Schindler Vortrag - SFBB Berlin

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Schindler Vortrag - SFBB Berlin
Vortrag für den Fachtag: 10 Jahre gelebte Sozialraumorientierung in der Berliner Jugendhilfe – Impulse – Eindrücke – Perspektiven am 2. Oktober 2015
Aktueller Veränderungsbedarf des SGB VIII in Bezug auf die
Regelungen zur Finanzierung der Hilfe zur Erziehung
GILA SCHINDLER1
1.
Politische Agenda
Die Kinder- und Jugendhilfe verlangt in den letzten Jahren zunehmend nach der Entwicklung
sozialräumlich orientierter und nicht zuletzt präventiv ausgerichteter Angebote. Was fachlich
überwiegend ein gut begründeter und auch zwischen den freien und öffentlichen Trägern ein
einvernehmlich begehrter Ansatz ist, lässt sich unter den geltenden rechtlichen Regelungen
nicht immer in der gewünschten Form umsetzen. Diese Situation hat in der Politik zu zwei
wichtigen Prozessen geführt:
Die Jugend- und Familienministerkonferenz stellte im Rahmen ihrer Befasisung mt der Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung fest, dass man sich bereits bei der Auslegung der rechtlichen Grundlagen für Finanzierungsmöglichkeiten von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe
– speziell der sozialräumlich orientierten – nicht einig war. Für eine möglichst abschließende
Klärung wurden die Bundesländer Hamburg, Nordrhein-Westfalen, Bayern und RheinlandPfalz mandatiert, ein Rechtsgutachten in Auftrag zu geben. Dieses Gutachten „Finanzierung von
Leistungen in der Kinder- und Jugendhilfe“2 ist an das Deutsche Institut für Jugendhilfe und
Familienrecht in Heidelberg vergeben worden.
Weiterhin heißt es im Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD für die 18. Legislaturperiode: „Die Kinder- und Jugendhilfe soll auf einer fundierten empirischen Grundlage in einem
sorgfältig strukturierten Prozess zu einem inklusiven, effizienten und dauerhaft tragfähigen und
belastbaren Hilfesystem weiterentwickelt werden. Dazu gehören geeignete Finanzierungsmodelle für systemische Unterstützungsformen (z.B. an den Schnittstellen von SGB VIII,
SGB XII, und Schulträger). Wir brauchen starke Jugendämter und eine funktionierende Partnerschaft mit der freien Jugendhilfe. […] Wir werden daher die Steuerungsinstrumente der Jugendämter deutlich verbessern und gleichzeitig die Rechte der Kinder und ihrer Familien sicherstellen, sowie sozialraumorientierte und präventive Ansätze verfolgen. Dazu wollen wir mit
Ländern, Kommunen und Verbänden in einen Qualitätsdialog treten und uns über die Weiterentwicklung in wichtigen Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe verständigen.“
Der Qualitätsdialog hat damit Fahrt aufgenommen und findet seinen Niederschlag u.a. im aktuellen Beschluss der Jugend- und Familienministerkonferenz von 2015 unter TOP 5.1 Weiterentwicklung und Steuerung der HzE. Dort heißt es, dass der mit dem JFMK-Beschluss vom
23./24. Mai 2014 zu den Hilfen zur Erziehung begonnene Prozess zur Weiterentwicklung fortgesetzt wird. Dabei sollen insbesondere die in der Expertise des Deutschen Instituts für Jugendhilfe und Familienrecht e.V. (DIJuF) aufgezeigten gesetzlichen Änderungsvorschläge berücksichtigt werden. Die JFMK bittet das BMFSFJ, unter Beteiligung der Länder Vorschläge für
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Die Referentin ist Rechtsanwältin, Fachanwältin für Sozialrecht, sojura Kanzlei für soziale Sicherheit,
Heidelberg; Die Inhalte basieren auf dem Gutachten, von Meysen, T., Reiß, D., Beckmann, J., Schindler,
G. (2014)
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s. u.: https://www.dijuf.de/buecherbroschueren.html#finanzierung
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Änderungen des SGB VIII zur Entwicklung und Steuerung der Hilfen zur Erziehung bis Ende
des Jahres 2015 vorzulegen.
Nach aktuellen Informationen wird ein Entwurf nicht vor Ende des ersten Quartals 2016 vorgelegt werden.
2.
Grundlagen des Finanzierungsrechts von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe
Die Änderung der rechtlichen Grundlagen ist auf folgenden Vorüberlegungen vorzunehmen:
Mit der Finanzierungssystematik der Kinder- und Jugendhilfe wird nicht lediglich die Bezahlung geldwerter Sach- und Dienstleistungen sichergestellt. Das jugendhilferechtliche Leistungsdreieck beruht vielmehr auf dem Ausgleich einer komplexen Gemengelage staatlicher Verantwortung, individueller Rechte und gemeinwohlorientierter Marktbetätigung, das heißt, es zielt
auf ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Akteuren ab. Bei jeder angestrebten Änderung sollte daher bedacht werden, welche Auswirkungen sie nach sich ziehen kann.
Das geschilderte Gleichgewicht wird bislang vor allem mit dem Subsidiaritätsgrundsatz aufrechterhalten, der da lautet. Die Behörde sieht im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe davon
ab, eigene Einrichtungen und Dienste zu schaffen, wenn diese von der freien Wohlfahrtspflege
vorgehalten werden. Die Autonomie der Träger der freien Wohlfahrtspflege ist in diesem Verhältnis auch oberstes Gebot bei der Finanzierung von Sozialleistungen. Der Koalitionsvertrag
bestätigt dieses Verhältnis nochmals, wenn er von der Achtung der Autonomie und Selbstständigkeit der freien Träger in sinnvoller Kooperation spricht.
Diese Basis des Verhältnisses von öffentlicher und freier Kinder- und Jugendhilfe hat zu einer
Vielfalt von Trägern, Methoden, Inhalten und Arbeitsformen mit unterschiedlicher Wertorientierung geführt, die die Landschaft der Kinder- und Jugendhilfe prägen. Einigkeit besteht, dass
die dem Subsidiaritätsgrundsatz entsprungene plurale, weltanschaulich diversifizierte Angebotsstruktur erhalten bleiben soll – auch wenn Finanzierungsgrundlagen sich ändern mögen.
Zur Begutachtung der Frage, welche Finanzierungsformen aktuell im Bereich der sozialräumlichen Angebote möglich sind, hat das vorgelegte Gutachten des DIJuF das kinder- und jugendhilferechtliche Leistungsdreieck zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen genommen.
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© Meysen, T., Reiß, D., Beckmann, J., Schindler, G. (2014)
Betrachtet man auf dieser Grundlage die Beziehungen zwischen den Akteuren im klassischen
Fall der Gewährung einer Hilfe mit Entscheidung im Einzelfall zur Deckung eines Rechtsanspruchs, so stellen sich diese wie folgt dar:
Der öffentliche Träger entscheidet über eine Hilfe zur Erziehung, auf die ein Rechtsanspruch
besteht. Er entscheidet damit einerseits über die Leistungsgewährung und aktiviert andererseits
das Leistungsverhältnis zwischen Bürger/in und Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Aufgrund
des Subsidiaritätsgrundsatzes löst er diesen Rechtsanspruch nicht selbst ein, sondern nimmt
einen Träger der freien Jugendhilfe in Anspruch. Inhalt, Umfang und Kosten von dessen Leistung wird im Bereich der stationären und teilstationären Hilfen über Vereinbarungen nach § 78a
SGB VIII und bei ambulanten Leistungen nach § 77 SGB VIII geregelt.
Diese klassische Form der Leistungsgewährung entlang des jugendhilferechtlichen Dreiecks ist
im Bereich der Hilfen zur Erziehung dominierend, weil nun einmal auf Hilfe zur Erziehung ein
Rechtsanspruch besteht und in der Regel über eine Einzelfallentscheidung diese Hilfe in Anspruch genommen wird.
Aus diesen Grundsätzen ergibt sich eine rechtliche Unzulässigkeit von Trägerprivilegierungen. Trägerprivilegierung waren in der Praxis bspw. über eine Exklusivität beim Abschluss von
Vereinbarungen nach §§ 77, 78a ff SGB VIII vorgekommen. So gab es Versuche, nur ausgewählte Träger im Sozialraum für den Abschluss von Leistungs- und Entgeltvereinbarungen zu
berücksichtigen. Die Rechtsprechung hat dieser Tendenz eine klare Absage erteilt, da es einen
konditionierten Rechtsanspruch auf den Abschluss entsprechende Vereinbarungen gibt. Wenn
ein freier Träger die Voraussetzungen erfüllt, also vor allem fachlich und wirtschaftlich geeignet
ist, erzieherische Hilfe zu erbringen, hat er auch unmittelbaren Zugang zu diesem „Markt“ sozialer Dienstleistungen. Als ebenso ausgeschlossen hat die Rechtsprechung Bestrebungen angesehen, bestimmten Trägern Mindestbelegungen zuzusagen. In diesem Vorgehen sei nämlich ein
Eingriff in die Berufsfreiheit anderer Träger enthalten. Wenn bestimmte Träger beim Zugang
zur Leistungserbringung bevorteilt werden, führt dies für den Rest automatisch zu einer Benachteiligung, die mit ihrem Recht auf Berufsfreiheit nicht zu vereinbaren ist. Das gleiche Problem
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finden wir auch in Fällen, bei denen Leistungserbringern die Möglichkeit eingeräumt wird, im
Sozialraum gemeinsam mit dem öffentlichen Träger über die Bewilligung von Hilfen mit zu
entscheiden. Auch das ist ein Eingriff in die Berufsfreiheit anderer und wird von der Rechtsprechung daher als ausgeschlossen angesehen.
Auch die Zusicherung eines trägerbezogenen Sozialraumbudgets an ausgewählte Träger ist aus
gleichen Gründen grundsätzlich als rechtswidrig angesehen worden. Wird bestimmten Trägern
ein Budget zur Verwendung und zur Abdeckung von Rechtsansprüchen auf erzieherische Hilfen
innerhalb eines bestimmten räumlichen Bereichs in die Hand gegeben, so stellt auch dies eine
ungerechtfertigte Benachteiligung anderer Träger dar. Dies mag jedoch anders sein, wenn es
sich um sehr kleine Sozialräume handelt. Wenn einem Träger bspw. für seine Tätigkeit in einem
bestimmten Wohnblock oder in einer bestimmten Schule ein Sozialraumbudget zugesichert
wird, bedeutet das möglicherweise keinen Eingriff in die Berufsfreiheit anderer Träger. Denn
auch wenn diese auf gleichem Gebiet tätig sein wollen, so haben sie noch ausreichend andere
Möglichkeiten in nächster räumlicher Umgebung, um ihr Berufsfreiheit ausüben zu können.
Im Grundsatz ist allerdings klar: Das klassische Feld der Hilfen zur Erziehung, bei denen der
Rechtsanspruch über eine Einzelfallentscheidung bestätigt wird, schließt eine Trägerprivilegierung weitgehend aus.
Ein weiterer Grundsatz besagt, dass alle Leistungen, die mit dem Rechtsanspruch abgesichert
sind, in vollem Umfang vom Träger der öffentlichen Jugendhilfe finanziert werden müssen,
weil sich der Rechtsanspruch gegen den Staat richtet und nicht gegen die freien Träger. Folglich
dürfen freie Träger nicht verpflichtet werden mit eigenen Mitteln Rechtsansprüche zu decken.
Es gibt also einerseits einen Anspruch auf den Abschluss kostendeckender Vereinbarungen nach
§ 78b und § 77 SGB VIII und andererseits einen gesicherten „Marktzugang“ für alle freien Träger, die in diesem Feld tätig sein wollen. Dies gilt im Übrigen nicht nur für frei-gemeinnützige,
sondern auch für privat-gewerbliche Träger. Nicht zuletzt weil mit diesem Verhältnis von Finanzierung und Marktzugang das Wunsch- und Wahlrecht und damit ein wesentliches Sozialrecht der Leistungsberechtigten sichergestellt wird, wurde es von der Rechtsprechung immer
wieder mit klaren Worten bestätigt.
Das „hinkende“ jugendhilferechtliche Dreieck
Eine größere Flexibilität ist den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe auf Grundlage des sog.
hinkenden jugendhilferechtlichen Dreiecks eröffnet.
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© Meysen, T., Reiß, D., Beckmann, J., Schindler, G. (2014)
Das „hinkende jugendhilferechtliche Dreieck“ erhält seinen Namen aufgrund der Tatsache, dass
das „Bein“ der Leistungsgewährung im Einzelfall entfällt, wenn der Träger der öffentlichen
Jugendhilfe die niedrigschwellige Inanspruchnahme von Hilfe zulässt. Wenngleich diese Möglichkeit in der Mehrheit der Fälle nur bei der Einlösung objektiv-rechtlicher Pflichten genutzt
wird, kann sie auch im Falle der Einlösung von Rechtsansprüchen ergriffen werden. Grundlage
ist, dass keine Einzelfallentscheidung erforderlich ist, sondern der Träger der öffentlichen Jugendhilfe erfüllt seine Gewährleistungsverantwortung über die Finanzierung einer Infrastruktur,
die von den Berechtigten ohne weitere Barrieren in Anspruch genommen werden kann.
Wesentliche Finanzierungsregelung infrastruktureller Angebote ist § 74 SGB VIII. Mit dieser
Regelung besteht die Möglichkeit der pauschalen Objektfinanzierung. Der Zugang von privatgewerblichen Trägern zu dieser Finanzierung ist ausgeschlossen, da die Vorschrift nicht nur die
Einbringung von Eigenleistungen, sondern vor allem die Anerkennung als Träger der freien
Jugendhilfe voraussetzt.
Die Finanzierung nach § 74 SGB VIII umfasst klassisch die Unterstützung der Erziehung in der
Familie nach § 16 SGB VIII, also einer Regelung die keinen individuellen Rechtsanspruch eröffnet, sondern eine objektiv-rechtliche Verpflichtung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe
enthält. Beispiele hierfür sind Eltern-Cafés als Angebot für Eltern im Sozialraum, die die Möglichkeit bekommen sollen, sich zum Austausch zu treffen und sich dort beraten zu lassen, oder
der Abenteuerspielplatz für die im Sozialraum lebenden Kinder und Jugendlichen.
Dieser Bereich der niedrigschwelligen Inanspruchnahme und des damit einhergehenden Einflusses auf die Gestaltung des Sozialraums ist rechtlich dadurch gekennzeichnet, dass hier eine
Trägerauswahl durch den Träger der öffentlichen Jugendhilfe erfolgen darf. Denn die Finanzierung ist mit dem jeweiligen Haushalt der Kommune gedeckelt. Wenn die Mittel nicht für alle
Angebote ausreichen, kann der öffentliche Träger zwischen gleichgearteten Angeboten auswählen (§ 74 Abs. 3 SGB VIII).
Die Gestaltungsmöglichkeit lässt sich auch bei einer Finanzierung nach § 77 SGB VIII übertragen. Der § 77 SGB VIII war früher die Grundnorm aller Finanzierungsregelungen. Mit der Im5
plementierung des modernen Finanzierungsrechts in §§ 78a ff. SGB VIII, blieb die Regelung
quasi als Relikt erhalten, der in der Regel für Vereinbarungen über Leistungen und Entgelt ambulanter erzieherischer Hilfen genutzt wird. Allerdings ist rechtlich keineswegs gesetzt, dass die
Norm ausschließlich für den Bereich des aktivierten jugendhilferechtlichen Leistungsdreiecks
genutzt wird. Vielmehr spielt sie vor allem dann eine Rolle, wenn Leistungen zwar nach Einzelfällen abgerechnet werden sollen, ohne dass aber eine Leistungsgewährung im Einzelfall vorliegt. So verhält es sich bspw. bei der Erziehungsberatung. Dieses – auch als Hilfe zur Erziehung einsetzbares – Angebot, soll überwiegend niedrigschwellig in Anspruch genommen werden. Die Betroffenen entscheiden also autonom über die Erforderlichkeit der Leistung. Der
Leistungserbringer rechnet die Leistung in der Regel mit dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe auf Grundlage von § 77 SGB VIII nach Einzelfällen ab.
Wenn die Jugendhilfeplanung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe zur Gestaltung des Sozialraums die Vorstellung beinhaltet, freie Träger einzubeziehen und zu fördern, die besonders
innovativ und kreativ sind sowie gute Qualität liefern, kann diese Vorstellung im Bereich der
öffentlich-rechtlichen Verpflichtungen also mit der Objektfinanzierung nach § 74 SGB VIII
umgesetzt werden. Nach Auffassung der Autor/innen/en des Finanzierungsgutachtens kann eine
solche Trägerauswahl auch im Bereich der Finanzierung von Einzelfällen nach § 77 SGB VIII
in analoger Anwendung des § 74 SGB VIII möglich sein, wenn keine Leistungsgewährung im
Einzelfall erfolgt, sondern die niedrigschwellige Inanspruchnahme gefördert wird.
Die Idee der Möglichkeit direkter Inanspruchnahme von Hilfen hat der Gesetzgeber mit § 36a
Abs. 2 SGB VIII geregelt. Demnach soll das Jugendamt niedrigschwellige Inanspruchnahme
von Angeboten der Erziehungsberatung und anderer vergleichbarer Beratungsleistungen ermöglichen. Wenn aufgrund dieser Formulierung bislang fast ausschließlich Erziehungsberatung auf
diese Weise ermöglicht wird, so bestehen grundsätzlich weitergehende Pflichten aber in jedem
Fall eine umfassendere Zulässigkeit bei der Ermöglichung niedrigschwelliger Inanspruchnahme.
Denn das Gesetz benennt die Erziehungsberatung lediglich als exemplarische Möglichkeit. Hier
ist Raum für Innovation. Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe kann insgesamt in einem wesentlich weiteren Umfang die direkte Inanspruchnahme unterstützen. Ausgehend von der Zielsetzung des Koalitionsvertrags, demnach gerade die präventiven Hilfen gestärkt werden sollen,
sollten Hilfezugänge gerade nicht abhängig davon gemacht werden, dass zunächst eine Entscheidung im Einzelfall durch das Jugendamt erfolgen muss.
Ist es also nicht nur möglich, sondern geradezu gewünscht, die niedrigschwellige Inanspruchnahme über das klassische Feld der Erziehungsberatung hinaus auszubauen, so soll hier doch
ein Blick auf die Grenzen dieser Möglichkeiten gelegt werden. Diese liegen bei der Frage, wann
eine Einzelfallentscheidung zwingend ist. Nach den gesetzlichen Vorgaben ist dies dann der
Fall, wenn eine Pflicht zur Hilfeplanung besteht oder eine Pflicht, über die Wirkung von Hilfen
aufzuklären. Das gilt gemäß § 36 Abs. 1 und 2 SGB VIII für alle Hilfen, die über eine längere
Zeit angelegt sind oder die eine besondere Intensität aufweisen. Bei jeder stationären Unterbringung – selbst wenn sie nicht den Zeitrahmen der Hilfeplanung erreichen sollte – besteht also
eine Aufklärungspflicht, weil sie eine sehr intensive Hilfe darstellt. Daher ist eine unmittelbare
Inanspruchnahme stationärer Unterbringung ohne Hilfeplanung nicht zulässig.
Auf Grundlage des geltenden Rechts ist auch eine in der Fachdiskussion angedachte „Hilfeplanung light“ nicht zulässig, bei der der Träger der öffentlichen Jugendhilfe nur im geringen Maße
die Steuerung vornimmt und keine Einzelfallentscheidung fällt.
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© Meysen, T., Reiß, D., Beckmann, J., Schindler, G. (2014)
Der unabweisbare Vorteil der Ermöglichung direkter Inanspruchnahme liegt also in der hohen
Flexibilität und in den vielfältigen Möglichkeiten, den Sozialraum zu gestalten. Diese Erkenntnis widerspricht auch der Vorstellung, dass man Hilfe ausschließlich über Einzelfälle steuert.
Der öffentliche Träger kann stattdessen für seinen Sozialraum Prioritäten setzen, eine ausreichende Auswahl von Angeboten vorhalten und kann so über die gezielte Einbeziehung und
Förderung von bestimmten Trägern die Angebote im Sozialraum qualifizieren und steuern.
Die grundsätzlich mögliche Trägerprivilegierung auch bei einer Einzelfallfinanzierung – im
Falle eines direkten Zugangs ohne Einzelfallentscheidung – ist bisher von der Rechtsprechung
noch nicht bestätigt worden. Im Bereich der Einzelfallfinanzierung mit direktem Zugang bewegen wir uns daher noch in einer rechtlichen Grauzon.
Ausschreibung von Leistungen nach SGB VIII?
Beim Thema der Trägerprivilegierung ist ein kurzer Blick auf die Möglichkeit der Ausschreibung von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nach Vergaberecht zu werfen, die in der Praxis immer wieder diskutiert wird. Nach der herrschenden Meinung in der Rechtswissenschaft
und auch nach der Rechtsprechung sind Ausschreibungen nach Vergaberecht im Bereich des
direkt aktivierten jugendhilferechtlichen Dreiecks, das von der Einzelfallentscheidung und dem
Rechtsanspruch geprägt ist, verboten. Dies ist völlig unstreitig.
Doch auch in dem Bereich des „hinkenden jugendhilferechtlichen Leistungsdreiecks“ sind Ausschreibungen nach ganz herrschender Meinung nicht zulässig. Grund für diese Bewertung ist
das Subsidiaritätsprinzip in der Kinder- und Jugendhilfe, mit dem das Zusammenwirken von
freien und öffentlichen Trägern der Jugendhilfe und die Achtung der Autonomie der freien Träger in der Kinder- und Jugendhilfe zu der gebotenen vielfältigen Angebotslandschaft führt, die
grundsätzlich erhalten bleiben soll. Diese Struktur impliziert neben weiteren Bewertungen vor
allem auch die Aussage, dass die freien Träger keinen Auftrag des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe erfüllen. Freie Träger erfüllen vielmehr eine eigene, selbst gewählte Aufgabe, sie
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definieren mit ihrem pädagogischen Angebot, welche Leistungen sie erbringen und wie sie inhaltlich-pädagogisch diese Leistungen begleiten und verantworten. Die Logik der Ausschreibung, die im Falle der Dienstleistungen bedeuten muss, dass sich der Staat „Fertigleistungen“
von freien Trägern einkauft und sie zur Erfüllung von Rechtsansprüchen den Bürgern unverändert zur Verfügung stellt, kann auf dieses Verhältnis nicht übertragen werden. Damit entfiele die
Autonomie der freien Leistungserbringer, denn allein der öffentliche Träger würde Inhalt, Art
und Umfang der Leistung bestimmen.
Solange also der Grundsatz der Subsidiarität mit dem sich daraus ergebenden Verhältnis zwischen öffentlicher und freier Jugendhilfe Grundlage der Leistungsgewährung der Kinder- und
Jugendhilfe ist, solange sind Ausschreibungen nach Vergaberecht ausgeschlossen.
3.
Systematik der Finanzierungsformen nach SGB VIII und ihre Bedeutung für sozialraumorientierte Angebote
Nach den vorgegangenen Schilderungen unterscheiden wir die Finanzierungsmöglichkeiten also
maßgeblich danach, ob eine Einzelfallentscheidung des Jugendamtes ergangen ist bzw. ergehen
muss oder ob eine direkte Inanspruchnahme ermöglicht wurde.
© Meysen, T., Reiß, D., Beckmann, J., Schindler, G. (2014)
Diese Finanzierungsformen sind grundsätzlich streng getrennt zu halten. Dies führt allerdings
dann zu Schwierigkeiten, wenn sozialräumliche Angebote und Hilfen mit Kompetenzen der
Hilfen zur Erziehung als Mischformen fester Bestandteil von Angeboten der Kinder- und Jugendhilfe im Sozialraum werden sollen. Denn hier sind Mischformen der Finanzierung ausgeschlossen, um den Schutz der Subjektfinanzierung zu sichern und den Grundsatz der vollen
Ausfinanzierung rechtsanspruchgestützter Hilfen nicht zu verwässern.
Zur Erläuterung werden die folgenden Typen von Mischformen als Modelle zugrunde gelegt.
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Im Fall der infrastrukturellen Pauschalfinanzierung eines Angebotes nehmen wir uns zunächst
eine Förderfinanzierung nach § 74 SGB VIII vor. Ein Eltern-Café dient als Treffpunkt für Eltern
und Familien. Diese können im Einzelfall Beratungsbedarfe haben, die im Eltern-Café erfüllt
werden. Diese Leistung wird im Wege der Pauschalfinanzierung gefördert. Nun möchte der
Träger die entstandenen Bindungen zwischen den dort arbeitenden Sozialarbeiter/innen, Erzieher/innen und den Familien auch und gerade dann nutzen, wenn der Hilfebedarf einzelner Familien eine Grenze erreicht, an der Kontakt zum Jugendamt besteht und eine Einzelfallentscheidung über die Gewährung einer Hilfe getroffen wird. Die Hilfegewährung könnte auch über das
Eltern-Café erfolgen, weil die Fachkräfte dort befähigt und geeignet sind, Einzelfallarbeit im
Sinne von SPFH, einer vertieften, intensiveren Beratung oder Erziehungsbeistandschaft zu leisten.
Handelt es sich um Einzelfallhilfen mit einer Jugendamtsentscheidung in sehr geringem Umfang, sind die Kosten dieser Leistung über die Pauschalfinanzierung abgedeckt. Das Wunschund Wahlrecht wird hierbei nicht eingeschränkt, denn die Eltern können die Hilfe auch von
anderen Trägern in Anspruch nehmen. Die besondere Infrastruktur im Sozialraum liegt jedoch
in ihrem eigenen Interesse und es ist eine besonders geeignete Hilfe für sie, die in der Regel
angenommen wird. Da es sich um einen kleinen Sozialraum mit diesem einen Angebot handelt,
stellt sich auch nicht die Frage der Verletzung der Berufsfreiheit anderer Träger, die in diesem
Fall vom Markt ausgeschlossen werden könnten. Daher ist dieser Bereich mit einem kleinen
Anteil an erzieherischen Hilfen in aller Regel rechtmäßig umzusetzen. Das wird auch bereits so
praktiziert, aber kaum offensiv genutzt.
Dies liegt allerdings nicht zuletzt daran, dass Probleme dann entstehen, wenn bei einer Sockelfinanzierung über die Förderung nach § 74 SGB VIII aufstockend eine große Anzahl von Einzelfällen geleistet werden sollen. In diesem Beispiel werden das Eltern-Café und der Abenteuerspielplatz vom Jugendamt mit der Vorstellung finanziert, dass die Kompetenz zur Erbringung
erzieherischen Hilfen regelhaft dort eingebracht wird. Der Träger verfügt über die geeigneten
Fachkräfte, die sowohl niedrigschwellige infrastrukturelle Leistungen als auch Erziehungshilfe9
leistungen erbringen können. Der Träger benötigt für die intensivere erzieherische Hilfe für eine
bestimmte Familie, die bereits als Nutzer des Eltern-Cafés und des Spielplatzes die dort tätigen
Sozialarbeiter kennt, eine weitergehende Finanzierung. Wird bspw. eine flexible Hilfe im Sinne
einer SPFH mit Hausbesuchen über eine längere Zeit als erforderlich angesehen, benötigt der
Träger umfängliche Ressourcen, um dies ohne Einbußen in seiner infrastrukturellen Arbeit leisten zu können. Wenn ein freier Anbieter in diesem Bereich nun einerseits eine Sockelfinanzierung erhält und sich andererseits über Einzelfälle finanziert, stellt das den klassischen Fall der
Mischfinanzierung dar, der zur Etablierung des Angebots unvermeidbar ist.
Durch die Sockelfinanzierung werden Räume und fest angestellte Fachkräfte finanziert, die
nicht allein für die infrastrukturellen Hilfen genutzt werden, sondern auch für die Bearbeitung
der Fälle mit Einzelfallentscheidung des Jugendamtes. Die Kosten der Infrastruktur sind damit
kalkulatorisch von den Kosten einer Einzelfallhilfe nicht zu trennen. Für die Einzelfallhilfe wären theoretisch anteilig Leistungen als Kostenfaktor zu berechnen, die bereits durch die Sockelfinanzierung ausfinanziert sind. Diese rein faktische Unmöglichkeit führt dazu, dass dies nicht
nur ein Grau-, sondern ein klassischer Schwarzbereich der bisherigen Finanzierungsregelungen
ist. Die Sockelfinanzierung erfolgte zulässigerweise über eine Trägerauswahl. Das bewirkt, dass
die Einzelfälle, die dort bearbeitet werden, in der Regel kostengünstiger erbracht werden können. Da die Finanzierung von erzieherischen Hilfen aber nicht mehr nur einzelne, wenige bzw.
weniger intensive Fälle betrifft, könnten andere Träger nun den Eingriff in ihre Berufsfreiheit
beklagen, da sie von einer solchen kostengünstigen Angebotsmöglichkeit ausgeschlossen werden. Selbstverständlich können sie zwar vergleichbare Leistungen im Einzelfallbereich erbringen, müssten dies jedoch zu einem erheblich höheren Kostensatz anbieten, so dass Berechtigte
mit ihrem Wunsch- und Wahlrecht für diese Träger ausgeschlossen werden, weil sie über den
Mehrkostenvorbehalt hinausgehen.
Es ist allerdings rechtlich möglich, innerhalb einer Einzelfallfinanzierung Infrastrukturleistungen zusätzlich zu kalkulieren: Im Bereich der ambulanten Leistungen gibt es die klassische
Währung der Fachleistungsstunde. Mit ihr können Netzwerkarbeit und andere zusätzliche, fallunspezifische Tätigkeiten kalkuliert werden, so dass sozialräumliche Arbeit mit finanziert wird,
allerdings in diesem Fall anteilig über die Kosten der Einzelfälle. Das bedeutet allerdings, dass
eine Fachleistungsstunde mitunter wesentlich teurer wird. Sowohl die Leistungsträger als auch
die Leistungsanbieter begeben sich ungern auf dieses Eis. Die Leistungsträger müssen gegenüber dem Kämmerer exorbitant höhere Stundensätze rechtfertigen, während die freien Träger
auf die Kontinuität des politischen Willens der Kommune angewiesen sind. Da sie im Vergleich
zu anderen Trägern deutlich teurer sind, können sie sich ohne die Förderung der Träger der öffentlichen Jugendhilfe auf dem Markt nicht autonom behaupten.
Ein weiteres Beispiel für fachliche und finanzierungsrechtliche Mischformen von Angeboten
findet sich bei der verknüpften Angebotsgestaltung zwischen erzieherischen Hilfen und
Tageseinrichtungen oder Schulen. Hier werden Kooperationsbeziehung aus vielfältigen
fachpolitischen Gründen in besonderer Weise angestrebt.
Tageseinrichtung/
Schule
Tageseinrichtung/
Schule
Poolbildung
(z.B. Pauschalfinanzierung nach § 74 oder
§ 77
fallübergreifende
Arbeit und Einzelfallhilfen (z.B.
Pauschalfinanzierung)
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Tageseinrichtung/
Schule
vorwiegend
Einzelfallhilfen
mit oder ohne
Jugendamtsentscheidung
(z.B. Fachleistungsstunde mit
Infrastruktur
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Die Pauschalfinanzierung nach § 74 oder § 77 SGB VIII wird zunehmend genutzt, um Kooperationen in und mit Schulen oder Tageseinrichtungen zu gestalten. Ausgehend von der Feststellung, dass Ressourcen der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII in umfänglicher Weise für
die Teilhabe an Kindertagesbetreuung und schulischer Bildung erforderlich sind, erscheinen
gezielte Kooperationen zielführend, um fachlich sinnvolle Leistungsgewährungen zu ermöglichen. Statt Einzelfallfinanzierung soll der Schule oder der Kita ein Pool von Fachkräften zur
Verfügung gestellt werden, die vor Ort fallunabhängig und bedarfsspezifisch Kinder in Klassen
oder Gruppen unterstützen können.
Auf Grundlage des Finanzierungsrechts stellt sich bei den Hilfen nach § 35a SGB VIII jedoch
das Problem, dass diese grundsätzlich nicht im niedrigschwelligen Bereich anzusiedeln sind.
Der Behinderungsbegriff geht von der Voraussetzung aus, dass der Gesundheitszustand mindestens ein halbes Jahr lang abweichend sein muss. Angesichts des voraussichtlich dauerhaften
Hilfebedarfs ist auf Seiten des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe in der Regel eine Hilfeplanung aufzunehmen. Dies schließt wiederum die Niedrigschwelligkeit regelhaft aus. Insofern
muss diese Hilfe stets über eine Einzelfallentscheidung des Jugendamtes gewährt und mit einer
Hilfeplanung begleitet werden. Eine Pauschalfinanzierung nach § 74 SGB VIII ist daher in diesem Bereich nicht zulässig.
Dasselbe gilt für den Bereich der Schulsozialarbeit. Die Schule oder die Kindertageseinrichtung
bildet das Ausgangsmodell, von dem aus die entsprechenden Kontakte geknüpft werden, wie es
sich auch in Einrichtungen wie dem Eltern-Café abspielt. Die Sozialpädagogen vor Ort werden
pauschal finanziert und können im Einzelfall bei Bedarf intensiver eingesetzt werden. Hier gelten dieselben rechtlichen Bedenken wie bei den vorangehend geschilderten Fällen.
4.
Rechtliche Entwicklung
Mit den vorangehenden Erörterungen sollte einerseits deutlich werden, dass bereits jetzt einige
Spielräume in Bezug auf die Zusammenführung von infrastrukturellen Leistungen und besonderer Kompetenz der Hilfen zur Erziehung existieren. Zugleich dürfte ebenso deutlich geworden
sein, dass dem in der Umsetzung gerade bei der Finanzierung sinnvoller gemischter Hilfen so
viele rechtliche Probleme gegenüberstehen, dass es nicht verwundert, dass die Praxis sich hier
nur schleppend entwickeln kann.
Vorschläge für rechtliche Änderungen liegen daher nahe und wurden mit dem Gutachten im
Schwerpunkt insbesondere wie folgt erarbeitet:
Auswahlverfahren
Wenngleich die Ausschreibung von Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nach Vergaberecht
kein Weg der Kinder- und Jugendhilfe sein kann, so ist jedoch über eine Einführung eines Auswahlverfahrens im Sinne eines jugendhilfespezifischen Bewerbungsverfahrens nachzudenken.
Bedenkenswert ist insbesondere die stärkere Nutzung des § 74 SGB VIII, der bislang eine Auswahl nach Ermessen des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe ermöglicht und der künftig mit
zusätzlichen spezifischen Kriterien unterlegt werden sollte, die für eine solche Trägerauswahl
erfüllt sein müssen. Das heißt, es sollte eine Normierung konkreter gesetzlich (beispielhaft)
aufgelisteter Förderungsvoraussetzungen für bestimmte Maßnahmen erfolgen.
Die Trägerauswahl könnte auf weitere Formen über die Pauschalfinanzierung hinaus für Leistungen mit einer sozialräumlichen Anbindung im Bereich der einzelfallgestützten Anspruchsleistungen ausgeweitet werden, um die kreative Weiterentwicklung von Angeboten zu fördern.
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Stärkung der Jugendhilfeplanung
Angebote der direkten Inanspruchnahme verlangen nach einer Steuerung über die Jugendhilfeplanung – die Steuerung geht vom Einzelfall weg hin zu dem, was im Sozialraum gebraucht
wird.
Die Einbindung der spezifischen Kompetenzen des ASD in die Jugendhilfeplanung kann zu
einer Stärkung der sozialräumlichen Angebote führen.
Das Wunsch- und Wahlrecht der Betroffenen wäre ggf. so zu formulieren, dass Mehrkosten
wegen der Finanzierung sozialräumlicher Arbeit nicht zur Ablehnung führen dürfen.
Förderung von Kooperation
Aufnahme der integrierten Zusammenarbeit erzieherischer Hilfen mit Tageseinrichtungen und
Schulen als ein Kriterium für eine zulässige Trägerauswahl.
Finanzierungsanreize für Kooperationen.
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