbeit an der komischen Oper Der junge Lord behaupten.
Bachmann bewies in der Textverfassung für diese Oper ihre Fähigkeiten als ausgezeichnete
Librettistin. Noch zu ihren Lebzeiten wurde die Oper an fast dreißig Bühnen aufgeführt, später
gehörte sie mit weltweit über fünfzig Inszenierungen zu einer der erfolgreichsten Opern der
Nachkriegszeit36.
Ingeborg Bachmann war einst auch Hans Werner Henzes „politische Beraterin“37 gewesen.
Sie forderte ihn auf, im September 1965 am Wahlkampf für Willy Brandt in Bayreuth teilzunehmen, begleitete ihn sogar auf der Reise und redigierte seine Wahlrede38.
In der Frage nach der politischen Ausrichtung von Kunst gingen ihre Vorstellungen dann
auseinander. Im März 1969 reiste der Komponist zu einem künstlerisch-politischen motivierten
Aufenthalt nach Kuba, dem die Dichterin skeptisch gegenüberstand. „Alle meine Neigungen“,
erklärte sie Henze, „sind auf der Seite des Sozialismus, des Kommunismus, wenn man will, aber
da ich seine Verirrungen, Verbrechen etc. kenne, kann ich nicht votieren.“39 Und weiter dann:
Ich kann nur hoffen (hoffen, wie man hofft, wenn man weiss, verloren, verloren, für immer verloren), dass im Lauf der Zeit das Gesicht der einzigen Revolution dieser Zeit die menschlichen Züge
40
annehmen wird (Hervorhebungen D.E.), die nie ein System annehmen wird.
Der hervorgehobene Gedanke rückt in die Nähe der utopischen Einschübe, die mit „Ein Tag
wird kommen“ in ihrem späteren Roman, Malina, überschrieben sind:
Ein Tag wird kommen, an dem die Menschen schwarzgoldene Augen haben, sie werden die Schönheit sehen, sie werden vom Schmutz befreit sein und von jeder Last, sie werden sich in die Lüfte
heben, sie werden unter die Wasser gehen, sie werden ihre Schwielen und ihre Nöte vergessen. Ein
Tag wird kommen, sie werden frei sein, es werden alle Menschen frei sein, auch von der Freiheit, die
sie gemeint haben. Es wird eine größere Freiheit sein, sie wird über die Maßen sein, sie wird für ein
41
ganzes Leben sein . . .
34
Vgl. HÖLLER (Hg.) (2004), S. 422.
HENZE (1996), S. 238.
36
Vgl. HOELL (2001), S. 125.
37
Vgl. Interview mit Hans Werner Henze, in: ALBRECHT, GÖTTSCHE (Hgg.) (2000), S. 151
38
Ebd.
39
Brief 165, 29. August 1965, S. 267.
40
Ebd.
41
Malina, Bd. III, S. 121. Vgl. hierzu auch Interview mit Ekkehart Rudolph (23. März 1971), in: GuI, S. 92.
35
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„Wo das Wort aufhört, beginnt die Musik.“ Zu Ingeborg Bachmanns Freundschaft
und künstlerischer Zusammenarbeit mit Hans Werner Henze
Eine Identität als schreibende Frau zu finden, war für Ingeborg Bachmann, die vor der
neuen Frauenbewegung gelebt und geschrieben hat, nicht einfach gewesen. Sie hat sich
längere Zeit mit der Lebensmöglichkeit als Ehefrau und Mutter auseinandergesetzt:
„Ich möchte eine gewöhnliche Frau sein, heiraten und Kinder haben“, sagte sie immer wieder. Als
eine gemeinsame Bekannte schwanger wurde, sprach sie diese unermüdlich auf ihren Zustand an,
wollte alle Einzelheiten genau wissen. „Wenn sie wüssten, wie sehr ich sie beneide“, versicherte sie.
Dann, in den ersten Monaten des Jahres 1959, kündigte sie ihre plötzliche Reise nach Neapel an, sie
42
wolle Hans Werner Henze (Hervorhebung, D.E.), der dort wohnte, heiraten.
Trotz Henzes Homosexualität, von der sie anfangs wohl nichts wusste, die sie dann aber –
wenn auch nicht ohne Schmerzen – annehmen wird43, erwogen die beiden die Ehe, ein Plan,
der bis zum Schluss jedoch nicht zustande kam, denn wie es aus einem Brief von Henze an die
Dichterin hervorgeht, merkte „ich, dass ich nicht in der lage sein würde, mich in diese ehe zu
stürzen.“44
Die Beziehung Bachmanns zu einem homosexuellen Mann weist aber darauf hin, dass sie
als Frau bereit war, auf einen wesentlichen Teil ihrer weiblichen Identität zugunsten ihrer
„Pflicht“, der Kunst, zu verzichten. Durch Henze bekam sie Zugang zum italienischen und
europäischen Musiktheater, durch ihn lernte „sie überhaupt erst Musik verstehen“, ihre ganze
Arbeit hänge „mit Musik zusammen“, Musik sei für sie „der höchste Ausdruck, den die Menschheit überhaupt gefunden hat.“45
Ein Nachklang auf ihre Beziehung mit Henze kommt zum Vorschein in der Erzählung Drei
Wege zum See, in der die Protagonistin Elisabeth Matrei den Amerikaner Hugh heiraten will,
[...] obwohl sie vorher keine Sekunde lang daran gedacht hatte, einen Homosexuellen zu heiraten,
er doch nur vorübergehend bei ihr wohnte, aber sie dachten aufgeregt und glücklich, es könnte sehr
gut gehen, jeder würde sein eigenes Leben haben und den anderen nie stören, und es war eine
46
Freundschaft vielleicht eine bessere Basis für eine Ehe als eine Verliebtheit.
Obwohl diese Äußerung Elisabeth in den Mund gelegt ist, erkennt der Leser, dass es sich
dabei aber zugleich um Bachmanns eigene Meinung handelt. Auch in der Erzählung bleibt diese
Hoffnung bis zum Schluss unerfüllt, denn die beiden trennen sich.
Bachmanns Gedichte aus der Zeit mit Henze zeigen, so Stuber, dass sie unter dem Verlust
ihrer sexuellen Identität gelitten hat47. In dem Gedicht Lieder von einer Insel, das 1954 veröffentlicht wurde, heißt es in der achten Strophe:
Platz unsren Bitten, Platz den Betern,
Platz der Musik und der Freude!
Wir haben Einfalt gelernt,
wir singen im Chor der Zikaden,
42
RAEBER (1975), in: Reformatio 24, S. 107–114; hier S. 111.
Vgl. HAPKEMEYER (1990), S. 65.
44
Brief 14, 24. April 1954, S. 32.
45
Nachlass Bl. 2352, 2353.
46
Drei Wege zum See, Bd. II, S. 431.
47
STUBER (1994), S. 236.
43
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wir essen und trinken,
die mageren Katzen,
streichen um unseren Tisch,
bis die Abendmesse beginnt,
halt ich dich an der Hand
mit den Augen,
und ein ruhiges mutiges Herz
opfert dir seine Wünsche.48
Wie Stuber bemerkt, phantasiert das lyrische Ich eine Nähe zu seinem Gegenüber, die sich
auf die sinnliche Wahrnehmung des Blicks reduziert. Diese Strophe thematisiert einen Mangel
an körperlicher Nähe, denn die „mageren Katzen“ symbolisieren eine reduzierte Sinnlichkeit;
letztendlich verzichtet das lyrische Ich auf einen Teil der eigenen Identität zugunsten des
Gegenübers.
Im Frühjahr 1955 endete das ständige Zusammenleben mit Henze und Ingeborg Bachmann
ging nach Rom, womit aber ihre Beziehung nicht abbrach. Bis zu Bachmanns Begegnung mit
Max Frisch 1958 zog die Dichterin immer wieder zu Henze, in eine künstlerische Arbeitsgemeinschaft.
Die Beziehung zu Max Frisch, die von 1958 bis 1962 währte, entpuppte sich als traumatisch
und konfliktreich. „Das Ende haben wir nicht gut bestanden, beide nicht“49, heißt es in
Montauk, der autobiographischen Erzählung von Frisch, und die literarische Auseinandersetzung der beiden Schriftsteller mit der gemeinsamen Beziehung noch lange nach deren
Trennung ist ein sprechender Beweis dafür.
Wie es aus ihrem Briefwechsel mit Henze ersichtlich wird, unternahm Ingeborg Bachmann
nach der Trennung von Frisch, Ende 1962, einen Suizidversuch. In ihrem verzweifelten Brief
vom 4. Januar 1963, den sie in Uetikon am Züricher See verfasste, teilt sie dem Komponisten
mit:
[..] ich habe so tun müssen, als sei nichts, nur ein bisschen Krankheit. Aber das stimmt nicht, es war
nicht ein bisschen Krankheit, sondern ich musste vor zwei Monaten in die Klinik, weil ich versucht
habe, mich umzubringen, aber das werde ich nie wieder tun, es war eine Verrücktheit, und ich
schwöre Dir, dass ich das nie wieder tun werde. Ausserdem gibt es jetzt diese Operation (Hervorhebungen, D.E.), die auch sehr schwer für mich war, mehr psychisch, aber dadurch auch physisch
schwerer. [...] Aber ich hätte nie geglaubt, dass alles so schlecht für mich ausgehen würde. Dass es
einen Schmerz geben würde, ja – aber nicht so einen totalen und fast tödlichen Zusammenbruch.
Das Ganze war wie eine lange, lange Agonie, Woche für Woche, und ich weiss wirklich nicht
warum, es ist nicht Eifersucht, sondern etwas völlig anderes; vielleicht weil ich, vor vielen Jahren,
wirklich etwas Dauerhaftes, »Normales«, begründen wollte, bisweilen gegen meine Lebensmöglichkeiten, immer wieder habe ich darauf bestanden, auch wenn ich von Zeit zu Zeit gespürt habe, dass
die notwendige Transformation mein Gesetz verletzt oder mein Schicksal – ich weiss nicht, wie ich
es ausdrücken soll. Vielleicht sind diese Erklärungen auch falsch – doch Tatsache ist, dass ich tödlich verletzt bin und dass die Trennung die grösste Niederlage meines Lebens bedeutet. Ich kann mir
48
49
Lieder von einer Insel, Bd. I, S. 122.
FRISCH, Bd. VI/M, S. 717.
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„Wo das Wort aufhört, beginnt die Musik.“ Zu Ingeborg Bachmanns Freundschaft
und künstlerischer Zusammenarbeit mit Hans Werner Henze
nichts Schrecklicheres vorstellen als das, was ich durchgemacht habe und was mich bis heute verfolgt, auch wenn ich heute anfange mir zu sagen, dass ich weitermachen muss, dass ich an eine Zu50
kunft denken muss, an ein neues Leben.
Dem Hilferuf der Freundin, die – um von ihrem gescheiterten Verhältnis Abstand zu
nehmen, um wieder „fröhlich sein“51 zu können – ihn flehentlich um eine gemeinsame Reise
durch Italien bat, leistete Henze unverzüglich Folge.
Das Gedicht Enigma (1963), das Bachmann mit der Widmung „Für Hans Werner Henze aus
der Zeit der Ariosi52“ versah, ist auch als Dank zu verstehen, dass er ihr in dieser schweren Zeit
beigestanden hatte:
Enigma
Für Hans Werner Henze aus der Zeit der Ariosi
Nichts mehr wird kommen.
Frühling wird nicht mehr werden.
Tausendjährige Kalender sagen es jedem voraus.
Aber auch Sommer und weiterhin, was so gute Namen
wie »sommerlich« hat –
es wird nichts mehr kommen.
Du sollst ja nicht weinen,
sagt eine Musik.
Sonst
sagt
niemand
etwas.53
Auch Henze litt an gescheiterten Liebesbeziehungen, auch er hegte Suizidgedanken. In
einem Brief aus dem Jahr 1956 beichtete er der Dichterin: „vor zwei tagen wollte ich sterben,
statt dessen habe ich mich lediglich besoffen. gestern dann eine leichte besserung, und heute
50
Brief 151, 4. Januar 1963, S. 244–245. Höller vermutet hinter „diese[r] Operation“ jene Abtreibung, die als schmerzliche Erinnerung in einigen Texten Bachmanns zum Ausdruck kommt. In einer Entstehungsvariante des Gedichts
Enigma heißt es: „Du sollst ja nicht / und wie ich, nicht leben, / sagt das Kind, / aber du sollst ja nicht weinen. / / Sag
mir, warum, sagt es, / mich niemand gezeugt hat, / mich jemand ermordet hat, / und mein Vater, habe ich einen [...] /
Du sollst nicht weinen“. (ÖNB, Nachl.-Nr. 463 a). Vgl. HÖLLER (Hg.) (2004), S. 507. Nach dem vierwöchigen Krankenhausaufenthalt in Zürich ist Bachmann wiederholt in medizinischer Behandlung; in Berlin muss sie sich zwei Mal
längeren Krankenhausaufenthalten unterziehen. Ihre Abhängigkeit von Alkohol und Tabletten ist auf diese Zeit zurückzuführen, von einigen Psychopharmaka wird sie nie mehr loskommen. Vgl. HOELL (2001), S. 95.
51
Brief 151, 4. Januar 1963, S. 245.
52
Ariosi ist ein Werk von Hans Werner Henze, entstanden 1963, für Geige, Mezzosopran und Orchester. Darin gibt es
die Vertonung von drei Gedichten Torquato Tassos. Vgl. hierzu Interview mit Hans Werner Henze, in: ALBRECHT, GÖTTSCHE (Hgg.) (2000), S. 151.
53
Enigma, Bd. I, S. 171.
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habe ich sogar gearbeitet.“ Henze war der Meinung, man könne „die vielen schlimmen
Traurigkeiten und Einsamkeiten“ nur durch die Arbeit (im Dunkeln singen) ertragen und indem
man „sich selbst weitgehend ignoriert.“ Auch wenn „alles tot und leer ist“, rät er der Freundin
vom Sterben ab: „Du darfst nicht sterben, auch ich möchte sterben, aber ich darf nicht
sterben.“55
Nach der Frisch-Episode versuchte Henze immer wieder, die Freundin aus ihren seelischen
Tiefpunkten und Schreibkrisen zu reißen, indem er sie an die Aufgabe des Künstlers mahnte.
Nie darf ein Künstler „so tief sinken, dass er sich ruiniert“, wird Henze ihr schreiben, und er wird
sie auffordern, „die alten Sentimentalitäten“ hinter sich zu lassen und ihre „PFLICHT zu tun“,
d.h. „systematisch arbeiten, wie es Thomas Mann etc. etc. tat, wie alle Grossen, ohne Ausflüchte, ohne weitere Krankheiten etc., ohne Klagen und Jammern.“56 Es gibt eine „WOHNSTÄTTE DER SEELE“, wird er ihr weiter schreiben, „die von niemandem besetzt werden darf, und
das ist die Arbeit, diejenige, die das Tageslicht weniger grauenerregend und die nächtliche
Finsternis weniger schrecklich macht.“57
Dass Bachmanns Schreiben nach der gescheiterten Liebesbeziehung mit Frisch gelitten hat,
ist eindeutig, denn wie wäre sonst die große Lücke von 1961 bis 1971, in der sie fast nichts
Neues veröffentlichte, zu erklären. Nach einer aktiven Schaffensphase und vielen Erfolgen
zwischen 1958 und 1961, war Bachmann nach der Trennung von Frisch auch künstlerisch gelähmt. Sie selbst sprach über eine allgemeine Schreibkrise in einem Brief vom 17. August 1964
an Hans Paeschke, dem Herausgeber des ’Merkur’:
Aber ich bin seit zwei Jahren permanent krank und weiß nicht, wann es mit dem Schreiben wieder
58
gehen wird. Es gibt kein Gedicht, kein Krümel Prosa, einfach nichts.
Bachmann begann mit der intensiven Arbeit am Todesarten-Projekt im Sommer 1964. Von
ihrem einzigen zu Lebzeiten erschienen Roman Malina (1971) war Henze tief beeindruckt. Im
März 1971 teilte er ihr in einem Telegramm mit:
LEKTUERE MALINA BEENDET SEHR AUFGEWÜHLT VON REICHTUM GROESSE TRAURIGKEIT VER59
ZWEIFLUNG DIESER DEINER ERSTEN SINFONIE WELCHE DIE ELFTE VON MAHLER IST [...]
Eine höhere Auszeichnung als den Vergleich mit Mahler konnte es für die Schriftstellerin
nicht geben60; für sie war Mahler der „größte Komponist unseres Jahrhunderts“61. Wie bekannt
komponierte der österreichische Komponist und Dirigent Gustav Mahler (1860–1911) zehn
Sinfonien. Indem Hans Werner Henze Malina als die „Elfte von Mahler“ bezeichnete, wies er
auf die musikalische Kompositionsweise des Romans hin. Zu ihrer musikalischen Schreibweise
im Roman erklärte Ingeborg Bachmann in einer Gesprächsäußerung aus dem Jahr 1971:
54
Brief 77, 2 November 1956, S. 130.
Brief 158, 31. Oktober 1964, S. 254.
56
Brief 160, 18. April 1965, S. 257.
57
Ebd., S. 258.
58
Zit. nach HOELL (2001), S. 95.
59
Brief 189, 26. März 1971, S. 286.
60
HÖLLER (2004), S. 524.
61
Nachlass Bl. 2353.
55
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„Wo das Wort aufhört, beginnt die Musik.“ Zu Ingeborg Bachmanns Freundschaft
und künstlerischer Zusammenarbeit mit Hans Werner Henze
Komposition hat für mich immer eine große Rolle gespielt (etwas, was ich bei so vielen vermisse),
und es ist tatsächlich so, daß ich erst beim Korrigieren oder beim Versuch, einige Dinge zu
streichen, gesehen habe, wie verzahnt es ist, daß es fast keinen Satz gibt, der sich nicht auf einen
62
anderen Satz bezieht.
Ein Motiv, das sich durch den ganzen Roman zieht, ist der Pierrot lunaire des österreichischen Komponisten Arnold Schönberg (1874–1951). Diese Musik steht für die Beziehung
zwischen Ich und Malina. Das Ich ist der Pierrot, so Gleichauf, der, nach Erfüllung sich sehnend,
an der Wirklichkeit scheitert. Wie Gleichauf weiter bemerkt, trägt das Ich als Pierrot all die
typischen Wesenzüge wie: „Empfindlichkeit, Flucht in die Traumwelt, Weltschmerz,
Melancholie, Angst, Nähe zu Wahnsinn und Hysterie.“63
Das letzte Stück des Romans ist wie ein Partitur geschrieben worden, in der die beiden
Stimmen des weiblichen Ich und von Malina gegeneinander solange geführt werden64, bis das
weibliche Ich verstummt. Durch die Einarbeitung musikalischer Motive gewinnt der Roman eine
neue Öffnung für verschiedene Lesarten und Deutungsmöglichkeiten. Musikhören war für Ingeborg Bachmann, außer Lesen, etwas, ohne das sie nicht sein konnte65, das Leben ohne „einen
Tropfen Musik“66 war für sie schwer auszuhalten. Für Hans Werner Henze verkörperte die
Musik, das Mittel sich zu befreien: „Denn ich glaube, dass es Freiheit ist, was man braucht.
Freiheit von der Traurigkeit und Freiheit von sich selbst,“67 und in den Tönen ließen sich „alle
Ideale der Schönheit und der Vollkommenheit“68 verwirklichen.
Der langjährigen Freundschaft zwischen dem Komponisten und der Dichterin machte
Bachmanns Tod ein Ende. In der Nacht vom 25. auf den 26. September 1973 verletzte sich die
Dichterin bei einem Brandunfall in ihrer römischen Wohnung so schwer, dass sie an den Folgen
der Verbrennungen am 17. Oktober aus dem Leben schied.
Die Beziehung zwischen Ingeborg Bachmann und Hans Werner Henze stand von Anfang an
unter günstigen Auspizien, im Zeichen eines großen künstlerischen Austauschs und einer
rührenden Freundschaft. In einem Brief vom 17. Oktober 1956 schrieb Henze an die Dichterin:
„meine geliebte ingeborg, nie habe ich einen teureren und schöneren menschlichen kontakt als
den zu Dir gehabt und ich küsse Deine hände mit einem heissen und sehr sehr traurigen
dank.“69 Und nicht zuletzt seien hier die Worte von Hans Werner Henze, der Dichterin „kostbarste[r] Mensch“70, hinsichtlich der äußerst komplexen Persönlichkeit der Freundin erwähnt:
62
Interview mit Toni Kienlechner (9. April 1971), in: GuI, S. 95.
GLEICHAUF (1995), S. 60–61.
64
Vgl. Interview mit Ilse Heim (5. Mai 1971), in: GuI, S. 107.
65
Vgl. Interview mit Kuno Raeber (Januar 1963), in: GuI, S. 42.
66
Brief 172, 22. Juni 1966, S. 273.
67
Brief 164, Mitte August 1965, S. 265.
68
Ebd.
69
Brief 75, 17. Oktober 1956, S. 127.
70
Brief 165, 29. August 1965, S. 267.
63
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Wenn ich jemals einen Lehrmeister gehabt in meinem Leben, dann war es die Ingeborg Bachmann.
In allen Dingen der Kunst, der Philosophie und der Moral war sie der zuverlässige Ratgeber, point of
71
reference, eine Heimat.
Literatur:
1. ALBRECHT, Monika, GÖTTSCHE, Dirk (Hgg.), »Über die Zeit schreiben« 2.
Literatur- und kulturwissenschaftliche Essays zum Werk Ingeborg Bachmanns,
Würzburg 2000.
2. BEICKEN, Peter, Ingeborg Bachmann, München 19922 (1. Auflage 1988).
3. BLÖCKER, Günter, Die gestundete Zeit. [1954], in: KOSCHEL, von WEIDENBAUM
(Hgg.): Kein objektives Urteil – nur ein lebendiges. Texte zum Werk von
Ingeborg Bachmann, München; Zürich 1989, S. 13–15.
4. GLEICHAUF, Ingeborg, Mord ist keine Kunst. Der Roman »Malina« von Ingeborg
Bachmann und seine Verwandlung in ein Drehbuch und in einen Film, Hamburg
1995.
5. HAPKEMEYER, Andreas, Ingeborg Bachmann. Entwicklungslinien in Werk und
Leben, Wien 1990 (Veröffentlichungen der Kommission für Literaturwissenschaft Nr.11).
6. HENZE, Hans Werner, Musik und Politik. Schriften und Gespräche 1955–75,
München 1976.
7. Ders., Reiselieder mit böhmischen Quinten. Autobiographische Mitteilungen
1926–1995, Frankfurt a. M. 1996.
8. Ders., Das Leben, die Menschen, die Zeit. Hans Werner Henze im Gespräch
mit Leslie Morris (Rom, 4. Januar 1999), in: ALBRECHT, GÖTTSCHE (Hgg.)
(2000), S. 143–159.
9. HOELL, Joachim, Ingeborg Bachmann, München 2001.
10. HÖLLER, Hans, Ingeborg Bachmann, Reinbek bei Hamburg 1999.
11. Ders. (Hg.), Briefe einer Freundschaft. Ingeborg Bachmann, Hans Werner
Henze, München; Zürich 2004.
12. KOSCHEL, Christine, von WEIDENBAUM, Inge (Hgg.): Ingeborg Bachmann. Wir
müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews, München; Zürich 1983.
13. KOSCHEL, von WEIDENBAUM (Hgg.), Kein objektives Urteil – nur ein
lebendiges. Texte zum Werk von Ingeborg Bachmann, München; Zürich 1989.
14. KOSCHEL, Christine et. al. (Hgg.), Ingeborg Bachmann. Werke. Bd. I–IV,
München; Zürich 19935 (1. Auflage 1978)
15. MAYER, Hans (Hg.), Max Frisch. Gesammelte Werke in zeitlicher Folge
(=Jubiläumsausgabe in sieben Bänden). Unter Mitwirkung von Walter Schmitz,
Frankfurt a. M. 1986.
16. OPEL, Adolf, »Wo mir das Lachen zurückgekommen ist ... «. Auf Reisen mit
Ingeborg Bachmann, München 2001.
17. RAEBER, Kuno, Erinnerungen an Ingeborg Bachmann, in: Reformatio 24 (1975),
H. 2, S. 107– 14.
18. STUBER, Bettina, Zu Ingeborg Bachmann „Der Fall Franza “ und „Malina “ ,
Rheinfelden; Berlin 1994 (Deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft
24).
71
Interview mit Hans Werner Henze, in: ALBRECHT, GÖTTSCHE (Hgg.) (2000), S. 148.
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„Wo das Wort aufhört, beginnt die Musik.“ Zu Ingeborg Bachmanns Freundschaft
und künstlerischer Zusammenarbeit mit Hans Werner Henze
19. WAGNER, Klaus, Bachmann. Stenogramm der Zeit, in: Der Spiegel (Hamburg)
vom 18. 8. 1954, S. 26–29.
20. WITTGENSTEIN, Ludwig, Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt a. M.
1
1963.
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