Krimi (Geschichte, Gestalt, Genreregeln)

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Krimi (Geschichte, Gestalt, Genreregeln)
"KRIMI"
Geschichte, Gestalt und Genreregeln
von
Mario Giordano
Mario Giordanog/Vortrag "Krimi" (AKA Ludwigsburg/24.06.2012
Zitate
"Alles, was man zu einem guten Krimi braucht, ist ein guter Anfang und
ein Telefonbuch, damit die Namen stimmen."
(Georges Simenon)
"Das wichtigste Rezept für den Krimi: Der Detektiv darf niemals mehr
wissen als der Leser."
(Agatha Christie)
"Im Zweifel lass zwei Kerle mit Pistolen durch die Tür hereinkommen."
(Raymond Chandler)
Es gibt keine Kriminellen, sondern nur normale Menschen, die kriminell
werden.
(Georges Simenon)
Gangster sind Vollidioten, die davon profitieren, dass wir über sie Filme
machen.
(John Cassavetes)
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Mario Giordanog/Vortrag "Krimi" (AKA Ludwigsburg/24.06.2012
Eine (sehr) kurze Geschichte des Krimis
Der "Krimi" vereinigt in sich viele Formen der Spannungs- und
Unterhaltungsliteratur: den Abenteuerroman klassischer Prägung, die
romantischen Schauergeschichten, den Gesellschaftsroman etc.
Die Ursprünge des Krimis liegen in der Aufklärung, aber schon in
Sophokles´ König Ödipus (5. Jhr. v.Chr.) wird ein Vatermord aufgeklärt.
Nur folgt 'Detektiv' Ödipus mythischen Handlungsmustern und noch
nicht den Gesetzen der reinen Vernunft.
Als erster Kriminalroman der Literaturgeschichte gilt "The Murders in the
Rue Morgue" (1841) von Edgar Allan Poe, der auch als Begründer dieses
Genres gilt.
Danach Siegeszug des neuen Genres, vor allem durch die Verbreitung
von Sir Arthur Conan Doyles "Sherlock-Holmes"-Geschichten. Sherlock
Holmes ging von der unerschütterlichen Tatsache aus, dass die Welt
durch logische Ableitung verstehbar sei. Deswegen ist Sherlock Holmes
eine der wichtigsten Manifestationen des Glaubens an die bürgerliche
Demokratie. Ein "Held des Positivismus".
Die Entwicklung gipfelte im sogenannten "Golden Age", dem goldenen
Zeitalter der Detektivgeschichte mit ihren beiden bekanntesten
Repräsentantinnen Agatha Christie und Dorothy L. Sayers. Die
Detektivgeschichte entwickelte ein festes Muster mit festen Regeln, das
zu variieren die Aufgabe eines jeden neuen Romans war.
Im Wesentlichen war dies ein britisches Genre. Als Pionierin galt Agatha
Christie (1891-1976), die sich bis heute als Bestsellerautorin verkauft.
Ihre Romane sind fast immer Mordgeschichten, aufgebaut wie eine Art
Salonspiel, das von den Mitspielern einigen Scharfsinn erforderte.
Recht und Ordnung wird mittels Vernunft und Logik wiederhergestellt,
die der Detektiv zu Lösung des Problems einsetzt. Der Detektiv selbst
(fast immer ein Mann) repräsentiert die Gesellschaftsschicht des sozialen
Umfelds, in dem der Krimi spielt.
Agatha Christie, kleinbürgerlich und selbstbewusst, kannte mit ihren
Opfern keine Gnade. Bei Edgar Wallace waren die Täter meist Debile oder
Wahnsinnige, kommen wie Tiere daher, zumindest in Allegorien,
Erlösung gibt es nur durch den Tod.
Amerikanische Autoren läuteten die Erneuerung und Erweiterung des
Genres ein. In den rapide wachsenden Industriestädten Chicago und
Baltimore wuchsen auch Kriminalität und Korruption. Man suchte Trost
in neuen Detektivfiguren wie Nick Carter oder Philip Marlowe. Der
amerikanische Privatdetektiv nimmt das Gesetz in die eigene Hand,
schafft Ordnung mit keiner anderen Legitimation als der eigenen Moral.
Aus dem bloß intellektuellen Rätsel, das der Detektiv vom Lehnstuhl aus
lösen kann, wurde eine spannende Geschichte mit
zwischenmenschlichen Konflikten, die das Publikum emotional packen
und mitreißen. Und dafür gilt:
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Mario Giordanog/Vortrag "Krimi" (AKA Ludwigsburg/24.06.2012
Der Ermittler im Krimi muss...
… der Ermittler - ob Profi oder Amateur - zum Handlungsträger
werden.
… sich der Ermittler in Gefahr begeben und "Staub aufwirbeln".
… der Ermittler auf Widersacher stoßen, die niemals klein beigeben.
Der erste Kriminalfilm
Der erste Kriminalfilm wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts gedreht. Er
war 30 Sekunden lang - eine Großleistung zu dieser Zeit - wurde auf
Jahrmärkten gezeigt und war ein großer Erfolg. Sein Titel: "Sherlock
Holms buffeld" (1902). Die Macher waren keine Amerikaner, sondern
eine dänische Produktion. Regie: Viggo Larsen, Produktion: Ole Olsen
Der Kriminalfilm wurde schnell ebenso populär wie sein literarisches
Pendant. Bald erreichte der Erfolg des Genres auch die Autoren. Einige
wurde reich, sehr reich, reicher als einige Filmstars, die damals schon
Millionengagen erhielten.
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Mario Giordanog/Vortrag "Krimi" (AKA Ludwigsburg/24.06.2012
Warum Krimi schreiben?
Für Autoren gibt es genug gute Gründe, Krimis zu schreiben. Denn der
Krimi ist...
•
...ein zwischen Zuschauern und Machern vereinbarter Zeichensatz
mit dem wir über uns und die Gesellschaft im Gespräch bleiben
können.
•
...traditionell in Deutschland erfolgreich. Der Krimi transportiert
die Botschaft von der virtuellen Rettbarkeit der Welt mit einem
Kommissar als Heilsbringer. Die Liebe zum Krimi ist auch nicht
etwas auf bestimmte Unterschichten beschränkt sondern zieht
sich durch alle Klassen. Der Krimi vereinigt die Deutschen.
•
eine sichere Form für den Anfänger.
•
...ein Genre mit klaren Genreregeln. Im Krimi geht es um klare
Konstruktion. D.h.: es gelten die harten Gesetze der
Spannungsdramaturgie. Und das heißt: wer den Krimi beherrscht,
gerät auch beim Drama nichts aufs Glatteis.
•
...für den Autor eine Möglichkeit Geld zu verdienen. Das
Fernsehen produziert ca. 350 TV-Movies jährlich, davon ca. 1/3
Krimis (Serien nicht mitgerechnet)
•
...nicht zuletzt das Schmuckstück des deutschen Fernsehens. Im
Krimi wird mitunter kreativer gearbeitet, als in den genrefreien
Fernsehspielen. Kaum ein Regisseur, kaum ein Autor, der nicht
schon für den Krimi gearbeitet hätte. Mit dem Krimi ist man in der
Belle Étage des Mediums angekommen, nicht in der
Schmuddelecke.
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Mario Giordanog/Vortrag "Krimi" (AKA Ludwigsburg/24.06.2012
Formen des Spannungsfilms
Der Detektivfilm
...erzählt die Geschichte aus der Perspektive eines Mannes (oder Frau),
der nach eigenem Entschluss und oft auf eigene Rechnung, aber im
Namen einer Moral oder einer Gesellschaft ein Verbrechen aufklärt und
einen Täter zur Strecke bringt. Dabei gerät er selbst meist in erhöhte
Gefahr. Aber die nimmt er in Kauf, denn oft genug muss er mit seiner
Ermittlung eine Schuld aus der Vergangenheit oder vom Beginn der
Geschichte abtragen.
Der Thriller
... kann gänzlich ohne Detektive oder Kommissare auskommen. Wichtig
sind nur leidende und geschundene Kreaturen. Wehrlose. Frauen,
Kinder. Im Thriller wird ein Mensch geprüft wie nur ein Ketzer auf dem
Scheiterhaufen. Menschen wie du und ich erleiden kaum erträgliche
Qualen und müssen Herausforderungen bestehen, die ihre Moral und ihr
Durchhaltevermögen aufs Äußerste testen. Der Thriller ist ein
Purgatorium in dem der Held für uns durch die Hölle geht und am Ende
gewachsen hervortritt.
Naivste Form des Krimis, oft in der Nähe zum Schund.
Der Polizeifilm
...ist in der Nähe zum Detektivfilm angesiedelt. Wesentlichster
Unterschied: die berufliche Pflicht treibt den Ermittler an. Das Interesse
des Polizisten an dem Fall muss nicht begründet werden. Seine Konflikte
ergeben sich aus dem beruf: Ärger mit Vorgesetzten und Kollegen,
familiäre Defizite, Korruption.
Weiteres wichtiges Merkmal: Wiederverwendbarkeit. Der Kommissar,
geht an seinem Fall nicht zugrunde, im Gegenteil, er löst einen Fall nach
dem anderen. Also prädestiniert für Serien.
Der Gangsterfilm
...fand vor allem in den USA der 30er und 40er Jahre Verbreitung. Die
schönsten Gangsterfilme hat aber der film noir hervorgebracht. Sein
Kennzeichen sind sympathische Verbrecher. Ist auch die am meisten
künstlerische und spielerische Form des Spannungsfilms.
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Mario Giordanog/Vortrag "Krimi" (AKA Ludwigsburg/24.06.2012
Helden des Kriminalfilms
Helden stammen eher aus Kriegergesellschaften.
Aber auch Demokratien brauchen Helden. Ein Held hat die Angst vor
dem Tod überwunden und steht für sein Gemeinwesen oder eine
politische Idee ein. Ohne Opferbereitschaft funktionieren
Gesellschaftsformen nicht!
Der Held im Kriminalfilm spiegelt immer die Aufgaben wider, die ihm
von der Gesellschaft gestellt werden. Er muss eine Aufgabe für die
Gesellschaft lösen und sie so heilen.
Dabei war der Held in den ersten Kriminalgeschichten zunächst selbst
ein Outlaw, der seine Schuld durch den Dienst an der Gesellschaft sühnt.
Nicht selten bezahlt der Held seinen Einsatz am Ende mit dem Tod.
Aus diesen Figuren entstand der Typus des "dreckigen Cops" ("Dirty
Harry", "French Connection")
Frauen tauchen im Krimi vermehrt erst nach 1945 auf, auch als
Partnerinnen der Detektive, bzw. als Kolleginnen. Wurden aber meist
reduziert auf ihre Rollen als Opfer oder als erotische Projektionsflächen.
Erst im deutschen Fernsehen tauchen seit ca. 10 Jahren vermehrt
weibliche Krimihelden.
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Mario Giordanog/Vortrag "Krimi" (AKA Ludwigsburg/24.06.2012
Gewalt
Im Krimi will sich der Zuschauer - auch Kinder - im Prinzip mit Gewalt
beschäftigen. Er will sie auch in ihren schrecklichsten Formen sehen,
weil er gleichermaßen von ihr fasziniert und abgeschreckt ist.
In allen großen Mythen geht es im Prinzip um Gewalt, Grauen und
Entsetzen. Es geht also um eine Ästhetik der Gewalt. Wer das leugnet
und durch eine Gewaltdiskussion ersetzt, lenkt vom Wesentlichen jeder
Kriminalerzählung ab.
Und es ist sicher, dass der Zuschauer sich abwendet, wenn er den Kitzel
der Angst - und den Angstabbau - nicht mehr spürt.
Das Thema Gewalt wird besonders heikel bei Krimiserien für Kinder (z.B.
"krimi.de") Hier beschreitet der Autor einen schmalen Grat zwischen
realistischer Filmerzählung und zumutbarer Gewaltdarstellung.
Quelle für diesen Teil: Georg Feil und Werner Kließ: “Profikiller”, Bastei
Lübbe 2003
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Mario Giordanog/Vortrag "Krimi" (AKA Ludwigsburg/24.06.2012
Genreregeln des Krimis
Natürlich gibt es unzählige Handlungsanweisungen fürs Schreiben von
Krimis. Die Amerikanerin Martha Grimes, die Schöpferin von Inspektor
Richard Jury sagt z.B.:"In einem guten Krimi hat Liebe keinen Platz".
Von Bertolt Brecht über Ernst Bloch bis hin zu Siegfried Kracauer und
Helmut Heißenbüttel haben sich im Laufe der Zeit kompetente
Zeitgenossen Gedanken für und wider Kriminalliteratur gemacht. Die für
Autoren interessantesten Überlegungen stammen jedoch von Raymond
Chandler.
Raymond Chandler:
"Beiläufige Anmerkungen zum Kriminalroman"
1.) Der Kriminalroman muss glaubwürdig motiviert sein, in der
Ausgangssituation sowohl wie auch in der Aufklärung.
Der Krimi musss aus plausiblen Handlungen plausibler Menschen unter
plausiblen Umständen bestehen. Das schließt die meisten Trick-Schlüsse
ebenso aus wie jene Geschichten, in denen sich am Ende angeblich ›der Kreis
schließt‹ wo in Wirklichkeit aber nur die unwahrscheinlichste Figur zum Täter
gemacht wird, und zwar mit einer Gewaltsamkeit, die niemanden überzeugt. Es
schließt auch so komplizierte mises-en-scène aus wie Christies "Murder in the
Calais Coach" [Mord im Orient-Express], wo der ganze Verbrechensplan eine
derartige Mitarbeit des Zufalls verlangte, dass kein vernünftiger Mensch an sein
Gelingen hätte glauben können.
2.) Der Kriminalroman muss technisch, was die Methodik des Mordes
und seiner Aufklärung betrifft, einwandfrei sein.
Keine phantastischen Gifte oder irrtümlichen Dosierungen usw. Z.B. keine
Schalldämpfer auf Revolvern. Polizeibeamte müssen auch wie solche handeln
und die geistigen und körperlichen Fähigkeiten haben, die der Job bedingt. Der
Krimi muss das Bildungsniveau der Leser in Rechnung ziehen.
3.) Der Kriminalroman muss im Hinblick auf Gestalten, Schauplatz und
Atmosphäre realistisch sein.
Natürlich gibt es im Kriminalroman ein Element des Phantastischen. Er tut der
Wahrscheinlichkeit Gewalt an, indem er Zeit und Raum zusammenzieht. Je
übertriebener folglich die Grundvoraussetzungen sind, desto nüchterner und
genauer müssen die Vorgänge geschildert sein, die sich daraus entwickeln. Nur
sehr wenige Kriminalschriftsteller haben überhaupt Talent für
Charakterdarstellung, aber das bedeutet ja doch nicht, dass es überflüssig wäre.
Diejenigen, die sagen, das Problem stelle alles andere in den Schatten,
versuchen damit wiederum nur ihre eigene Unfähigkeit zu kaschieren,
Charaktere und Atmosphäre zu schaffen. Charaktere müssen jedenfalls
geschaffen werden, wenn etwas von auch nur einiger Bedeutung dabei
herauskommen soll.
4.) Der Kriminalroman muss, unabhängig vom Element des
Geheimnisvollen, also des eigentlich ›Kriminalen‹ darin, einen
soliden erzählerischen Wert aufweisen.
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Mario Giordanog/Vortrag "Krimi" (AKA Ludwigsburg/24.06.2012
Die Kriminalromane, die über die Jahre hin am Leben bleiben, haben
unweigerlich die Qualitäten guter ›ernster‹ Romanliteratur. Der Kriminalroman
muss Farbe haben, Niveau und einen ganz beträchtlichen Schwung.
5.) Der Kriminalroman muss in seiner ganzen Struktur im Wesentlichen
so einfach sein, dass sich die Vorgänge leicht erklären lassen, wenn
es an der Zeit ist.
Die ideale Aufklärung ist da gegeben, wo in einer kurzen, blitzartigen Aktion
schlechthin alles klar wird. Die Erläuterung muss nicht unbedingt kurz sein
(außer im Film), und oft kann sie es auch gar nicht sein. Entscheidend ist nur,
dass sie aus sich selbst heraus interessant ist, dass sie etwas ist, was der Leser
mit Spannung vernimmt, und nicht eine ganz neue Geschichte mit einem
Haufen neuer oder unerkennbaren Figuren, die an den Haaren herbeigezogen
werden, um einen brüchigen Plan zu rechtfertigen. Sie darf nicht bloß aus einer
langatmigen Zusammenfassung kleinkalibriger Einzelheiten bestehen, von
denen nicht gut erwartet werden kann, dass der Leser sich ihrer erinnert. Es ist
nichts schwieriger hinzubekommen als die Schlusserläuterung eines
Kriminalfalls. Wenn man genug sagt, um den stumpfsinnigen Leser zu
befriedigen, hat man zugleich auch genug gesagt, um den intelligenten in Wut
zu bringen, aber das zeigt nur ein Grunddilemma der Kriminalschriftstellerei
auf, jenes nämlich, dass der Kriminalroman sich zwangsläufig an einen
Querschnitt des gesamten Lesepublikums wendet und dieses breite Publikum
unmöglich mit denselben Mitteln ansprechen kann. Seit den frühesten Tagen
des dicken Schmökers ist kein Romantypus von so vielen verschiedenen Leuten
gelesen worden.
Möglicherweise ist, außer für den in der Wolle gefärbten aficionado, die beste
Lösung noch die alte Hollywood-Regel: »Keine Erklärungen, außer unter Druck,
und auch dann sofort abbrechen!« (Was bedeutet, dass eine Fall-Erläuterung
immer von irgendeiner Handlung begleitet sein muss und dass sie nicht auf
einmal, sondern in kleinen Dosen kommen soll.)
6.) Das Geheimnis darf dem einigermaßen intelligenten Leser nicht
durchsichtig sein.
Einige der besten Detektivgeschichten, die je geschrieben worden sind, bleiben
dem intelligenten Leser durchaus nicht bis zum Ende undurchschaubar. Ein
halberratenes Geheimnis ist viel reizvoller als eins, bei dem der Leser
vollkommen ratlos bleibt. Es kommt der Selbstachtung des Lesers entgegen,
wenn er einen Teil des Nebels durchdringen kann. Wichtig ist nur, dass dem
Autor am Ende noch ein bisschen Nebel übrig bleibt, damit er ihn selber
wegblasen kann.
7.) Die Lösung, einmal enthüllt, muss den Eindruck vermitteln, dass es
nur so und nicht anders gewesen sein kann.
Mindestens die Hälfte aller Krimis verstößt gegen dieses Gesetz. Ihre Lösungen
sind nicht nur unverbindlich und ohne zwingende Konsequenz, sie sind auch oft
ersichtlich nur aufgesetzt, schlicht aus den Fingern gesogen, weil der Autor
erkannt hatte, dass sein ursprünglicher Mörder zu leicht erkennbar geworden
war.
8.) Der Kriminalroman darf nicht alles auf einmal zu bringen
versuchen.
Wenn die Story ein Puzzle darstellt und in einem kühlen intellektuellen Klima
spielt, kann sie nicht gleichzeitig wilde Abenteuer oder eine leidenschaftliche
Romanze schildern. Terror-Atmosphäre zerstört das logische Denken. Wenn die
Handlung von ausgeklügeltem psychologischen Druck bestimmt wird, der
Menschen zum Mord treibt, kann sie nicht gleichzeitig die leidenschaftslose
Analyse des geschulten Kriminalisten enthalten. Der Detektiv kann nicht zur
gleichen Zeit Held sein und Bedrohung; der Mörder kann sich nicht als
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gequältes Opfer der Umstände geben und im selben Moment als finsterer
Schurke.
9.) Der Kriminalroman muss den Verbrecher auf irgendeine Weise
betrafen, wenn auch nicht notwendigerweise durch den Spruch
eines Gerichts.
Dies ist keine Frage der Moral, es gehört nur einfach zur Logik der Form. Ohne
diese Strafe wäre die Geschichte wie ein unaufgelöster Akkord in der Musik. Sie
hinterließe ein Gefühl der Irritation.
10.) Der Kriminalroman muss dem Leser gegenüber ehrlich sein.
Was bedeutet Ehrlichkeit in diesem Zusammenhang? Es reicht nicht aus, dass
die Fakten ausgebreitet werden. Sie müssen auch ehrlich ausgebreitet werden,
und sie müssen von jener Art sein, mit der sich logische Überlegungen anstellen
lassen. Nicht nur dürfen dem Leser wichtige oder überhaupt irgendwelche
Hinweise nicht vorenthalten werden; man darf sie auch nicht durch einen falsch
gesetzten Akzent verzerren. Unwichtige Fakten dürfen nicht in einer Weise
mitgeteilt werden, als käme ihnen eine ganz unheimliche Bedeutung zu.
Die Unterdrückung von Fakten durch den Erzähler oder den Autor ist, wo der
Anschein erweckt wird, es würden alle Fakten mitgeteilt, die eine bestimmte
Figur kennenlernt, eine eklatante Unehrlichkeit.
NACHTRÄGE:
1) Der vollkommene Kriminalroman lässt sich nicht schreiben.
Irgend etwas muss immer geopfert werden. Man kann nicht alles haben; es gibt nur
einen einzigen dominierenden Wert, vor dem alles andere zurücktritt. Das ist mein
Einwand gegen die deduktive Erzählung. Ihr dominierender Wert ist etwas, was es gar
nicht gibt: ein Problem, das sich der Art Analyse widersetzt, die ein guter Anwalt einer
komplizierten Rechtsfrage widmet. Nicht dass solche Geschichten nicht durchaus
faszinierend wären; es fehlt ihnen nur an der Möglichkeit, für ihre schwachen Punkte
einen Ausgleich zu bieten.
2) Es ist behauptet worden, dass sich im Kriminalroman »kein Mensch
für die Leiche interessiert«. Das ist Unsinn.
Wenn es so wäre, hätte der Autor ein wertvolles Element verschenkt. Genausogut
könnte man behaupten, der Mord an einer Tante bedeute einem nicht mehr als der
Mord an einem unbekannten Menschen in einer Stadt, in der man noch nie gewesen
ist.
3) Ein Kriminalroman in Fortsetzungen ist nur selten ein guter
Kriminalroman.
Die Wirkung der einzelnen Textraten beruht auf dem Umstand, dass man die nächste
Rate noch nicht hat. Liest man sie alle hintereinander, so bereitet einem die so
erzeugte falsche Spannung nur noch Verdruss.
4) Liebesgeschichten bedeuten für den Kriminalroman fast immer eine
Schwächung, weil sie einen Typus von Spannung hineinbringen, der dem
Kampf des Detektivs um die Lösung des Problems abträglich ist.
Durch sie entsteht praktisch ein abgekartetes Spiel, und in neun von zehn Fällen fallen
dadurch mindestens zwei nützliche Verdächtige weg. Die einzige wirkungsvolle Art
Liebesgeschichte ist die, bei der dem Detektiv selber Gefahr droht — bei der man aber
zugleich instinktiv spürt, dass sie eine bloße Episode ist. Ein wirklich guter Detektiv
heiratet nie.
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Mario Giordanog/Vortrag "Krimi" (AKA Ludwigsburg/24.06.2012
5) Es ist das Paradoxe am Kriminalroman, dass seine Struktur zwar
selten nur, wenn überhaupt, die Überprüfung durch einen analytischen
Verstand verträgt, dass es aber gerade dieser Typus Verstand ist, auf
den er seine größte Anziehungskraft ausübt.
Es ist das Paradoxe am Kriminalroman, dass seine Struktur zwar selten nur, wenn
überhaupt, die Überprüfung durch einen analytischen Verstand verträgt, dass es aber
gerade dieser Typus Verstand ist, auf den er seine größte Anziehungskraft ausübt.
Natürlich gibt es den blutlüsternen Leser auch, wie es auch den Leser gibt, der ganz
naiv mit den Gestalten lebt und leidet, und den Leser, der sexuelle Ersatzbefriedigung
sucht. Aber sie alle zusammengenommen bilden vermutlich nur eine verschwindend
kleine Minderheit, verglichen mit der großen Zahl der intelligenten Menschen, die den
Kriminalroman gerade um seiner Unvollkommenheit willen lieben.
6) Zeige mir einen Menschen, Mann oder Frau, der Kriminalromane nicht
ausstehen kann, und ich zeige Dir einen Narren: einen klugen Narren
vielleicht - aber einen Narren gleichwohl.
Raymond Chandler, Beiläufige Anmerkungen zum Kriminalroman
(geschrieben 1949),
Quelle: Raymond Chandler: Die simple Kunst des Mordes. Zürich 1975
(zuerst 1962)
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