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Anna Ullrich
Original, Identität, Bearbeitung
Das Verhältnis von Original und Bearbeitung wird in verschiedenen Symbolsystemen wie Musik
und Bildender Kunst kontrovers diskutiert. Es existieren verschiedenste Bearbeitungstechniken wie
Parodie, Variation, Zitation, Collage, mit denen ein Original konfrontiert werden kann. Inwieweit
wird die Identität des Originals angesichts dieser künstlerischen Auseinandersetzungen mit der
Vorlage gewahrt? Bleibt beispielsweise die „Mona Lisa“ von Leonardo da Vinci in ihrer Semantik
unberührt, wenn Marcel Duchamp sie mit Bart und Schnäuzer versieht und das Ganze mit
„L.H.O.O.Q.“ tituliert?
Der Zusammenhang der Begriffe Original, Identität und Bearbeitung soll anhand der
Theorie der transkriptiven Logik kultureller Semantik nach Ludwig Jäger diskutiert werden. Jäger
entwirft ein Verfahren, um die Entstehung semantischer Effekte in einer Kultur zu beschreiben.
Ausgangspunkt seiner Theorie sind sogenannte „Skripturen“, etwa Texte im Medium der Schrift
oder Bildmotive in der Kunst, die innerhalb eines kulturellen Gedächtnisses zirkulieren oder
gespeichert sind. Aus diesem Reservoir wird eine Skriptur herausgelöst, bearbeitet (transkribiert)
und in einen neuen Zusammenhang eingestellt. Das Ergebnis der Transkription wird als
„Transkript“ benannt.
Dieser transkriptive Prozess der De- und Rekontextualisierung führt zu einer De- und
Resemantisierung der jeweiligen Skriptur, die dabei auch eine neue Lesbarkeit und Adressierung
erfährt. In dem Moment, in dem solche Bearbeitungen (Transkriptionen) vorliegen, wird die
Skriptur mit ihrer spezifischen Identität als Original konstituiert. Das Original ist folglich erst ex
post, in der Abgrenzung zu Sekundärpraktiken erkennbar. Damit wird die zeitlich und hierarchisch
organisierte Abfolgelogik von Original und Bearbeitung aufgelöst zugunsten einer Betonung der
Wichtigkeit von Sekundärpraktiken für die Etablierung eines Originals und seiner Identität.
Zudem stellt Originalität keine ontologische Qualität einer Skriptur dar, sondern fungiert als
Zuschreibung, die sich im Laufe weiterer Transkriptionen ändern kann. Möglicherweise wird das
erzeugte Transkript zu einem neuen Original mit einer eigenen Identität und Aura. Der transkriptive
Prozess lässt das ursprüngliche Original jedoch nicht unbehelligt, es wird semantisch kontaminiert,
da in der Betrachtung des Originals nun auch stets das Transkript mit seiner speziellen Lesart
präsent ist. Im Zuge der Bearbeitung der Ausgangsskriptur verändert sich der Blick auf das
Original, so dass sich seine Identität verschiebt und möglicherweise einer neuen weicht. Die
Identität eines Originals scheint wesentlich mit seiner Lesbarkeit und seiner Adressierung an ein
bestimmtes Publikum verknüpft zu sein, Größen, die sich ebenfalls im Ablauf der Transkription
verändern können.
Der Prozess der Transkription ist laut Jäger unabschließbar, stets wird das transkriptive
Spiel der Bezugnahmen zwischen Skripturen weitergetrieben. Demzufolge ist die Identität des
Originals nicht stabil, sie besteht nur kurzzeitig und erfährt in der Transkription eine ständige Reinszenierung.
Jäger, Ludwig 2002: Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik. In: Derselbe/Georg
Stanitzek (Hgg.): Transkribieren. Medien/Lektüre. München: Fink, S. 19-41.
Karbusicky, Vladimir 1992: Zitat und Zitieren in der Musik. In: Zeitschrift für Semiotik, 14/1-2, S. 61-77.
Schmidt, Ulrike Kristin 2000: Kunstzitat und Provokation im 20. Jahrhundert. Weimar: VDG.
Stephan Braun
Fuge, die ihr Erscheinen versagt, ist höheren Waltens
als eine, die zum Vorschein kommt.
Heidegger übersetzt Heraklits „Fragment 54“
UND.
Martin Heideggers poetische Identität
Es gibt einen Text Heideggers, der vielleicht mehr denn jeder andere eine Meditation über ein Wort
ist: eine Besinnung zum „und“.
Zugleich dreht sich „Hölderlins Erde und Himmel“ um zwei der Fragen der Fragen der
Geistesgeschichte überhaupt, die nach der Identität und die nach dem Tier. In dieser Konfiguration
wird ersichtlich, dass Heidegger an ein Wissenschaftsverständnis und ein Wissen von Literatur
appelliert, das die Grenze bzw. eine trennende Differenzierung zwischen „Poesie und Wissen“ nicht
vorbehaltlos hinnimmt. Vielmehr wird bei ihm „Enthusiasmus“ – ein Begriff, den Platon im „Ion“
doppelt negativ bestimmt hatte – wieder zu einem Grundzug des Wissens. Und so kann Heidegger
in „Unterwegs zur Sprache“ sagen, dass Denken und Dichten „zwei Parallelen [sind], die sich im
Un-endlichen schneiden“.
Neben dem Kreisen wie ein Adler in den Lüften des Himmels, das auf die Erde blickt, der
Lichtung und damit dem Sein entsprechend, Erde und Himmel überbrückend, ist es das in die
Gedächtnis* Rufende und Versammelnde, das als Performativum des Erinnerns, des Andenkens,
einmal begabt, ein Gespräch im Denken des Seins zu vermitteln gewillt zu sein scheint.
Worin sind der ziehend-zeichnende Zug und die Distanz des Stils zu sehen? Was ist das Modell der
Kommunikation in der Sichtbarmachung des (Ent-) Zugs, also der Magnetismus der
Anziehungskraft der Schriftzüge, die Erde und Himmel, Göttliche und Sterbliche und ihren Bezug
bei sich versammelt halten der Versammlung in der Text-Landschaft, deren
Verweisungszusammenhang gerade nicht der Bezug zur Realität ist? Ist es nicht (angesichts des XSeins) der Versuch eines Aus-der-Sprache-Bauens eines:
in sich schwingenden Bereiches [...] eines in sich schwebenden Bau[s] ?
Die Aufzeichnungen zu „Hölderlins Erde und Himmel“ registrierten das stetige Kreisen wie der
„Geistesadler“. Im Zuge des Vortrags gerät der Vortragende derart selbst, eingestimmt durch die
Poesie, dem Wissen im Andenken, entgegengehend, in die kreisende Bewegung eines Adlers: eine
enthusiastische Ergriffenheit und Identifikation. Den Kreisgang vollziehend entspricht er der
Lichtung des Seins, die selber kreist: Übereinstimmung von Denken und Sein.
Heidegger, Martin: Hölderlins Erde und Himmel. In: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung. Vittorio
Klostermann, 6., erweiterte Aufl., Frankfurt am Main 1996 (S. 152-181).
–: Was heißt Lesen? In: Aus der Erfahrung des Denkens. Gesamtausgabe, Bd. 13. Klostermann 1983.
–: Bauen Wohnen Denken. In: Vorträge und Aufsätze. Neske, 8. Aufl., Stuttgart 1997, S. 139-156.
–: Die Kunst und der Raum. Erker-Verlag, St. Gallen 1969.
–: Der Ursprung des Kunstwerkes. Reclam, Stuttgart 1962.
–: Der Satz der Identität. In: Identität und Differenz. Verlag Günther Neske, 9. Aufl., Stuttgart 1990, S. 930.
–: Die Zeit des Weltbildes. In: Holzwege. Klostermann, 3., unveränderte Aufl., Frankfurt am Main 1957,
S. 75-97.
–: Unterwegs zur Sprache. In: Gesamtausgabe, Abt. I, Bd. 12. Klostermann, Frankfurt am Main 1985.
–: Was heißt Denken? Reclam. Stuttgart 1992.
–: Zollikoner Seminare: Protokolle – Gespräche – Briefe (1959-1969). Hrsg.: Medard Boss. Vittorio
Klostermann, Frankfurt am Main 1987.
Jan Knoop
Literature and science –
Novalis als Mittler zwischen den „zwei Kulturen“
1959 prägte Charles Percy Snow die Formel von den „two cultures“ und eröffnete damit eine
Debatte über das Verhältnis bzw. die Verschiedenheit von „literature and science“, von Geistesund Naturwissenschaften. Diese nun aufgrund der „science and literature studies“ wieder aktuelle
Debatte ist nicht zuletzt eine Identitätsfrage: Wissenschaft ist letztlich personengebunden – denkt
man beispielsweise an Text-Produktion und -Rezeption – und die Zugehörigkeit zu der einen oder
der anderen Gruppe wirkt identitätsstiftend.
Historisch gesehen etablierte sich der Gegensatz von Geisteswissenschaften und
Naturwissenschaften in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, indem er das bis dahin zentrale
Gegensatzpaar Kultur – Natur ablöste. Teil und Bedingung dieser Entwicklung ist die zunehmende
Ausdifferenzierung der Wissenschaften. Das Datum „um 1800“ wurde in den vergangenen Jahren
durch verschiedene Publikationen etabliert, die in diesen Kontext gehören, und einige dieser
Untersuchungen behandeln die wissenschaftstheoretischen Überlegungen Friedrich von
Hardenbergs.
In der Novalis-Forschung überdeckte das lange Zeit vorrangige Interesse an seiner
vermeintlich so „romantischen“ Biographie die Sicht auf sein Leben als Beamter der SalinenWerke, der sich hauptsächlich mit Verwaltungstätigkeiten zu beschäftigen hatte, insbesondere aber
auch auf seine naturwissenschaftliche Ausbildung. Seine Überlegungen zu Chemie, Physik und
Medizin spielen im Heinrich von Ofterdingen eine zentrale Rolle, flossen aber auch in sein
theoretisches Werk ein.
Im Allgemeinen Brouillon entwirft er das ehrgeizige Projekt eines Wissenschaftssystems,
einer Enzyklopädistik, die insbesondere die Einzelwissenschaften zu einem großen Ganzen
verbindet. Die Einzelwissenschaften bleiben dabei nebeneinander bestehen, werden aber
andererseits auch miteinander verbunden. Das bedeutet insbesondere auch: Verbindungen zwischen
geisteswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Themen und Fragestellungen sind
erforderlich.
Der Schlüssel für diese Verbindung liegt bei Hardenberg in der Mathematik. Diese –
ohnedies in gewisser Hinsicht zwischen Geistes- und Naturwissenschaften angesiedelt – fungiert
einerseits als Modell für die Ordnung des Wissenschaftssystems überhaupt, andererseits
ermöglichen die Konzepte des noch relativ jungen Infinitesimalkalküls eine Vorstellung von dem
Übergang zwischen dem Ästhetischen und dem Rationalen, dem Kreativen und dem Logischen.
Den Differenzen zwischen den „zwei Kulturen“ oder besser den beiden Bereichen soll auf
der Basis des Allgemeinen Brouillon nachgespürt werden. Anschließend will mein Vortrag die
Rolle der Mathematik bei ihrer Verbindung darstellen.
Pethes, Nicolas: Poetik / Wissen. Konzeptionen eines problematischen Transfers. In: Romantische
Wissenspoetik. Die Künste und die Wissenschaften um 1800. Hg. von Gabriele Brandstetter und Gerhard
Neumann. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004
Pollack, Howard: Novalis and Mathematics Revisited: Paradoxes of the Infinite in the Allgemeine Brouillon.
– In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik. 7. Jahrgang. Hrsg. von E. Behler, M. Frank, J. Hörisch, G.
Oesterle. Paderborn: Schöningh 1997, S. 113-140.
Oliver Kohns
Hoffmanns Wiederholungen
„Ich bin das, was ich scheine, und scheine das nicht, was ich bin, mir selbst ein unerklärlich Rätsel,
bin ich entzweit mit meinem Ich!“, bringt der Erzähler in Hoffmanns Elixieren des Teufels die
heillose Verwirrung seiner Identität zum Ausdruck. Meine Lektüre von „Die Automate“ soll der
Frage nachgehen, wie Identität in Hoffmanns Geschichten als Effekt einer spezifischen Logik der
Einbildungskraft und ihrer Phantasmen, Synthesen und Wiederholungen beschrieben wird. Die
Wiederholung erweist sich nicht nur als ein Teil des Erzählten (insofern Hoffmanns Geschichten
immer wieder verschiedene Elemente variiert wiederholen), sondern auch als ein zentraler Bestandteil der Logik des Phantasmatischen und also der Dynamik des Erzählens selbst.
Die Geschichte handelt von dem Geheimnis eines „redenden Türken“, eines Automaten, der
sonderbare Orakelsprüche von sich gibt. Hoffmanns Akteure Ludwig und Ferdinand besuchen den
„redenden Türken“ und stoßen dabei auf ein weiteres Geheimnis: Der Automat weiß offenbar um
die Vorgeschichte Ferdinands – eine hoffnungslose Liebe zu einer Sängerin. Wiederholte Besuche
bei dem bei dem Schöpfer des Automaten, dem „Professor X.“, bringen keine Auflösung des
Rätsels. Ferdinand reist unvermittelt ab; die Geschichte endet mit einem rätselhaften Brief
Ferdinands an seinen Freund, der diesem seinen „zerrütteten Seelenzustand“ vorführt. Ferdinand
berichtet, wie er zufällig der Hochzeit der Sängerin mit einem Fremden beigewohnt habe, bei der
auch der Professor X. anwesend gewesen sei, was aber Ludwig zufolge unmöglich der Wahrheit
entsprechen kann (da der Professor die Stadt nicht verlassen hat). In Hoffmanns Text wird nun nur
die mittlere Episode, die Handlung um die beiden Freunde Ludwig und Ferdinand, ‚erzählt‘, d.h.
von einem nicht als handelnde Figur auftretenden ‚Erzähler‘ berichtet. Die ‚Vorgeschichte‘
Ferdinands (die Begegnung mit der Sängerin) und die ‚Nachgeschichte‘ (die Szene der Hochzeit)
wird von Ferdinand berichtet. Das Erzählen selbst wird exponiert und erzählt.
Vor allem die ‚Vorgeschichte‘ um die Begegnung Ferdinands mit der Sängerin lohnt eine
nähere Betrachtung. Erstaunlicherweise ist in der Literatur zu E.T.A. Hoffmann bislang kaum auf
dieses wichtige Strukturelement nahezu jeder Erzählung eingegangen worden. Die Vorgeschichte
erweist sich in „Die Automate“, wie auch in anderen Erzählungen, als die Urszene der Suche nach
Einheit und Identität und zugleich als der Ort einer Programmierung des Phantasmatischen. Das
Imaginäre wird von dem Wunsch nach Zusammenhang und Kohärenz angetrieben; auf der Ebene
der Medien des Imaginativen zeigt sich solcher Zusammenhang stets durch die Verwandlung eines
Wortes in ein Bild; auf der Ebene des Plots durch die Begegnung mit dem idealen ‚Anderen‘: dem
Traumbild, der begehrten Frau, der „Sängerin“.
Identität erweist sich in diesen Szenen als das Produkt eines Wiedererkennens des Gleichen
und also als das Produkt einer Wiederholung. Insofern es aber die assoziierende Einbildungskraft
ist, die etwas Ähnliches als etwas Gleiches behandelt, ist die Logik der Identität diejenige des Phantastischen und Phantasmatischen. Ein Vergleich mit Freuds psychoanalytischer Theorie des Tagtraums (aus „Der Dichter und das Phantasieren“) zeigt, daß Hoffmanns Theorie des Phantastischen
radikaler ist als die seines berühmtesten Interpreten. Während Freuds Theorie die Einheit eines assoziierenden ‚Ichs‘ voraussetzt, führt Hoffmanns Geschichte gerade die Erfindung dieses ‚Ich‘ vor.
Das Phantasma des begehrten Objekts führt hier, im Gegensatz zu Freuds Theorie, nicht nur einen
Zukunft und Gegenwart assoziierenden Wunschtraum, sondern zugleich dessen Herkunft aus einer
phantasierten Vergangenheit vor. Mein Vortrag möchte diese Logik des Phantastischen und
Phantasmatischen in Hoffmanns Erzählung „Die Automate“ beschreiben.
Barthes, Roland: S/Z. Übers. v. Jürgen Hoch. 3. Aufl. Frankfurt am Main 1997.
Hertz, Neil: Freud und der Sandmann. In: ders.: Das Ende des Weges. Frankfurt am Main 2001, S. 127-156.
Hoffmann, E.T.A.: Die Automate. In: ders.: Poetische Werke in sechs Bänden. Bd. 3, S. 411-444.
Kittler, Friedrich: Das Phantom unseres Ichs und die Literaturpsychologie: E.T.A. Hoffmann – Freud – Lacan.
In: Romantikforschung seit 1945. Hrsg. von K. Peter. Königstein/Ts. 1980, S. 335-356.
Birte Teitscheid
Stadt – Gesicht – Ich.
Postdramatische Bildlektüre in Rene Polleschs Stadt als Beute
Folgt man den Definitionsversuchen Hans-Thies Lehmanns, so zeichnet sich postdramatisches
Theater vor allem durch unterschiedliche Modi der Präsenzerzeugung und Präsenzhaltung aus.
Vermeintlich Abgestorbenes, Abwesendes, Stummes gilt es darin wieder zu beleben; in René
Polleschs „Stadt als Beute“ kommt der Gewinnung einer Stimme des Textes signifikante
Bedeutung zu. Wenn dort, als Referenzpunkt der Figurenrede und ihrer Adressierung, relativ leicht
eine namen- und gesichtlose Stadt neoliberalen Designs auszumachen ist, so geht die Frage „wer
spricht?“ bzw. „wer macht das Figuren-Ich sprechend?“ ganz elementar das Lesen selbst an; hierzu
müssen bestimmte Strategien der Verschlüsselung überwunden werden. Mit der rhetorischen Figur
des „Gesicht- und Stimme-Verleihen(s)“, der Prosopopoiia, soll sich der Fragestellung genähert
werden. Für Deleuze/Guattari ist das phänomenologische Gesicht als Ort der Erzeugung
machtvoller Evidenz „ein regelrechtes Sprachrohr“ gelungener Subjektivierung – jedoch nur,
solange es Bezug nehmen und setzen kann. Fehlt ein Gegenüber, so wird dessen Abwesenheit auch
im Akt des Sprechens konstitutiv. Mit der Imagination bzw. Halluzination einer abwesenden
Instanz, von der das Sprechen auszugehen scheint, ist das rhetorische Verfahren des „to give a
face“ darauf ausgerichtet, überhaupt erst die Analogien von Stadt und Ich herbeizuführen, die es im
Fall von „Stadt als Beute“ aufzuspüren gilt. Zur Diskussion steht, inwieweit die Enttarnung des
imaginativen Effekts, sein „defacement“, nachvollzogen bzw. als eine Strategie des Textes
eingeholt werden kann, die vorübergehend dadurch bestimmt wird, dass das Sprechen der Figuren
fehlschlägt, indem es nicht den Gegenstand des Sprechens selbst verkörpert. Die Beantwortung der
Frage „wer spricht“ nimmt damit einen nicht abzusehenden Verlauf.
Die Darlegung der Programmatik des uneigentlichen Sprechens im postdramatischen Text
versteht sich als Annäherung an die Themenstellung „Identität in der Moderne“. Über den im
Theatertext angelegten Möglichkeitsspielraum paradoxer Bildgebung soll gezeigt werden, wie sich
uneigentliches Sprechen im Prozess unmäßiger und exzessiver Abnutzung in Differenz zur
gesicherten Einheit üblicher dramatischer Rollen- und Handlungsanweisungen modellieren lässt.
Als performatives Verfahren tritt es dort in Kraft, wo sich die Intentionalität subjektiver Rede
erschöpft und anderen Instanzen der Sinnfindung zuwendet. Die Einheit der Rede bzw. die daran
gebundene Identifizierung „wer spricht“ ist bedroht, insofern sie nur bloßer Effekt ihrer
Veräußerung ist; als Mehrwert ist auszumachen, dass das Sprechen sich ständig in Richtung auf ein
Anderes hin konstituiert und diesem Stimme verleiht. Identität, in dem Fall verstanden als Einheit
der Rede, ist somit ein Prozess, der in der Lektüre immer neu auszuhandeln wäre – allerdings ohne
zu gesicherten Grenzziehungen zu gelangen.
Gilles Deleuze/Félix Guattari: Das Jahr Null – Die Erschaffung des Gesichts, in: Dies., Tausend Plateaus,
Berlin 1997, S. 229-262.
Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, Die Produktion von Präsenz, Frankfurt/M. 2004.
Bettina Menke: Prosopopoiia. Die Stimme des Textes – die Figur des ,sprechenden Gesichts’, in:
Poststrukturalismus, Hrsg. v. Gerhard Neumann, Stuttgart/Weimar 1997, S. 226-251.
Gerald Posselt: Katachrese, Rhetorik des Performativen, München 2005.
Silke Roesler
Identity Switch im Cyberspace –
Eine Form von Selbstinszenierung
In dem Leitsatz der MUD-Welt „Du bist, was du zu sein vorgibst“ (Turkle, Sherry: Leben im Netz.
1999: 310) klingt Mythisches an. Die Geschichte von Pygmalion hat im virtuellen Rollenspiel ihre
Gültigkeit und provoziert eine mächtige Fantasie: Nicht auf unsere Geschichte beschränkt zu sein,
sondern immer wieder neu erschaffen zu werden oder sich selbst zu erschaffen. Im wirklichen
Leben faszinieren uns Geschichten von der Transformation, dem Spiel oder der Exploration des
eigenen Selbst. Im Zeitalter des Cyberspace scheint diese Frage jedoch eine ganz neue Wertigkeit
zu erfahren. Das ‚neue‘ Medium Internet ermöglicht, mit dem Selbst und der eigenen Identität
einfacher und vor allem vielfältiger denn je zu experimentieren und insofern Begrenzungen
alltagsweltlicher Lebensbedingungen zu überschreiten. Im Cyberspace kommt es sozusagen zu
Verschärfungsprozessen jener Stilisierung und Erprobung des Selbst. Vehementer als jedes andere
Medium schärft das virtuelle Rollenspiel das Bewusstsein dafür, dass sich das Selbst ständig
weiterentwickelt und nicht nur im Virtuellen in ständigem Wandel begriffen ist.
Eine Auseinandersetzung mit dem Begriff des Multiplen wird eine brisante Paradoxie
hervorbringen: In heutiger Zeit wird Multiplizität einerseits als Krankheitsbild ‚kritisiert’,
andererseits jedoch auch als Paradigma der Moderne und Postmoderne ‚bejaht’. In der virtuellen
Welt kann der Teilnehmer eine multiple Identität ausbilden, deren Exploration als ‚identity switch‘
bezeichnet wird. Gemeint ist weniger, dass im MUD zwischen der Identität des ‚real life‘ und der
Identität des Virtuellen ‚geswitcht‘ wird, als dass vielmehr Online-Persönlichkeit/en an der
Modifikation der realweltlichen Identität beteiligt sind. Es soll ein Ausblick darauf gerichtet
werden, dass die Grenzen zwischen gesunder Dissoziation bzw. multipler Identität und krankhaften
Ausprägungen von Multiplizität und ‚identity switch‘ offenbar fließend sind.
Bahl, Anke: Zwischen On- und Offline. Identität und Selbstdarstellung im Internet. Kopaed Verl.: München
2002, 2. Aufl.
Becker, Barbara: „Virtuelle Identitäten: Die Technik, das Subjekt und das Imaginäre“. In: Becker,
Barbara/Paetau, Michael (Hrsg.): Die Virtualisierung des Sozialen. Die Informationsgesellschaft
zwischen Fragmentierung und Globalisierung. Campus Ver.: Frankfurt a.M./New York 1997. S. 163-184.
Reid-Steere, Elisabeth: „Das Selbst und das Internet: Wandlungen der Illusion von einem Selbst“. In:
Tiedeke, Udo (Hrsg.): Virtuelle Gruppen. Charakteristika und Problemdimensionen. Westdt. Verl.:
Wiesbaden 2000. S. 273-291.
Turkle, Sherry: Leben im Netz. Rowohlt Taschenbuch Verl.: Reinbek: 1999.
Martin Roussel
Kleists Gräber/Epigraphien.
Schrift, Identität, Modernität.
Mit Kleists Tod am Kleinen Wannsee in Berlin wird sein schmales Œuvre einer Nachwelt
übergeben, die in ihm fortan den hyperbolischen Gegenspieler Goethes und Inbegriff des agonalen
Fechters auf verlorenem Posten, zuletzt den ungewollten Vorreiter einer ›mise en abyme‹ der
Literatur selbst, der literarischen Moderne, sehen will. Im Jahr 1941 epigrammatisch auf die
Gedenktafel seines Grabsteins aus Marmor eingerückt, liest man Verse aus dem »Prinz von
Homburg«: »Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein.« Kleist ist, unsterblich.
Die Identitätslogik dieser Unsterblichkeit deckt die Organisation einer Wirkungsgeschichte
auf, die Kleist als toten Dichter und Gründungsvater inthronisiert, sein Werk indes, zur Spruchreife
verkürzt, zur Hinterlassenschaft eines Visionärs für jede Gelegenheit macht, die spätestens mit dem
100. Todestag 1911 die des Nationalismus war. Gerne überlesen wird bei diesen und anderen
Gelegenheiten, wie sehr bei Kleist der/sein Tod integraler Bestandteil seiner Schrift-Strategien ist,
die unter diesen – im letztgültigen Sinn ›negativen‹ – Vorzeichen ihre Wirksamkeit entfalten.
Kleists Inszenierungen verspielen sein Werk zwischen Transzendentalität und Transzendenz in eine
un-wirkliche Nachwelt.
Kleists Novellistik wird so zum Topos für Schrift-Sendungen im Namen inschriftlicher
Begrabungen. Ob im »Michael Kohlhaas«, wo das fürstlich hergerichtete Grab Lisbeths einen
figural dezentrierten Schriftverkehr – gewissermaßen als Substitut persönlicher Intervention –
instruiert oder in der »Marquise von O....«, die Kleist selbst mit einem parodistischen Epigramm
vorneweg veröffentlichte, im »Findling« oder im »Zweikampf«: Erst im Namen des Todes erfüllen
Schriften bei Kleist den Zweck der vermittelnden ›Übergabe‹. Besonderes Augenmerk gilt hierbei
Kleists Anekdoten, die, exemplarisch »Der Griffel Gottes«, das Grab selbst zum Ort einer Inschrift
machen, die keinen Ort mehr als den zu L/lesenden kennen, der als Topos In-(dieser-)Schrift doch
existiert: Aus den Inskriptionen des göttlichen Griffels enthüllt sich die Richtung der Schrift, indem
das Erz des Grabsteines einer Sünderin nach einem Blitzeinschlag
nichts, als eine Anzahl von Buchstaben stehen[ließ], die, zusammen gelesen, also lauteten: sie ist
gerichtet! – Der Vorfall (die Schriftgelehrten mögen ihn erklären) ist gegründet; der Leichenstein
existiert noch, und es leben Männer in dieser Stadt, die ihn samt der besagten Inschrift gesehen.1
Kleist, Heinrich von: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Helmut Sembdner. Zweibändige Ausgabe in
einem Band. München: dtv 2001.
Theisen, Bianca: Bogenschluß: Kleists Formalisierung des Lesens. Freiburg im Breisgau: Rombach 1996
(Rombach Wissenschaft: Reihe Litterae; Bd. 28). Darin besonders: S. 95–102; 147–151.
Walser, Robert: Kleist in Thun. In: Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hrsg. von Jochen Greven. Zweiter
Band. Zürich, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985. S. 70–81 (zuerst Juni 1907, in „Die Schaubühne“).
Zeeb, Ekkehard: Die Unlesbarkeit der Welt und die Lesbarkeit der Texte: Ausschreitungen des Rahmens der
Literatur in den Schriften Heinrich von Kleists. Würzburg: Königshausen & Neumann 1995 (Epistemata:
Reihe Literaturwissenschaft; Bd. 169. Zugl.: München, Univ., Diss., 1994). Darin besonders: S. 105–126;
S. 198–203.
1
Kleist: Sämtliche Werke und Briefe I, S. 263 (Hervorhebung nur der Klammer: M.R.).
Daniel Scholl
Projektion als grenzüberschreitende Unterscheidung
Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist der Begriff der Projektion aus Sigmund Freuds
Tiefenpsychologie bekannt. Freud führte diesen Begriff in seiner Persönlichkeitspsychologie ein,
um ein Transformationsgefüge psychischer Prozesse zu beschreiben, das für ihn vor allem unter
dem Gesichtspunkt neurotischer Störungen innerhalb einer psychoanalytischen Untersuchungs- und
Behandlungsmethode zur Sprache kommt. Auch heute noch wird der Begriff in der klinischen und
pädagogischen Psychologie verwendet.
Die Grundstruktur des Sachverhalts, der mit diesem Begriff bezeichnet wird, ist die
folgende: Person P1 sagt, Person P2 habe die Eigenschaft E1 und rechnet alles, was sie mit E1
verbindet, P2 zu. Tatsächlich aber nutzt P1 die Eigenschaftszuschreibung, um ihre eigene
Eigenschaft E1 thematisieren zu können und um alle Besonderheiten dieser Eigenschaft auf sich
selbst zu beziehen. Als Beobachter ihrer Zurechnung hat sich P1 aber nur als Person im Blick, die
eine Eigenschaftszuschreibung bei P2 vornimmt, nicht aber als eine Person, die diese Zuschreibung
unter eine bestimmte Funktion stellt, die sie für sie selbst erfüllt.
Leitend für meinen Vortrag ist allerdings nicht das Problem der Projektion als psychischer
Prozess, sondern das Problem der Unterscheidungen, die Person P1 voraussetzen muss, um eine
eigene Eigenschaft bei einer anderen Person in den Blick bringen zu können. Diese
Unterscheidungen werden dann zum Problem, wenn zwei Voraussetzungen gegeben sind: 1. P1
steht in keinem Verhältnis der Identität zu P2. 2. P1 unterliegt keinem Irrtum durch
Fehlidentifikation, bei dem sie P2 fälschlicherweise für sich selbst hält. Stattdessen unterscheidet
P1 sich selbst, und unterscheidet damit P2 als jemand anderes. Diesen Unterschied bekräftigt P1
durch den Unterschied, dass auch P2 sich als sich selbst unterscheidet und nicht als P1 und sie
damit P1 als ein Anderes unterschiedet.
Unter der Vorgabe dieser Unterscheidungen fällt das Problem in den Themenbereich
personaler Identität. Weil es aber um Unterscheidungen geht, geht es nicht mehr um das Problem
personaler Identität als Eigenschaft eines Objekts (von P1, P2, E1 oder der Zuschreibung von E1),
sondern um das Problem personaler Identität als Verweis auf einen Beobachter, für den es um die
Identität von etwas aufgrund von Unterscheidungen geht, die er einführt. Es geht um das Problem
der Verlagerung von personaler Identität weg aus der Perspektive von P1 hin in eine Perspektive
eines Beobachters von P1: B1. Die Beobachterperspektive von B1 ist in der Sprache der Kybernetik
zweiter Ordnung die eines Beobachters zweiter Ordnung, der danach fragt, wie P1 unterscheidet
(ohne die Einheit der Seiten der Unterscheidung zu thematisieren), um eine Eigenschaft auf P2
projizieren zu können. Methodisch betrete ich mit dieser Verlagerung das Gebiet der
Differenztheorie, in der die Einheit einer Beobachtung als Differenz angesetzt wird, so dass sich
nicht mehr die Frage stellt: „Was ist Identität im Falle von Projektion?“ sondern „Wie unterscheidet
P1, um erfolgreich projizieren zu können?“. Durch diese Fragestellung wird Identität zu etwas, das
P1 über das Setzen einer Differenz erreicht, deren Einheit sie für die Projektion voraussetzt, aber
deren Grenzen sie überschreitet, um sich in der Einheit des Unterschiedenen thematisieren zu
können. Die Struktur dieser Grenzüberschreitung arbeite ich in meinem Vortrag aus.
Baecker, Dirk (Hrsg., 1993): Kalkül der Form. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Baecker, Dirk (Hrsg., 1993): Probleme der Form. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Glanville, Reinfall (2000): (Die Relativität des Wissens). Ebenen und Grenzen von Problemen. In: Oliver
Jahraus, Nina Ort (Hrsg., 2000): Beobachtungen des Unbeobachtbaren. Weilerswist: Velbrück
Wissenschaft. 237-253
Luhmann, Niklas (1979): Identität – was oder wie? In: Niklas Luhmann (1990): Soziologische Aufklärung 5.
Konstruktivistische Perspektiven. Opladen: Westdeutscher Verlag, 14-30
Spencer-Brown, George (1997): Laws of Form. Gesetze der Form. Lübeck: Bohmeier.
Christian Bauer
Ichsüchtig: Identitätsgewinn durch Identitätsverlust.
Walter Benjamins Protokolle zu Drogenversuchen.
Identität beginnt in dem Augenblick, da Identität eine Frage wird.
Wie für das Kind das Wichtigste an der Medizin ist, dass sie gut schmeckt, ist für Benjamin das
Wichtigste, dass er sein Gift an einem Ort einnimmt, wo ihn niemand kennt. Unter dem Schutz des
Inkognitos, entlastet vom Identitätszwang, sucht er Anschluss bei einigen literarischen Motiven
Baudelaires, bei den Rauscherfahrungen, die in dessen „Paradis artificiels“ dokumentiert sind.
Benjamin stellt gleichsam die experimentellen Bedingungen einer Versuchsanordnung her, um zu
überprüfen, ob Baudelaires Diktum sich bewahrheitet, dass das Haschisch dem Einzelnen nichts als
ihn selber offenbart. In dem Augenblick beginnt Identität eine Frage zu werden, da die Voraussetzungen für Sich-Selbst-Gleichheit zu schwinden scheinen. Unter den Bedingungen des Rausches
heißt das, mit Baudelaire die Anstrengung zu teilen, nicht in der Öffentlichkeit aufzufallen. Um den
Fremdzuschreibungen der Umgebung sich zu entziehen und die Folgen einer gesteigerten Einbildungskraft zu nutzen, begeben sie sich in die Schrift.
Auf der Basis eines Verschriftlichungsvorgangs erforscht Benjamin die überraschend scharfen
Erinnerungen der Effekte einer geregelten Entregelung der Sinne, auf die im Vorgang rekurriert
wird. Auf den Fährten der Analogie zwischen Rausches- und Schaffenslust stellt sich Unsicherheit
über die Möglichkeit ein, Gleiches von Ähnlichem klar zu unterscheiden, wird z. B. der Leib als die
partiell modellierbare Form des historischen Körpers, des erotischen Körpers, des moralischen
Körper und des Zeichenkörpers genutzt. An dieser Stelle wird der rationale mit dem individuellmagischen Sinn des Erlebnis in Kontakt gebracht. Da der Haschisch am Werk ist, sieht sich der
Autor ermächtigt, sich als Medium der Selbst-Aussprache der Dinge zu inszenieren. In der
Aufzeichnung als der sekundären Stufe erhält der Körper gleichsam den prekären Status eines
Inkarnats, auf dessen Oberfläche die Inszenierung eines selbst initiierten Steuerungsverlusts
angesprochen wird. Man lese dies gutmütig als entsprechend kompliziertes, erkenntnistheoretisches
Problem im Umgang mit Kontingenzen der Raum- und Zeitwelt. Den geschärften Blick für
Missverhältnisse und Disproportionen inner- und außerhalb seiner selbst, bringt Benjamin in der
Erfahrung des Durchschreitens von empfindlich schwankenden Intensitätsfeldern zur Sprache, um
in kraftvollen Parenthesen die Ausschweifungen des Rausches zu repräsentieren.
Unter dem Eindruck des Rausches entdeckt Benjamin die materiale Seite des Zeichens und ist der
Affinität, die er zwischen der Sichtbarkeit eines Signifikanten und der Sichtbarkeit eines Signifikats
aufmacht, auf der Spur. Diese Tendenz trägt jedoch zugleich die Spuren der Entfremdung
gegenüber den konventionellen, sprachlichen Praktiken der Identifizierung, da die irritierenden
Vertauschungen der Funktionen von Signifikat und Signifikant offensichtlich, also nicht rein
arbiträr geschehen. Im Hinblick auf die Dechiffrierung eines in generelle Zeichenhaftigkeit
geratenen Erlebens, verliert sich Benjamin in der erneuten Wiederaneignung an die Faszination, die
von der entstellten, optischen Gestalt des Zeichens ausgeht. Dadurch wird die
Bezeichnungsfunktion zu Gunsten der Materialität des Zeichens entwertet, wird aus dem
Einzelnamen gleichsam ein Einzelding. Der inflationäre Zeichenprozess kommt für Momente zum
Erliegen. Benjamin zeigt, dass das zeichenhafte Verstehen von Identität nur dann gelingt, wenn
man es immerzu in sich negiert, d. h. Identität als Zeichen für eine Strukturierung von Abwesendem
als Anwesenden und umgekehrt durchhält. Die Frage, ob Identität mehr ist als eine Fiktion,
erscheint im Prozess der Zeichengebung, der unter dem Vorzeichen des Rausches steht, von
vornherein thematisch. Die An- und Abwesenheit von Identität repräsentiert einen Indifferenzpunkt
in der Moderne, an dem sich die Grammatik und das Verhältnis zwischen res et verba zu einer
Zauberkunst verrätseln.
Wioleta Zurawska
Identität und Kultur:
Vergleich zwischen Polen und Ost- und Westdeutschland.
Wie groß ist die Kluft zwischen den Jugendlichen und deren Eltern?
Haben die Deutschen in den neuen und alten Bundesländern die gleiche nationale Identität? Wie
wandelt sich die Identität bei Jugendlichen und deren Eltern in Ost- und Westdeutschland und wie
sieht der Vergleich zwischen Polen und Deutschland 15 Jahre nach dem Fall des „eisernen
Vorhangs“ aus?
In verschiedenen Ländern wird auf dem Hintergrund ihrer Geschichte und ihres nationalen
Selbstverständnisses sehr unterschiedlich mit den für die Entwicklung von personaler und sozialer
Identität bedeutsamen Einflüssen umgegangen. Die für diesen Vortrag zugrundegelegten
Untersuchungen werden deshalb parallel in verschiedenen EU-Ländern mit dem Ziel
kulturvergleichender Analysen durchgeführt. Der Vergleich von Polen mit West- und
Ostdeutschland, der hier gezogen wird, ist gerade jetzt, 15 Jahre nach der Wende, wo Polen
unmittelbar die Wahl zwischen der Tradition und Innovation jeden Tag trifft, äußerst brisant. Die
Identität in Polen wurde früher durch den Kommunismus und den dagegen steuernden
Katholizismus geprägt. Seit 1989 hat die Kirche keinen offiziellen Gegner mehr, da sich die
demokratische Gesellschaftsordnung gefestigt hat, die von der Kirche unterstützt wird. Gleichzeitig
mit der Demokratie erhielt aber auch die freie Marktwirtschaft Einzug, die nicht unbedingt auf die
traditionellen polnischen Werte und Normen Rücksicht nimmt. In Westdeutschland dagegen,
herrscht schon lange die soziale Marktwirtschaft. Auch fällt ein anhaltender Wertepluralismus und
eine Pluralität von Religionen bzw. Konfessionen gegenüber Polen auf, wo immerhin 97% der
Bevölkerung katholisch ist.
Bei der politisch-historischen Betrachtung stellt sich Ostdeutschland als eine sehr
interessante Vergleichsgruppe heraus. Polen weist nämlich in mancherlei Hinsicht Ähnlichkeiten
und in anderer wiederum Unterschiede zu Ostdeutschland auf, z.B. im Hinblick auf den
Kollektivismus im Osten vs. Individualismus im Westen oder bei der sog. slawischen vs.
germanischen Kultur. Ein weiteres Thema, das beleuchtet werden soll, ist der Aspekt der
Transmission von Identität von den Eltern auf die Kinder. Ziebertz (1990) spricht in diesem
Zusammenhang vor allem vom Transfer der Werte (value transfer).
Schmidt-Denter, U. & Zurawska, W. (2005): Vergleich der personalen und sozialen Identität von Jugendlichen und ihren Eltern in Deutschland und Polen. (Forschungsbericht Nr. 9 zum Projekt „Personale und
soziale Identität im Kontext von Globalisierung und nationaler Abgrenzung“. Universität zu Köln).
Ziebertz, H.G. (1990): Moralerziehung im Wertpluralismus. Kampen/The Netherlands: Kok [u.a.].
Andreas Müller
Nur der Schatten der Maria.
Zur labilen Position von Identität in Schillers „Maria Stuart“.
Madame Vohs, als Maria Stuart, verfehlte den Geist ihrer Rolle fast
ganz, sie war nur die leidende Dulderin, nirgends die gekränkte
Königin; sie war viel zu wenig stolz, viel zu weich…
Amalia von Voigt, zur Uraufführung am 14. Juni 1800
Amalie von Voigt, die nicht nur bei der (hier gemeinten) Uraufführung, sondern bereits bei
Schillers erster Lesung des Dramas anwesend war, scheint ein gutes Gespür für Komplexität und
Heterogenität der Hauptfigur zu haben (im Gegensatz zu Mme Vohs).
Im Wortgefecht zwischen dem Wärter Paulet und der Amme Kennedy scheint die labile
Position, in der Maria Stuart sich befindet, bereits expositorisch auf: Ist sie die Hilfeflehende,
Vertriebne, wie die Kennedy sagt, oder kam sie ins Land als eine Mörderin, ist sie die
unheilbrütend Listige, für die Paulet, stellvertretend für die englische Politik, sie hält? Was sich zu
Beginn ausnimmt wie ein Drama um Macht und Täuschung, Wahrheit und Intrige, also um
Staatsaktion im eigentlichen Sinne, entpuppt sich schnell als ein (Zuschreibungs-) Kampf um eine
‚wahre Natur’ der Hauptfigur.
Schiller entwickelt den historischen Stoff, dem er bis in kleinste Details treu bleibt, um ihn
doch stark zu fiktionalisieren, als ein Experimentier- und Spannungsfeld, auf dem die
unterschiedlichsten Konstellationen zur Erzeugung und Vernichtung der Individualität von Maria
Stuart ausagiert werden können: Politische (dynastische, religiöse) Positionen konkurrieren hier mit
psychologischen und ‚natürlichen’ Orientierungsmustern: Elisabeth ist meines Stammes, meines /
Geschlechts und Ranges – Ihr allein, der Schwester, / Der Königin, der Frau kann ich mich öffnen.
Beobachtbar wird so das Bemühen der Protagonistin, die Spannung abhängiger
Gebundenheit und souveräner Entscheidung in einer widerspruchsfreien Identität aufzulösen.
Schiller schafft seiner Figur dadurch, dass er sie an einem Rand bzw. auf einer Grenze situiert
(zwischen Freiheit und Kerker, zwischen Leben und Tod, zwischen Macht und Ohnmacht,
zwischen 1567 und 1800), einen Freiraum, jenseits ihrer politischen Funktion ihr eigenes Wesen zu
erforschen und so den Versuch zu unternehmen, im Ausgleich der Triebe eine Anschauung ihrer
Menschheit zu erlangen.
Dass sie dieser Anschauung – wenn überhaupt – nur im Angesicht ihres Todes habhaft
werden kann, lenkt den Blick auf die Umwälzungen und Gefährdungen der Epochenschwelle „um
1800“. Hier kündigt sich bereits eines der Paradigmen der Moderne an: die krisenhafte
Wahrnehmung der eigenen Lebenszeit.
Guthke, Karl S.: „Maria Stuart. Die Heilige von ‚dieser’ Welt“. In: Ders.: Schillers Dramen. Idealismus und
Skepsis. Tübingen, Basel: Francke 1994, S. 207-233.
Schiller, Friedrich: Sämtliche Werke in 5 Bänden. Auf der Grundlage der Textedition von Herbert G.
Göpfert, herausgegeben von Peter-André Alt, Albert Meier und Wolfgang Riedel. München: Hanser 2004.
Darin: - Maria Stuart. Ein Trauerspiel. Band II, S. 549-686.
- Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Band V, S. 570-669.
Christopher Schwarz
„Das Establishment antwortet“:
Die zeitgenössische Auseinandersetzung mit der
„68er-Bewegung“ in Politik und Gesellschaft
Von den Herausgebern einer der unzähligen zeitgenössischen Studien über die Studentenbewegung
um einen Kommentar gebeten, gab der damalige CDU-Landesvorsitzende von Rheinland-Pfalz,
Helmut Kohl, im Jahr 1968 Folgendes zu Protokoll: „Dutschke und der SDS gefährden die
Demokratie nicht, wohl aber kann das ständige Vorsichherschieben von Sachfragen zu einer Gefahr
für die innere Ordnung werden. Die Studenten, die die Lösung dieser vordergründig wenig
populären Sachfragen fordern, haben den Finger auf der Wunde. Sie leisten mehr für die
demokratische Ordnung und für die Gesellschaft als jene, die ein allgemeines Unbehagen
formulieren, sich aber konkret nicht festlegen wollen.“ Das wohlwollend abwägende Urteil Kohls
scheint sich so gar nicht in jenes Bild einfügen zu wollen, das in der öffentlichen Erinnerung an
„1968“ dominiert und den Konflikt zwischen Studentenbewegung und „Establishment“ zumeist in
Schwarz-Weiß-Tönen beschreibt.
Befindet sich die Historisierung der „68er-Bewegung“ nach zögerlichem Beginn derzeit in
vollem Gange, bleibt die Rolle ihres ‚counterpart’, der als „Establishment“ apostrophierten
politischen und gesellschaftlichen Gruppierungen, seltsam unbestimmt. Dabei verdichtete sich
insbesondere in der Auseinandersetzung zwischen den „68ern“ und den „45ern“, jener
Alterkohorte, die das Kriegsende als die entscheidende Zäsur ihres Lebens erfahren hatte, auf
eindrucksvolle Weise der „Prozess der intellektuellen Selbstanerkennung der Bundesrepublik als
westliche Demokratie“ (Klaus Schönhoven). In dem Vortrag, der einen Ausschnitt aus einem
laufenden Dissertationsprojekt zur Rezeptionsgeschichte der „68er-Bewegung“ darstellt, soll es
darum gehen, unter besonderer Berücksichtigung der Reaktionen der im Bundestag vertretenen
Parteien, führender Politiker und der ihnen nahe stehenden Publizistik, die zeitgenössischen
Konfliktlinien und Deutungsmuster nachzuzeichnen und zu analysieren. Die Untersuchung versteht
sich dabei nicht zuletzt als Beitrag zur Diskussion um den Topos von „1968“ als Zeit der „zweiten
Gründung“, als der Zäsur bundesdeutscher Geschichte.
Bude, Heinz: Achtundsechzig, in: François, Etienne/Schulze, Hagen (Hgg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd.
2, München 2001, S. 122-134.
Kersting, Franz-Werner: „Unruhediskurs“. Zeitgenössische Deutungen der 68er-Bewegung, in: Frese,
Matthias/Paulus, Julia/Teppe, Karl (Hgg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die
sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik (Forschungen zur Regionalgeschichte; Bd. 44),
Paderborn 2003, S. 715-740.
Winkler, Hans-Joachim (Hg.): Das Establishment antwortet der APO. Eine Dokumentation in Zusammenarbeit mit Helmut Bilstein (Veröffentlichung der Akademie für Wirtschaft und Politik Hamburg), Opladen
1968.
Martin Holz
Virtuelles Trauma:
Produktion, Intensität und die Grenzen des Ichs
Der Vortrag beschäftigt sich von einer poststrukturalistischen Position mit Identität in der Moderne
unter den Aspekten Virtualität und Trauma. Die mediale Produktion von Identität und
traumatischen Persönlichkeitsarchitekturen in virtuellen Konfigurationen sind als relativ isolierte
Themenkomplexe vielfach erforscht worden; die komplexen Wechselwirkungen zwischen beiden
sind nach wie vor kaum untersucht. Es handelt sich um Phänomene und Prozesse, die Fragen zum
Status von ‚Wirklichkeit’ oder hinsichtlich dessen, was Menschsein (kontrastierend oder
konvergierend mit maschineller Existenz) überhaupt ausmacht, aufwerfen. Mittels einer
kulturwissenschaftlichen Traumatologie, die sich psychoanalytischer Konzepte (Freud, Lacan)
bedient, ist die temporale Struktur der Nachträglichkeit zu beschreiben, insofern das traumatische
Ereignis ex post facto ein Trauma als Spur generiert. Trauma wird dabei als körperliches wie
psychisches Phänomen aufgefasst, ohne dass die beiden Aspekte sich trennen ließen. Wesentlich ist
dabei das Gedächtnis, das zwar keine bewusste Kodierung vornimmt, aber eine Repräsentation in
Form eines signifikanten Vakuums enthält. Die neomaterialistische Philosophie von Deleuze und
Guattari erlaubt es, Gedächtnis als psychophysischen Grenzraum zu denken und die materielle
Dimension von Trauma genauer zu fassen. Die Perspektive auf diesen Phänomenbereich verändert
sich radikal durch das, was Baudrillard als ‚Virtualität’ im Gegensatz zu ‚Aktualität’ beschreibt.
Das bedeutet, daß die Realität eine zunehmend virtuelle ist, während umgekehrt die Virtualität
zunehmend als reale erlebt wird. Einerseits dient die Virtualität dazu, traumatische Erfahrungen
kontrollierbar zu machen oder zu neutralisieren, andererseits werden potentiell traumatische
Erlebnisse simuliert, um einen speziellen Lustgewinn, den Lacan jouissance nennt, zu produzieren.
Auch die Erkenntnis, sich in einer alternativen Welt zu bewegen, kann zu spezifischen
Traumatisierungen führen, die oft mit Gedächtnis und Zeitwahrnehmung assoziiert sind. Für
virtuelle Räume muss einerseits von eskapistischen Tendenzen mit dem Ziel der Neutralisierung
oder lustvollen Simulierung von Körpern und potentiell traumatischen Ereignissen, andererseits von
spezifisch virtuellen Formen der körperlichen und psychisch-intellektuellen Erfahrung und
Traumatisierung ausgegangen werden. Die Ablösung einer essentialistisch gedachten Identität
durch eine streng operationale, pragmatisch variierbare ist eine wichtige Konsequenz dieser
Situation, die sich an zahllosen kulturellen Produktionen exemplifizieren lässt und hier am
Cyberpunk William Gibsons vorgeführt wird. Wenn Körper und Gedächtnis fluktuieren, so vermag
diese Inkonstanz nicht nur als vom Thanatos motivierte Überschreitung der Ich-Grenzen Lust zu
erzeugen, sondern sie kann das Individuum auch massiv gefährden und letztlich zerstören. Ist die
Rede vom ‚Individuum’ oder ‚Subjekt’ in der Moderne ohnehin bereits vielfach eine Fiktion, so ist
sie es im Bereich des Virtuellen in noch viel höherem Maße.
Balke, Friedrich. Gilles Deleuze. Frankfurt am Main: Campus, 1998.
Baudrillard, Jean. Simulacra and Simulation (frz. 1981). Trans. Sheila Faria Glaser. Ann Arbor: University
of Michigan Press, 1994.
Cavallaro, Dani. Cyberpunk and Cyberculture: Science Fiction and the Work of WilliamGibson. London:
Athlone Press, 2000.
Deleuze, Gilles & Félix Guattari. Anti-Oedipus: Capitalism and Schizophrenia 1 (frz. 1972). Trans. Robert
Hurley, et al. Minneapolis: University of Minnesota Press, 1983.
Gibson, William. Count Zero. London: Voyager, 1986.
Guattari, Félix. Chaosmosis: An Ethico-Aesthetic Paradigm (frz. 1992). Trans. Paul Bains & Julien Pefanis.
Bloomington: Indiana UP, 1995.
Roberto Di Bella
„Aber Pippo weiß es nicht“ –
Amnesie, Faschismus und Populärkultur
in Umberto Ecos Königin Loana
„’Und wie heißen Sie?’ – ‚Warten Sie, ich hab’s auf der Zunge.’“ So beginnt Umberto Ecos
illustrierter Roman Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana (2004), der zugleich eine
Autobiografie, eine Studie über kulturelles Gedächtnis wie auch ein Essay über den Umgang mit
der Populärkultur in den Jahrzehnten des italienischen Faschismus ist.
Mailand 1991, zu Zeiten des Golfkriegs. Der Antiquar Giambattista Bodoni, genannt
Yambo, leidet nach einem Hirnschlag an Amnesie. Dabei ist jedoch nur das autobiographische
Gedächtnis des fast Sechzigjährigen gelöscht, nicht aber sein semantisches Gedächtnis. So erinnert
er sich zwar z.B. an alle seine Lektüren und weiß noch, wer Napoleon war, hat jedoch jede
Erinnerung an das Leben vor dem Unfall verloren. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit kehrt er
in das Landhaus der Großeltern zurück, in dem auch er seine Kindheit und Jugend verbracht hat.
Das riesige Anwesen ist ein Museum der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, denn Yambos
Großvater sammelte alles, was Zeitgeist konstituierte: Zeitschriften, Bücher, Propagandaschriften,
Keksdosen, Platten und Bilder. Aus diesem chaotischen Fundus, in den sich der Protagonist
zunächst rauschhaft versenkt und der laufend als Bildzitat aufgerufen wird, rekonstruiert Eco
implizit auch die Sozialisationsgeschichte einer ganzen Generation, die im Zwiespalt von
faschistischem Ideengut und amerikanischer Populärkultur aufwuchs. Im narrativen Spannungsfeld
von Amnesie und Anamnese tut er dies mit jenen Zeugnissen, die nicht an die Nachwelt adressiert
und zur Dauer bestimmt waren, aus dem „irreduzibel Ephemeren“ (Aleida Assmann). Der Vortrag
möchte deshalb, vor dem Hintergrund eines sich wandelnden Begriffs von kulturellem Gedächtnis,
die Aufmerksamkeit auf dieses Wechselverhältnis von Identitätsbildung und Populärkultur richten.
Wurde bisher Gedächtnis traditionellerweise vom Archivbegriff her bestimmt, so wird es –
bedingt auch durch die Datenflut der neuen Medien – kulturtheoretisch zunehmend von der
Tilgung, der Zerstörung, der Lücke, dem Vergessen her begriffen. Damit kommt es zu einer
folgenreichen Akzentverschiebung: von Texten hin zu Spuren als Medien des kulturellen
Gedächtnisses. „Während man bei Buchstaben und Texten von der vollständigen Reaktivierbarkeit
einer vergangenen Mitteilung ausging, kann an Spuren immer nur ein Bruchteil vergangenen Sinns
restituiert werden. Spuren sind in dem Sinn Doppelzeichen, dass sie Erinnern unauflösbar an das
Vergessen knüpfen.“ (Aleida Assmann). So verwandelt sich Yambo wie dem Semiotiker Eco der
‚Abfall’ stets in Information, wenn auch fragmentarische. Dabei enthalten die Spuren der
Populärkultur indirekte Informationen, die das unwillkürliche Gedächtnis einer Epoche
dokumentieren und denen gegenüber der offiziellen Kultur vielleicht gerade deshalb ein höherer
Grad an Authentizität zugesprochen werden muss. Eco schließt damit in seinem fünften, sehr
zeitgenössischen Roman auch eine ’Gedächtnislücke’ in der italienischen Auseinandersetzung mit
dem Faschismus.
Umberto Eco: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur. Frankfurt 1984.
–: „Der immerwährende Faschismus“, in: Vier moralische Schriften. München/Wien 1997, S. 37-70.
–: La misteriosa fiamma della regina Loana. Milano 2004 (dt.: Die geheimnisvolleFlamme der Königin
Loana. München 2004).
Aleida Assmann: „Texte, Spuren, Abfall. Die wechselnden Medien des kulturellen Gedächtnisses“,
in: H. Böhme / K. R. Scherpe (Hgg.), Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien,
Modelle. Reinbek bei Hamburg 1996, S. 96-111.
–: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999.
Nicole Birtsch
Im Niemandsland zwischen Medizin und Poetik.
Das Verhältnis von Körpergedächtnis und Schreiben
in den Texten von Durs Grünbein und Marcel Beyer
1991 erschienen in der Basler Zeitung drei Briefe von Durs Grünbein aus seinem Briefwechsel mit
Marcel Beyer. Im 1. Brief über Dichtung und Körper reflektiert Grünbein den Begriff des
wirksamen Schreibens. Er definiert wirksames Schreiben, das sich vom bloßen thematischen
Schreiben unterscheidet, als „Schreiben aus einer Grundhaltung heraus, in der alle physiologischen
Eigenschaften enthalten sind“. Der Begriff der Wirksamkeit bedeutet auf Rezeptionsebene, „dass es
zu einer Übertragung kommt, dass sich wie im magnetischen Feld Energien vermitteln“. Diese
Übertragungsenergie wird aus den neurophysiologischen Tiefenschichtungen des Körpers
gewonnen. Dabei hilft das Vorstellungsbild des Engramms, einer im Zentralnervensystem
hinterlassenen Spur eines Erlebniseindrucks, die dessen Reproduktion zu einem späteren Zeitpunkt
ermöglicht, neurophysiologische Prozesse mit dem Schreiben zu verbinden. Aspekte von Grünbeins
neurophysiologischer Poetik lassen sich sowohl auf konzeptioneller und inhaltlicher Ebene wie
auch in der eingeschriebenen Poetik des Erinnerns in Beyers Roman Flughunde (1995)
wiederfinden. Der Protagonist Karnau, Akustiker und Stimmforscher, meint die Seele in der
menschlichen Stimme orten zu können. Die Stimmbänder, auf die sich einschneidende Erlebnisse,
akustische Ausbrüche und auch Schweigen gleich Narben einschreiben, markieren so den
physischen Ort der Individuation.
Aus diesen Überlegungen resultiert im Umkehrschluss die
These, dass sich durch operative Eingriffe des Stimmapparats die Gesinnung der Individuen
manipulieren lasse.
Ein verbindendes Element der ex- wie impliziten Poetiken der beiden Autoren ist der Bezug auf
Rilkes Text „Ur-Geräusch“. Beschrieben wird hier der Wunsch, mit dem Stift eines Phonographen
die Kronen-Naht des menschlichen Schädels nachzufahren und den Stift damit über eine Spur zu
lenken, „die nicht aus der graphischen Übersetzung eines Tons stammte, sondern ein an sich und
natürlich Bestehendes [...] eben die Kronen-Naht wäre.” In Rilkes Text wird die Erfahrbarmachung
des Ur-Geräusches als ein mögliches Mittel für den Dichter bewertet, die schwarzen Sektoren des
Erfahrungsbereiches, die das Unerfahrbare bezeichnen, aufzuhellen und das Ergebnis als
Verbindung von technischer Forschung und sinnlicher Erfahrung zu kartographieren.
Der Vortrag fügt sich thematisch in die Sektion „Spuren“ ein. Während bei Rilke die
Aufgabe des Dichters darin besteht, das Innere erfahrbar zu machen, liegt die Energie für
wirksames Schreiben bei Grünbein in neurophysiologischen Spuren im Körper, im Vorstellungsbild
des Engramms. In Flughunde wird die engrammatische Spurensuche weitergeschrieben in Karnaus
Versuchen, in der Stimme nach seiner eigenen Identität zu suchen und diese gleichzeitig im
Erinnerungsprozess zu verbergen.
Folgende Fragen stehen zur Diskussion: Ist Neurophysiologie ein Weg, Identität zu erforschen und
was bedeutet das für den kreativen Prozess des Schreibens? Welche Schreibräume eröffnen sich
durch das neurophysiologische Konzept: auto-poetologisch, semantisch, konzeptionell?
Wie ist Identität im Körper eingeschrieben oder vorgegeben? Wie schreiben sich Ereignisse als
Spur in den Körper ein, wie beeinflusst die Reproduzierbarkeit der Erlebnisse die Erinnerung und
das Bewusstsein von Identität?
Beyer, Marcel: Flughunde. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995.
Beyer, Marcel: Nonfiction. Köln: DuMont 2003.
Grünbein, Durs: Galilei vermißt Dantes Hölle und bleibt an den Maßen hängen. Aufsätze 1989-1995.
Frankfurt/M.: Suhrkamp 1996.
Grünbein, Durs: Schädelbasislektion. Gedichte. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991.
Eike Muny
Drama der Identität –
Einschnitte im zeitgenössischen Drama
Der Vortrag stellt sich zur Aufgabe, die spannungsreiche Verbindung von Drama und Identität
vorzustellen, so wie sie sich in ausgewählten deutschen Dramentexten der letzten drei Dekaden
ereignet. Literatur im Allgemeinen bildet ein kulturelles Forum, in dem gesellschaftsrelevante
Themen in einer Art sozialem Freiraum erprobt werden können. Viele Nachkriegsdramen benutzen
im Besonderen die Möglichkeit, gegenüber Problemen der alltäglichen (ethnischen,
geschlechtlichen, nationalen, religiösen, beruflichen etc.) Identitätskonstruktion Position zu
beziehen. Im Zuge dieses dramatischen Anliegens differenzieren sich charakteristische
Untergattungen wie das Dokumentartheater aus.
Mein Vortrag wirft sein Augenmerk auf zweierlei Verbindungslinien zwischen Drama und
Identität: Nämlich auf die Thematisierung gesellschaftlicher Rollenbilder im innerdramatischen
Diskurs einerseits und auf die damit einhergehende Konstitution gesellschaftlicher Identität im Akt
der Dramenrezeption andererseits. Thomas Bernhards Stück Vor dem Ruhestand (1988)
beispielsweise stellt den ehemaligen SS-Offizier und jetzigen Richter Rudolf Höller vor, dessen
frühere Rolle im NS-Reich immer noch das Fundament seiner Lebensauffassung bildet. Er
versichert sich seiner NS-Identität, indem er alljährlich Erinnerungen an seine Zeit als
Lageranführer aufleben lässt und seine behinderte Schwester brutal schikaniert. Die dramatische
Darstellung von Höllers Identitätsversicherung, die im übrigen scheiternd endet, bringt kulturelle
Identitätsmuster zur Geltung, die den durchschnittlichen Rezipienten wiederum in Vorstellung und
(Re)Konstruktion seiner eigenen nationalen Identität beeinflusst; namentlich wird ihm das große
Narrativ problematisch, das die Auseinandersetzung mit der österreichischen und deutschen NSVergangenheit durch die Entnazifizierung abgeschlossen sieht.
Damit fokussieren beide Verbindungslinien subjektive Erfahrungen, die auf den
Identitätshaushalt einzelner Personen (ob nun Figuren oder Rezipienten) spürbar einwirken.
Dadurch dass er in diesem doppelten Sinne dramatische Einschnitte beleuchtet, leistet mein Vortrag
einen wichtigen kulturwissenschaftlichen Beitrag zur Frage nach der kulturellen Funktion von
Literatur.
Thomas Bernhard: Vor dem Ruhestand. In: Ders.: Stücke 3. Frankfurt a. M. 1988, S. 7-114.
Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische
Analyse. Tübingen 1997.
Kai Sicks
Aufbruch in die Neue Welt?
Europäische und amerikanische Identität
im Musiktheater der zwanziger Jahre
Das handelnde und entschlossen vorwärts schreitende Amerika und das in grüblerische Apathie
versinkende Europa – diesen Kontrast evozierte Donald Rumsfeld im Frühjahr 2003, als er
angesichts der zerstrittenen Haltung der Europäischen Union im Kampf gegen den internationalen
Terrorismus die Rede von der „neuen“ und der „alten“ Welt ins Feld führte. Das Bemühen, über
diesen Dualismus eine Skizze amerikanischer Identität zu zeichnen (und so zweierlei zu erreichen:
den Einsatz im Irak zu rechtfertigen und das amerikanische Volk hinter sich zu vereinigen), ist
dabei weder neu noch amerikanischer Provenienz. Vielmehr übernimmt Rumsfeld hier eine
ursprünglich in Europa beheimatete Zuschreibung an die USA, um sein Selbstverständnis als
Amerikaner zu konturieren. Ihren Höhepunkt erlebt diese Zuschreibung im Kontext einer vorher
ungekannten transatlantischen Mobilität in den 1920er Jahren. Das untergehende alte Europa und
das aufstrebende neue Amerika – in dieser räumlichen Metaphorik diskutieren die Zeitgenossen die
Segnungen und Verwerfungen der Moderne, zeichnen sie Horrorszenarien und Utopien der eigenen
europäischen Zukunft.
Die Dichotomie von alter und neuer Welt und ihre Implikationen für die Identität eines
modernen Europa lassen sich besonders deutlich dem Musiktheater der Zeit ablesen. In Ernst
Kreneks Oper „Jonny spielt auf“ (1927) und in Emmerich Kálmáns Operette „Die Herzogin von
Chicago“ (1928) trifft nicht nur europäische E- bzw. U-Musik auf amerikanischen Jazz und
Charleston; vielmehr begegnen sich hier Europa und Amerika zur Gänze und werden gemäß der
Dualismen Tradition und Moderne, Tiefe und Oberflächlichkeit, Kontemplation und Aktivität
sowie Gemächlichkeit und Tempo voneinander geschieden. Mein Vortrag nimmt diese
kontinentalen Identitätskonstruktionen in den Blick und untersucht die Funktion, die ihnen letztlich
zukommt: Sie begründen die Utopie einer gleichzeitig modernen und europäischen Kunst.
Wolfgang Fichna: „Die Überfahrt beginnt“. Schwarze Körper und Amerikanismus in Ernst Kreneks Zeitoper
„Jonny spielt auf“. In: Michael Cowan/Kai Marcel Sicks (Hg.): Leibhaftige Moderne. Körper in Kunst
und Massenmedien 1918-1933. Bielefeld 2005: 292-302.
Fritz Giese: Girlkultur. Vergleiche zwischen amerikanischem und europäischem Rhythmus und
Lebensgefühl. München 1925.
Adolf Halfeld: Amerika und der Amerikanismus. Kritische Betrachtungen eines Deutschen und Europäers.
Jena 1927.
Jan Engelke
Die Verräumlichung von Texten und die Textualität von Räumen
„Wozu Kultur?“ fragt sich wahrscheinlich nicht nur Dirk Baecker und in der Tat scheint die
Konjunktur von „Kultur“ als Forschungsgegenstand (mehr noch: Forschungsparadigma) ihren Zenit
schon lange überschritten zu haben. Literaturwissenschaftlich interessant wird es jedoch, wenn der
Kulturbegriff nicht nur nicht verabschiedet werden soll, sondern vor einem weit gefassten
Textbegriff in der griffigen Formulierung eines Kultur-als-Text-Theorems entwickelt und für die
Analyse brauchbar gemacht werden soll. Die Liste solcher Behauptungen von Äquivalenz (gar:
Identität) zwischen Kultur und Text ist lang. Moritz Baßler weist jedoch darauf hin, dass eine
theoretische Ausarbeitung bislang noch auf sich warten lässt – eine Lücke, die zu schließen er sich
zur Aufgabe macht. Auffallend, obwohl oder weil nicht reflektiert, ist, dass sowohl in den
Bezugstexten (etwa von R. Jakobson oder J. Kristeva) als auch bei Baßler selbst an zentralen
Stellen innerhalb des Argumentationszusammenhangs Begriffe und Konzepte mobilisiert werden,
die einem anderen diskursiven Feld entnommen werden. Kurz: Das Kultur-als-Text-Theorem steht
(auch) auf raumtheoretischen Füßen. Dieser Befund bringt vermutlich niemanden aus der Fassung.
Dabei ist der Zusammenhang durchaus verwickelter. Theoretische Arbeiten zum Raum sind zurzeit
im Rahmen geisteswissenschaftlicher Forschung en vogue. Die Begründungsversuche sind dabei
just spiegelbildlich angelegt: Texttheoretische Einsichten und Überlegungen werden in die
Ausarbeitung raumtheoretischer Positionen integriert – gerade auch bei Gründungstexten dieser
Forschungsrichtung.
Es ist das Ziel des Vortrages, dieser doppelten Reziprozität, dieser zweifachen chiastischen
Verschränkung nachzugehen, die zwischen den Begriffen der Trias Kultur-Text-Raum behauptet
worden ist und wird. Um das Funktionieren der Begriffsanleihen in der Form des Chiasmus
gewährleisten zu können, bedarf es – man ahnt es – Festschreibungen, die in Gestalt
identitätslogischer Aussagen daherkommen. Man kann zeigen, und ich habe im Rahmen des
Vortrages vor, dies zu tun, dass dem jeweils anderen der Verschränkungsfigur stabilisierende und
zentrierende Eigenschaften zugewiesen werden. Verblüffend daran ist, so eine These, dass die
vollzogenen Überblendungen auf einer Rezeption des jeweils anderen Modells beruhen, die
reduktionistisch verwährt und defizitäre Theoriemodelle produziert und zur Anwendung bringt.
Dies gilt insbesondere für den zweiten Chiasmus, dem das Hauptaugenmerk gilt: die
Verräumlichung von Texten und die Textualität von Räumen.
Baßler, Moritz: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-KontextTheorie, Tübingen 2005.
Lefebvre, Henri: The Production of Space, Oxford/Cambridge 1991.
Norbert Wichard
Wohn- und Identitätsdiskurse in der Moderne –
am Beispiel von Hoteldarstellungen
in der deutschsprachigen Literatur zwischen 1880 und 1930
Das Hotel wird von Foucault zu den Heterotopien gezählt, die „gewissermaßen Orte außerhalb aller
Orte [sind], wiewohl sie tatsächlich geortet werden können“ (Des Espace Autres). Demnach
befindet sich der Hotelgast strukturell in einer kritischen Instabilität, da er sich vom Alltäglichen
abgehoben in einem transitorischen Zwischenraum befindet. Der geplante Vortrag will das Hotel in
die Kulturgeschichte des Wohnens integrieren und veranschaulichen, auf welche Weise das Hotel
als literarischer Raum zum konzentrierten Reflexionsort figuraler Identitäten wird und gerade in der
Literatur sein narratives Potential ausspielt. Wenn im 18. Jahrhundert die Tradition des ‚Ganzen
Hauses‘ zu enden beginnt und sich stattdessen Arbeiten und Wohnen voneinander lösen, entwickelt
sich innerhalb des Wohnhauses parallel die Ausdifferenzierung von privaten und öffentlichen
Räumen. Die seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts in Deutschland florierende Hotelkultur
übernimmt diesen zentralen Wohndiskurs.
Drei literarische Beispiele, Fontanes Roman Cécile (1886), Franz Werfels Erzählung Die
Hoteltreppe (1927) und Vicki Baums Welterfolg Menschen im Hotel (1929), sollen näher
besprochen werden: Die räumlichen Grenzen des Hotels in Fontanes Roman scheinen dem Gast
noch den privaten Rückzug zu ermöglichen. Doch Céciles prekäre Vorgeschichte ist schon in der
Darstellung der Table d’hôte symbolisch präsent; die Gästetafel wird zum Anfangspunkt ihrer
späteren tödlichen Identitätskrise. Anfang des 20. Jahrhunderts hat jedoch die semiöffentliche
Struktur der Table d’hôte ausgedient. Die Öffentlichkeit wird nun durch die Hotelhalle radikalisiert
hergestellt, in der sich der Einzelne in der Beziehungslosigkeit der Masse vorfindet, die vom
oberflächlichen städtischen Gesellschaftsleben getragen wird. Entsprechend wird die Hotelhalle in
Werfels Die Hoteltreppe zum Todesort; das rettende private Hotelzimmer erreicht die Hauptfigur
nicht mehr. Das literarische Hotel wird auf diese Weise als Reflexionsraum funktionalisiert, in dem
das Individuum nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr an die alten Ich-stabilisierenden (Wohn-)
Strategien anknüpfen kann. Die historisch gewonnene Privatheit der bürgerlichen Kultur ist nun in
eine Isolation und Anonymität umgeschlagen. Abschließend soll anhand von Menschen im Hotel
aber kritisch bedacht werden, ob nicht andererseits gerade die Simultaneität und die
Unverbundenheit des Wohnens im Hotel, die von Baum erzähltechnisch reproduziert werden, eine
räumliche Schneise etablieren können, die dem Gast im Zeichen der ‚Neuen Sachlichkeit‘ hilft, die
eigene Identität – etwa im Sinne J. Straubs – zu konstruieren. Die Analyse von Baums Figuren lässt
allerdings daran zweifeln, ob dem Hotel eine einheitsstiftende Kraft zugesprochen werden kann.
Zumindest die literarischen Figuren scheint diese nicht (mehr) zu erreichen. Der Literatur ist die
„Dramatik des Wohnens“ (Katschnig-Fasch) eingeschrieben.
Link, Jürgen: Wie das Kügelchen fällt und das Auto rollt. Zum Anteil des Normalismus an der Identitätsproblematik in der Moderne. – In: Herbert Willems und Alois Hahn (Hrsg.): Identität und Moderne.
Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999, S. 164–179.
Saldern, Adelheid von: Im Hause, zu Hause. Wohnen im Spannungsfeld von Gegebenheiten und
Aneignungen. – In: Jürgen Reulecke (Hrsg.): Geschichte des Wohnens. Band 3. 1800–1918. Stuttgart:
Deutsche Verlags-Anstalt 1997, S. 145–332.
Seger, Cordula: Grand Hotel. Schauplatz der Literatur. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2005.
Sloterdijk, Peter: Sphären. Plurale Sphärologie. Bd. 3. Schäume. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004.
Straub, Jürgen: Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs. – In: Aleida
Assmann und Heidrun Friese (Hrsg.): Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität 3. Frankfurt/Main:
Suhrkamp 1998, S. 73–104.
Maren Zimmermann
Identität qua Negation:
Wie denken Hegel und Nishida Negativität und Nichts?
Die spekulative Methode Hegels konzipiert Identität im Sinne einer negativen Einheit. Begreift man
Negativität als Kern des Hegelschen Ansatzes, ist es diese, die Identität konstitutiert. Von daher
verlangt die dialektische Struktur des Selbst-Werdens und der Topos des „im-Anderen-zu-sichselbst-Kommens“, bzw. des „nur-im-Anderen-bei-sich-sein“ die Thematisierung von Negation,
Negativität und Nichts.
Konkret die Bearbeitung der Kategorien „Sein – Nichts – Werden“ der „Wissenschaft der
Logik“ (1832) eignet sich zu einer Annäherung an das Konzept Identität auf zwei Ebenen:
1.) das Nichts als Konstitutionsgrund und -mittel von Identität überhaupt; also den
Zusammenhang von Sein und Nichts in Bezug auf die Möglichkeit einer Rede von
Identität im Sinne einer Sich-selbst-Gleichheit zu durchdenken, sowie
2.) in einer interkulturellen Perspektive den Vergleich (der Funktion) des Begriffs des
Nichts mit der japanischen Philosophie Kitaro Nishidas (1870-1945) zu entfalten.
Schließlich ist aufzuzeigen, dass es sich in der Hegelschen Logik um die Identität des Absoluten
handelt, mithin um das schlechthin alles begründende Ur-Prinzip.
Hegel, G. W. F.: Gesammelte Werke. Hamburg 1968ff.
Nishida, Kitaro: Logik des Ortes: der Anfang der modernen Philosophie in Japan, übers. und hgrs. von Rolf
Elberfeld, Darmstadt, 1999.
Nishida, Kitaro: Über das Gute. Eine Philosophie der reinen Erfahrung. Frankfurt a.M./ Leipzig 2001.
Takayama, Mamoru: „Das absolute Nichts“ bei Nishida und Hegel. In: Neuser, Wolfgang; Reichold, Anne
(Hrsg.): Das Geheimnis des Anfangs, Frankfurt am Main 2005, 205-227.
Waldenfels, H.: Absolutes Nichts. Zur Grundlegung des Dialogs zwischen Buddhismus und Christentum.
Mit einem Geleitwort von Keiji Nishitani, Freiburg/ Basel/ Wien 1976, 48-64.
Richli, Urs: Das Andere an ihm selbst. In: Gottschlich, Max; Wladika, Michael (Hrsg.): Dialektische Logik.
Hegels Wissenschaft der Logik und ihre realpolitischen Wirlichkeitsweisen. Gedenkschrift für Franz
Ungler. Würzburg 2005, 62-71.