Abiturprüfung 2011

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Abiturprüfung 2011
Abiturprüfung 2011
Hinweise zur Korrektur und Bewertung
der Abiturprüfungsarbeiten in
GESCHICHTE
als Leistungskursfach
bzw. als Teilfach des Leistungskursdoppelfachs
SOZIALKUNDE/GESCHICHTE
Nicht für den Prüfling bestimmt!
Die Lösungsvorschläge lassen sachlichen Gehalt, Art und Niveau der Beantwortung erkennen, ohne den Anspruch zu erheben, die einzig mögliche Lösung zu
sein.
Bei der Leistungsbewertung ist neben den inhaltlichen Aspekten (z. B. fachspezifisches Wissen, angemessene Begrifflichkeit, Methodenkompetenz) auch die Qualität der Darstellung angemessen zu berücksichtigen.
Die Angabe der Bewertungseinheiten für die Teilaufgaben ist verbindlich.
2
Umrechnung der erreichten Bewertungseinheiten in Notenpunkte:
1. In Geschichte als nicht kombiniertem Leistungskursfach werden die in den beiden Aufgaben erreichten Bewertungseinheiten addiert und nach folgender Tabelle in Notenpunkte umgesetzt:
Notenpunkte
Notenstufen
15
14
13
12
11
10
9
8
7
6
5
4
3
2
1
0
+1
1
1–
+2
2
2–
+3
3
3–
+4
4
4–
+5
5
5–
6
Bewertungseinheiten
120 – 115
114 – 109
108 – 103
102 – 97
96 – 91
90 – 85
84 – 79
78 – 73
72 – 67
66 – 61
60 – 55
54 – 49
48 – 41
40 – 33
32 – 25
24 – 0
Intervalle in %
15
15
15
15
20
20
3
2. Im Leistungskursdoppelfach Sozialkunde/Geschichte werden die in der Aufgabe für das jeweilige Teilfach erzielten Bewertungseinheiten nach folgender Tabelle in die Notenpunkte für das jeweilige Teilfach umgesetzt:
Notenpunkte
15
14
13
12
11
10
9
8
7
6
5
4
3
2
1
0
Notenstufen
+1
1
1+2
2
2+3
3
3+4
4
4+5
5
56
Bewertungseinheiten
60 – 58
57 – 55
54 – 52
51 – 49
48 – 46
45 – 43
42 – 40
39 – 37
36 – 34
33 – 31
30 – 28
27 – 25
24 – 21
20 – 17
16 – 13
12 – 0
Intervalle in %
15
15
15
15
20
20
Es ist nicht zulässig, die in den Teilfächern erzielten Bewertungseinheiten zu
addieren und eine Gesamtpunktzahl für das Leistungskursdoppelfach aus der
120-BE-Tabelle zu ermitteln.
4
I
DIE AUSEINANDERSETZUNG MIT NATIONALSTAATLICHEN UND
FREIHEITLICH-DEMOKRATISCHEN ORDNUNGSVORSTELLUNGEN
IN DEUTSCHLAND
1
Entwicklung der Bedeutung des Reichstags im politischen System des Deutschen Reiches:
- Stellung des Reichstags in der Verfassung, z. B.:
• demokratisch gewähltes Gesetzgebungsorgan u. a. mit Gesetzesinitiativ- und Budgetrecht,
• Gesetzesbeschlüsse nur gemeinsam mit Bundesrat; keine effektiven
Kontrollrechte gegenüber Reichskanzler,
• Schwäche des Reichstags z. B. durch Auflösungsbestimmungen, Septennat;
- Bedeutungszunahme des Reichstags bis 1914 wegen steigendem Gesetzgebungsbedarf; wachsende Schwierigkeiten des Reichskanzlers zur
Mehrheitsgewinnung, z. B. durch steigende Mandatszahlen für SPD;
- Bedeutungsverlust des Reichstags durch Selbstbeschränkung bei
Kriegsausbruch („Burgfrieden“) und quasi-diktatorische Stellung der
OHL seit 1916;
- Rückgewinnung politischen Einflusses im weiteren Verlauf, insbesondere durch Interfraktionellen Ausschuss;
- Parlamentarisierung kurz vor Kriegsende („Oktoberreformen“).
2.1
Grundpositionen des Zentrums:
- grundsätzliche Akzeptanz der bestehenden Ordnung, erkennbar z. B. an
scharfer Verurteilung der Attentate auf Kaiser Wilhelm I. und Aufruf zur
Teilnahme an den Wahlen;
- einerseits Ablehnung des Sozialismus als Bedrohung für Eigentum und
soziale Ordnung, andererseits Eintreten für staatliche Sozialpolitik;
- Gegnerschaft zum Liberalismus als Verursacher religiösen und sittlichen
Verfalls;
- Überzeugung von der Bedeutung christlicher Werthaltungen zur Stabilisierung der öffentlichen Ordnung, deshalb Hervorhebung des Stellenwerts kirchlicher Autonomie im Gegensatz zu den bestehenden gesetzlichen Beschränkungen („Kulturkampf“);
- Verpflichtung des Staats zur Beachtung verfassungsmäßiger Rechte und
Freiheiten sowie des Föderalismus;
- Wirtschaft: Mittelweg zwischen Marktliberalismus und staatlichen Eingriffen: zum einen Stärkung aller Bereiche der Wirtschaft vor allem aber
von Handwerk und Mittelstand als Aufgabe der Wirtschaftspolitik; zum
5
anderen staatliche Zurückhaltung bei Steuererhebung und Reichsausgaben insbesondere Militäretat.
2.2.
Politische Situation 1878, z. B.:
- Bestehen zahlreicher, v. a. gegen die katholische Kirche gerichteter gesetzlicher Bestimmungen als Folge des „Kulturkampfs“ seit 1871;
- entgegen Bismarcks Intentionen im „Kulturkampf“ keine Schwächung
des Zentrums in den zurückliegenden Wahlen;
- Attentate auf Wilhelm I. als willkommener Anlass für Bismarck zur
Reichstagsauflösung und der beabsichtigten innenpolitischen Kurskorrektur: Sozialistengesetz, Reichsfinanzreform, Protektionismus;
- Bedeutungsverlust der Nationalliberalen in den Reichstagswahlen von
1878, Stärkung des Konservatismus;
- Überlegungen Bismarcks zu einer Einbindung des Zentrums („Schaukelstuhlpolitik“), auch ermöglicht durch beginnende Aussöhnung mit dem
Papsttum.
Anhaltspunkte für eine Zusammenarbeit mit Bismarck, z. B.:
- positive Haltung zur Monarchie;
- gemeinsame Gegnerschaft zu Liberalismus und Sozialdemokratie;
- Interesse an einer Veränderung der Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie
an staatlichen Initiativen zur Lösung der „sozialen Frage“.
Hindernisse, z. B.:
- bestehender „Kulturkampf“;
- Bedeutung von Freiheits- und Grundrechten (Ablehnung des „Sozialistengesetzes“ durch das Zentrum);
- Heeresetat: Umfang und Modalitäten der Festlegung.
3
Die Diskussion kann anhand folgender Aspekte erfolgen:
- einerseits grundsätzliche Gegnerschaft des Zentrums zum religionsfeindlichen Nationalsozialismus; zudem geringe Wahlerfolge der Nationalsozialisten in Regionen mit katholischer Mehrheit;
- andererseits vereinzelte Angebote von Zentrumspolitikern zur Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten als Folge von Fehleinschätzungen;
- einerseits Zustimmung des Zentrums zum Ermächtigungsgesetz als faktische Unterstützung Hitlers;
- andererseits Konflikte des Zentrums mit der NS-Regierung bis zur erzwungenen Selbstauflösung;
- einerseits Abschluss des Konkordats mit dem NS-Regime und dessen
Beibehaltung;
- andererseits offene Kritik am Nationalsozialismus durch päpstliche Enzyklika „Mit brennender Sorge“ 1937;
6
- einerseits Ausbleiben eines breit organisierten Widerstands der katholischen Kirche gegen den nationalsozialistischen Staat trotz seines zunehmend erkennbaren Unrechtscharakters, z. B.
• längere Zeit kaum Äußerungen zur politischen und rassistischen Verfolgung,
• kirchlicher Widerstand gegen den Nationalsozialismus auch während
des Kriegs häufig Sache Einzelner;
- andererseits Selbstbehauptung der katholischen Kirche gegen „Gleichschaltung“ und religionsfeindliche Politik; Beispiele individuellen Widerstands von Geistlichen und Laien z. T. unter Einsatz des eigenen Lebens, z. B.
• Mitarbeit im Kreisauer Kreis,
• erfolgreicher Widerstand gegen die Ermordung Behinderter durch
Münsteraner Bischof Graf Galen.
Die Diskussion muss eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Thema erkennen lassen. Dabei müssen die allgemeinen Schwierigkeiten des
Widerstands gegen das Gewaltregime des Nationalsozialismus zur angemessenen Beurteilung herangezogen werden.
7
II
DIE INDUSTRIALISIERUNG –
BEDINGUNGEN UND FOLGEN IN STAAT UND GESELLSCHAFT
1
Entwicklung, z. B.:
- Ansätze während der Revolutionszeit, nachfolgende Unterdrückung;
- Gründung von Arbeiterbildungsvereinen seit den 1830er Jahren;
- Entstehen von Arbeiterparteien in den 1860er Jahren: Lassalles Allgemeiner deutscher Arbeiterverein (1863), Bebels und Liebknechts Sozialdemokratische deutsche Arbeiterpartei (1869);
- Vereinigung zur Sozialistischen Arbeiterpartei 1875;
- Entwicklung von Gewerkschaften.
Zielsetzungen, z. B.:
- politische Partizipation des Proletariats und demokratische Umgestaltung
durch Reformen oder Revolution;
- Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiterschaft;
- Solidarität der Arbeiterschaft, z. B. bei Streiks;
- sozialistische Wirtschaftsform (Überführung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum).
2.1
Motive für die Gesetzesvorlage, z. B.:
- Bekämpfung der revolutionären Tendenzen nicht allein durch das Sozialistengesetz, sondern auch durch Verbesserung der Lage der Arbeiter;
- Notwendigkeit gesetzgeberischer Maßnahmen trotz zu erwartender
Lohnzuwächse;
- Verpflichtung des Staats auf Grundsätze von Humanität und Christentum: Fürsorge für die Bedürftigen ebenso Staatszweck wie die Verteidigung von Recht und Besitz;
- Verbreitung einer positiven Haltung zum Staat auch unter der besitzlosen Mehrheit;
- Weiterführung der früheren staatlichen Armenfürsorge als notwendiges
„sozialistisches Element“;
- Vorrang der Sicherung der öffentlichen Ordnung vor Kostenbedenken;
- Initiativcharakter des Gesetzes für weitere Sozialgesetzgebung.
2.2
Analyse der Statistik, z. B.:
- mehr als Verdoppelung der Durchschnittseinkommen der Arbeitnehmer,
insbesondere seit dem Ende des 19. Jahrhunderts (Spalte 2);
- nahezu Preisstabilität bei Nahrungsmitteln bis zur Jahrhundertwende,
dann moderater Preisanstieg (Spalte 3);
8
- Anstieg der Summe der Arbeitseinkommen auf mehr als das Viereinhalbfache (Spalte 4); Erklärung der Differenz zu Spalte 2 z. B. durch die
wachsende Zahl der Arbeiter im Industrialisierungsprozess und überproportionales Wachstum von Angestellten- und Unternehmereinkommen
aus Arbeit;
- stärkerer Anstieg der Summe der Kapitaleinkommen im Vergleich zu
den Arbeitseinkommen seit den 1890er Jahren.
Interpretation in Bezug auf die Entwicklung der Lebensverhältnisse der Arbeiterschaft, z. B.:
- Anstieg der Realeinkommen insbesondere in der Phase der Hochkonjunktur nach 1895; dabei Berücksichtigung des sehr niedrigen Ausgangsniveaus notwendig;
- Zurückbleiben der Lohnentwicklung gegenüber den erheblich größeren
Zuwächsen der Kapitaleinkommen im selben Zeitraum; dadurch weitere
Auseinanderentwicklung der Einkommensverhältnisse;
- insgesamt Widerspiegelung sowohl einer Verbesserung der Lebenssituation der Arbeiterschaft als auch der Fortexistenz sozialen Ungleichgewichts.
2.3
Die Frage nach dem Ausmaß der Integration der Arbeiterschaft in die Gesellschaft des Kaiserreiches kann anhand der folgenden Kriterien beantwortet werden:
- einerseits integrierende, andererseits desintegrierende Wirkungen der in
M2 dargestellten Entwicklungen;
- weitere ungelöste soziale Probleme, z. B. Wohnungsnot, Arbeitszeiten;
- einerseits positive Wirkung der Sozialgesetzgebung (Sozialversicherung,
effektives Verbot der Kinderarbeit), andererseits deren geringes Ausmaß
(z. B. niedrige Leistungen, Fehlen einer Arbeitslosenversicherung); insgesamt Zurückbleiben der Wirkung gegenüber den in M1 geäußerten
Erwartungen;
- vorhandene, aber begrenzte Wirkung kirchlicher und betrieblicher Sozialfürsorge;
- zunehmende Akzeptanz der Gewerkschaften (z. B. erste Tarifverträge),
jedoch Deutlichwerden erheblicher sozialer Spannungen z. B. an langen
und zahlreichen Arbeitskämpfen;
- problematische gesellschaftliche Position der Arbeiterschaft: Klassenschranken, kaum Aufstiegschancen, Diffamierung der Sozialdemokraten
als „Reichsfeinde“;
- trotz gewisser Verbesserungen gegenüber der Zeit vor 1871 (z. B.
Reichstagswahlrecht) Überwiegen der Unzufriedenheit mit dem politischen System: Erfahrung der Unterdrückung (Sozialistengesetz), Dominanz von Monarchie, Adel und Militär;
9
- insgesamt im Verlauf des Kaiserreichs nur zögerlich wachsende, im Ergebnis unzureichende Integration der Arbeiterschaft;
- integrierende und desintegrierende Wirkungen der uneinheitlichen, von
Revolution bis Revisionismus reichenden Positionen der Sozialdemokratie.
3
Grundlinien:
- Verankerung des Sozialstaats im Grundgesetz und im Konzept der sozialen Marktwirtschaft;
- Ausbau der Sozialpolitik in der Ära Adenauer, z. B. Dynamisierung der
Renten, Bundesversorgungsgesetz für Kriegsopfer, Lastenausgleichsgesetz, Kindergeld, Montanmitbestimmung, Wohnungsbaupolitik;
- weiterer Ausbau der Sozialpolitik durch die sozialliberale Koalition, z.
B. Leistungsverbesserungen in den Sozialversicherungen, Ausbildungsförderung, betriebliche Mitbestimmung;
- Regierung Kohl: Einführung der Pflegeversicherung, Leistungseinschränkungen z. B. in der Arbeitslosenhilfe und der Ausbildungsförderung.
Auf jüngere Entwicklungen kann eingegangen werden.
Erörterung der Leistungen und ihrer Grenzen, z. B.:
- Beitrag zur Bewältigung der Kriegsfolgen und Integration besonders geschädigter Gruppen;
- mehr soziale Gerechtigkeit: Beteiligung bedürftiger Gruppen am zunehmenden Wohlstand über die bloße Existenzsicherung hinaus, auch im
Vergleich zur Sozialpolitik Bismarcks;
- Ansätze zur Demokratisierung der Wirtschaft;
- Beitrag zur Integration der Arbeiterschaft;
- Beitrag zur Verankerung des Prinzips der sozialen Marktwirtschaft, auch
gegenüber sozialistischen und kommunistischen Ideologien;
- vollständige Abmilderung, nicht Beseitigung sozialer Gegensätze;
- Abwägen der (Integrations-)Leistung durch Sozialpolitik gegenüber anderen Faktoren, auch im Vergleich zur Bismarckzeit (z. B. Wirtschaftsaufschwung, Demokratie, Westbindung);
- negative Folgen: Belastung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern mit
steigenden Abgaben; Staatsverschuldung, beginnend in den 1970er Jahren.
10
III
VON DER EUROPÄISCHEN GLEICHGEWICHTSPOLITIK ZUR WELTPOLITIK
– INTERNATIONALE POLITIK IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT
1
Folgen des Zerfalls von Österreich-Ungarn für die staatliche Neuordnung
Europas nach dem Ersten Weltkrieg, z. B.:
- Entstehung einer Kleinstaatenstruktur in Ostmittel- und Südosteuropa:
Österreich, Ungarn, Tschechoslowakei, Jugoslawien, Rumänien;
- Gebietsgewinne Italiens, Rumäniens und Griechenlands;
- staatliche Erneuerung Polens;
- französisches Streben nach einem Cordon Sanitaire;
- Problem des Anschlusses Österreichs an das Deutsche Reich;
- Problem der Minderheiten und der nationalen Selbstbestimmung, Nationalitätenkonflikte;
- Beitrag zur Destabilisierung Europas durch Machtvakuum statt Teilhabe
der Region am traditionellen Mächtegleichgewicht.
2
Erschließung der Karikatur:
- Beschreibung der Bildinhalte, z. B.:
• osteuropäische Staaten als Kinder in einem großen Bett mit der Bezeichnung „ExEntente Familie“,
• irritierte Haltung der Kinder gegenüber dem vor dem Bett stehenden,
als Weihnachtsmann kostümierten Hitler,
• bereits erfolgte unsanfte Beförderung von zwei Kindern in einen großen Sack mit der Aufschrift „Deutschland über alles“;
- Aussageabsichten, z. B.:
• Herausstellung der Hilflosigkeit der osteuropäischen Staaten gegenüber dem überlegen agierenden nationalsozialistischen Deutschland
trotz bereits erfolgter Machtdemonstrationen Hitlers gegenüber Österreich und der Tschechoslowakei,
• Prophezeiung einer ähnlich negativen Entwicklung für weitere osteuropäische Staaten,
• Kritik an fehlender Unterstützung der von der Expansion Deutschlands bedrohten Staaten durch die Großmächte,
• ironische Entlarvung der Friedensbeteuerungen Hitlers (vgl. Titelzitat, Kostümierung).
Überprüfung der Einschätzung der deutschen Außenpolitik durch den Karikaturisten, z. B.:
11
- weitgehend zutreffende Bewertung der bisherigen, durch Friedensrhetorik kaschierten Expansionspolitik des nationalsozialistischen Deutschlands („Anschluss“ Österreichs, Sudetenkrise, Münchner Abkommen);
- hellsichtige Prognose der weiteren Entwicklung („Erledigung der Resttschechei“, Einmarsch in Polen).
3.1
Zentrale Aussagen Hitlers zur Haltung Englands gegenüber dem Deutschen
Reich, z. B.:
- englische Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs und an der deutschen Niederlage, damals wie zum Zeitpunkt der Rede deutschlandfeindliche Aktivitäten englischer „Kriegshetzer“;
- Schuld Englands am gegenwärtigen Krieg;
- fehlendes Vertrauen der englischen Regierung in die deutsche Führung;
- Betrug des deutschen Volks durch englische Staatsmänner in den vergangenen 20 Jahren;
- Desinteresse Englands an Verständigung mit Deutschland;
- englische Verneinung des Lebensrechts des deutschen Volks;
- Einmischung Englands in deutsche Interessen in Mittel- und Osteuropa
und damit Bedrohung deutscher Grenzen und deutschen Lebensraums;
- englische Rolle als „Weltpolizist“ und Versuch der Errichtung einer „Polizeidiktatur“ über Deutschland.
Intentionen der Rede:
- innenpolitische Aspekte, z. B.:
• Ableugnung einer Verantwortung der deutschen Führung für den
Kriegsausbruch,
• Erzeugen von Kriegsbereitschaft durch Darstellung der englischen
Politik als Bedrohung der deutschen Lebensinteressen,
• Beteuerung des Wunsches nach einem baldigen Kriegsende;
- außenpolitische Aspekte, z. B.:
• Darstellung des nationalsozialistischen Deutschlands als selbstbewusster Staat,
• Hinweis auf Abgrenzung der Interessensphären als Grundlage für eine von Hitler intendierte Beendigung des Kriegszustands mit England.
3.2
Der verfälschende Charakter von Hitlers Darstellung der Haltung Englands
gegenüber Deutschland kann z. B. anhand der folgenden Aspekte aufgezeigt
werden:
- 1914 eher vermittelnde und zögernde Rolle Englands, keine Kriegshetze,
deutsche Kriegsniederlage nicht Folge englischer „Lügen“;
- defensiver Charakter der Unterstützung Polens nach Bruch des Münchner Abkommens durch Hitler, bis Anfang September 1939 Bemühen um
12
-
4
Friedensbewahrung, englische Kriegserklärung als konsequente Reaktion
auf deutschen Einmarsch in Polen;
tatsächlich englische Vorbehalte gegenüber der NS-Regierung, aber
dennoch intensive Bemühungen um Verständigung;
englisches Eingehen auf deutsche Revisionswünsche („Appeasement“),
z. B. Akzeptieren der Wiederaufrüstung durch Flottenabkommen 1935;
kein Wunsch Englands nach Einengung des deutschen „Lebensraums“
oder Vernichtung Deutschlands, sondern Zugeständnisse gerade hinsichtlich des Anspruchs, Deutsche in einem Reich zu vereinen;
keine Einmischung Englands in innere Verhältnisse Deutschlands.
Erörterung, inwieweit sich die außenpolitischen Konzepte Hitlers und Kaiser Wilhelms II. unterscheiden:
- Gemeinsamkeiten und Parallelen, z. B.:
• Expansionismus,
• Hegemoniestreben,
• übersteigerter Nationalismus,
• Dominanz militärischen Denkens;
- Unterschiede, z. B.:
• Ausmaß und Stoßrichtung der Weltmachtpläne: Hitlers maßlose
Übersteigerung des bei Wilhelm II. angelegten expansiven Konzepts,
Verschiebung des Schwerpunkts von der „Weltpolitik“ Wilhelms auf
die NS-„Lebensraumpolitik“ in Osteuropa,
• ideologische Untermauerung: nochmalige Steigerung des Nationalismus und Wille zur Vernichtung des Gegners bei Hitler, Antibolschewismus und Rassismus als ideologisches Zentrum der Außenpolitik,
• Verhältnis zu England und Russland: Wilhelms II. Wunsch nach
Ebenbürtigkeit mit der Seemacht England, Fokussierung Hitlers auf
den zentralen Gegner Russland,
• Kriegsbereitschaft: Wilhelms II. billigende Inkaufnahme des Kriegs;
Hitlers langjährige Vorbereitung und bewusste Eröffnung eines weit
reichenden Eroberungskriegs;
Fazit: Zwar Kontinuitätslinien zwischen den Positionen der wilhelminischen Großmachtpolitik und der Expansionspolitik Hitlers, aber viel weiter
reichendes, aggressiveres und auf einer menschenverachtenden Ideologie
basierendes NS-Konzept.
13
IV
DEUTSCHLAND SEIT 1945
1
Wesentliche Beschlüsse des Potsdamer Abkommens in Hinblick auf
Deutschland und die Deutschen, z. B.:
- Deutschland als wirtschaftliche und politische Einheit, alliierter Kontrollrat als oberstes Gremium;
- Festlegung von vier Besatzungszonen;
- Oder-Neiße-Linie de facto Ostgrenze Deutschlands, endgültige Regelung
erst in Friedensvertrag;
- Demilitarisierung, Demontage, Denazifizierung, Demokratisierung, Dezentralisierung;
- Reparationen;
- Umsiedlung der Deutschen aus dem Osten.
2.1
Charakterisierung des Parteiensystems und der Kräfteverhältnisse zwischen
den Parteien in den Besatzungszonen und Berlin, z. B.:
- Westzonen: Konzentration auf zwei größere (CDU/CSU, SPD) und zwei
kleinere Parteien (Liberale, KPD), keine Partei mit absoluter Mehrheit;
- SBZ: Dreiparteiensystem aus SED, CDU und Liberalen; SED dominierende Partei, aber ohne absolute Mehrheit, LDPD zweitstärkste, CDU
nur drittstärkste Kraft;
- Berlin: Vierparteiensystem aus SPD, CDU, Liberalen, SED; Sondersituation durch gleichzeitige Kandidatur von SPD und SED, Dominanz der
SPD, SED selbst im sowjetischen Sektor deutlich schwächer.
2.2
Stand der Auseinanderentwicklung zwischen Westzonen und SBZ Ende
1946:
- einerseits unterschiedliche Entwicklungen, z. B.:
• Zwangsvereinigung der SPD mit der KPD zur SED und Bevorzugung
der SED durch die Besatzungsmacht,
• Kräfteverhältnisse zwischen den Parteien: Liberale als stärkste Oppositionspartei zur SED in SBZ wesentlich stärker, CDU deutlich
schwächer als in den Westzonen,
• geringeres Interesse der Westmächte an Demontage,
• Sozialisierung von Banken und Großbetrieben, Enteignung von Großgrundbesitz in der SBZ,
• unterschiedliches Vorgehen bei der Entnazifizierung;
- andererseits parallele Entwicklungen, z. B.:
• Aufbau deutscher Verwaltungen, Bildung von Ländern,
14
• Wiederbeginn des politischen Lebens, Zulassung von demokratischen
Parteien, zum Teil ähnliches Parteiensystem, freie Wahlen auf Kommunal- und Länderebene,
• weite Verbreitung sozialistischer Vorstellungen, z. B. Wünsche nach
Bodenreform und Enteignungen.
Fazit: Einerseits aufgrund ideologischer Positionen sich abzeichnende Unterschiede zwischen SBZ und Westzonen, andererseits Basis für Gemeinsamkeit noch nicht völlig zerstört.
3.1
Deutschlandpolitisches Konzept des Verfassers, z. B.:
- Ablehnung einer Gestaltung Deutschlands als Staatenbund und aller separatistischen Bestrebungen;
- Erhaltung der deutschen Einheit als zentrale Aufgabe;
- Brückenfunktion Deutschlands zur Kriegsverhinderung und Friedensbewahrung zwischen Ost und West als zukünftige Aufgabe;
- Vorrang des deutschen Nationalstaats vor europäischer Einigung.
Intentionen Kaisers, z. B.:
- Verhinderung einer Teilung Deutschlands aufgrund zu enger Anbindung an die Westmächte durch Politiker der Westzonen;
- Vermeidung einer Isolierung der SBZ und der Ost-CDU und damit einhergehend einer völligen Abhängigkeit von der SU.
3.2
Argumente für Kaisers Konzept als wünschenswerte Alternative zur Westintegration, z. B.:
- Verhinderung der deutschen Teilung;
- mögliche Entschärfung des Ost-West-Konflikts durch großen Pufferstaat
im Zentrum Europas;
- im Osten vermutlich günstigere wirtschaftliche Entwicklung.
Argumente gegen Kaisers Konzept als wünschenswerte Alternative zur
Westintegration, z. B.:
- Gefahr eines deutschen „Sonderwegs“ zwischen Ost und West;
- negative Auswirkungen auf europäischen Einigungsprozess;
- negative Auswirkungen auf Stabilität in Europa und Bedeutung Europas
in der Welt;
- Unsicherheit des demokratischen Bewusstseinswandels in Deutschland
ohne Einbindung ins System der westlichen Demokratien;
- Gefahr des Nationalismus;
- im Westen vermutlich ungünstigere wirtschaftliche Entwicklung;
- Gefahr der Einflussnahme der Sowjetunion auf ganz Deutschland.
Faktoren, die die Realisierung als möglich erscheinen lassen, z. B.:
- Berührungspunkte des Konzepts mit dem deutschlandpolitischen Kurs
der SED bis in die 50er Jahre;
15
- Ablehnung der Adenauerschen Politik der Westintegration durch die
SPD;
- Bedeutung der Einheit im Bewusstsein der Deutschen;
- in der Öffentlichkeit vertretener Politikansatz der SU ein neutrales Gesamtdeutschland zuzulassen.
Faktoren, die die Realisierung verhinderten, z. B.:
- Ost-West-Konflikt;
- Interesse der USA an verbündetem Westdeutschland aus politischen, militärischen und wirtschaftlichen Gründen;
- unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung der SBZ/DDR und den
Westzonen/BRD ab 1948;
- Adenauers Politik der Westintegration der BRD, getragen von breiter
Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung;
- Integration der DDR in den Ostblock;
- Misstrauen gegenüber einem neutralen Gesamtdeutschland bei den westeuropäischen Staaten;
- Misstrauen in Westdeutschland und den westlichen Staaten gegenüber
den sowjetischen Intentionen hinter dem Neutralitätskonzept.
Die Erörterung sollte zu einem fundierten und abgewogenen Gesamturteil
über Wünschbarkeit und Realisierungschancen des Konzepts von Kaiser
kommen.
16
Quellennachweise:
Aufgabe I:
M: Wahlaufruf für 1878 (Wahl am 30. Juli 1878). In: Politische Akademie Eichholz der Konrad-Adenauer-Stiftung für politische Bildung und Studienförderung
e. V. (Hrsg.): Dokumente zur Christlichen Demokratie: Deutschland – Österreich
– Schweiz, Bonn 1969, S. 87-89.
Aufgabe II:
M1: Verhandlungen des Deutschen Reichstags Bd. 64, 4. Legislaturperiode
1881/3, S. 228.
M2: Zusammengestellt und errechnet nach Walther G. Hoffmann: Das Wachstum
der deutschen Wirtschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, Berlin u. a. 1965, S.
468-471, 506-508, 598-600.
Aufgabe III:
M1: Karikatur von David Low, zuerst veröffentlicht in: The Evening Standard, 10.
Oktober 1938.
M2: Adolf Hitler: Rede im Münchner Bürgerbräukeller am 8.11.1939. In: Max
Domarus (Hrsg.): Hitler. Reden und Proklamationen 1932-1945. Band II: Untergang. Erster Halbband 1939-1940, Wiesbaden 1973, S. 1405-1410.
Aufgabe IV:
M1: Für Leipzig, Erfurt, Dresden, Berlin-Mitte: Martin Broszat/Hermann Weber
(Hrsg.): SBZ-Handbuch. Staatliche Verwaltungen, Parteien, gesellschaftliche Organisationen und ihre Führungskräfte in der Sowjetischen Besatzungszone
Deutschlands, München2 1993, S. 404ff.
Für München: Stadtarchiv München, Gemeindewahlen seit 1924, unveröffentlichtes Dokument.
Für Dortmund: http://wapedia.mobi/de/Zahlen_und_Fakten_zur_Politik_in_Dortmund, (29.04.2010).
Für Berlin-Schöneberg: http://wapedia.mobi/de/Ergebnisse_der_Kommunalwahlen_in_Berlin?t=4.2 (29.04.2010).
M2: Rede Jakob Kaisers auf dem Parteitag der CDUD vom 16.06.1946. Abgedruckt in: Christian Hacke (Hrsg.): Jakob Kaiser, Wir haben Brücke zu sein. Reden, Äußerungen und Aufsätze zur Deutschlandpolitik, Köln 1988, S. 132-142.

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