Fremdenverkehr vor dem Zweiten Weltkrieg - Nationalatlas

Transcrição

Fremdenverkehr vor dem Zweiten Weltkrieg - Nationalatlas
Fremdenverkehr vor dem Zweiten Weltkrieg
Oliver Kersten und Hasso Spode
Phasen des Reisens
In dem sozialen und räumlichen Ausbreitungs- und zugleich Wandlungsprozess von Reisegewohnheiten lassen sich
grob folgende Phasen unterscheiden:
In der ins 19. Jh. reichenden Entstehungsphase stellt die touristische Reise
eine durch Vermögen finanzierte, im
Lebenslauf seltene und entsprechend
herausgehobene Unternehmung dar.
Die Quote der Auslandsreisen war
hoch, ihre absolute Zahl, wie die aller
touristischer Reisen, gering. In der langen, noch weiter unterteilbaren Ausbreitungs- und Formierungsphase bis zur
Mitte des 20. Jhs. wird Reisen zu einem
in den Jahresturnus eingebetteten Freizeitverhalten. Die soziale Exklusivität
lockert sich schrittweise, touristische
Institutionen und Infrastrukturen wie
Verkehrsvereine, Reisebüros, Hotellerie, Verkehrswege etc. werden auf- und
ausgebaut, und ein Set touristischer
Praktiken verfestigt sich. Der Urlaubsreise werden dabei nun zweckrationale
Begründungen zugewiesen: so diene sie
der Erholung, auch der Bildung und
Völkerverständigung. Die jährliche Reise wird im Bürgertum zur Selbstverständlichkeit. Überwiegend, zumal nach
dem Ersten Weltkrieg, liegen die Destinationen im Inland: im Alpenraum, in
den Mittelgebirgen, an Nord- und Ostsee sowie in Städten.
In die zweite Hälfte des 20. Jhs. fällt
schließlich die Durchsetzungs- und Konsolidierungsphase: Die bereits zuvor wirtschaftlich, technisch und dann auch po-
Tourismus – die scheinbar zweckfreie
Vergnügungsreise – ist ein historisch
recht junges Phänomen. In ihn flossen
sowohl ältere Reiseformen, wie die Pilger- oder Bäderreise, als auch der universelle Kontrast von Fest und Alltag
ein. Doch bildet er eine Struktur eigenen Rechts. Seine Ursprünge sind in
der Verzeitlichung des Denkens und
Fühlens im 18. Jh. zu suchen, in grundlegenden Veränderungen und Ambivalenzen der Auffassung von Natur und
Geschichte, die mit der Herausbildung
der Moderne im Zusammenhang stehen:
Während die Aufklärung den Fortschritt als das Ende der Unmündigkeit
feierte, sahen andere, wie Rousseau,
hierin im Gegenteil einen Verlust an
Natur und Freiheit. Die frühromantische Zivilisationskritik entwickelte einen „touristischen Blick“ auf vermeintlich authentische Landschaften und
Kulturen, der bis heute Motivation und
Verhalten der Touristen mit prägt. Zunächst auf kleine, adelig-bildungsbürgerliche Eliten beschränkt, wurde die
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Neustadt i.H. 1827
Kühlungsborn
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1880
Scharbeutz 1830
Travemünde Boltenhagen
1802 i.M. 1803
Binz 1825
Baabe 1896
Göhren 1899
Lubmin
1886
Graal 1820
Müritz 1820
Warnemünde 1805
Rostock
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1824
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Greifswald
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1853
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Nationalatlas Bundesrepublik Deutschland – Freizeit und Tourismus
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* Seebäder, deren Gründungsjahr nicht ermittelt
werden konnte, sind nicht dargestellt.
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Autor: H.Spode
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Hamburg
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© Institut für Länderkunde, Leipzig 2000
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1790 - 1800
1801 - 1820
1821 - 1840
1841 - 1860
1861 - 1880
1881 - 1910
Die Karte 2 zeigt die wichtigsten
Fremdenverkehrsorte in Deutschland
kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Erfasst
sind alle Orte, die mindestens 100.000
Übernachtungen gemeldet hatten. Die
Masse des touristischen Reiseverkehrs
entfiel dabei auf die See- und Kurbäder
(durchschnittliche Aufenthaltsdauer 13
bzw. 9 Tage), wobei die ersteren überwiegend Touristen i.e.S. beherbergten,
während letztere häufig aus medizinischen Gründen aufgesucht wurden. Die
oft fließenden Grenzen zwischen Vergnügungs- und Heilaufenthalt sind statistisch nicht erfassbar. In der Gruppe
der Klein- und Mittelstädte sowie der
Großstädte (durchschnittliche Aufenthaltsdauer jeweils 3 Tage) überwog der
Geschäftsreiseverkehr, doch waren etliche dieser Städte, wie Heidelberg, ganz
auf Besichtigungstourismus eingestellt.
Dieser spielte auch in einigen Großstädten eine wichtige Rolle, wie in Berlin – mit 2,1 Mio. Gästen und 4,9 Mio.
Übernachtungen der Spitzenreiter.
Die Reichsstatistik, auf der die Karte
basiert, registrierte für 1938/39 insgesamt 29 Mio. Anmeldungen und
118 Mio. Übernachtungen, darunter
2,2 bzw. 7,5 Mio. Auslandsgäste (einschl. Ostmark und Sudetengau). Von
den Übernachtungen entfielen auf die
125 erfassten Seebäder 14%, auf die 768
ar
Zeitraum der Gründung
Fremdenverkehr vor dem
Zweiten Weltkrieg
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Familienurlaub auf Rügen 1911
Heilbäder und Kurorte 51%, auf die 356
Klein- und Mittelstädte 12% und auf
die 57 Großstädte 23%. Auf der Karte
nicht enthalten sind die kleineren
Fremdenverkehrsorte und Sommerfrischen. Mit Ausnahme einiger Seebäder
fehlen somit auch jene Orte, die zu diesem Zeitpunkt zumeist von der NS-Freizeitorganisation „Kraft durch Freude“
(KdF) beschickt wurden. Zum einen bevorzugte KdF touristisch unerschlossene
Gebiete, zum anderen das gerade „heim
ins Reich“ geholte Österreich. KdF war
der größte Reiseveranstalter der Welt;
zwischen 1934 und 1939 wurden
7,4 Mio. Urlaubs- und 38 Mio. Kurzreisen verkauft. Hauptmotiv des NS-Regimes war hierbei die Gewinnung der
Loyalität der Arbeiterschaft. Die verkündete „Brechung des bürgerlichen
Reiseprivilegs“ blieb zwar im Ansatz
stecken, doch immerhin erreichte KdF
eine Quote von einem Zehntel am Gesamttourismus und machte in breiten,
vom Tourismus sonst weithin ausgeschlossenen Schichten die Idee des Reisens nachhaltig populär. Generell förderte das NS-Regime den Tourismus
stärker als seine Vorgänger.
60 Jahre später liegt der Reiseverkehr
zahlenmäßig auf einem deutlich höheren Niveau, obwohl auffällt, dass die
meisten 1938/39 populären Ferienorte
auch heute noch viel frequentiert werden. In Südwestfalen, Rheinland-Pfalz
oder Ostbayern sowie im Umkreis von
Ballungsgebieten sind zahlreiche Orte
hinzugekommen, die den Wert von
100.000 Übernachtungen übersteigen.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass heute
etwa zwei Drittel aller Urlaubsreisen ins
Ausland führen.?
litisch eingeleitete Entprivilegisierung
des Reisens wird mit dem Durchbruch
des Massentourismus in den 1960er Jahren weitgehend Wirklichkeit. Zugleich
hat sich die Quote der Auslandsreisen
stark erhöht.
touristische Reise schließlich zu einem
festen Bestandteil der Lebensgestaltung
in den Industrieländern.
Müritz
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Maßstab 1: 2250000
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Tourismus vor dem Zweiten Weltkrieg
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Gebiet der heutigen Bundesrepublik
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Staatsgrenze seit 1990
Ländergrenze 1937
Regierungsbezirksgrenze
1937
Deutschland 1937
Chiemsee
Überlingen
Grainau
Mittenwald
Partenkirchen
Kreuth RottachEgern
Kiefersfelden
Inzell
Ruhpolding
Landesfremdenverkehrsverband (ohne Grenzen)
1938
Grenzen
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© Institut für Länderkunde, Leipzig 2000
Höchenschwand
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Autor: H.Spode
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Bad Wörishofen
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Bad Füssing
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Großstadt 1938
überwiegende Motivation: Geschäftsreise oder Besichtigung,
Aufenthaltsdauer Ø: 3 Tage
versetzte Darstellung bei gleichen oder geringeren Übernachtungszahlen als 1938
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überwiegende Motivation: Geschäftsreise oder Besichtigung,
Aufenthaltsdauer Ø: 3 Tage
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Ortsname 1998
Ortsname 1938
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Heilbad und Kurort 1938
Nordbayern
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Seebad 1938
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Tage
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Ø: 13
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DORTMUND
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Maßstab 1: 2750000
Grenzüberschreitende Kooperationsräume
23
100 km