Mit nichts als Fantasie erschufen wir unsere Welt aus

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Mit nichts als Fantasie erschufen wir unsere Welt aus
„Mit nichts als Fantasie erschufen wir unsere
Welt aus dem Nichts“
Der Filmemacher Ferry Radax über Kunst und Leben in der
Nachkriegszeit, seine Anfänge, den Wiener „Art Club“ und warum den
Künstlern von heute die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs fehlt.
29. Juli 2009
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Schweikhardt: Dein filmisches Schaffen in den 50er, 60er Jahren, bis hinein in die
70er Jahre, gilt den Filmhistorikern als Startschuss für die sich neu konstituierende
Moderne der Nachkriegszeit in Österreich. Ein Trauma hat sich damals langsam
aufgelöst und der Traum von neuen Bildern verlangte nach Realisierung.
Zum einen wurde nun der Film mittels „Avantgarde“ als eine mögliche Kunstform
rehabilitiert und aus dem Spektrum der bloßen Unterhaltungsindustrie
herausgenommen, zum anderen ist es dir in dieser Zeit aber auch gelungen, den
Spagat zum sich etablierenden Fernsehen zu schaffen und hier das Experiment
einzuschmuggeln.
Radax: Vor 1965 sah es beim Fernsehen nämlich noch ziemlich altmodisch aus.
Es hieß ja noch nicht einmal ‚neumodern’ ORF, O-sterreichischer Rundfunk !
Kein Wunder, dass alle Welt immer noch Ostria mit Ostblock oder Ostralia verwechselt.
In den damals noch gut besuchten Kinos kannte man, neben der obligaten Modeschau
auf der Bühne dieser ehemaligen Revue-Theater, und dem ‚Hauptfilm’ von 90 Minuten,
bestenfalls einen ‚Kulturfilm’ von 15 Minuten als ‚Vorprogramm’, wie z.B. ‚Der Rabe’
von Dr. Kudrnofsky. Ich erzähle Dir später noch mehr über diesen Avantgardefilm.
Jedenfalls gab mir Dr. Wolfgang Kudrnofsky, als provisorischer Leiter des
‚Nachtstudio’-Fernsehens, ab Juli 1967 zum ersten Mal die Chance, 3 bis 4
künstlerisch völlig freie Kultur-Dokumentation zu realisieren. Über H.C. Artmann, Wolfi
Bauer, Trigon Graz, etc.
Schweikhardt: Wie seid ihr denn auf diese avantgardistischen Themen gekommen ?
Radax: Weil von Juni bis September 1967 ein Interregnum herrschte, in der
Sigrinerstraße und Marxergasse, wo die Sender damals noch standen. Weil der langjährige Fernseh-Direktor Gerhard Freund von der Österr. Rundfunk-Politik endlich die
Nase voll hatte und in die Privatwirtschaft wechselte, nach München, zur ‚Intertel’, wo
er seine eigenen Programm-Filme produzieren konnte. Ich habe später, 1974, für ihn
19 Abenteuerfilme mit Rutger Hauer gedreht – natürlich in Ungarn. Dr. Kudrnofsky gab
mir 1967 echte Narrenfreiheit die beim Publikum sowieso als Narren verschrieenen
Künstler erstmals fürs Fernsehen zu portraitieren. So konnte ich ganz zufällig drei FilmKlassiker über einige Grazer Autoren und Künstler drehen.
Schweikhardt: Wieso eigentlich nicht gleich mehr ?
Radax: Weil dann die Journalisten ins Fernsehen kamen; Bacher und seine ‚BacherBuam’ und Zilk, der ja noch der menschlichste war, unter diesen von den Zeitungen
und Buchhandlungen hastig wegengagierten neuen Granden. Die machten dann aus
dem frühen Fernsehen das berüchtigte ‚Bilder-Radio’ des Hanse-Löwe, oder diesem
ultra-konservativen ‚Pen Club’-Chef Dr. Alexander Giese.
Dr. Zilk, selbst origineller Programme-Macher, hatte weit mehr Sinn für originelle Filme.
Ich glaube, er hätte auch gerne den bereits angedrehten Konrad Bayer-Film gebracht,
aber (Zitat) ‚Ich konnte mich bei meinen Freunden (sic !) nicht stark genug machen…’
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Schweikhardt: Mit relativ geringem Budget etwas Neues, auch Schräges zu schaffen,
hat Dir auch die ironische Bezeichnung „Ewiger Jungfilmer“ eingetragen – nämlich sich
mit Ironie, Lust und Galgenhumor nicht um etablierte Fernseh-Formen zu kümmern.
Dazu kommt ja die Dir eigene Zähigkeit und Beständigkeit, an interessanten Themen
sehr lange dran zu bleiben (bei Joyce über sechzehn Jahre), aber auch die Tatsache,
dass in dieser Phase so etwas wie Pionierzeit herrschte.
Radax: Pardon, aber außer mir waren mir damals noch keine ‚Pioniere’ aufgefallen.
Schweikhardt: Rückblickend faszinieren uns natürlich die neuen Wege von „Sonne
halt!“ oder „Am Rand“ – aber in den Gesprächen mit Dir habe ich immer wieder
herausgehört, dass sich diese Innovationen nur vor dem Hintergrund der teils
aufstrebenden, teils miefigen Zeitfolie verstehen lassen. Auf der einen Seite
Nachholbedarf und Anschluss an die internationale Szene – also Sehnsucht nach einer
halb vergessenen Moderne der Vergangenheit, nämlich der Vorkriegszeit – und auf der
anderen Seite der Blick in eine sehr vage, riskante Gegenwart und Zukunft.
Radax: Höre ich ‚Zukunft’ ?
Schweikhardt: Allein deine verschiedenen Professionen damals zeigen ja wohl die
Vielseitigkeit in einem völlig neuen Umfeld als auch den Versuch die Realität als ein
notwendiges Labor zu begreifen und mit kreativem Versuch und Irrtum
voranzukommen. Also ist neben den eigenen Begabungen das Zeitkolorit schon auch
ein treibender, oder auch vertreibender Faktor?
Radax: ‚Vertreibend’ passt besser. Du musst dir vorstellen, du stehst in einer Wüste
und siehst nur den Horizont – sonst nichts. Dieser Horizont heißt ‚Burgenland’, der
andere Salzburg, oder Tirol. Bestenfalls glotzen Dich ein paar Kamele an…
Der Boden unter Dir wird immer heißer, weil nichts weitergeht. Also gibt’s nur eines:
Davonrennen ! Über die Landesgrenzen springen, irgendwo landen und sein Glück in
der Arbeitssuche finden.
Italien war naturgemäß mein erstes Ziel; aber nicht Urlaubsziel. Das war 1952 noch ein
echtes Weltklasse-Filmland, bevor es vom völlig geistlosen Fernsehen ruiniert wurde.
In diesem Nachkriegs-Italien wurden damals noch mit sehr wenig Geld sehr gute Filme
in Schwarzweiß gedreht, das war nämlich genau die ‚Farbe der Zeit’. Allerdings hatten
viele Filmleute in den Studios der Cinecittà selbst Probleme mit der Arbeitslosigkeit.
Die konnten ‚Gastarbeiter’ nicht einmal beim Zuschauen brauchen.
Schweikhardt. Aber wieso ? Du hast doch später in Rom Film studiert ?
Radax: Jaja, das war 1955. Zunächst versuchte ich es 1952 auch in der Schweiz, die
hatte ja keinen Krieg gehabt – aber am Rande miterlebt natürlich schon. Und so waren
die ängstlichen Schwyzer noch zu wie Austern. Immerhin hat Dir mancher eine himmlisch riechende Tafel ‚Schockchi’ geschenkt, oder teure Zigaretten, deren Duft mir
heute noch um die Nase weht. Caporal, Kyriazi Frères, Life, Parisienne – das war
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damals halt der größte denkbare Luxus – und dazu das unglaubliche französische
Essen, allerdings zu unglaublichen Preisen.
Schweikhardt: Also war’s in der Schweiz auch nix mit dem Arbeiten beim Film ?
Radax: Damals nicht. Aber 3-4 Jahre später waren sie schon froh, etwas frisches Ausländerblut in die erstarrten Filmkanäle zu pumpen. Vorher versuche ich es auch noch in
Deutschland. Im grauslichen Winter 54/55 bin ich bis Hamburg hinauf getrampt, alles
per Autostop und zu Fuß durch die Ruinen-Städte. Ich musste unbedingt den damals
berühmten Regisseur und Schauspieler Helmut Käutner kennen lernen.
Sein Film, ‚Der Apfel ist ab !’ hatte mich ja 1949 in Wien so beeindruckt, dass ich zum
Drehbuchschreiben anfing. Käutner fand auch meinen ersten Spielfilmversuch ‚Das
Floß’ bemerkenswert. Hatte aber an der Hamburger Oper keine Arbeit für einen jungen
Filmbegeisterten – und selber keinen neuen Auftrag.
Schweikhardt: Aber, hast Du nicht der Berliner Akademie… ?
Radax: Du erinnerst mich. 16 Jahre später, 1970, hat dieser Helmut Käutner sich an
meine Parforcetour erinnert und mir als Präsident den ‚Preis der Berliner Akademie’
verliehen, übrigens für das schon durch den Adolf Grimme Preis ausgezeichnete TeleDrama ‚Konrad Bayer’.
Schweikhardt: Aber 1952 war’s in Deutschland auch noch nicht möglich beim Film zu
arbeiten. Wohin bist Du dann ?
Radax: Da blieb noch das Filmland Frankreich, leider der Feind von Gestern – und so
benahmen die Pariser sich auch allen mit deutschem Akzent gegenüber. Selbst meine
surrealen Großfotos, heute in einigen Museen und Sammlungen, betrachteten sie mit
der herablassender Siegermiene. Sagen wir eher, Trittbrett-Siegermiene.
Apropos: Als Mitfahrer in einem Mercedes-Cabrio, das während der Nachfahrt von
Paris nach Holland mit 120 km/h durch einen geschlossenen Bahnschranken raste,
hätte es mich beinahe erwischt. Der reiche Fahrer ließ mich einfach liegen und sich per
Rettung ins Spital fahren. Mehr dazu steht glaube ich in meiner Homepage.
Schweikhardt: Und wie bist Du da wieder rausgekommen aus all dem ?
Radax: Erspare mir die Details, das wäre ein phantastisches Road Movie, das ich, wie
gesagt, eigentlich noch drehen, oder drehen lassen sollte. Fragt sich nur, von wem ?
Jedenfalls waren die Holländer anders als diese arroganten Franzosen.
Die Nachfahren einer gigantischen Seemacht tranken viel Bier, spielten Billard, tanzten
in den Gasthausgärten und sangen lauthals „Eenmal zall ik je weer antmoeten !’ oder
ähnliche Hits von damals. Leider kamen ihrer zu viele schon wieder aus Indonesien
heimgewandert, sodaß es nicht möglich war, auch nur als Assistent bei einem Modefotografen in Den Haag zu praktizieren und es mich wieder, quer durch die Kriegswüste
von West-Germany zurück trieb, in meine noch immer besetzte Heimat.
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Schweikhardt: Wie sahen denn die Chancen für Dich hier in Wien aus ?
Radax: Ich hatte das Glück, bei einem jüdischen Jungproduzenten, der von den Nazis
erst vertrieben, aber als britischer Frontfotograf über Italien herauf zurück gekommen
war, wenigstens fallweise als Laborant arbeiten zu können. Sogar im Fußball-Stadion
habe ich die Mannschafts-Leporellofotos feilgeboten. Entwickelt haben wir sie meterweise in Waschtrögen. Es war eine harte, aber gründliche Schulung.
Dann wurde ich Architektur-Fotograf für den ‚Wiederaufbau’ der Rathaus-Planer, und
bald auch Drehbuchautor, Beleuchter, Kameramann, Cutter usw. So habe ich mein
Handwerk von der Pike auf gelernt. Als Regisseur kann mir keiner was vormachen !
Schweikhardt: Warst du nicht auch Zeitungs-Reporter ?
Radax: Auch so eine Episode. Das war für das damals erste Wiener Boulevardblatt,
noch vor der ‚Krone’, für den ‚Bild-Telegraf’. Ich komme später nochmals darauf zurück.
Denn damals wollte ich absolut nicht Presse-Fotograf werden, sondern ‚Filmemacher’.
Aber der berühmte Erich Lessing hat meine Fotos im ‚Strohkoffer gesehen und mich
per Telegramm engagiert !
Nachts, wenn ich dienstfrei hatte, begann ich ein Drehbuch für ein junges Schweizer
Produzenten-Paar zu schreiben. Harry Emmel und Esther Strub aus Zürich hatten als
Werbegrafiker etwas Geld gespart und wollten im Ruinen-Wien etwas drehen wie eine
Mischung von ‚Der 3. Mann’ und ‚Orphée’.
Schweikhardt: Wie sind die denn auf Dich gekommen ?
Radax: Durch den H.C. Artmann. Der hatte eine Schweizer Freundin, Esther Wirz aus
Bern. Und die kannte die Emmels aus Zürich. So traf ich etwa im März 1954 zufällig
den H.C. am Fleischmarkt auf dem Weg in unser Poeten-Café ‚Stambul’. Und der H.C.
sagt mir. „Du, da sind zwei Schweizer, die suchen Dich schon. Die wollen einen Film
drehen, hier in Wien ! Er hat sie mir vorgestellt und damit das größte und schwierigste
Abenteuer meiner Jugend losgetreten, Projekt ‚Das Floß’. Ein scheinbarer Glücksfall,
denn ich wollte sowieso nicht Pressefotograf beim ‚Bild-Telegraf’ bleiben.
Leider war auch hier in Wien das Filmen teurer geworden, weil die englische ‚Rank
Film’ mit ihrem ‚3. Mann’ die Preise verdorben hatte.
Schweikardt: Wien war wieder Filmstadt geworden ? Wie war denn die Stimmung ?
Radax: Naja – neidig – die einheimischen Filmschaffenden hatten wenig mitzureden.
An den englischen Star-Kameramann Robert Krasker reichte bestenfalls unser FischerAshley heran. Aber wirklich zu reden hatte die Wiener ‚Kanalbrigade’, echte Profis, die
ich bei den Dreharbeiten vor dem ‚Opernkino’ beobachten durfte. Mein kanadischer
Chef Wilhelm Nassau war nämlich mit Carol Reed und Trevor Howard schon von der
Italienfront her befreundet. Also durfte ich als ‚Williy’s Assi’ immer wieder ‚kiebitzen’.
Schweikhardt: Wie ist es denn bei den Dreharbeiten zugegangen ? Very british ?
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Radax: Eher very wienerisch ! Du musst Dir vorstellen, schon am frühen Morgen
standen vor dem ‚Bristol’, oder dem ‚Imperial’, in dem Regisseur Carol Reed bzw. seine
Stars logierten, Hunderte von Kriegskrüppeln und Obdachlosen und jubelten ihrem
Retter zu !
‚Wie beim Hitler !’ haben viele Wiener geschimpft, die keinen Job als Komparsen
bekommen haben. Es gab Tages-Gagen von 100.- Schilling – unvorstellbar für einen
österr. Produzenten !
Schweikhardt: Und was haben dann die Schweizer gemacht ?
Radax: Die mussten ihre fabelhafte Idee, in Österreich billig zu drehen, vergessen.
Um aber ‚meine Felle nicht fortschwimmen’ zu lassen, musste mir schleunigst eine
Story einfallen, die mit den nur 10.000,- ersparten Franken technisch realisierbar war.
Aber wo ? Der Franken war damals zwar das Zehnfache wert, aber trotzdem…
Also erfand ich einen Abenteuerfilm - ein Boatpeople-Drama, wie wir es heute fast
jeden Abend im Fernsehen erleben. Schauplatz sollte ein noch nicht von Touristen
blockierter Strand im noch billigen Italien sein: Monterosso al Mare.
Schweikhardt: Hast Du dort nicht auch ‚Sonne halt!’ gedreht ?
Radax: Ja, eben auch deswegen, aber erst 1959, also fünf Jahre später.
Aber meinen ersten Spielfilm ‚Das Floß’ habe ich ja schon 1954 mit 22 Jahren gedreht.
Ein Wagnis, für das ich tatsächlich einige junge Schauspieler begeistern konnte. Unser
10-Mann-Team hauste dann wochenlang in 5 Zelten im Gasthausgarten von ‚Fegina’,
dem Strand von Monterosso, wo damals in den ‚Ferragosto’ höchsten 20 Touristen
Urlaub machten. Heute sind’s über 2000 an den Wochenenden von Juli bis September!
Wo früher quasi nichts war als Strand, ist heute alles voll Betonhotels und Parkplätzen,
Ich war letzten September kurz dort, um zu drehen, was von damals noch übrig war.
Das werde ich in meiner ‚Auto-Videographie’ dem gegenüberstellen, wie es einmal war.
1954 schwamm unser Floß noch auf menschenleeren Wogen.
Schweikhardt: Das ‚Floß’ war also quasi ein prophetischer Stoff ? Andererseits war
deine Generation doch gerade einem Atomkrieg entkommen.
Radax: Hiroshima hatte damals eine für mich immer noch sehr starke Nachwirkung.
Ich habe sogar einen Zyklus von 23 Hiroshima-Themen auf geschenkte Schultafeln
gemalt und den großen ‚Atom-Dom’, in der Ernst Fuchs Galerie in der Millöckergasse
ausgestellt. Natürlich hat keiner diese grauenhaft schwarz-rot lodernden Bilder gekauft.
Schweikhardt: Du hast also die Malerei seit 1953 nicht völlig aufgegeben ?
Radax: Ich versuchte sogar von irgendwelchen Aufträgen zu leben. Japanischen Motiven als kolorierte Radierungen, von denen neulich 2 im Internet aufgetaucht sind ! Aber
natürlich hatte ich als Filmemacher inzwischen genügend Praxis, um immer wieder
gute Aufträge zu bekommen – allerdings nur im Ausland !
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Schweikhardt: Und wie ging also die Geschichte mit den Boat-People ?
Radax: Afrikanische oder asiatische Boat-People waren das keine, sondern Europäer !
Das war ja der Clou. Vier junge Leute fliehen von einem zerstörten Kontinent, weg von
‚Europa’ und hinüber nach ‚Amerika’, ins ferne Paradies. Sie kapern ein Fischboot,
haben natürlich keine Ahnung von Navigation und stranden wieder etwa dort wo sie 3
Tage zuvor weggefahren sind. Aus Leichtsinn explodiert auch noch ihr Fischkutter !
Aber - sie geben nicht auf. Sie zimmern sich ein Floß aus Bäumen und fahren um’s
Verrecken noch einmal los ! Bei einer Rauferei geht auch noch der Kompass verloren.
Jetzt segeln sie nur mehr der Sonne nach, der Proviant wird knapp, auch das Wasser.
Nach stürmischen Tagen mit zerfetztem Segel und hohen Wellen sehen sie sich von
Kriegschiffen umgeben. Welches wird sie retten ?
Schweikhardt: Eine seltsame, aber ziemlich pessimistische Story.
Radax: Ich fand das Echte, das Dokumentarische an der Geschichte interessant.
Schweikhardt: Erinnert mich auch an das berühmte Gemälde ‚Das Floß der Medusa’.
Radax: Und für mich hat die Story, natürlich drei Jahrzehnte später, mit dem leider
selten gezeigten Bergmann-Film ‚Schande’ Ähnlichkeiten. Natürlich hatte ich keine Liv
Ulmann als das Model ‚Gina’ und keinen Max von Sydow als Fischer ‚Konrad’ im Team.
OK – aber wir waren alle begeistert von der Sache und der Aussicht auf ein echtes
Abenteuer. Ein wenig Thor Heyerdal-Romantik spielte wohl auch mit, der damals mit
seinem Strohboot den Pazifik überqueren wollte – und kläglich gescheitert ist.
Das Thema war total ‚zeitgeistig’. Genau so war auch unsere eigene Weltuntergangsstimmung. Wir waren die echte ‚No-Future Generation’. Unsere Sorgen waren nicht die
der heute kindisch-verwöhnten, übergewichtigen Jugend: Kreditkarten, Matura-Urlaub,
Safer Sex, teure Sonnenbrillen und schicke Handies. Wir hatten gerade einen ‚Heißen
Krieg’ hinter uns, und schon wieder einen ‚Kalten’ vor uns. Was konnten wir tun, um
diese wahnsinnige Welt vor sich selbst zu retten ? Einen echten Antikriegsfilm drehen !
Also haben wir uns bis zum Gehtnichtmehr ausgebeutet, in Zürich sogar die komplizierten Kajüten-Dekorationen ganz alleine aufgebaut; fuhren ein paar Mal hinunter zum
Drehen und wieder hinauf zum Drehen – bis uns halt das Geld ausgegangen ist.
Schweikhardt: Tja - was habt ihr dann gemacht ?
Radax: Ich habe zunächst mit einfachsten Mitteln einen Rohschnitt fabriziert. Damals
musste man das Filmtempo von 24 Bildern pro Sekunde mit der Filmkurbel drehen,
also das richtige Tempo quasi im Handgelenk haben.
Vielleicht habe ich ‚Sonne halt !’ deshalb mit einer alten Handkurbelkamera aus den
30igerjahren gedreht. Es ist einfach das ursprünglichste Filmemachen. Nix mit Motor
und so, oder der ganzen heutigen Elektronik. Schon in der einfachsten Mini-Cam sind
jetzt alle möglichen Filme-Tricks integriert. Jeder Trottel kann heute auf Knopfdruck
seinen ‚Experimentalfilm’ in Echtzeit’ produzieren. Aber das sind keine Experimente.
Man hat ja auch schon so viel gesehen. Nur fehlen halt die genialen Ideen…
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Schweikhardt: Wie soll Deiner Meinung nach eine experimentelle Filmstory sein ?
Radax: Das eben ist die ‚Gretchen-Frage’. Meine Erkenntnis aus ‚Sonne halt !’ lautet:
Eine echte Film-Geschichte muss ‚uneinholbar’ sein !’ Verstehst’, was ich meine ?
Schweikhardt: Schwerer Brocken. Wenn das ein Fernsehdramaturg hört ? Apropos:
Habt ihr den Rohschnitt vom ‚Floß’ irgendwann vertonen können ?
Radax: Geld für ein richtiges Tonstudio hatten wir sowieso keines. Warten, bis die
Emmels wieder genügend verdient hätten, wäre ein weiteres Jahr in der Schweiz, wo
ich damals noch gar nicht offiziell arbeiten durfte.
Wir haben also einen alten Projektor geliehen, über den ‚Schneidetisch’ eine Kabine
gebaut, damit möglichst wenig Geräusche bis zum zehn Meter entfernten Mikrophon
kommen, um das sich unsere drei ‚Schauspieler’ gedrängt haben. Der vierte war schon
wieder nach Wien abgereist, ans Reinhardt-Seminar. Also musste sogar der Produzent selbst zwei Rollen sprechen. Es war wirklich die letzte Notlösung mit Null-Mitteln !
Schweikhardt: Hat sich denn kein neuer Geldgeber gefunden ?
Radax: Bei der Rohschnittvorführung dieser sehr einfachen Nachsynchronisation, aber
immerhin auch mit Geräuschen und einer dramatischen ‚Petit Symphonie’ von Ernest
Ansermet eingeblendet, waren ein paar besser situierte Freunde der Emmels im
Kopierwerk ‚Turicop’ erschienen. Leider auch, als schweizerische Rückversicherung,
der damalige Star-Filmkritiker René Brodmann. Und der hatte nichts besseres zu tun
als den Film in der Luft zu zerfetzen ! Wenn sie nur über etwas herfallen können !
Der Kritiker muss ja selber nichts können, außer gut kritisieren !
Ich denke, ohne diesen arroganten Ahnungslosen hätten wir die fehlenden 10.000,Franken wenigstens geliehen bekommen. Man hätte die paar noch fehlenden Szenen
ergänzen und das Ganze in einem professionellen Studio vertonen können, wie andere
‚Low Budget’ Filme auch. Geldmangel war in der Schweiz nie ein Thema, außer in der
Filmwirtschaft, der es dort niemals wirklich gut ging. In Filme zu investieren, war den
Schweizern immer unheimlich, Filmleute von vornherein verdächtig. Nur sieht man jetzt
bei der UBS-Pleite, wer die größeren Gangster sind, die Bankster, nicht die Kunden.
Schweikhardt: Ist ‚Das Floß’ noch wenigstens als teilvertontes Fragment erhalten ?
Radax: Produzent Emmel hat die Arbeitskopie und das gesamte Negativ in Zürich,
wirkt auf mich aber schon zu alt und enttäuscht, um das Ganze nochmals aufzurollen.
Ich hingegen möchte immer noch mit ein paar jungen Schauspielern die besten Teile in
einer Art ‚Work in Progress’ nachsynchronisieren und die fehlenden Teile mit Fotos im
Rasterverfahren ergänzen. Das war nämlich meine spezielle ‚Optik’ für diesen Film, die
ich übrigens dann auch in ‚Mosaik im Vertrauen’ ausprobieren wollte. Die Szenen
sollten aussehen wie Zeitungsfotos, also gerastert, und nicht wie glatte Leinwandbilder.
Das Ganze sollte an Land gespült werden als ein Fetzen Zeitungspapier auf dem eine
Story steht, die von einem Spaziergänger gefunden wird.
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Vielleicht vollende ich den Film noch vor dem Abkratzen ?
Schweikhardt: Warum hast Du ‚Sonne halt !’ am selben Ort wie ‚Das Floß’ gedreht ?
Radax: Weil ich ein sturer Hund bin und bis 1959 gewartet habe. Ich hatte ‚Das Floß’
1954 unter größten Entbehrungen in dem gottvergessenen Fischernest gedreht, monatelang, umsonst ? Das Debakel hatte aber etwas Gutes für sich:
1955 hat Peter Kubelka in Wien meine Floß-Arbeitskopie gesehen und gefunden, dass
die Kamera ziemlich interessant geführt war, in echt dokumentarischem Schwarzweiß,
mit strengen Filtern und vor allem schon mit einem Zoom-Ojektiv, das die Franzosen,
wie ich hörte, damals weltweit als die Ersten gebaut hatten.
Und so habe ich bei ‚Mosaik im Vertrauen’ die Kamera gemacht, diesmal mit einer
‚Arriflex’ 35mm, natürlich hauptsächlich in Schwarzweiß, mit nur wenigen Farbkadern.
Peter dachte damals, wir kämen mit dem Kurzfilm vielleicht sogar in einen Kinoverleih ?
Schweikhardt: Woher hat er überhaupt das Geld gehabt ? Eine Erbschaft ?
Radax: Nein. Der brave, noch junge Priester Dr. Malik, ein Linzer Pfarrer, bei dem der
Peter früher ministriert hatte, hat dem Caritas-Chef, ich glaube, Prälat Rudolf hieß er,
eingeredet, dass die ‚Caritas’ unbedingt endlich eine Art Werbefilm bräuchte, um in der
Öffentlichkeit besser präsent zu sein.
Schweikhardt: Was - die ‚Caritas’ hat das Experiment tatsächlich bezahlt ?
Radax: Der Peter hat ja noch nicht gewusst, dass aus seiner menschelnden Story ein
Experimentalfilm wird. Der hat denen eine Geschichte erzählt, kreuzbrav und christlich,
sodaß niemandem der Verdacht kam, es könnte sich etwa um ein Experiment handeln.
Mir hat diese offizielle Fassung zwar nicht gefallen, aber ich wusste, wir werden noch
darüber diskutieren müssen und beim Drehen verläuft dann manches ganz anders.
Ach ja – die Bezahlung Du wirst lachen, dreißig Mönche haben tatsächlich je 1000,- Schillinge von ihren Sparbüchern abgehoben und dem guten Pater Malik anvertraut. Peter und ich sind dann im
Juni 55 in Wels auf der Terrasse des ‚Hotel Greif’ großartig und stundenlang bei einem
Großen Braunen gesessen und haben über Film, Gott, die Welt und alles mögliche
debattiert, bis so eine Art Story herauskam, oder ein etwas schizophrenes Drehbuch.
Schweikhardt: Wieso schizophren ?
Radax: Naja – weil der Eine das wollte und der Andere jenes. Der Peter den Verismus,
von dem ich nach dem ‚Floß’ genug hatte, und ich endlich ausprobieren, was man mit
einer echten Profi-Filmkamera alles machen kann ?
Dabei wurde jedem von uns auf seine Weise klar, welche Regisseure, oder welche
Filmart für ihn entweder inakzeptabel war, z.B. Hitchcock !, und welche Filme für die
Zukunft auch für uns Österreicher akzeptabel wären, z.B. die italienischen Neoveristen.
Willy Forst, Hans Moser, Antel, Kolm-Veltée´-Filme kamen sowieso niemals in Frage.
Und von der ‚Nouvelle Vague’ war damals noch gar keine Rede ! Nach ‚Mosaik’ sind
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wir aber beide in völlig andere Richtungen gegangen. Peter wollte wohl doch keinen
‚Rossellini-Realismus nachmachen, sondern wurde immer ‚abstrakter’ und ich hoffte
den ‚Raben’ von Kudrnofsky irgendwann erreichen und sogar übertreffen zu können.
Schweikhardt: Was Dir ja mit ‚Sonne halt !’ gelungen ist. Aber war dieses ‚Greif’ nicht
auch das Hotel, in dem viele Jahre später die ‚Österr. Filmtage’ stattgefunden haben ?
Radax: Genau ! An diesem ‚historischen Ort’ haben wir schon über zwei Jahrzehnte
vorher diesen Caritas-Kurzfilm sozusagen geistig geboren. Der 1956 in Paris immerhin
mit dem ‚Internationalen 1. Experimentalfilm-Preis’ ausgezeichnet wurde.
Schweikhardt: Und in Linz gedreht worden ist. Wo denn genau ?
Radax: Am Ende dieser berühmten Linzer Tramway breitet sich ein riesiges Areal der
Bundesbahn aus, ein endloser Rangierbahnhof mit teils halb verrosteten Geleisen und
entweder abgestellten, oder schon lange ausrangierten Waggons.
Das war unsere ideale Spielwiese. Der Peter mit den Spielszenen und ich mit dem
Experimentieren. In der Gluthitze dieses Sommers 1955, offenbar auch unter Einfluss
einer täglichen Kiste Coca Cola, haben wir beim Drehen vor Ort die Filmstory erst so
richtig erfunden. Irgendwie jeder seine eigene.
Schweikhardt: Ich dachte, ihr habt gemeinsam ein Drehbuch verfasst ?
Radax: Naja, schon, aber der Peter hatte den Caritasleuten immer versprochen, dass
es darin um einen armen Vagabunden geht, den sein Freund Putnik aus Rom spielen
sollte, der von einem echten ‚Bahnbediensteten’ verscheucht werden soll. Da es der
Obdachlose offenbar auch noch auf seine Tochter (Peters Freundin) abgesehen hatte.
Natürlich habe ich loyalerweise gedreht, was Peter da an kleinen Spielszenen inszeniert hat. Aber nach dem Scheitern einer Spielfilmstory wie ‚Das Floß’, hatte ich keinen
Bock mehr auf geschauspielerte Filme. Und so entwickelte ich mit der Kamera oft ganz
andere Perspektiven und Einfälle. Z.B. eine Fahrt auf einer Draisine über die GeleiseBalken, aber mit der am Kopf stehenden Kamera. Man kommt eben beim wochenlangen Betrachten von Geleisen und Signalen, Stellweichen und Drähten auf ganz
andere, philosophische Gedanken über seine Zukunft. Außerdem brachte ich Konrad
Bayer und seine Ida als ‚reiches Paar im Oldtimer’ in die Story. Und natürlich die ganze
Wochenschau mit dem riesigen Unglück beim ‚24 Stunden-Rennen von Les Mans’ !
Schweikhardt: Ohne jetzt näher auf ‚Mosaik’ einzugehen – du bist dann im Herbst 55
nach Rom zum Studium ans ‚Centro Sperimentale di Cinematografia’ gegangen.
Hat dich das irgendwie weiter gebracht, ich meine, mit zusätzlichen Theorien usw. ?
Radax: Mein Traum war ja schon 1952 in Cinecittà beim Film volontieren zu dürfen,
aber es war mir erst 1955 endlich möglich, mir ein Studium am ‚Centro Sperimentale
die Cinematografia’ irgendwie leisten zu können. Eine strapaziöser Winter war das.
Eigentlich brachte mich Peter auf die Idee, weil er vom O.Ö. Landeshauptmann Dr.
Gleissner, übrigens als Diskuswerfer, ein Stipendium für Rom erhalten hat, weil er sich
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für Film interessierte. Ich hingegen hatte zwar schon seit 1949 alle lesbaren Theorien
samt der Film-Praxis durchgeackert, bekam aber von Wien trotzdem kein Stipendium.
Dennoch bildete ich mir ein, das italienische Filmstudium könnte mein praktisches
Wissen auch noch theoretisch krönen. Denn von der Wiener ‚Filmakademie’, an zwei
Abendkursen pro Woche, mit zwei ziemlich hilflosen ‚Filmlehrern’, konnte ich wirklich
nichts mehr profitieren. Also dachte ich, Rom wird der Nabel der Filmweisheit für mich
werden – aber – er war es leider auch nicht !
Schweikhardt: Wieso konntest du auch dort nichts mehr Neues lernen ?
Radax: Man machte sich dort schnell Feinde, wenn man aus der Praxis heraus mehr
wusste als der Herr Lehrer. Seither sind für mich Lehrer Versager, die sich im rauen
Klima des Berufslebens nie hätten durchsetzen können und zurück in die Schule
geflüchtet sind. Z.B. kam der berühmte Drehbuchautor Zavattini nur vorbei, um ein,
zwei Vorlesungen zu halten und dann schnell wieder zu Dreharbeiten zu verschwinden.
Das Beste in Rom war noch die Aufnahmeprüfung, die ich mit meiner Fotoserie aus
dem ‚Strohkoffer’ bestand und meine Liebe zu Italien mit kurzen Ausschnitten von ‚Das
Floß’ dokumentieren konnte. Außerdem stammte mein Großvater mütterlicherseits aus
dem ‚Alto Adige’, was mich spontan zum Con-Patriota erhob.
Schweikhardt: Aber irgendwas müssen ja die Strapazen und Kosten gebracht haben.
Radax: Naja - der beste ‚Unterricht’ am ‚Centro’, das waren die ‚Projektionen’, tägliche
Vorführungen von allen möglichen Filmklassikern. Peter und ich haben sie stundenlang
‚inhaliert’, und wenn es hell wurde uns zwischen der Sitzreihe versteckt. Später hat
Kubelka im Filmmuseum ‚Albertina’ die meisten dieser Weltklassiker präsentiert, ohne
die Wien noch bis heute ein amerikanisches Filmdorf geblieben wäre.
Schweikhardt: Jetzt gilt „Sonne halt“ geradezu als Gegenteil eines Hollywoodfilms.
Der 26 Min. lange Kurzfilm ist geradezu Synonym und Etikett für den österreichischen
Aufbruch im Film geworden. Seine Entstehung war aber keine so glatte Geschichte,
sondern eine eher dornenreiche…
Radax: …wie auf über 15 Seiten in meiner Homepage nachzulesen. Die Entstehung
von ‚Sonne halt !’ wäre eine spannende Verfilmung als Road Movie.
Solche Filme sind immer vom Schicksal als Drehbuchautor geschrieben worden.
Aber wem von den österr. Regisseuren sollte ich die Verfilmung zutrauen ? Wenn ich
mir ansehe, was in den letzten 20 Jahren hier mit staatlicher Hilfe gedreht und produziert wurde, bin ich ziemlich ratlos. Eine Handvoll zwar sehr konventionell, wenn auch
von immer denselben 2-3 Regisseuren gekonnt gedrehte Spielfilme fallen mir ein.
Die nur durch die Erhaltung von Arbeitsplätzen gerechtfertigt, subventionierte Einfallslosigkeit vieler Spielfilme ist schockierend. Und dann noch der in der ‚Filmakademie’
‚abdressierte’ Mangel an Originalität, lähmt ein paar Talente, die nicht nur ORF-Pfründe
sondern Werke anstreben, die keinen ‚Oscar’ brauchen, um ehrlich gut zu sein.
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Schweikhardt: Na schön – damals konntest Du machen, was Du willst, ohne Rücksicht auf Kino und Verleih, auch ohne Fernseh-Redakteure.
Radax: Aber mit Rücksicht auf mich und meine Ehre als Filmemacher ! Ich habe 1959
diese kläglichen 5.000,- Schillinge Subvention vom BfU, dem Bundesministerium für
Unterricht und Kunst, nur angenommen, um mir beweisen zu können, dass meine
Grundsätze richtig waren, die mir in 10 Jahren Filmpraxis allmählich aufgegangen sind.
Schweikhardt: Als da zum Beispiel wären ?
Radax: Erstens: Dass jeder Film nur die ihm inhärente Filmhandlung darstellen darf.
Einfach gesagt, aber schwer nachvollziehbar. Wenn man ‚Sonne halt !’ wirklich analyieren will, verweise ich auf eine DVD-Edition der TFMW‚Theater-, Film- und MedienWissenschaft’ der Wiener Uni, in der ich versuche, das Phänomen dieses rätselhaften
Films zu erläutern und immer wieder gestellte Fragen zu beantworten.
Zweitens: Ein wirklich vom Publikumsgeschmack, Kommerz, Verleih, auch Festivals,
Oscars, Palmen und Bären, die uns geschmierte Juroren aufbinden wollen, vollkommen unabhängiger Film, muss ein ganz persönliches Kunstwerk sein, sonst nichts !
Darunter verstehe ich auch keine, mit verführerisch kurz aufblitzenden Amateur-Pornos
aufgegeilten ‚Experimentalfilme’. Selbst da schon haben sich Geschäftstüchtigkeit, eitle
Gefallsucht und vor allem das Streben nach Berühmtheit eingeschlichen !
Nach dem bekannten Theorem ‚Dichter seid dunkel !’ sollen Filme wie ‚Sonne halt !’
unergründlich sein wie Gedichte. Sie sollen auch nach wiederholtem Sehen nichts von
der Kraft der ersten Begegnung verloren haben.
Man erkennt daran, wie alt man inzwischen geworden ist, aber nicht dieser Film.
Schweikhardt: Wenn Du behauptest, jeder Film kann nur seine eigene, ihm inhärente
Geschichte erzählen, wie meinst Du das ? Braucht er kein Drehbuch ? Stört die Verfilmung einer literarischen Vorlage, einer noch so exklusiven ?
Radax: Wenn man sich Bunuels Film ‚Die Milchstraße’ ansieht, merkt man, wie dieser
Regisseur als einer der ganz wenigen, mit den Inhalten spielt, die sich aus dem Schein
ergeben, welche die Szenen in unserem normalen Bewusstsein erwecken.
Film ist wie Zauberei die Kunst der blitzartigen Täuschung durch ‚Bild-Realitäten’, die
es so in Wirklichkeit gar nicht gibt, oder nicht geben kann, oder nicht geben sollte.
Bunuel spielt mit Zeitsprüngen in einer uns fast langweilig vertraut scheinenden Welt.
Aber wer interessiert sich hier schon für Bunuelfilme ? Die Mentalität ist viel zu fremd.
Die ganze Film- und Fernsehindustrie lebt doch fast nur von Massen, die sich dauernd
langweilen, weil sie zu geistlos sind, um gute Bücher zu lesen. SMS werden gelesen !
Boulevardblätter. Schlechte Nachrichten. Katastrophen, Kriminalromane und FernsehKrimis, wo zweitklassige Schauspieler als lächerliche KommissarInnen, andauernd nur
die immer wieder selben Mordfälle aufklären, jeden Abend 10, pro Monat ca. 60 Stück !
Wir leben in einer blutrünstigen Welt, aus der eine vom Neandertaler zu Beamten
domestizierte Spießer-Masse immer wieder nur der Aderlass eines neuen Krieges
erlösen kann. Die zivilisierten Massen schreien förmlich nach Mord, beten ihn herbei !
Das ist aus dem Kulturauftrag des Fernsehens geworden, der Altar der blutigen Krimis.
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Natürlich muss alles nur etwas schöner gefilmt sein als die Wirklichkeit. Außerdem ist
jeder seriöse Regisseur darauf bedacht, eine Art ‚Weißes Band’ um die Stirne zu
tragen, damit man gleich weiß: Hier geht es nicht um kommerziell verfilmten Sadismus,
sondern um Aufklärung und Moral, um diese schlechte Welt endlich zu verbessern.
Ich brauche ja nur die Visage eines Regisseurs zu sehen und weiß, was der für Filme
am liebsten macht. So wie Schauspieler, können auch sie nicht ihr wahres Ich verbergen, das sich im Laufe der Karriere-Kämpfe in ihr Gesicht förmlich eingeknetet hat.
Allein der ehrliche Dokumentarfilm reißt dem Leben die Maske vom Gesicht !
Schweikhardt: Nenne mir bitte ein Beispiel.
Radax: ‚Einfahrt eines Zugs in die Station’, ein berühmtes, frühes, kurzes StummfilmDokument, hat für mich weit mehr ‚Impact’, Mister Einstein, als die ganze, langatmige
‚Spezielle Relativitäts-Theorie’. Bei Ihren Formeln kann man nur vermuten, was Zeit ist.
Im Dokumentarfilm kann man es wirklich sehen !
Schweikhardt: Apropos Einstein, du hast ‚Sonne halt !’ 1960 in Bern geschnitten –
Radax: Ja, sehr komisch – ohne zu wissen, dass Einstein 1905 dort im Patentamt
gearbeitet und seine erste Relativitäts-Theorie entwickelt hat. Auch stellte sich heraus,
dass die richtige Herleitung der berühmten Formel „E = mc hoch 2“, erst sechs Jahre
später seinem Kollegen Max von Laue gelangt, der dafür den Nobelpreis erhielt.
Einstein hatte es immerhin wenigstens richtig vermutet ! Irgendwie ging es mir ähnlich
bei der Montage des Filmes. Irritiert hat mich die Lektüre von Velikovsky’s berühmtem
Werk ‚Worlds in Collision’. Darin geht es um einen nahen Venus-Durchgang, der das
Rote Meer zur Zeit der ‚Flucht aus Ägypten’ geteilt haben soll.
Schweikhardt: Es geht also um ein ähnliches kosmisches Ereignis wie im Film.
Radax: Die bekannte Bibel-Story von den armen flüchtenden Jidden, verfolgt von den
bösen Ägyptern, hatte ja vielleicht einen völlig anderen, astrowissenschaftlichen Grund.
Also kam mir der Verdacht, dass auch mein Film im Grunde eine ganz andere, eigene
Story in sich hat, die ich erst herausfinden musste, obwohl ich ja die Szenen alle selber
gedreht hatte. Wenn ich damals nur gewusst hätte, warum ? Schau Dir auf Uni-DVD
meine Überlegungen zum Thema ‚Der Film als Patient’ an.
Schweikhardt: Wie hast Du denn überhaupt gedreht, ohne Buch oder Manuskript ?
Radax: Aus dem Bauch, aus der momentanen Lichtsituation, der Improvisation heraus,
wie ein Maler, der durch die Landschaft wandert, seine Staffelei plötzlich irgendwo
aufstellt und zu malen beginnt. So bin ich, die 35mm-Kamera am schweren Stativ auf
der Schulter, durch die gebirgige Uferlandschaft von Fegina geklettert, Konrad mit mir,
und habe plötzlich gerufen: „Halt ! Da ist es. Beeilung ! Es geht um Minuten !“ Konrad
kannte schon diese Spontanfilmerei und ließ sich in die richtigen Positionen dirigieren.
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Und dann wurde, oft in den letzten Sekunden der sinkenden Sonne, quasi aus dem
schwindenden Licht, eine Szene geboren die den Hauch der Ewigkeit atmete und auf
dem Film für immer festgehalten wurde. Von wie weit her war dieses Licht gekommen !
Zwar waren Konrad und ich fleißige, unserer schwierigen Aufgabe durchaus bewusste
Autoren. Aber wir schrieben offenbar mit unsichtbarer Tinte, bei der alles erst wieder
sichtbar wird, wenn man die Sätze verfilmen will. Viele Abende sind wir bei mir in der
Küche gesessen und haben auf dem groben, gelben Packpapier die Szenen für den
nächsten Tag entworfen. Aber was wir drehen wollten, wollte der Film nicht drehen.
Schweikhardt: Das gibt’s doch gar nicht !
Radax: Doch ! Plötzlich schien die Sonne wieder völlig anders als am Tag vorher. Alles
war überhaupt nie mehr so, wie wir es am Vorabend gehabt hätten. Also mussten wir
vor laufender Kamera immer gänzlich neue Szenen erfinden. Das gestern
Geschriebene natürlich immer im Hinterkopf ! Ein ständiger Kampf mit unsichtbaren
Kräften, mit denen sich das Filmmaterial verschworen zu haben schien. Es wollte
drehen, was ihm gerade gefiel, oft nur inspiriert durch das schräge kalte Winterlicht,
oder was es immer schon gefilmt haben wollte – nur war keiner da, bis wir beide
kamen, angezogen vom ‚Genius Loci’ der ‚Vatikanischen Gärten’. Ein magischer Ort,
an dem ich plötzlich ahnte, hier wäre ich schon früher einmal gewesen. Dabei schien
es bloß ein dèja vu zu sein. Im ‚Vatikan-Garten’ gibt es eine Szene, wo Bayer hinter
eine Palme blickt, hinter der kurz vorher ‚Eva’ mit der Tarnkappe verwunden war, und
er jetzt ratlos murmelt:
„Sie musste das Telephon im Fallen mitgerissen haben.“ Dabei kommt er in Gedanken
zur Kamera heran und auf einmal ist man in derselben exotischen Stimmung wie der
Held in Bunuels leider selten gezeigtem Film „La mort en ce jardin“.
Filme wie ‚Sonne halt !’ nehmen einem quasi die Regie aus der Hand !
Scheinbar eigene Ideen werden plötzlich von selten verwendeten Optiken aufgedrängt.
Wie die Totale von tief unten mit der Palme, unter der Konrad mit der ‚abgeschossenen
Sonne’ im Wintermantel erscheint und Sätze zitiert, wie aus dem Prospekt einer Bank.
Schweikhardt: Du hast mit diesem Werk einen Prüfstein für Originalität und Inhalt des
Experimentalfilms, quasi einen Klassiker geschaffen, über den der angesehene Filmhistoriker Andreas Ungerböck zur ‚Standard-Edition’ von ‚Sonne halt !’ schreibt:
„Wie ein Juwel funkelt Radax’ spektakuläre Bild- und Toncollage bis heute, trotz all der
Schwierigkeiten der aufwendigen Gestaltung.“
Radax: Das hängt sicherlich damit zusammen, dass der Film nicht irgendeine formale
Spielerei ist, sondern ein elementares Thema berührt, den ‚Abschuss’ der Sonne ! Man
hat im Kino schon alles gesehen, aber das noch nicht. Die Inder waren ganz aus dem
Häuschen als sie den Film in Mumbai, Kerala und Delhi gesehen haben ! Das war halt
andere Kost als ihre kindischen Bollywood-Tanzereien. Die geht ‚an’s Eingemachte’.
Uralte Mythen wurden im Unterbewusstsein wach, ernste Zweifel an Welt- und ProvinzReligionen geweckt. Angefangen vom Sonnengott Aton im alten Ägypten, über Zeus,
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Apoll, Prometheus, Mitras, bis zur Tyrannei des Alten Jehova, scheint alles lächerlich,
wenn so ein kleiner Mensch die große Sonne abschießen kann. Aber die Menschen
haben immer schon ihre Götter gestürzt und schließlich sogar dem Prometheus mit der
Atombombe auch die Fackel mit dem göttlichen Licht entrissen !
Schweikhardt: Darum lässt Du Konrad Bayer die Sonne abschießen ?
Radax: Ein Attentat auf die göttliche Tyrannei. Danach ist nichts mehr sicher.
Schweikhardt: Eben. Aber nach welcher Art von Story hast Du den Film geschnitten ?
Radax: Ich habe mir jede Szene wie einen Pool-Billard-Tisch von oben angesehen.
Stieß ich mit einer Szene in eine Richtung, in der bereits andere Szenen durch ihre
Bedeutung fixiert schienen, zerstörten sie diese Konstellationen und es ergaben sich
laufend wieder völlig andere Möglichkeiten, sie neu zu schneiden. Aber dieser Zufallsgenerator funktionierte nur bis zu der den Szenen inhärenten Bedeutung.
Schweikhardt: Und wie bist Du dann zum Ende gekommen ?
Radax: In dem ich den Film so lange immer wieder umgeschnitten habe, bis er ‚von
sich aus’ keine weitere Änderung mehr zuließ. Das nenne ich eine dem Film bereits
inhärente Geschichte nachgestalten. Dem Material nachgeben, wohin es drängt. Hat
aber wiederum mit der utilitaristischen ‚Found Footage’-Mode mancher Experimentalfilmer weder praktisch noch theoretisch etwas gemeinsam.
‚Worte fallen nicht ins Leere !’, sagte Borges. Also Achtung ! Wenn Filmabschnitte unter
den Schneidetisch fallen weiß man nie, welche Szenen sie dort ausbrüten !
Schweikhardt: Also deshalb gibt es von dem Film 3 Versionen: Eine 60minütige, eine
40minütige und eine –
Radax: Mit 26 Minuten. Die endgültige, von mir autorisierte. Was ich aus der ersten
und zweiten Fassung an Negativen herausgeschnitten habe, das habe ich verbrannt,
damit nur die letzte Version zum Kopieren bleibt. Typischer Weise hat man auch dieses
einzige Negativ samt der Erstkopie, anlässlich der Auflösung des ‚Wien Film-Kopierwerks’ in Grinzing, beim Transport zum Filmarchiv in Laxenburg irgendwo verschlampt,
oder einfach weggeworfen, während ich meist in Deutschland gefilmt habe und es so
erst in den 90iger-Jahren rein zufällig erfahren habe. Gottseidank hatte ich noch eine
Privatkopie, von der die Sixpackfilm ein Dup gezogen hat, auch vom Ton. Das Werk
wurde also in der Endfassung gerettet.
Schweikhardt: Das Österr. Filmarchiv besitzt die einzige Kopie als längste Fassung ?
Radax: Die ich persönlich nur als ersten Versuch erachte, das Material zu bewältigen.
Der Kubelka wollte dann fürs ‚Filmmuseum’ die 2. Kopie, weil sie ihm ‚italienischer’
scheint, was mir ursprünglich auch so gefiel. Aber dann kam ich dahinter, dass der Film
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mit Italien, den ‚Cinque Terre’ und Monterosso, Fegina überhaupt nichts zu tun hatte.
Dass es bei der Gestaltung um eine Art Kosmo-Magie ging. Sich die gedrehten Szenen
in magischer Weise zu verselbstständigen schienen.
Den unsagbaren Mythos aus dem Alten Testament, ‚Steh’ still, Sonne, über dem Tal
Gideon’, oder ähnlich und ‚Mond…’ usw. wollte ich vom Nimbus dieser albernen
biblischen Rachesprüche entschlacken um den Leuten klar machen: Wir sind heute
durchaus imstande, unsere Sonne abzuschießen. Aber wenn ihr das gesehen habt,
wäre es euch lieber, sie würde ‚oben’ geblieben sein, wo sie hingehört.
Schweikhardt: Wolltest Du nicht einmal eine Fortsetzung des Filmes versuchen ?
Radax: Ja – schon während der Schneidearbeit in Bern las ich in einem dieser wissenschaftlichen Bücher, die ich dauernd lesen muss, so wie andere die ‚Bibel’, dass die
Amerikaner dabei waren, irgendwo in der St. Bernhard-Wüste eine elektrische Kanone
aufzubauen. Zwei parallele, 3 Kilometer lange Rohre, direkt auf die Sonne gerichtet !
Schweikhardt: Um sie abzuschießen ?
Radax: Na klar ! – eine geballte, elektrische Energie, oder sogar atomare, wollten die
da hineinschießen um zu sehen, typisch kindisch, was dann passieren würde. Wenn
also heute die Sonne plötzlich erlischt, können wir annehmen, dass sie vor genau 8 ½
Minuten aus wissenschaftlichem Interesse für die Menschheit abgeschossen wurde,
Amen.
Schweikhardt: Man sollte sich ‚Sonn halt !’ vielleicht wieder einmal ansehen ?
Radax: Da fällt mir noch was ein: Hauptdarsteller Konrad Bayer, dessen Textfragmente
aus seinem genialen Roman-Fragment ‚der 6. sinn’ ich schon Jahre vor der Publikation
an den richtigen Stellen im Film als ‚Kontra-Kommentar’ eingebaut hatte, hat für mich
auch einen Song zum Banjo komponiert.
Leider war die Tonaufnahme technisch unbrauchbar, durch den starken Wind auf
seinem Balkon am Danneberg-Platz 3. Aber der Text hätte gut zum ‚Sonnenabschuss
und dessen Folgen gepasst. Er hat im Dreivierteltakt gezupft und gesungen:
„Plötzlich ging die Sonne aus wie eine Gaslaterne – und ein Rauchpilz schoss hinauf,
es war nicht allzu ferne…“ usw.
Konrads Großvater war übrigens einer der letzten Gaslaternen-Anzünder Wiens.
Vielleicht hat Konrad den Gastod deshalb bevorzugt ?
In meinem filmischen Nachruf ‚Konrad Bayer, oder: die welt bin ich und das ist meine
sache’, bin ich dieser biografischen Spur nachgegangen. Ausserdem war Konrad bei
den Dreharbeiten in Monterosso erschrocken, als er merkte, dass ein alter Gepäckträger, mit Schnauzbart und verwegenem roten Halstuch, aussah, wie sein Großvater.
Schweikhardt: Also ist auch dieser Film quasi aus der ‚Wirklichkeit’ unseres Lebens
destilliert, wie vermutlich auch viele deiner anderen Filme mit autobiografischen Zügen.
Aus welchen starken Eindrücken, auch komischen Erlebnissen und tragischen Erinnerungen entstanden die meisten deiner Filme ?
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Radax: Sicherlich auch aus einer Summe von Erinnerungen an meine abenteuerliche
Jugend, wie die Bomben-Nächte in Frankfurt 1941-44. Überhaupt ist ‚Sonne halt !’,
dieser sehr persönliche Film, vielleicht nur die Rekonstruktion einer ‚Heilen Welt’ im Stil
einer Dekonstruktion. Sozusagen ein post-traumatischer Trümmerfilm, in dem es aus
damaliger, aber auch noch heutiger Sicht, kein Happy Ende geben darf. Die ganze
Nachkriegs-Kunst entstand ja aus den Ruinen des 2. Weltkriegs. Deshalb muss man
zunächst darüber berichten.
Schweikhardt:
Seit Heisenberg wissen wir aber auch, dass bei der Beobachtung eines Objektes, sich
das Objektselbst verändert.
Radax: Jaja – das behauptet der. So ist das halt mit den Theoretikern, die nach Hiroshima und den CERN-Fehlschlägen immer noch an den ‚Urknall’ glauben. Ich glaube
eher, dass aus der Zukunft gesehen alles deshalb anders aussieht, weil der Mensch
selbst sich ständig verändert, und nicht die Vergangenheit, in der schließlich alles ruht,
das die Zukunft in sich trägt.
Schweikhardt: Wenn man jetzt zurückblickt, in die 50er, 60er Jahre-Pionierzeit, wie
sieht für die Betroffenen der Spagat zwischen dem Fortschritt einerseits und einer doch
sehr existentialistischen Nachkriegs-Kulturszene andererseits aus ?
Radax: Um Dir meine Meinung über die Nachkriegskunst verständlicher zu machen,
muss ich zurückdenken bis in meine Kindheit im 2. Weltkrieg und dann das Danach.
Ich kann aber nur schildern, was sich um mich herum durch meine eigene Beobachtung entwickelt hat. Um mit Heisenberg zu sprechen:
Hätte ich nicht hingeschaut, wäre nichts passiert.
Schweikhardt: Dann lehne Dich zurück und entspanne Dich….
Radax: Hmm - nach einer turbulenten Kindheit in Wien, kam ich mitten im Krieg in die
Eliteschule ‚Musisches Gymnasium Frankfurt am Main’. 3-4 Jahre lebte ich da in einer
wirklich abenteuerlichen Welt ! Während der häufigen Konzertreisen in unserem 320Mann Chor- und Orchester, waren die nächtlichen Bombenangriffe für mich wie später
die Wildwest-Filme im Ami-Kino. Aber die jahrelange reale Lebensgefahr hat meinen
Lebenswillen sicherlich gestärkt.
Die wahren Ursachen dieser Bombenangriffe hat uns die Nazi-Propaganda verfälscht.
‚Wir fahren gegen Engeland !’ laut grölen und blöde Witze über Churchill zu reißen, war
unsere kindische politische Einstellung. Von Gräueltaten an der Front hat ja keine
‚Wochenschau’ jemals berichtet. Und das offizielle Hetzblatt ‚Völkischer Beobachter’
lasen sowieso nur die Bonzen.
Wir waren voll ausgelastet mit Unterricht, täglichen, stundenlangen Chorproben und
litten hauptsächlich unter Hunger und nächtlichen Bombenalarmen, die wir ‚den
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verdammten ‚Tommies’ heimzahlen wollten. Trotzdem wurde uns Englisch weiter unterrichtet, aber auch nach alt-englischer Art geprügelt.
Mit Glück entkam ich 1944 dem Chaos im ‚Reich’ aus immer wieder neuen zertrümmerten Fluchtquartieren zurück ins noch weniger zerbombte Wien. Jahrelang gewöhnt
an den Bomben-Alltag, fühlte ich mich den Mitschülern innerlich ruinenhoch überlegen.
Weil es aber auch in Wien schon immer öfter krachte, wurde ich wieder evakuiert,
diesmal ins Waldviertel, das Vakuum der Provinz. Dort habe ich das Kriegsende erlebt,
den Einmarsch der Russen und den ganzen Wahnsinn des ‚Zusammenbruchs’.
Aber auch den radikalen Bruch mit meiner Kindheit.
Dem bisher gewohnten, recht abenteuerlichen Leben wurde ich einerseits entwurzelt,
andererseits schrittweise hinein gezwungen in ein fremdartiges ‚Friedensgefühl’.
Schweikhardt: Das erzeugte natürlich Spannungen, auch kreative ?
Radax: Sicherlich noch unbewusst. Um mich aber heute noch an meinen persönlichen
‚Anschluss’ an die nach der Nazizeit zaghaft entstehende zivile Kultur zu erinnern,
muss ich die Nachkriegszeit wieder beleben. In dieser konnte ja zunächst alles nur aus
mir selbst entstehen, sozusagen aus meiner eigenen geistigen Wüste. So gesehen,
war der Sieg der Alliierten über die Spießer der Nazizeit für mich ein ganz privater,
auch kultureller Umbruch. Weshalb es später zur Bekanntschaft mit Künstlern im Nachkriegs-Wien führte, in dem sich ähnliche Menschen plötzlich anzogen, wie Magnete.
Schweikhardt: Wann hat denn bei Dir ein gewisser kultureller Wandel begonnen ?
Noch während der Krieges, oder erst beim Einmarsch der Russen, Amerikaner, usw. ?
Radax: Ich muss hier wiederholen, dass wir in unserer heilen, musischen Welt niemals
auch nur gerüchteweise von Gräueltaten des Regimes erfahren haben. Dazu sind wir
viel zu wenig in Kontakt mit Leuten in der Außenwelt gekommen. Auch wenn die Leute
etwas wussten, von Judenverfolgungen, KZs und Massakern an und hinter der Front,
hätten sie uns gegenüber eisern geschwiegen.
Schweikhardt: Warum denn ?
Radax: Die hatten Angst vor uns, weil wir ja HJ-Uniformen trugen, und sie fürchteten,
wir würden sie verraten. Dazu wäre es aber sowieso nie gekommen, weil wir ihnen kein
Wort geglaubt hätten. Unvorstellbar, dass neben unserer hehren Musikkultur derartiges
geschehen könnte. Eher glaubten wir, dass ‚die Feinde’, die ‚Plutokraten’, jüdischen
Banker, Bolschewiken an allem schuld waren, worunter wir und das arme deutsche
Volk zu leiden hatten. Wir lebten in einem politischen Vakuum und ahnten erst danach,
dass die ganze ‚Nazi-Kultur’ Kulisse und reinste Durchhalte-Propaganda war. Hätten
wir geahnt, was wirklich vorging, wäre uns der Gesang im Hals stecken geblieben !
Schweikhardt: Weißt Du noch, wie es war, als sich der ganze Spuk aufgelöst hat ?
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Radax: Dramatisch ! Chaotisch ! Während der Invasion der Alliierten in der Normandie
lebten wir, wieder einmal evakuiert, bei Ulm im Kloster Untermarchthal, weil unser
‚Musisches Gymnasium’ in Frankfurt während der letzten Konzertreise nach Leipzig
endgültig zerstört worden war.
Ich hatte aber schon immer einen ‚Detektor’ bei mir, ein kleines Radio mit Kopfhörer.
In diesem schwarzen Kastel konnte man auf einem Kristall mit einer dünnen Nadel
nach einem Radio-Sender suchen mit Geduld und etwas Glück tatsächlich entdecken.
Deshalb ‚Detektor’. Natürlich auch ein bisschen ‚Detektiv’. Meist schlief ich aber mit den
Kopfhörern ein, bis der Deutsche Rundfunk sich um Mitternacht mit dem Weltschlager
‚Lilly Marlen’ von allen Fronten verabschiedete.
Eines Nachts wachte ich auf, weil aus dem Kopfhörer Jazzmusik röhrte. Echte, nicht
der biedere ‚Jatz’ des deutschen Star-Pianisten Peter Kreuder, sondern offenbar von
einem Militärsender der schon heranrückenden Amerikaner ! Das zu hören war ja noch
gefährlicher, als BBC London, mit seinen Beethoven-Schlägen der ‚Neunten’. Aber Schweikhardt: Hat Dich jemand verpfiffen ?
Radax: Ich glaube nicht. Zu meinem Erstaunen tönte vielmehr der ‚Ami-Jatz’ bald auch
tagsüber aus diversen ‚Stuben’ und wurde von Einigen am Klavier eifrig nachgeahmt.
Statt Beethoven-Sonaten, wurde jetzt fleißig Boogie-Woogie geübt. ‚Jatzen’ war auch
nicht mehr verboten wie früher, sondern nur das ‚Schwatzen’ beim Essen, damit uns
die mageren Kriegs-Rationen doch noch irgendwie anschlugen.
Jazz, Hunger und der wahrscheinlich schon verlorene Krieg lösten auch unseren jahrelangen Glauben an die deutschen Musik-Größen auf. Erinnerten virtuose TrompetenSoli von Dizzy Gillespie nicht sowieso an Phrasierungen schwieriger Bach-Motetten,
die wir jahrelang in den Chor-Stunden hatten üben müssen ? Durch die ‚Be-Bop’-Musik
wurde eine Art Wahl-Verwandtschaft mit dem ‚anrückenden Feind’ entdeckt. Der wie
eine Neue Welt über uns kam und die alten Musik-Rituale der Nazizeit täglich noch
älter aussehen ließ. Jazz-Rhythmen waren die Geburtswehen einer neuen Kultur.
Die Jugendzeit zerbröselte im Chaos der ratlos entsetzten Vorgesetzten. !
Mitten aus dem Unterricht durften Schüler wie ich, die noch nicht Geburtstag gehabt
hatten, plötzlich nach Hause, also nach Wien fahren. Ältere hingegen wurden als
‚Werwölfe’ ins Elsass geschickt, wo ihnen die Partisanen ‚nur’ Arme und Beine verdreht
haben, als ‚nicht ebenbürtige Gegner’.
Mir verdirbt das heute noch den Appetit am – und im – Elsass.
Aber kaum daheim im ebenso chaotisch gewordenen Wien, ging es bald wieder weiter,
ins völlig verschlafene, angeblich noch sichere Waldviertel. Aber auch dort krachte bald
alles auseinander. Im Waidhofener Konvikt hörte man zwar immer noch die letzten HJFührer herum kommandieren, verschwanden aber rechtzeitig vor den heranrückenden
Russen und ließen bei der Bevölkerung nur Angst und Anarchie zurück.
Der Unterricht brach förmlich auseinander und löste sich zu unserer Freude in Luft auf.
Schweikhardt: Hast Du Dich nicht auch vor den Russen gefürchtet ?
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Radax: Ich weiß nicht. Die kämpfenden Stoßtrupps waren ja ausgesucht diszipliniert !
Zum ersten Mal seit meiner Kindheit konnte ich wieder unbeschwert atmen und meine
Freiheit nach meinen Wünschen gestalten. Zum Beispiel lagen auf dem Heimweg die
Straßengräben voll mit weggeworfenen Waffen. Man konnte eine MP, eine Panzerfaust, oder die praktischen Stiel-Handgranaten säckeweise nach Hause schleppen.
Zum Fischfangen in der Thaya waren sie nämlich sehr begehrt !
Jeder meiner Freunde im Dorf besaß eine deutsche MP, eine russische Kalaschnikow,
oder wenigstens eine Pistole, Kaliber ‚08’ und war natürlich mächtig stolz darauf. Ohne
zu ahnen, dass mit diesen ‚08’-Offiziers-Pistolen vielleicht Opfer erschossen wurden.
Genickschuss ? Sowas machte doch nur ‚der Russe’. Ein deutscher Offizier ? Niemals !
So waren wir erzogen. Aber die Gegenseite genau so, nur umgekehrt. Dort gab’s nicht
den Onkel Adolf, dafür Väterchen Stalin. Jedenfalls hatte ich begriffen, wie
manipulierbar der Mensch sein kann und das alles anders war, als es aussah. Ein
surreales Weltbild.
Aber auch die Anarchie hatte ihre schönen Seiten: Immerhin besaß ich dadurch ein
den Russen gestohlenes Pferd, das die Russen vorher einem Bauern gestohlen hatten.
Auch ein schönes Mauser-Jagdgewehr hatte ich erbeutet, das dem verhassten Gutsverwalter Petzinger gehört hatte, dem alten Nazi, den die Russen gefesselt auf einem
ihrer kleinen ‚Panje’-Pferdewagen nach Allentsteig abgeholt hatten.
Schweikhardt: Wie haben diese Erlebnisse sich auf Dein späteres Leben ausgewirkt ?
Radax: Ich erzähle hier sowieso nur einen kleinen Teil meiner Erlebnisse. Spüre aber,
dass den Künstlern von heute diese Basis an Not, Gefahr und Risiko fehlt, weshalb die
Probleme ihrer Werke so künstlich und meist nichtssagend sind. Ich finde die ‚Moderne
Kunst’ seit vielen Jahren langweilig, harmlos, kindisch und nichtssagend. Für viele ist
heute vielleicht die einzige Gefahr nicht die Droge, sondern der Drogen-Entzug !
Bei allen Künstlern der Nachkriegszeit, die ich bald kennen lernen sollte, waren
Kriegs- und Nachkriegs-Erlebnisse der tiefste Kontrapunkt ihres Schaffens. Jahrelang
hatten sie in dieser Kriegs-Realität leben müssen, wie in einem lebensbedrohenden
Albtraum. Leider ist der später mit dem Ruhm verschwunden, war ausgeträumt, hat
sich aufgelöst in Manierismen, in Spätblüten des ‚Phantastischen Realismus’.
Schweikhardt: Wie sah denn diese ‚Surreale Realität’ aus, in der wirklichen Realität ?
Radax: Naja - es war halt wirklich ein Albtraum. Die noch bis Kriegsende aus Wien
evakuierten Schüler hausten beim Einmarsch der Russen bei Flüchtlingsfamilien, die
sie schon aus Wien kannten, in Gasthäusern und bei geldgierigen Bauern.
Dafür hausten in unseren Schlafsälen im Konvikt plötzlich Offiziere einer ungarischen
Division, manche sogar mitsamt ihren Familien. Auf der Flucht vor der Roten Armee
hatten sie ihre komplette Ausrüstung und die gesamte Sprengkraft, mit der man hätte
Waidhofen in die Luft jagen können, in einem Wald beim Dorf Jarolden abgerüstet.
Schweikhardt: Blitzt und kracht es deshalb in manchen Deiner Filme ?
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Radax: Ich liebe Feuerwerke ! Deshalb erzähle ich Dir ja auch die Kriegserlebnisse aus
meiner persönlichen Perspektive. Weil sie meine Sicht auf alles Unvorhersehbare im
Leben radikal verändert hat. Dass nichts so ist, wie es scheint und jederzeit in die Luft
fliegen kann, auch die schönsten Sachen plötzlich weg sind. Sachen, Menschen, egal.
Schweikhardt: Ist das der Grund, warum Bayer die Sonne vom Himmel schießt ?
Radax: Nein ! Natürlich wagt nur ein wirklicher Held die Sonne abzuschießen !
Und so ein Wahnsinniger wie ich halt auch, der mit 14, samt allen anderen ‚Wahnsinnigen’, die zwar nicht wirklich wahnsinnig waren, es aber sehr genossen, in diesem
‚Wahnsinn’ zu leben. Wir haben in den Wald von Jarolden noch Wochen nach dem
Krieg, vor den Augen der verängstigten Gendarmen aus allen Rohren hinein gepfeffert.
Den Russen war das egal. Die haben immer nur geschaut, dass sie irgendwo noch
eine Frau vergewaltigen konnten. Und das war uns deshalb nicht egal, weil der ‚Iwan’
uns meist so um 2Uhr nachts aufgeweckt und den Schlaf geraubt hat, wie früher die
englischen Bomber in Frankfurt.
Schweikhardt: Was wollten denn die Russen in der Nacht ?
Radax: Na, „Frau ! Frau !?“ Davon hatten sich etwa vierzig im Gudenus-Jagdschloss
von Vestenötting vor den besoffenen Russen versteckt. Die uns aus den Betten jagten
und immer schrieen: „Frau ! Frau !!“.
Und so um fünf Uhr früh, nach einer mit dem größten Nazi in der Dorfmühle durchsoffenen Nacht, sind diese Irren, und es war immerhin schon Frieden, wild um sich
schießend im Jeep durchs Dorf gerast.
Knapp vorbei an uns, die wir, mit einem Sack voll deutscher Stiel-Handgranaten tief ins
Boot auf der Thaya geduckt, zum morgendlichen Frühstück-Fischen ausliefen.
Schweikhardt: Das war halt damals Deine besondere ‚Schule des Lebens’.
Radax: Ja, das war unser Unterricht, weil die Russen mit Eierhandgranaten fischten,
was wir unmenschlich fanden, weil die vielen Splitter die schönsten Karpfen zerrissen.
Wer sowas als Teenager nicht miterlebt hat, müsste heute nach Afrika gehen und beim
Bürgerkrieg etwas über ‚Mensch und Kunst’ zu lernen. Gegen die wirkliche Zerstörung
ist jeder Kanonenschuss im MAK nur ein zynischer ‚Schuss in den Ofen’. Mir fehlen die
dramatischen Inhalte in unserer Kunst. Ich vermisse die glaubwürdige Erschütterung
dieser Wohlstands-Dekorateure, wenigstens über ihr eigenes, perverses Wohlergehen.
Schweikhardt: Du meinst, die brutalen Ereignisse von damals waren Motive für eine
Erschütterung, die sich später noch jahrelang in der Kunst ausgedrückt hat.
Radax: Wer miterlebt hat, wie Bauern vom ‚Volksturm’ noch Anfang Mai 45 am Ende
einer Dorfstraße aus Baumstämmen eine ‚Panzersperre’ errichtet haben, um ihre
Heimat zu schützen, dem kommt ein Bild von Walde ‚Tiroler Bauern im Schnee’
verlogen vor. Auf den Bildern von Anton Lehmden, Rudolf Hausner, Ernst Fuchs, sieht
man ja noch diese Zerstörung, den Irrsinn des Krieges, den Untergang der Welt. Auch
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bei Thomas Bernhard kann man lesen, wie eine ‚Panzerfaust’ seinen Schulkameraden
zerfetzt hat.
Schweikhardt: Erklärt das auch die oft bizarre Schnittfolge in Deinen Filmen ?
Radax: Der Grund für diese schizophrene Haltung stammt aus der Zumutung, mit dem
‚Feind’ von gestern plötzlich als ‚Freund’ von heute umgehen zu müssen. Gegen diese
Umerziehung regte sich atavistischer Widerstand. Allein schon gegen die fremdartige
Sprache und dann noch das Auftreten dieser ‚Russkies’ Mit ihren grünen Pluderhosen
kamen sie uns nur lächerlich vor. Wir nannten sie ‚Wasch-Glatzen’, weil fast alle kahl
geschoren waren; wegen der Läuse. Das für mich unfassbar Groteske ist ja, dass
heute glatzköpfige Künstler, prahlerische Manager und doofe Prolos durch die Gegend
stolzieren. Vielleicht zwicken sie nur Prestige-Läuse ? Die wahren ‚Läuse’ sind heute
die ‚Loser’-Läuse, die nicht ‚für Führer, Volk und Vaterland erschossen’, sondern im
Kampf um Jobs von ihrer Bank gefeuert werden.
Schweikhardt: Wie war denn eigentlich das Verhältnis ‚Kunst’ zur Besatzungsmacht ?
Radax: Also von Kunst war weit und breit keine Rede. Dennoch hatten wir den Russen
gegenüber unseren Stolz auf deutsche Kultur, so wie wir sie eben gekannt haben. Wir
fühlten uns der westlichen Kultur einfach näher als der östlichen. Und nach Jahren in
der feschen Uniform der Hitlerjugend auch der westlichen Mode. Ist ja auch heute noch
so mit der ‚Blue Jeans’-Mode. Außerdem trennte die Mode die junge Generation von
der älteren, wie die ‚Negermusik’ im Radio, die wir Tag und Nacht hören wollten. Die
war den eingefleischten Nazis immer noch verhasst, wie BBC London, den man im
Krieg ‚schwarz hören’ und erfahren konnte, was an den deutschen Fronten wirklich
geschah. Nur durften die uns jetzt nicht mehr anzeigen, damit wir ins KZ kämen.
Schweikhardt: Was spielten eigentlich die Russen in ihrem Sender ?
Radax: Keine Ahnung. Aber am Hauptplatz in Waidhofen plärrten den ganzen Tag aus
dem Holzlautsprecher an der Hauswand der ‚Kommandantur’ russische Militärmärsche
und Sieges-Chöre, die keiner mochte, weil wir in der Schule Russisch lernen mussten.
Aus Protest stellte ich mein Radio ans offene Fenster und drehte das Blue Danube
Radio so laut auf, dass man die Russenmusik nicht mehr hören konnte.
Ein anderer Protest bestand aus lauten Klavierspielen von Hit Nummer 1 ‚In the Mood’.
Eigentlich bestand er aus dem einfachen, zerlegten C-Dur-Dreiklang, mit dem auch der
‚Donauwalzer’ beginnt. Im Viervierteltakt klang er jetzt aber viel ‚groover’, wenn man
das Gefühl dafür hatte.
Doch siehe da, auf einmal schaut plötzlich ein junger Russe beim Gasthaus-Fenster
herein, wackelt mit dem Glatzkopf zur ‚kapitalistischen’ Musik und grinst happy; gefiel
ihm offenbar besser, als die Parteichöre. Jazz war damals eben die Droge ! Ich selbst
brauchte nur ‚In the Mood’ zu hören, und schon fühlte ich mich der Großen Welt
angeschlossen. Dann - mit der Zeit, sah ich auch so manchen Russen im Straßengraben sitzen und Englisch lernen, ehe er desertierte, natürlich nach Westen. Das hat
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weit mehr mit der westlichen Musik zu tun, als man annimmt. Eine ‚Westliche Kunst’
war dagegen bedeutungslos, was ihren ‚Impact’ auf die Menschen betraf.
Schweikhardt: Wieso gab es diesen Trend zur Westlichen Welt die sich doch weit weg
in der amerikanischen Zone entwickelte ?
Radax: Dazu muss man die wirklichen Hintergründe kennen. Die Amerikaner waren für
uns Junge keine Feinde im Sinne der Kriegsgeneration. Wir hörten von ihnen aus dem
Radio, sahen sie aber nicht. Im Gegensatz zu den ‚asiatischen Horden’, wie die Russen in der ‚Wochenschau’ genannt wurden, war man bemüht, den Feind im Westen nur
‚Gegner’ zu nennen. Goebbels Propaganda bereitete die Deutschen vielleicht für ein
Nachkriegs-Verhalten vor – natürlich als Siegermacht. Profitiert haben wir als Verlierer.
Mit den Engländern war das allerdings anders. Wir wussten nicht, warum wir Englisch
lernen mussten und dachten, wenn wir schlechte Noten bekamen, bestraften wir sie.
Als sie aber begannen uns auch nachts den Schlaf zu rauben, Bomben auf unsere
Köpfe zu werfen, ganz Frankfurt zu zerstören, wurden sie allmählich ‚richtige Feinde’.
Was natürlich blödsinnig war, weil angeblich sogar Hitler in den Engländern Germanen
sah, oder war das der Blödsinn ? Klar, dass wir aus der Politik in die Musik flohen.
Schweikhardt: Habt ihr damals überhaupt etwas von der ‚Westlichen Kunst’ gehört ?
Radax: Woher denn ? Es gab kein einziges Buch darüber. Den ‚Way of Life’ der
Amerikaner als Menschen kannte man nur vom Hörensagen. War er eine Art Lebenskunst ? Eine ‚Art of Life’ ? Wie konnte man endlich erfahren, was in Amerika los war ?
Hollywood-Filme waren in der Russenzone verboten. Höchstens in seiner Phantasie
konnte man mit dem Reklamefoto eines ‚Cadillac’ über den ‚Highway’ fahren, oder im
utopischen ‚Studebaker’ von Loew sich ein ‚Auto der Zukunft’ vorstellen. Das war für
uns Kunst, aber nicht irgendwelche Bilder von nackten Frauen, oder Frontsoldaten.
Einmal so ein Auto in natura sehen war der abgefahrenste Wunsch. Aber Wien war ja
so weit weg. Man hätte halt einen Ausweis und das nötige Geld haben müssen.
Schweikhardt: Gab es denn keine ‚Wochenschauen’ im Kino, in denen man sah, was
Alliierte in ihren Zonen kulturell betrieben ? Konzerte, Ausstellungen ? Nichts ?
Radax: Ich weiß nicht mehr. Einmal pro Woche gab es im ‚Stadtkino’ neben den öden
russischen Spielfilmen die zensurierte, schwarz-weiße ‚FOX Tönende Wochenschau’.
Wir nannten sie ‚Knochenschau’, weil auch immer wieder die grauslichen Aufnahmen
von den KZ-Leichen gezeigt wurden. Uns hatte schon der Krieg genügt.
Schweikhardt: Hat es keine Berichte über österreichische Kunst gegeben ?
Radax: Die Frage müsste lauten: Hat es österreichische Kunst überhaupt gegeben ?
Ich erinnere mich an den US-Hochkommissar in sauberst gebügelter Sommer-Uniform,
der eine Ausstellung für Moderne Kunst in Salzburg eröffnet. Aber wen interessierte
schon die ‚Moderne Kunst’ ? Von Propaganda-Minister Dr. Goebbels, der es ja wissen
musste, hatten wir gehört, dass es sich um jüdische, dekadente, also ‚Entartete Kunst’
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handelte. Was genau das war, wollten wir eigentlich gar nicht wissen. Denn höher als
Dürers ‚Betende Hände’ erhob sich damals noch nichts über unseren Kunst-Horizont.
Schweikhardt: Aber es gab doch schon Kunstbücher in der Schulbibliothek.
Radax: Wie bitte ? Aus der Schulbibliothek waren doch alle Bücher über eine ‚Kunst
vor der Nazizeit’ verbannt und verbrannt worden. Aber in der Nachkriegszeit hatten
sich die Verhältnisse nicht geändert. Jetzt war das Abonnement einer amerikanischen
Illustrierten in der Russen-Zone gefährlich. Sich heimlich ’Look’ oder ‚Life’ schicken zu
lassen, konnte zu gefürchteten Verhören auf der ‚Kommandatura’ führen, oder gleich
mit der Entführung nach Sibirien.
Ich habe zwar auch zivilisierte Russen in Erinnerung. Aber wo war ihre Kultur zu sehen,
ihre Moderne Kunst, ihr Tschaikowsky zu hören, statt der ewigen Marsch-Musik ?
Ausser dem ‚Schwanensee-Ballett’ als wiederholt gezeigtem ‚Kulturfilm’, sah man die
Russen, wenn sie nicht zu betrunken waren, ‚Krakowjev’ tanzen, nie Boogie-Woogie.
Der galt bei den Russen als ‚westliche Dekadenz’. So sah es aus, mit der ‚Kultur’.
Schweikhardt: Gab es denn überhaupt so etwas wie ein Verhältnis zu den Russen ?
Radax: ‚Fraternisieren’ mit russischen Besatzern war verboten und hat uns auch nicht
interessiert. Die hatten uns doch nur Uhren und Fahrräder gestohlen. Außerdem schien
uns die russische Armee altmodisch, provinziell. Die hatten ja nicht einmal Kaugummi !
Die Russen waren für uns wie ein Rückfall noch lange vor die Nazizeit. Und gegen ihre
Schwarzweißen, langweiligen Spiel-Filme im ‚Stadtkino’ waren die aufwendigen UFAFarbfilme viel moderner gewesen ! Von amerikanischen Filmen hatte ich keine Ahnung,
außer durch die Kino-Inserate in den Magazinen. Es gab ja auch noch kein Fernsehen.
Erst Jahre später habe ich von einer frühen russischen Film-Avantgarde gehört, die
aber von den reaktionären Revolutionären ausradiert wurde. Ähnlich wie die deutsche
Avantgarde ‚unterm Hitler’ und seiner Verbrecher-Bande.
Bei der Münchener Ausstellung ‚Entartete Kunst’ soll ein brauner Kulturbonze gerufen
haben: „Wenn ich das Wort Kunst höre, greife ich zum Revolver“. Mir wurde bald klar,
dass das deutsche und das russische Regime sehr gut zusammengepasst hätten.
Der Spruch passte schon bald wieder auf die politische Macht der Kunst, als eine
Teilung in Westliche und Östliche Kunst im ‚Kalten Krieg’ vollzogen wurde.
Aber davon später.
Schweikhardt: Was galt eigentlich in der Nachkriegszeit als Kultur-Begriff ?
Radax: Na, was schon ? Was dem Volk noch aus der Nazi-Zeit in Erinnerung war. Zum
Beispiel ‚Freiluft-Turnen’ ! Ja, Du lachst. Das war die ideale physische Ergänzung zur
naturalistischen Kunst und ‚Schamhaar-Malerei’. Aber das haben die Leute verstanden.
Bis hin zum Massenturnen am Nürnberger Parteitag, wo Tausende in ein synchrones
Ereignis eingebunden waren und ihr kleines Ego sich in der Masse auflösen konnte.
Wie es auch heute noch bei den Chinesen so beliebt scheint. In Diktaturen triumphiert
eben das menschliche ‚Gesamtkunstwerk’ als höchster Ausdruck ihres Kultur-Begriffs.
Die Massenspiele der Nazizeit erschienen der Jugend von damals als die in jeder
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Hinsicht zeitgleichste Mode. Weshalb es dabei auch genau so toll zugegangen ist, wie
heute bei den Popkonzerten.
Schweikhardt: Du vergleichst die Begeisterung für Massenturnen mit Pop-Konzerten ?
Radax: Vergleichen kann man sie mit NS-Propaganda-Filmen. Auch heute winken
Tausende Arme wieder einem ‚Heros’ auf der Bühne zu, der herumbrüllt wie weiland
Adolf und dazu noch seine Gitarre so hübsch obszön schwingt. Weibliche Fans fallen
aus Begeisterung reihenweise in Ohnmacht, wie beim Einmarsch der strammen SS.
Auch große ‚Installationen’ aus Kriegsmaterial gab es schon am ‚Tag der Wehrmacht’.
Sogar die naiven Amerikaner haben beim Nürnberger Reichsparteitag den aus tausend
Flak-Scheinwerfern konzentriert gegen den Himmel strahlenden ‚Licht-Dom’ bestaunt.
Fünf Jahre später, am nächtlichen Bomber-Himmel über Deutschland, schon weniger.
Schweikhardt: Du hast jetzt vieles über die Zustände nach Kriegsende erzählt, über
altmodische Russen und die bewunderten modernen Amerikaner. Kam Dein Wissen
nur aus den Hochglanz-Postillen ?
Radax: Die Vorbilder der NS-Propaganda stammten ja ebenfalls aus diesen schicken
amerikanischen Magazinen, waren stilistisch wieder zu erkennen, als Reklame für den
‚Führer’, oder die ‚Waffen-SS’. Die Nazi hatten sogar ein paar Kilometer ‚Highway’ von
Frankfurt nach Darmstadt gebaut, obwohl ihnen noch die Volkswagen fehlten. Jetzt war
der Wunsch der Deutschen mit einem ‚Ami-Schlitten’ über die Autobahn zu brausen.
Während Russen-Offiziere im gestohlenen ‚Opel-Kadett’ herumfuhren.
Schweikhardt: Wie sah denn die österreichische Werbung nach dem Krieg aus ?
Radax: Auch in der US-Werbung dominierte graphisches Handwerk und noch nicht
Fotografie. Alles war toll gezeichnet und illustriert. Das war meine erste Begegnung mit
einer ganz neuen Kunst, als in diesen altdeutschen Bildbänden. In der Werbung lauerte
aber auch schon versteckt die Pop-Art, offenbar inspiriert von Marcel Duchamps
‚Urinoir’ das in New York schon 1913 als Kunstobjekt ausgestellt wurde. Durch die
smarte Werbung wurden Staubsauger, Frisurhauben, Waschmaschinen, sogar
elektrische Kühlschränke zu Kunstobjekten. Offenbar hatten wir in der Nazizeit in der
Steinzeit gelebt. Unser ‚Kühlschrank’ war jahrelang zwischen den Fenstern, oder im
Keller, um Milch und Butter frisch halten zu können. Butter wurde übrigens noch
gegessen und nicht für Installationen verwendet. Sogar für die erste Toilette-Seife
‚LUX’ gab es Reklame.
Eigentlich billigste Seife, aber damals stand die ‚LUX’ für den höchsten Luxus, nämlich
sich nicht mehr mit der nach Seige riechenden ‚Hirsch-Seife’ waschen zu müssen, die
‚sie’, laut Flüster-Propaganda, aus den Knochen ermordeter KZler kochten.
Schweikhardt: Hast Du in den Magazinen jemals ‚Wolkenkratzer’ gesehen ?
Radax: Natürlich ! Ich wollte damals gleich Architekt werden, wie übrigens mein Onkel.
Unglaublich hohe Wolkenkratzer, Ausdruck der kühnen, amerikanischen Denkweise.
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Wieso war das bei uns nicht möglich ? Aber plötzlich fällt mir ein, dass ich schon als
Kind in einer ‚Anker-Brot-Filiale’ in Hietzing auf einem ‚Bauhaus-Stuhl’ saß. 1938 war
sie also auch bei uns schon da gewesen, die ‚Moderne’. Wurde aber verdrängt vom
Geschrei der braunen Partei-Funktionäre, Prolos und Spießern, denen alles Moderne
unheimlich war. Die Nazi-Zeit war eigentlich ein Schritt in Richtung Steinzeit !
Schweikhardt: Wie sah es denn aus mit Literatur ? Hast Du überhaupt was gelesen ?
Radax: Sogar mehr als die Kids heute !. Zum Lesen hatte ich, wie es sich gehörte,
einen Doppelband ‚Faust, Teil 1 und Teil 2’. Gedruckt auf billigem Nachkriegs-Papier,
in zu dünnen Karton gebunden, aber von mir mit bunten Karteireitern ausgestattet, wo
ich berühmte Zitate gefunden hatte.
Allerdings fiel mir zufällig auch ein Band des Western-Autors Zane Grey in die Hände.
Endlich kein Goethe oder Schiller, sondern Karl May auf amerikanisch ! Ich verschlang
diese ‚Schundliteratur’, wie man solche Abenteuer nannte. Durch die sich aber für mich
eine freie Welt öffnete, die ich später in Wien als Western-Filme mit Randolph Scott
begeistert nacherlebt habe. ‚Go west, young man !’
Sollte auch ich vielleicht nach Amerika gehen ?
Schweikhardt: Wenn man in diese Zeit involviert war, stellt sich Jahrzehnte später für
den Außenstehenden die Frage: Wie hast Du den Spagat geschafft zwischen einer
stromlinienförmigen Fortschrittsgläubigkeit und einer doch recht kritischen NachholPhase innerhalb der Kunstszene der Nachkriegszeit. Fritz Wotruba, Herbert Böckl, hast
Du diese Namen damals schon gehört ?
Radax: Damals noch nicht. Von einer rein österr. Kunst war dort oben nichts zu hören.
Aus dem Rundfunk tönte Volksmusik in unsäglichen Terzen, oder dumme Schlager,
wie man sie bis heute noch auf Ö3 und beim Einkaufen im Supermarkt hören muss.
Konzertaufnahmen, ja, klassische Musik, ja. Als nationales ‚Kultur-Ereignis’, heute
heißt das ‚Event’ aus dem Musikverein, spielte man am Sonntag ‚SchweinsbratenKonzerte’. Davor hallte noch die Sonntagspredigt aus dem Stephansdom, danach
winselte wieder heimische Schnaderhüpfelmusik mit Ziehharmonika und Jodel-Chören.
Im Grunde alles, das heute noch den Musikanten-Stadl für die Massen attraktiv macht.
Kaum war ich allein, suchte ich im Radio wieder den Ami-Sender. Das war nicht Musik
aus dem fernen 18. Jahrhundert, sondern vom heute noch fernen Amerika.
Eigentlich kam sie nur aus Wien, ganze fünf Stunden mit dem Autobus entfernt, aber
eine unerschwingliche Luxus-Reise. Ich musste also selber irgendwas tun. Aber was ?
Schweikhardt: Was war denn mit der Musik ? Hast Du nicht Klavier gelernt ?
Radax: Im Konvikt stand bei Kriegsende ein ‚Bösendorfer’, darauf habe ich mit einer
hübschen Ungarin ‚Die Petersburger Schlittenfahrt’ vierhändig gespielt. Dann kamen
die Russen und die Ungarn sind geflohen zu den Amerikanern nach Oberösterreich.
Viel später, als das Konvikt endlich von den Bettwanzen der Flüchtlinge befreit war,
hatten Kinder die Elfenbeinblätter aus der Tastatur des Bösendorfer herausgebrochen.
In die Holztasten darunter hatten sie auch noch Löcher geschnitten, damit man mit den
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Fingerspitzen hängen blieb. Um diesen Fallgruben auszuweichen, konnte ich fast nur
auf den höheren schwarzen Tasten spielen, aber ewig den ‚Floh-Walzer in Fis-Dur ?
Jedenfalls erfand ich so mein eigenes ‚Zwölftonspiel’.
Vielleicht ist Schönberg ebenso darauf gekommen ?
Schweikhardt: Hast Du auch was komponiert ? Auswendig, oder aufgeschrieben ?
Radax: Alles war spontan improvisiert. Weil der Bösendorfer sowieso schon verstimmt
war, präparierte ich alle Saiten mit Radiergummis, Büroklammern, Plastilinbatzen und
Schlüsseln, ohne damals John Cage gewusst zu haben. Das uralte Instrument gab als
‚Präpariertes Klavier’ ungeheure neue Klänge aus einer völlig anderen Musikwelt.
Unterm Fenster lauschte meine Freundin dieser experimentellen Privat-Sinfonie. Und
ich trommelte auf die Klaviertasten ein, wie der geniale Schlagzeuger Gene Krupa.
Schweikhardt: Wolltest Du nicht doch Musiker werden ?
Radax: Dort ? Am Arsch der Welt ? Niemals ! Ich musste weg.
Schweikhardt: Ins zerbombte Wien ?
Radax: Naja, in ein, zwei Jahren, das wäre schön, vielleicht an die Kunst-Akademie ?
Da nirgends wieder ‚Kunst’ zu sehen war, ich aber ganz gut zeichnen konnte, malte ich
ab und zu Plakate für Veranstaltungen, bei denen wir auch musizierten.
Trotzdem nahm ich eine Art privaten Zeichenunterricht.
Schweikhardt: War das nicht zu teuer ?
Radax: Der Preis war schon ziemlich ‚geschmalzen’: 10 Deka Schmalz für eine
Stunde. Dafür lernte ich Abzeichnen von Architektur, oder in der Natur den Fluss
‚Thaya’ als spiegelnde Fläche zu sehen. Für freie Improvisation war der Kurs zu teuer.
Aber diesem disziplinierten Training habe ich einiges für meine spätere Malerei zu
verdanken.
Außerdem kann ich bis heute schön schreiben.
Schweikhardt: Gibt es keine lustigen Erinnerungen ?
Radax: Oh doch, an eine kann ich mich besonders gut erinnern:
Ich hatte die große Ehre, als Gratis-Assistent des Zeichenlehrers im Stadttheater beim
Kulissen-Malen für ‚Die Fledermaus’ mitzupinseln, ganz hoch oben, auf schwankender
Leiter. Unser ständig betrunkener Biologie-Professor ‚schwankte’ dazu den Taktstock.
Ich bin sicher, wir hatten es lustiger als in der Wiener Staatsoper.
Die Generalprobe war eine herrliche Katastrophe, die Premiere ein riesiger Triumph.
Dazu auch eine Verführung. Dadurch wurde ich selbstsicherer und kühner. Abends saß
ich zum Beispiel lesend auf einer dunklen Parkbank vor dem ‚Hotel Dangl’. Weil es
aber keine Laterne gab, hatte ich mir ein Stirnband konstruiert, auf dem eine kleine
Glühbirne leuchtete. Ihr Strom kam von einem aus sechs Elementen zusammen
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gebastelten Akkumulator unter der Bank. Natürlich staunten die Spaziergänger, einige
lachten mich aber auch aus.
Heute gibt es solche Stirnleuchten für Radfahrer, aber damals musste man es erfinden.
Das war nämlich auch der Hauptgrund dafür, dass man ständig versucht hat, sich
sozusagen am Schopf der eigenen Trägheit aus dem provinzialen Sumpf zu ziehen,
um dann irgendwas zu machen, was nach Kunst roch. Ich bin seither der Meinung,
dass ‚Kunst’ nur aus Langeweile entsteht.
Schweikhardt: Mag sein. Aber - was hast Du denn gelesen auf der nächtlichen Bank ?
Radax: Vermutlich ‚Zane Grey’. Aber erst durchs Lesen angeregt kam ich auf die Idee,
ein Buch für die Jugend zu schreiben, gemeinsam mit meinem Freund Rainer.
Wir waren 15 und dachten uns eine abenteuerliche Geschichte aus: ‚Der Bund der 3’.
Nach drei Kapiteln musste ich die Story alleine weiter schreiben, weil mein Freund die
Lust daran verlor. Dabei hatte die Geschichte so spannend begonnen. Ich komme im
53 Jahre entfernen Jahr 1991 von einer Geschäftsreise zurück; vom MARS bitte sehr !
Setze mich in ein utopisches Fahrzeug, drücke ein paar bunte Knöpfe für das Ziel ein
und lehne mich bequem zurück während das ‚Schwebetaxi’ automatisch dahinfährt.
Schweikhardt: Das war allerhand für die Zeit. Gab es da schon utopische Literatur ?
Radax: Ich erinnere mich an die Bibliothek meines Onkels, Croupier im Casino Baden.
Der hatte Zukunftsromane aus der Vorkriegszeit, die angeblich auch Wernher von
Braun und Prof. Obert zum Mondflug inspiriert hatten. Ich war damals erst neun, aber
mit fünfzehn ist die Saat offenbar aufgegangen. Mehr noch: Ich inszenierte sogar erste
Szenen-Photos zur Illustration der Geschichte, die sich ein paar alte Herren über ihre
Jugendzeit nach dem 2. Weltkrieg erzählen.
Auf diesen Fotos tanzen ‚Gespenster’ auf der Stadtmauer, die jungen Helden der Story
fliegen im Ballon (einem Fußball) über die Grenze in die Tschechei, und mein Freund
Rainer rast mit meinem Steyrer-Waffenrad über den Hauptplatz, auf dem Gepäckträger zwei brennende Raketen. Das mit diesen Fotos illustrierte Original von ‚Der
Bund der 3’ wurde zwar vom Überreuter-Verlag als unreifes Jugendwerk abgelehnt,
aber 50 Jahre später von Dr. Wendelin Schmidt-Dengler für die Österr. Nationalbibliothek erworben. Später Ruhm, würde ich sagen.
Schweikhardt: Rückblickend zeigt sich also in den 50er-, 60er-Jahren diese eigenartige Diskrepanz: Auf der einen Seite die Utopie, die Fortschrittsgläubigkeit, aber auch
der kommerzielle Aspekt, der sich in der Werbung für den Wiederaufbau spiegelt.
Zum anderen eine Kunst-Szene, die geprägt ist von existentialistischer Keller-Kultur.
Wie hast Du das erlebt, als Du endlich nach Wien zurückkommen konntest ?
Radax: Von einem schon überall sichtbaren Wiederaufbau war natürlich keine Rede.
Als ich 1948 nach Wien gekommen bin, hat es gottlob noch etliche Ruinen gegeben.
Die waren nämlich sehr schön, rein malerisch gesehen. Und weil alles noch so schön
‚hinig’ war, haben sie hier auch den ‚3. Mann’ gedreht. Weil Wien noch eine morbide
Ruinenromantik ausgestrahlt hat. Vielleicht sogar eine zukunftsweisende, inspirative,
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wenn man sich die dekonstruktivistische Architektur der ‚üblichen Verdächtigen’ Prix
und Gehry heute ansieht, die wie auf ein unbewusstes Zertrümmern alteuropäischer
Paläste gründen.
Schweikhardt: Hast Du damals schon junge Architekten gekannt ?
Radax: Noch nicht. Weil ich noch nicht einmal wusste, wo die sich getroffen haben.
Inspiriert von Fotos zeitgleicher US-Architektur, kaprizierte ich mich instinktiv darauf,
Mieter in einem ebenso modernen Haus zu werden. Dass es in dieser ‚WerkbundSiedlung’ von Adolf Loos erbaut worden war, erfuhr ich allerdings erst 20 Jahre später.
Hat mir aber damals das für mich einzig richtige Lebensgefühl vermittelt.
Schweikhardt: Ich glaube, das Haus gibt es heute noch. Und seine Architektur hat
Dich tatsächlich verändert, auch künstlerisch ?
Radax: Ich hoffe. In meinem Drang mich adäquat zum Wohnstil zu äußern, und weil es
damals sowas wie Poster noch gar nicht gab, wollte ich wenigstens für mich selbst ein
Bild des Italieners Morandi nachmalen, das meinen Vorstellungen von ‚Modern Art’
entsprach. ‚Die Gitarrenspielerin’, im Stile der Neuen Sachlichkeit, galt ja schon bei den
Nazis als ‚Entartete Kunst’. Genau deshalb hatte mich dieses Bild damals beeindruckt.
Wie ich nach diesem ersten Versuch selber weiter malen sollte, war mir noch nicht klar.
Zufällig hörte ich, es gebe da eine Ausstellung ‚Moderner Kunst’ in der Zedlitz-Halle,
hinter dem Elektrizitätswerk im 1. Bezirk. Da war eine Art Markthalle, wo ein gewisser
Lehérb, der damals noch Leherbauer hieß, und seine attraktive Frau ausgestellt haben;
die mir aber die bessere Graphikerin schien. Schwarzweiße Lithos im Pariser Stil von
Bernard Buffet, wie ich später herausbekam. Vielleicht war er Patricia Highsmith’s
Vorbild für den Maler ‚Bernard’ im Krimi ‚Ripley Under Ground’ ?
Schweikhardt: Gab es noch andere Ausstellungen, die Dich weiter gebracht haben ?
Radax: Mein Lehrer Leo Seidl, ‚Keramik-Seidel’ hat er geheißen, flüsterte mir zu:
‚Da gibt’s eine Ausstellung von französischen Tapisserien im Kunstgewerbe-Museum.
Die müssen Sie unbedingt sehen.’ Mich hat das zuerst nicht besonders interessiert.
Man musste ja von der Schule im fünften Bezirk in den ersten zu Fuß gehen.
Oder schwarzfahren, aber vom Trittbrett springen, wenn der ‚Schwarzkapplerte’ kam.
Im später ‚MAK’ genannten, damals noch ziemlich verstaubten Museum, hingen die
Königlichen Tapisserien des 17. Jahrhunderts. Das wirkte auf mich zynisch in einer
Zeit, wo es in Wien und Nieder-Österreich viele von Russen geplünderte Paläste gab.
Einerseits war da üppigster imperialer Reichtum der Trittbrett-Siegermacht Frankreich
zu sehen, welcher noch vor kurzem als ‚Beutegut’ des Reichsmarschalls der Luftwaffe
in Herman Görings Jagdvilla ‚Carinhall’ gehangen hatte. Andererseits hingen da auch
modernste Tapisserien, nachgewebte Picassos, Braques und Miros in erstaunlichen
Formaten. Die haben mich vor allem handwerklich beeindruckt.
Die später berühmten Teppichknüpfer Riedl und Schidlo, haben durch diese französische Gobelin-Schau wahrscheinlich ihr neues künstlerisches Ziel erkannt. Wie ich
wiederum durch Filmabende in der Collingasse, im Französischen Kultur-Institut.
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Schweikhardt: Was liefen da für Filme. Kannst Du Dich noch erinnern ?
Radax: Sicher. Erinnerlich ist mir vor allem ein toller Dokumentarfilm über Van Gogh.
Darin wurde seine steigende Angst vor dem Wahnsinn mit immer rasanter geschnittenen, rascheren Hochschwenks über seine Sonnenblumen-Bilder filmisch wirklich adäquat bewältigt. Klar, war das ein grundlegendes Erlebnis. Ich fühlte mich dadurch autorisiert, mit ‚Entfesselter Kamera’ und damals noch schwierig zu machenden ‚SekundenSchnitten’, die konservativen Oberbauräte im Wiener Rathaus zu schockieren. Das war
1951-53, bei Dokumentarfilmen über den ‚Wiederaufbau’, die ich als junger Kameramann und Cutter bei dem aus Kanada heimgekehrten jüdischen Produzenten Wilhelm
E. Nassau schon ziemlich selbstständig gestalten durfte.
Schweikhardt: Was lief denn so im Boulevard-Kino ?
Radax: Vergiss es ! Aber durch Bekanntschaften mit Amerikanern, die manchmal zu
unseren Auftritten in Caféhäusern kamen, konnte ich ins Army-Kino Kolosseum gehen
und immer die brandneuen Hollywoodfilm sehen. Das war technisch sehr prägend.
Aber bis dahin schleppte sich mein Alltag noch zwischen Ruinen und Kantinen dahin.
Manchmal gab es ‚Literarische Brötchen- und Tee-Abende’, bei einem Edgar Genet,
dem aus Frankreich zurückgekehrten Schöngeist, nähe Nordbahnhof. H.C. Artmann
konnte dort seinen liebsten Autoren frönen, Baudelaire, Lautréamont und vor allem
Francois Villon, aus dessen poetischem Vakantenleben er gerne zitierte: ‚Où sont les
neiges d’antan ?’
Schweikhardt: War das wirklich der einzige Treffpunkt für hungrige Künstler ?
Radax: Nein, nein. Ich entdeckte auch den ‚Englischen Leseraum’ auf der Seilerstätte.
Der war im Ersten Stock hinterm Rundbalkon, wo jetzt die ‚Galerie Krinzinger’ ist.
Es gab ‚Tea and Biskuit’. Wenn man etwas englisch angezogen erschien, durfte man in
alten Leder-Fauteuils hocken und über den Tassenrand auf den ‚Ronacher’ blicken, in
dem damals das ‚Burgtheater’ gastierten musste, und kam sich ‚very british’ vor.
Das hat sowohl mein Interesse an Kultur, als auch an englischer Mode geweckt.
Schweikhardt: Es ging also Schritt für Schritt weiter hinauf zum Olymp der Kultur.
Was wurde eigentlich aus Deinem Wunsch Malerei zu studieren ?
Radax: Nachdem ich arrivierte Maler erlebt hatte, die trotzdem überall waren, wo es
was zu futtern gab, bekam ich meine Zweifel am Künstlerdasein.
Die sahen alle jetzt schon etabliert aus. Angeführt von Gustav Beck, einem zierlichen
Künstler, der den 2. Weltkrieg im Rom des Mussolini recht angenehm überlebt hatte. In
der gemütlichen Kunst-Akademie und den Kneipen der Via Marghutta und Via Dell’
Babuino. Dort überlebte auch der Internationale Art Club, der durch Beck eine Dépendance in Wien bekam.
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Der Film als eigene Kunst war für diese Brüder, trotz Dali’s ‚L’Age d’Or’ und Bunuels
‚Le Chien Andalous’, der Malerei gegenüber etwas Zweitklassiges, Minderwertiges,
sogar Vulgäres, auch die Photographie. Die Maler hielten sich immer für was Besseres.
Schweikhardt: Aber heute sind Deine Fotos vom ‚Wiener Art Club im Strohkoffer’
begehrte Vintages für Museen und Sammler.
Radax: Weil der ‚Strohkoffer’ heute ein von Sagen umwobener Ort ist und damals ein
Geheimtipp für Künstler war. Ein angeblich unterirdisches Lokal in einem obskuren
‚Kärntner Durchgang’. Man hatte gehört, es soll dort eine Keramik-Ausstellung geben
vom Bildhauer Leinfellner. Keramiken ? Wen hat das schon interessiert ? Konnte sich
sowieso keiner leisten, von uns. In einem ‚Strohkoffer’ ? Ein Korb-Geschäft, oder was ?
Im Dezember 1950 bin ich dem Gerücht nachgegangen und habe tatsächlich in einer
schmalen Seitengasse der Kärntner Straße, neben der ‚American Bar’ von Adolf Loos,
besser gesagt schräg darunter im Keller, also unterm Gehsteig, diesen ‚Nachtclub’ des
‚Art Club’ entdeckt. Der war mit Schilfrohr-Matten austapeziert, wie sie die Stuckateure
brauchen, um den Gips am Plafond zu befestigen. Angeblich hat der Wotruba, wie er
das Lokal gesehen hat, gemeint, es erinnere ihn an einen Strohkoffer; wenn’s wahr ist.
Schweikhardt: Gibt’s das Lokal auch heute noch ?
Radax: Jaja, es ist dort seit Jahren eine teure Striptease-Bumse für reiche Provinzler
und Russen. Damals war es das einzige hurenfreie Nachtasyl für Künstler, denen es
beim Genet zu akademisch vorkam. Das ‚Café Hawelka’ wurde erst Jahre später
aktuell, quasi als Notlösung, als eine Art ‚Gegen-Strohkoffer’, zu dem ungemütlichen
Neuen Art Club-Lokal vom Maler Mikl, im 1. Stock des damaligen ‚Dom Café’, Ecke
Singerstraße. Heute lauert dort eine mysteriöse ‚Bank Winter’.
Schweikhardt: Der erste ‚Strohkoffer’ war also irgendwo unter der Kärntner Straße.
Was war dort besonderes los, fragen sich viele heute noch.
Radax: Na bitte, in dem lauten, verrauchten, aber gemütlichen ‚Strohkoffer’ konnten die
Künstler ab dem 15. Dezember 1950 bis etwa Mitte 54 unter sich sein und über Kunst
streiten. Zu ihrem Ärger haben sich da auch Poeten hineingedrängt, wie H.C. Artmann,
Jeannie Ebner, Konrad Bayer, Okopenko, Altmann, Weissenberg, Rühm usw. Es
entstand eine eifersüchtige Spannung seitens der Maler, die aber auch fruchtbar war.
Die Maler waren die Hausherren, bildeten sie sich ein. Dichter, Musiker, Schauspieler,
waren für sie Außenseiter. Ich, ebenfalls Außenseiter, habe dort neue Freunde kennen
gelernt, die ich sonst vielleicht nirgends in Wien getroffen hätte. Den HC, den Konrad,
den Fuchs, den Gulda, den Zawinul, den Hundertwasser, und natürlich alle Maler, aber
auch Provinzler und immer neue Adabeis.
Schweikhardt: Wie bist Du denn zu diesen historischen Photos gekommen ?
Radax: Ich habe dort fotografiert, wenn mir meine Freundin ein, zwei Mal die kostbare
‚Leica’ ihres Vaters heimlich geborgt hat. Die aber nur Lichtstärke 3.5 hatte !
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Als Fotograf war man halt gerne gesehen, aber nur ohne Blitz. Bei den schwachen
Filmen und der düsteren Beleuchtung dort unten, waren Entwicklung und Ausarbeitung
in der Dunkelkammer meine härteste Schulung.
Es war mein Einstieg in den Underground, der aber nicht von Drogen verseucht war.
Der ‚Strohkoffer’ selbst war die Droge für uns alle, die wir Nacht für Nacht haben
mussten, sonst wäre uns der nächste Tag sinnlos vorgekommen. Klar hatte jeder sein
gewisses Ziel, nur war damals höchstens gewiss, dass alles noch höchst ungewiss
war. Einige Künstler versuchten die Wartezeit bis zum Abend mit Alkohol zu
überbrücken. Weil aber das Viertel Rotwein dort unten mit 8 Schilling schon recht teuer
war, haben Feinspitze so lange gewartet, bis der Kari Schwarzenberg aufgetaucht ist
und ein paar Runden geschmissen hat.
Schweikhardt: Warst Du dort allmählich der Haus-Photograph ?
Radax: Aber nein ! Nur war ich kein Maler, oder Dichter. Aber als Photograph konnte
ich den Diskussionen der Maler zuhören: Hutter gegen Brauer, Lehmden gegen Fuchs
und beide über ‚Nieten’ wie Fruhmann. Bei dessen Ausstellung Hutter ausrief:
„Gestern noch hat er auf der Alm Kühe gemalt, aber heute ist er schon ein ‚Abstrakter“
Dadurch habe ich eine Menge über die sogenannte Kunst gelernt.
Schweikhardt: Wer waren denn Deine Vorbilder in der großen Kunst-Photographie ?
Radax: Da gab es mehr Amerikaner als die heute berühmten Franzosen. Bände mit
tollen Photos lagen im ‚Amerikahaus’ z.B. über Steichen, Klein, Irving Penn usw.,
große Vorbilder. Aber wenn man gesehen hat, mit welchen Apparaten und technischen
Mitteln die schon damals gearbeitet haben, kam man sich klein und schwach vor.
Wie sollte ich denn mit geliehenen uralten Apparaten die Qualität dieser Meisterwerke
jemals erreichen ? Die ‚drüben’ arbeiteten mit Großformaten 9x12 aufwärts. Mit der
‚Standard Press’, der deutschen ‚Plaubel Makina’. Wir konnten uns hier nicht einmal
die Schwarzweiß-Filme für solche Apparate leisten, wenn eine irgendwo gestohlene
‚Linhof’ überhaupt aufgetaucht ist, am Schwarzmarkt,
Ich glaube, den Malern ging es mit den feinen Pinseln und teuren ‚Mussini’-Ölfarben
ganz ähnlich. Deshalb griffen sie zurück auf das Herstellen von ‚Ei-Tempera’ nach
Rezepten Alter Meister, mit seinen leuchtenden Farben.
Aber auch die Eier waren sauteuer !
Schweikhardt: Aber viele wollten doch ganz anders malen, nicht altmeisterlich Radax: Deshalb brauchten sie große Mengen an Farben. Und die mussten billig sein.
Da sie billig waren, fielen sie früher ab. Die Bilder wurden wertlos, oder mussten teuer
restauriert werden, was natürlich die Käufer verärgerte. Aber was sollten sie machen ?
Dafür hatten sie halt ein frühes, jedenfalls vermeintliches Meisterwerk. Schlimm hat es
auch den Rudi Hausner erwischt. Um ein Bild endlich verkaufen zu können, musste er
es früher firnissen, ehe es wirklich durchgetrocknet war. Natürlich wehrten sich die
unteren Lasuren, besonders wenn über ihnen noch billiger Zaponlack trocknen musste.
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Resultat: Schon nach wenigen Jahren zerriss die Oberfläche dieser Bilder in Kraklé.
Am leichtesten hatten es die ‚Bilder-Schütter. Sie rührten gewöhnliche Malerfarbe an,
manche vermischten sie noch mit kräftigem Blut-Rot – und schwenkten die Sauce mit
Verve über riesige, billige Leinwände. Sie waren schnell bemalt und haben dafür lange
gestunken. Maurer-Leimfarben kosten nicht viel und das zeremonielle Herumschütten
als künstlerisches Ritual war jedes Mal eine große Hetz und Besäufnis.
Schweikhardt: Und wie hast Du Deine großen Photos ohne großen Apparat gemacht?
Radax: Ich fand zufällig einen für das Format 9 x 12 cm. Aber es musste schon schiere
Verzweiflung gewesen sein, die mich in der Jagdschlossgasse 87 auf den Dachboden
meiner Freundin trieb. Nicht, um mich aufzuhängen, wie viele Enttäuschte bei Kriegsende. Auch mein bester Klavierlehrer, Prof. Grieb, hatte sich und seine Frau aus Angst
vor dem Verhungern in den Selbstmord gerettet.
Ich war auf der Suche nach einer alten, aber vielleicht noch brauchbaren Staffelei.
Gefunden habe ich statt dessen eine völlig verstaubte, uralte ‚Kodak-Reise-PlattenKamera’, Modell 1897 ! Noch mit doppeltem Balgenauszug aus rotem Safranleder, halb
blinden Sucher-Löchern und einer einzigen, beschädigten Glasplatte als Rückwand.
Steckte man den Kopf unter ein großes schwarzes Tuch und öffnete den Verschluss,
konnte man das Sucherbild auf der Milchglasplatte am Kopf stehend sehen.
Später konnte ich einer Witwe ein Päckchen mit zwölf 9 x 12 cm Fotoplatten abkaufen.
Dazu ein altes Holzstativ aus dem Atelier ihres seligen Mannes.
Mit diesem Dutzend Platten, dachte ich, muss ich vielleicht ein Leben lang auskommen
und habe sie bis heute aufgehoben, allerdings mit meinen frühen Photos belichtet.
Heute liegen die eigenhändig vergrößerten ‚Surrealen Collagen’ in diversen Sammlungen. Ihr Reiz besteht in der exakten Raumaufteilung einzelner Motive zu einer
thematisch erkennbaren Collage. Damals zwangen mich diese wenigen Platten zur
äußersten Sparsamkeit und Konzentration. Das heute übliche, tausendfache digitale
Herumknipsen, gab es damals sowieso nicht. Da jedermann die Technik kaufen kann,
die fast vollautomatisch photographiert, ist die Photographie selbst nichts mehr wert.
Daher haben es geschäftstüchtige ‚Foto-Künstler’ zur Mode gemacht, ein ganz banales
Strandfoto von Rimini auf zwei Quadratmeter aufzublasen und, weil es Kunst von und
für jedermann ist, es in Galerien als digitales Kunstwerk um 800.000.- Euro anzubieten.
Das gibt es nur in einer Gesellschaft die glaubt auch selber schon alles geknipst zu
haben, auch den Strand auf Rimini, oder steuerschonend auf den Cayman Islands.
Schweikhardt: Italien war sowieso zu ferne. Was hast Du in Wien für Motive gehabt ?
Radax: 1950/51 war ich gezwungen, mir jedes Mal genau zu überlegen, wann ich auf
den Knopf drücken sollte, um etwas aufnehmen. Den ‚Scheinwerfer’ bog ich mir aus
einer Mistschaufel zusammen. Eine Foto-Collage von 4-5 Motiven direkt auf eine
einzige Platte zu planen, also eine Komposition aus mehreren Motiven von diversen
Perspektiven in variablen Größen zu berechnen, war nicht weniger kompliziert, als der
Aufbau eines altmeisterlichen Gemäldes. Jede Bild musste ein Meisterwerk werden,
alles andere wäre Verschwendung gewesen ! Vielleicht sind so Themen entstanden, in
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meiner Bude oben in der Lainzer Straße 97, wie im Winter 1951 ‚Der Rabe’, wo mir
meine Jugendliebe geduldig Modell stand. Die Erotik war unterschwellig respektvoll,
aber als Poes ‚Leonore’ trug sie trotzdem nur einen schwarzen Pullover. Der Balgenauszug vergrößerte die Poren unter ihrem Auge zu einer Kraterlandschaft. Der ‚Flügel’
des Raben war nur aus schwarzem ‚Naturpapier’. Ich habe auch links und rechts vor
der Kamera nasses Zeitungspapier an Schnüren aufgehängt. Die trockenen Blätter in
der Mitte an genau berechneten Stellen kurz vor der Aufnahme angezündet und durch
die entstehende brennende Öffnung ‚Leonores’ Portrait zwei Sekunden lang belichtet.
Das Photo sah dann aus, als würde ihr Gesicht tatsächlich aus Flammen geboren.
Oder: Das Modell stand hinter einem horizontal gekippten Schneiderspiegel so, dass
man den Oberkörper darüber real, aber spiegelverkehrt darunter und verzerrt sah.
Auf dieselbe Platte, genau eingezeichnet, positionierte ich ein, zwei weitere Motive.
Das Resultat sah aus, wie die Vision einer Tarot-Karte.
Mit nichts als Phantasie erschufen wir unsere Welt aus dem Nichts. Das Ganze war nur
mit dem unerschütterlichen Glauben an die Zukunft zu überstehen.
Schweikhardt: Warum hast Du damals nicht die Akademie am Schillerplatz besucht ?
Du hättest die ‚Phantastischen Realisten’ kenngelernt in der Klasse von Gütersloh.
Radax: Damals konnte ich es mir einfach finanziell nicht leisten fünf Jahre an der
Akademie zu studieren. Konnte nur jene beneiden, die das Geld dazu von Zuhause
bekamen, auch wenn letztlich nur frustrierte Beamte aus ihnen wurden, oder Politiker.
Schweikhardt: Du hattest also weder Geld für das Malstudium, noch für das
Filmstudium im Ausland –
Radax: Naja - hier hat es ja erst später sowas wie eine erste Filmhochschule gegeben,
und ich konnte natürlich auch keinen Kurzfilm drehen, wie jeder, der heute die
staatliche Filmuniversität verlässt, ein Formular ausfüllt und gleich ein paar tausend
Euro erhält.
Ich konnte bestenfalls versuchen, meine Phantasie in der Photographie mit einfachsten
Mitteln auszudrücken und nur in schwarzweiß, naturgemäß. An Farbe durfte man nicht
einmal denken. Immerhin waren diese frühen, surrealen Photos anspruchsvoll genug,
dass sie heute in Museen und Sammlungen liegen. Hätte ich übrigens nie erwartet.
Schweikhardt: Da waren diese Begabungen, Fotografie, Musik, Malerei, aber auch die
Frage, in welche Richtung Du Dich verwirklichen sollst ?
Radax: Es gab Leute, die was gegen ‚Selbstverwirklicher’ hatten, wie Gerd Bacher.
Die alle Menschen nur benützen, um sich nämlich selbst zu verwirklichen.
Vor denen muss sich jeder Mensch mit Selbstachtung sofort retten.
Das einzige Mittel sich zu rächen ist selber berühmt zu werden.
Schweikhardt: Gab es so einen Fall im ‚Strohkoffer’ ?
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Radax: Du wirst ihn erraten. Der schlapfte die Holztreppe herunter mit zwei verschiedenen Socken, in selbst genähten bunten Hosen und Pullovern. Redete kaum etwas
und wenn, mit einer weinerlichen Stimme, wie der ‚Reserve-Christus’. Aber der traute
sich mit der Masche tatsächlich seine erste Allein-Ausstellung im ‚Strohkoffer’ zu
machen. Echt primitive Bilder, mit billigsten Temperafarben auf Packpapier gepinselt.
Umrahmt von verwanztem Kistenholz, obendrein noch grell bemalt. Für die etablierten
Meister ein absoluter Horror, dieser Outsider, dem es aber mit seiner ‚kindischen
Malerei’ gelang, die feinen Malerpinkel zu provozieren. Besonders den Ästhet Wolfgang Hutter, aber auch andere, technisch perfekte Maler, die sich fragten, wozu sie
sich fünf Jahre an der Akademie geplagt hatten, wenn man auch so Maler werden
konnte, ohne Aufnahmeprüfung,
Schweikhardt: Ich ahne schon, wer dieser seltsame Heilige war Radax: Der seltsame Heilige ist als Gasthörer nach drei Monaten nach Paris abgehauen, nach St. Germain des Près, mit etwas Geld seiner Mama. Bald danach ins noch
billigere und wärmere Marokko. Allerdings mit einer jungen, schicken und vor allem
reichen Amerikanerin. Die trotz seiner schönen dunklen Augen von seinen Launen bald
genug hatte. Als besagter Künstler später von Marrakesch über Sizilien und Italien
herauf zurückkam, hatte er inzwischen seinen Stil gefunden. Bunt wie Paul Klee,
schräge Augen wie Picasso, immer eine infantile Naivität, das war sein Markenzeichen
und schließlich auch sein Welterfolg.
Schweikhardt: Hundertwasser.
Radax: Bei der ersten Ausstellung im Strohkoffer lagen am Stutzflügel bereits schwarzweiße Postkarten seiner Werke. Das hatte noch keiner gewagt. Aber kaum hatte ein
Besucher, der sich zufällig herunter verirrt hatte, eine Karte um ziemlich teure fünf
Schillinge gekauft, eilte der ständig auf der Lauer liegende Künstler die Treppe hinauf,
die paar Schritte zum ‚Kleinen Sacher’, unserem Überlebens-Würstelstand, um die unverhoffte Tageseinnahme in ein ‚Burenheidl mit Kremser’ umzusetzen.
Das waren halt noch Zeiten, aus denen der international erfolgreichste österreichische
Künstler Fritzl Stowasser hervorging als Friedensreich Dunkelbunt Hundertwasser !
Hätte damals jemand 400 Schilling für einen ‚frühen Hundertwasser’ ausgeben können,
würde er heute dafür gut 400.000,- Euro bekommen, oder vielleicht sogar eine Million.
Weil mir seine Malerei nicht wirklich gefallen hat, wollte auch keiner 400,- Schillinge für
ein Bild ausgeben, das ich mir hätte selber machen können, so primitiv war es g’malt.
Mich hat nur enttäuscht, was alles als ‚Kunst’ akzeptiert wurde. Selbst ein Haufen
Scheiße wurde zur Kunst erklärt. Dass Bilder nur Aktien an der Wand sein können,
wusste ich damals noch nicht. Und blieb lieber beim ehrlichen Filmhandwerk.
Schweikhardt: Wie war denn das Verhältnis der Dichter zu ihren Kollegen ?
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Radax: ‚Schmalz-G’selln’ nannte H.C. jene, deren sentimentale Gedichte schon im
Literatur-Magazin ‚Neue Wege’ publiziert wurden. Ein rein politischer Gnadenakt vom
Brecht-Gegner und Kritiker-Papst Hans Weigel, von Artmann ‚Waugeles’ genannt.
Was weniger antisemitisch gemeint war, sondern mit Dichten zu tun hatte, wie über
den konvertierten Werfl: ‚Yach bin da Dichta Werfl, hat jemand a Bederfl ?’ Überhaupt
waren im ‚Strohkoffer’ jüdische Witze große Mode. Heute noch weiß ich zwei Dutzend
immer noch witzigere als viele nicht-jüdische, denen das gewisse Philosophische fehlt.
Schweikhardt: Habt ihr denn nicht auch selber witzige Happenings gemacht ?
Radax: Oja - einen poetischen Protestmarsch. Im Frühjahr oder Herbst 1951 trafen
sich etwa 10 Freunde beim Goethe-Denkmal die Poesie zu feiern. Alle sehr feierlich
gekleidet für einen ‚Marsch funèbre’, wie Artmann es nannte. Maler waren keine dabei.
Nur Poeten und solche wie ich, die sich kraft ihrer beruflichen Tätigkeit für genügend
poetisch gestimmt und begabt hielten. Nicht ‚friedensbewegt’, sondern ‚kunstbewegt’,
mit dem ‚Poeta Praeclarus Aurelius Artmannius’ an der Spitze.
Die jungen Frauen waren in Abendkleidern der Dreißigerjahre, bleich geschminkt, die
jungen Männer trugen geliehene Smokings, Stresemanns, oder einen ‚Wallisischen
Jagdanzug’. Mein bester Beitrag war eine echte amerikanische Sonnenbrille, der aber
schon ein Glas fehlte. Ich setzte sie aber trotzdem auf den großen schwarzen Rollkragen meines Pullovers, den ich mir hoch übers Gesicht gezogen hatte.
Ausgeschaut habe ich wie der Schwarze Ritter in dem Monty-Python-Film.
So harmlos und feierlich wir in die Kärntnerstraße einbogen, sofort sind uns etliche
Neugierige gefolgt. Zehn schwarze Mandln mit Grablichtern und Sonnenbrillen durch
die Kärntnerstraße ! Die war damals noch keine ständig aufgerissene Fußgänger-Zone.
Sondern elegant, mit amerikanischen Limousinen, die sich, außer Amis und Schleichhändlern, noch keiner leisten konnte. In den Auslagen der elitären ‚Wiener Werkstätte’
sind Möbel und Lampen gestanden, die wir uns auch nicht hätten leisten können. Die
wir deshalb selbst nachgemacht haben. Aber nicht einfach zusammen geschraubt, wie
‚IKEA’ heute, nein, echt nachgebaute, geschweißte und lackierte Stehlampen und
Eames-Chairs. Ich baute mir einen niedrigen Japantisch, mit Keramikplatten belegt von
Picasso-Motiven, wie Faune, Eulen usw. Sogar mein Teeservice habe ich mir selbst
geformt, glasiert und gebrannt, weil es derartiges eben nur unerschwinglich teuer gab.
Diese miserablen Zeiten haben einen natürlich zum Allrounder gemacht.
Schweikhardt: Selbstgemachtes würde auch heute so manchen nicht schaden Radax: Bald kamen ganze Scharen nachgerannt bis zum Stephansplatz, damals der
‚Times Square’ auf Wienerisch. Heute sieht’s dort aus wie in Völkermarkt.
Jeder Dahergelaufene darf dort seine Elektro-Klampfn schwingen und blinde Sängerpaare aus Bratislava jammern sich in die Herzen geiziger Passanten. In Paris müssen
sie bei der Stadtverwaltung wenigstens eine Aufnahmeprüfung machen. Irgendwie an
unsere damalige Aufmachung erinnern mich die erstarrten Friedhofs-Figuren, stehen
auf den Podesten. Händler bieten giftiges China-Spielzeug wie im ‚Wurschtlprater’.
Jaja – Wien hat sich den Ostblockstädten wirklich angepasst, sieht jetzt schon aus, wie
Lemberg in zwei Jahren.
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Schweikhardt: Apropos – hat sich damals nicht sofort die Polizei gemeldet ?
Radax: Es dauerte lange, bis zwei ‚Kieberer’ erschienen und fragten, was da los sei.
Am Stephansplatz angekommen, hat Konrad Bayer gerade ein Manifest verlesen,
über moderne Kunst und poetisches Leben. Es war natürlich ein ziemliches Aufsehen,
das man später großartig ‚Happening’ genannt hätte. Und natürlich war es auch nicht
angemeldet. Wir gingen ja nur privat spazieren. Die Polizei war sehr zurückhaltend und
höflich. Es herrschte ja auch noch keine Hysterie wegen der Terroristen.
Uns ging es um Kultur, nicht um Partei-Politik, die hatten wir dem Bauernbund
überlassen, dem Figl Poldl, der selbst die Russen unter den Tisch saufen konnte. Uns
ging um den schleichenden Tod der Poesie in einer materiell aufkeimenden Welt,
gegen die wir eine neue schaffen wollten. Aber das hat die Wiener auch damals nicht
interessiert.
Schweikhardt: Wieso kam es denn überhaupt zu solchen ‚Eruptionen’ der Künstler ?
Radax: Als der Nazi-Spuk vorbei war, sprossen unsere Ideen wieder ebenso bunt und
exotisch wie aus der Vulkan-Asche. Vor allem fanden wir jetzt alles gut, was der NaziSpießer schlecht fand. So entwickelte sich eine ganz eigenartige Protest-Kultur.
Eine Idee musste nicht einmal gut sein, Hauptsache, sie war dagegen, war ‚partisan’,
gegen die materielle Gesellschaft. Die Alten fragten uns, wovon wollt wir leben ? Wir
sagten, wir brauchen nicht von etwas zu leben, wie leben einfach !
Schweikhardt: Du hast da vorhin noch den ‚Waugeles’ erwähnt. Gab es neben Hans
Weigel nicht auch den großen Albert Paris Gütersloh ?
Radax: Richtig. Alle Künstler-Parteien bewunderten und verehrten diese Zentralfigur,
den Maler und Schriftsteller Albert Paris Gütersloh. In dessen Meisterklasse ‚im Turm’
am Schillerplatz sich die erst viel später vom Kritiker Muschik bezeichneten ‚Wiener
Phantastischen Realisten’ entwickeln konnten, übrigens jeder in eine andere Richtung.
Das waren damals die für mich wichtigsten Maler Österreichs: Brauer, Fuchs, Hausner,
Hutter und noch ein Janatschek oder so, der aber nach Amerika ausgewandert und
von der europäischen Kunstszene verschwunden war. Die Andern haben von Wien aus
die Kunstwelt erobert, was damals doch höchst erstaunlich war. Österreich galt ja in
Sammlerkreisen quasi als ausgeraubte Provinz. Dass von dort was Neues kommt, war
sicherlich auch dem Wiener Emigranten Joachim Aberbach zu danken, der seinen
Schützling Hundertwasser auf dem internationalen Kunstmarkt etabliert hat.
Schweikhardt: Auf Hundertwassers Karriere kommen wir noch zurück Radax: Ja, es ist eben alles mit einander vernetzt –
OK – also zunächst die ‚Phantastischen Realisten’, die ganz entschieden am anderen
Ufer der Kunst standen als der, sagen wir einmal, ‚naivisierende’ Hundertwasser alias
Fritz Stowasser. Ich kannte ihn eigentlich ziemlich gut. Immerhin drehte ich 1965 den
ersten Film über ihn und 1998 auch den letzten.
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Aber zurück zu den ‚Phantasten’: Wolfi Hutter, zum Beispiel, war ein Kind der Liebe
von Milena (Dedowich) und dem Schauspieler Albert Paris Gütersloh, vulgo Kietreiber,
aus einem Dorf im Waldviertel. Der Künstlername entsprach dem Ehrgeiz dieses
Hochbegabten, ausgerechnet am Theater im westfälischen Gütersloh Karriere machen
zu wollen.
Enttäuscht entfloh ‚der junge Törless’ dann nach Paris, wo er sicherlich mehr Aufmerksamkeit erregen konnte, mit seinen alt-aristokratisch wirkenden Posen. Sein zweiter
Vorname ‚Paris’ stammte aus dieser Epoche. Gütersloh entwickelte aber auch noch
zwei weitere Begabungen: Dichten und Malen !
Auch in diesen beiden Künsten blieb er eine Singularität, wie man sie im heutigen Wien
nicht mehr findet. Ein sowohl wortgewaltiger Schriftsteller und Redner, als auch expressiver Maler, doch ebenso zarter Aquarell-Illustrator seiner phantastischen Geschichten.
Eine Erscheinung, zu der auch heute noch die jungen Künstler aufblicken würden.
Dabei kennen die meisten nicht einmal mehr seinen Namen.
Begabt und belastet von seinem Vater, betrat nun sein Sohn ‚Wolfi’ die Bühne der
Kunst als Wolfgang Hutter, weil seine Mutter inzwischen geheiratet hatte. Hoch begabt
malte er sogleich sein etwas anstößiges Meisterwerk ‚Theater’, das er seiner ersten
Frau Traudl Kober schenkte. Übrigens eine ‚Grande Dame’, wie sie in der ‚SeitenblickeWelt’ von heute nicht mehr vorkommt.
Schweikhardt: Traudl Hutter, die in zweiter Ehe mit Konrad Bayer verheiratet war ?
Radax: Richtig. Übrigens hat Wolfi Hutter in ihrer Wohnung am Dannebergplatz die
hohen weißen Türen ebenfalls mit phantastischen Motiven bemalt. Ich habe dort für
den surrealen Kurzfilm ‚Große Liebe’ (auch ‚Grande Amour’) Szenen gedreht.
Schweikhardt: Hast Du Gütersloh auch persönlich gekannt ?
Radax: Nein, dazu war der Abstand an Jahren und Autorität viel zu groß.
Aber begeistert war ich von den Wort-Kaskaden, die er auf seine Leser losdonnerte.
Er mag vielleicht ein verhinderter Schauspieler gewesen sein, aber ein einmalig pathetischer Redner, dessen phantastische Wortschöpfungen noch heute in mir nachhallen.
Anlässlich der Eröffnung des ‚Neuen Strohkoffers’ im damaligen Dom-Café an der Ecke
Singerstraße, erinnerte Gütersloh sich seiner Jugendzeit und rief begeistert:
„Als ich damals, hundsjung !, in Paris…’ Das Wort ‚hundsjung’ passte ideal zu seinem
barocken Schreibstil im letzten 1000-Seiten Roman ‚Sonne und Mond’.
Schweikhardt: Was hast Du noch von ihm gelesen ?
Radax: Seinen ersten Roman ‚Eine sagenhafte Figur’. Natürlich meinte damit der Autor
sich und seine heroische Gefühlswelt höchstselbst. Das hat mich jungen Menschen
derart begeistert, dass ich alle Seiten im Buch, die mir stilistisch schwächer schienen,
mit der Heftmaschine zusammennagelte ! Dafür ganze Passagen auswendig lernte und
aus der dramatischen Liebesgeschichte sogar einen Spielfilm machen wollte. Aber in
einer Zeit, in der Gunther Phillip auf der Leinwand blödelte und der beste Schauspieler
im Film immer noch Hans Moser war, hat sich kein Produzent für das Projekt gefunden.
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Gütersloh war außerdem so überragend, dass gegen ihn der geniale Otto Mauer, der
wohl größte Kanzel-Löwe seit Abraham à Sancta Clara, rhetorisch etwas verblasste.
Als leidenschaftlicher Verfechter der Abstrakten Malerei hat er es allerdings mit Hilfe
seiner ‚Galerie St. Stephan’ sogar gewagt, gegen den konservativen Wiener Klerus
aufzumucken.
Schweikhardt: Hast Du noch etwas zu Otto Mauer in Erinnerung ?
Radax: Die Ausstellungen ‚beim Mauer’ waren quasi ein Gegen-Kult zu den ‚Pantastischen Realisten’. Mich haben aber diese dekorativen Abstraktionen nie interessiert,
weil das Resultat, meiner Meinung nach, entweder vom Geschmack des Betrachters,
vom günstigen Preis, oder auch vom berühmten Namen des Künstlers abhing.
Die neureichen Kunstkäufer von dazumal, diese Fleischhauer, Teppichhändler, Parteifunktionäre, Kritiker und Galeristen allesamt, interessierte klassische Gemälde nicht
mehr, weil es am Kunstmarkt keine mehr zu kaufen gab.
Sie waren Museums-Kunst geworden.
Schweikhardt: Aber es mussten doch noch wertvolle Gemälde in Privatbesitz sein ?
Radax: Sollte man glauben. Entweder waren sie noch vor dem Krieg ins Ausland
gerettet, oder von den Nazis geraubt, von Bomben zerstört, oder von Alliierten
gestohlen, immer noch gut versteckt, oder beim Hamstern für ein Kilo Butter
verschachert, oder einem Museum verkauft, oder geschenkt worden. Und weil nichts
mehr am österreichischen Kunstmarkt zu holen war, mussten die Schieber und
Spekulanten zufrieden sein, ihre Wohnungen ‚in bester Lage’ mit dem zu dekorieren,
das ihnen gerissene Galeristen um einen Bettel - im Vergleich zur Klassischen Kunst als ‚modern’ einreden konnten. Womit handwerkliches Können gegenüber
unkontrollierbarer, ‚spontaner’ Malerei auf Jahre hinaus passé war. In der Zeit, die ein
‚Phantastischer Realist’ für ein Gemälde brauchte, das erst noch richtig durchtrocknen
musste, hatte ein ‚Abstrakter’ mindestens schon 10 trockene für seinen Galeristen
fertig, die er sofort auf den Kunstmarkt werfen und ordentlich absahnen konnte. Das
war für mich so wie Falschgeld drucken.
Schweikhardt: Wie sah es denn mit der Musik aus, in den 50er-, 60er-Jahren ?
Radax: In der Musik herrschten noch strengere Kriterien als heute, wo jeder Dahergelaufene, vollgepumpt mit Drogen, mit seiner aufgemotzten E-Gitarre über die Bühne
hüpft wenn seine Fans sich vor Begeisterung anwischerln, wie deren Mütter nur wenige
Jahre zuvor bei einer Brandrede von Onkel Adolf, diesem Rodolfo Valentino der PolitPopstars in den 30iger-Jahren, dem vor allem die Herzen der Frauen zuflogen !
Fanfaren, ‚Badenweiler-Marsch’ und ‚Horst Wessel-Lied’ waren jetzt endgültig passé.
Schweikhardt: Die neue Musik war jetzt also der ‚Jazz’ der Amerikaner.
Radax: Aber auch der Österreicher, die bei den Amerikanern Jazz spielten, wie ich.
Natürlich nicht so toll wie Pianist Heinz Neubrand und Saxophonist Hans Koller.
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Die waren auch engagiert draußen am Flughafen ‚Langenlebarn’, im Tullnerfeld,
kurz ‚Tulln (Talln) Airport’. Der gehörte den Amis, vorher noch der Deutschen Luftwaffe.
Aber der wurde schnell ‚entnazifiziert’, weil gute Jazzer keine Nazi sein konnten.
Jedenfalls führte damals quer durch die Russen-Zone eine Amerikanische SonderStraße von Wien zum ‚Tulln Airport’. Und dort fanden dann ungeheure Jam Sessions
statt, mit eingeflogen Big Bands vom ‚Duke’ Ellington, aber auch mit Johannes Fehring
Big Band. Der auch im Tanz-Palast ‚Tenne’ spielte, in der Anna Gasse (dem StadtStrich), der dann, Jahre später, ‚Ade Bar’ hieß und noch heute irgendwie existiert.
Schweikhardt: Du hast doch im ‚Strohkoffer’ auch mit Gulda vierhändig gejazzt ?
Radax: Jaja, manchmal verirrten sich auch echte Genies wie Gulda und Zawinul
hinunter. Wenn aber nur einer der beiden da war, hatte ich die ziemlich schwierige
Ehre, vierhändig mit Gulda oder ‚Zawerl’ die Bass-Akkorde zu spielen. Was ich ganz
gut konnte, während oben Jazz-Phrasierungen von Mozart und Bach über die Klaviatur
fegten ! Der Gulda Fritzl hatte nämlich kurz vorher den ‚Beethoven-Preis’ in Genf
gewonnen und ein Auto dafür bekommen, einen blauen ‚Ford M 12’ samt Genfer
Nummer. Das einzige Auto, das verloren im ‚Kärntner Durchgang’ stand. Außer, der
grüne ‚Puch-Roller’ vom Roman Schließer stand vor der schmalen Türe zum Abgang in
den ‚Art Club’, wie der ‚Strohkoffer’ einfach hieß.
Schweikhardt: Erzähl’ einmal. Wie war’s denn da unten ?
Radax: Da war Nacht für Nacht die Hölle los ! Auf halbem Weg der gewundenen
Holztreppe, stand der große Kärntner Dichter Humbert Fink in der winzigen Garderobe.
Weiter unten schwang man auf etwa vier Quadratmetern freien Raums den ‚Jitterbug’,
die ‚Schlitter-Wanze’, wie der geniale Poet Dr. Poldi Pötzlberger und seine sexy Peggy.
Oder Ernst Fuchs tanzte Boogie mit seiner ‚Australischen Wasserleich’, tatsächlich so
bemalt und natürlich barfuss. Umgeben leider auch von Adabeis, die nur ‚KünstlerSchauen’ kamen, wie später im ‚Hawelka’.
Drängten dann noch Schlagbass, Schlagzeug, Gitarre und Uzi Förster mit seinem
Tenor-Saxophon die Treppe herab, und gruppierten sich um den schwarzen Stutzflügel, wurde es erst so richtig laut und gemütlich. Manchmal sang ein schon recht
illuminierter Chor auch den ‚Zillerthaler-Blues’, den der geniale Trickfilm-Bastler und
Komiker Nordhoff intonierte, mit: „Zillerthal ! You are my Freid !“
Und der Künstler-Chor schnatterte und muhte wie am Bauernhof. Aber auch politische
Songs gab’s: ‚It doesn’t matter how old the Figl is, he is always full of wrinkles !’.
Oder der berühmte Abschieds-Chorus: ‘God shaves the Queen !’, usw.
Schweikhardt: Kamen damals nicht auch internationale Künstler in den ‚Art Club’ ?
Radax: Ja, sicher. In drei kleinen Logen neben der winzigen Tanzfläche, ließen sich ab
und zu auch international Prominente auf den durchgesessenen Fauteuils nieder. Der
‚Art Club’ war ein Muss für jeden Wien-Besucher, von Jean Cocteau, bis zum JazzPianisten Oscar Peterson. Bis zum Herbst 1952 kamen so ziemlich alle Jazz- und
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Geistesgrößen Europas da herunter, weil es genauso heiß zuging wie in jedem Pariser
Existenzialisten-Keller. Ich glaube, auch Jean-Paul Sartre war einmal hier.
Da war ich aber schon längst weg in Italien, Frankreich, Holland...
Schließlich war Hundertwasser auch schon aus Wien geflüchtet, bis nach Tunesien.
Arik Brauer war in Israel gewesen. Ernst Fuchs sogar in Los Angeles. Bei einer Party in
den Paramount-Studios hatte er angeblich an einer dunklen Wand eine riesige Vision
von Christus, erzählte er mir jedenfalls. Der Fuchs war halt so talentiert, dass er sich
zum Experimentieren auch Drogen leisten konnte. Meine Billig-Vision war die damals
meist gerauchte Zigarette ‚Austria 3’ und natürlich das Wegfahren, immer per Autostop,
immer in Lebensgefahr, irgendwohin, wo nur das Leben richtiger pulsierte als in Wien.
Schweikhardt: Aber man konnte doch sicher nicht lange im Ausland bleiben ?
Radax: Leider nicht. Musste man wieder zurück, sah man umso deutlicher, wie provinziell alles hier noch immer war. Die Alliierten waren schließlich auch nur Militärs und
keine Kulturbotschafter. Obwohl die Amis sich Mühe gaben, zum Beispiel im ‚Kosmos
Kino’ in der Siebensterngasse, Konzerte aufzuführen. Ich erlebte dort eine ‚Rhapsodie
in Blue’ von Gershwin. Die Solo-Klarinette habe ich heute noch im Ohr. Das war echt
stark und eine völlig andere ‚Konzert-Musik, als die deutsche Klassik in der Nazi-Zeit.
Schweikhardt: Hast Du Musiker außer dem Gulda auch persönlich gekannt ?
Radax: Ich hatte recht gute Freunde beim Blue Danube Network’, dem BDN, oben in
Grinzing, am Schreiberweg 14. Die jungen GIs lernte ich kennen, weil ich mit der TIHOBand spielte, unserer 5 Mann-Kapelle der Tierärztlichen Hochschule, in Währinger
Cafés, die nicht ‚Off Limits to all US-Personal’ war. Zum Beispiel kam der BDN-ChefModerator Michael Kaplan einmal zu mir ans Klavier und bestellte noch einmal ‚How
High the Moon ?’. Das war damals der Super-Hit, übrigens auch im ‚Strohkoffer’ !
Den mochten natürlich auch die vom ‚American Forces Network’, die täglich meine
Lieblings-Sendungen fabrizierten, wie ‚Lunchen and Munchen’, oder ‚Jazz at Five’,
‚Hillbilly Jubilee’, usw. Und weil ich den Mike Kaplan kannte, durfte ich ihn oben in
Grinzing besuchen und mir sogar einen Fotoapparat bestellen, den es nicht einmal im
‚PX-Shop’ in der Stadtbahn-Station ‚Währinger Straße’ gab: Eine winzige ‚Pixi-FlashCamera’, die ich in meiner Hochglanz-Postille entdeckt hatte. Die konnte man aufs
Handgelenk schnallen und damit sogar blitzen. Die musste ich natürlich unbedingt
haben, als ‚Reporter’ von 18 Jahren…
Schweikhardt: Was hat sich in der Kunst-Szene weiter getan, gab es Ausstellungen ?
Radax: Während in Sachen Kunst-Ausstellungen kaum was los war, gab es zwar
schon einige Kabaretts und Keller-Theater, aber vor allem mindestens 100 Tanzlokale !
Hingegen grüßte die wahre Kunst aus der Trafik, mit Alt-Wienbildern, dem notorischen
‚Steffl’, dem idyllischen Griechen-Beisl’ und der ‚Karls-Kirche’.
Was Modernes hätten die paar Touristen sowieso nich gekauft, auch heute nicht.
Eine glatte Überraschung war daher für mich die Ausstellung einer ‚Hunds-Gruppe’.
Hinter dem Volkstheater, im obersten Stockwerk eines Jugendstilhauses, in dem das
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damals gut besuchte, auch heute immer noch berühmte ‚Bellaria-Kino’ ist. Es könnte
im Sommer 1950 gewesen sein. Jemand gab mir den Tipp und ich raffte mich auf.
Schweikhardt: Was hatte der komische Name mit Künstlern zu tun ?
Radax: Vielleicht kam es vom giechischen ‚Kyon’ und den Philosophen, den ‚Kynikern’.
Man kam also in eine weiß getünchte Mansarde von etwa 6 bis 8 Metern, in denen an
der Wand rechts einige meisterhaft gemalte Bilder von Ernst Fuchs hingen, die sicherlich zu den besten seiner Zeit zählten und heute unbezahlbar geworden sind.
Aber auch, weil er sie in dieser alten Technik gar nicht wiederholen kann, da ihre
Herstellung Monate dauert und er seine Klientel in Monaco schneller bedienen muss.
Hinter einer Trennwand hingen rechteckige, über einen Meter breite, ca. 70 cm hohe
schwarze Bleistift-Kritzeleien von Arnulf Rainer, seine ‚Unterwasserbilder’, scheint mir.
Jedenfalls irrsinnig viele Phantasieviecher, einprägsame, eingravierte Kiesel-Formen,
manisch hingekritzelte, überfüllte Zeichenblätter. Interessant war, dass alle penibel mit
Zellophanfolien gegen das Verwischen geschützt waren. Das sah aus, wie riesige, mit
Zellophan überzogene Marmeladegläser, mit damaligen Mitteln eine ideale Notlösung.
Leider zogen sich aber die 4 Ecken durch das Dehydrieren zusammen und bogen sie
gegen die Bildmitte, wodurch sie auch noch gespannt waren, wie Trommelfell. Für ein
großes Glas, oder gar Plexiglas zur Abdeckung, hatte der damals noch arme Rainer
natürlich kein Geld. Dafür sind die Arbeiten heute wahrscheinlich unbezahlbar.
Schweikhardt: Wie war denn der Eindruck von diesen chaotischen ‚Kritzeleien’ ?
Radax: Du wirst lachen, aber dieses Gewusel von Reptilien und Getier, wie aus einer
Nachtmahr von Fuessli oder Breughel, sehe ich heute noch vor mir. Auch die seltsamen, schwarzen ‚Signaturen’ mit Titeln wie: ‚Chli bi ba’ (Zwei Wiener) ‚Mort trr ert’, oder
‚Fl hach !’ (Ich bespucke euch !) habe ich nie mehr vergessen. Nicht, dass sie mir echt
gefallen hätten; ich fand sie hingegen alle ziemlich scheußlich und eigentlich viel zu
primitiv für meinen Kunstgeschmack. Aber – man konnte sich geistig durchaus mit
diesem Aufschrei gegen die Wiener, oder Österreicher im Allgemeinen, identifizieren.
Sie waren, wie später die ‚Grafittis’ von weniger talentierten Jugendlichen, vielleicht
Rainers Protest gegen die herrschende ‚Bürgerliche Klasse’, jener ‚gut Bürgerlichen’,
aus der er selber kam. Rainers Arbeiten waren nicht dekorativ, im Sinn wie die ewig
gleich imitierten ‚Handschriften’ heutiger, naturgemäß anonymer Wandbeschmierer.
Ihre Sprüche sind ja auch nicht halb so lustig wie ‚Fl-hach !’, oder wenigstens banal,
wie ‚Killroy was here !’. Mir scheint heute, dass dieser Spruch mit der amerikanischen
Invasion wie ‚Coca Cola’ zu uns kam. Als demokratisches Genericon, mit dessen
Slogans und Witzen man von der Nazi-Pest heilen wollte.
Schweikhardt: Waren die Arbeiten von Rainer nur einmalig, oder hat er sie
fortgesetzt?
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Radax: Ich glaube, Rainer setze seine frühen Anliegen fort mit der sog. ‚NNN-Malerei’,
schwarzen Kritzeleien, Spontan-Zeichnungen und fast völlig schwarz bedeckten
weißen Flächen. Irgendwie war er der Einzige, der ordentlich umgerührt hat in der
verschlafenen Szene. Für ihn schien es Kunst nicht zu geben um schön zu sein, zu
gefallen, zu beruhigen. Er sah im Pinsel eher ein Instrument, mit dem man in die Tiefe
seelischer Tektonik vordringen konnte, um Proben vom Bodensatz verdrängter
Schichten ans Licht zu fördern. Seine Arbeit hat ja eher mit ‚Investigative Journalism’
zu tun als mit Belletristik. Es ging ihm um Wahrheit, nicht um Schönheit.
Schweikhardt: Hast Du ihn auch privat kennen gelernt ?
Radax: Ich erinnere mich nur an einen Ausflug in die ‚Hinterbrühl’ mit Konrad Bayer,
Mia Löblich, Rhidian Williams, Ernst Fuchs, vielleicht Artmann und ein paar Anderen.
Wir folgten Rainer zu einem kleinen verwilderten Park-Wald. Es war schon ziemlich
dunkel, als wir zu einer Ruine kamen und durch leere Fensterhöhlen in eine ehemals
herrschaftliche Villa einstiegen, die Rainer und sein Bruder geerbt haben könnten. Das
Schwarze Schaf der Familie hatte jedenfalls an die kahlen Wände etlicher leerer
Zimmer Dutzende ‚Gemälde’ gelehnt und beleuchtete sie mit einer Taschenlampe.
Schwarze Farbe, die über weiße Leinwände in immer ähnlicher Weise herabgeronnen
war, aber wie fertige Gemälde wirken sollten. Auf diese Weise wurde wohl aus Protest
gegen seine Familie symbolisch eine nicht unerhebliche Erbschaft vernichtet.
Rainer hatte damals schon auch etwas vom Fanatismus eines laizistischen Heiligen.
Zugleich agierte er als rabiater Nihilist in einer endlich dem Positiven zugewandten
Zeit. Warum, wo und wann ihn dieser Kultur-Schock erwischt hatte, konnte man seinen
Bildern nicht ansehen, nur, wie sehr es ihn erwischt hatte. Bei Kriegsende ?
Natürlich fragte keiner der Kollegen, woher der ständig verarmt wirkende Künstler das
viele Geld für die teuren Leinwände hatte, über die nur schwarze Farbe herunterrann.
Es schien zu klappen wie bei einem modernen Van Gogh-Brüderpaar. Der Rainer malt,
sein Bruder zahlt. Jedenfalls haben seine Werke Käufer erworben, denen man nicht
ansieht, was sie dazu bewogen könnte. Ähnlich wie bei den Van Gogh-Sammlern rührt
sie das exzessive Schicksal des Künstlers dermaßen an, dass sie sich, wie in einer Art
Doppel-Leben, in dessen Gemälde hineinversetzen als wären sie selber der Künstler.
Nach solchen quasi-religiösen, oder auch heidnischen, ‚Hochämtern’, sperren sie ihre
Kunst-Aktie wieder in den Safe und gehen dem Geldverdienen nach. Ich kenne solche.
Schweikhardt: Wie ging denn diese ‚Magische Nacht’ weiter ? Mit einem Besäufnis ?
Radax: Rainer und Alkohol ? Na, ich weiß nicht. Jedenfalls landen wir, nach einer
tapfer durchfrorenen Nacht in dieser öden Gegend unterm Wienerwald, sehr früh und
‚hundsgruppenmüde’ in einem Dorfgasthaus. Ein tragischer Irrtum ! Der typisch österreichische Wirt dort hat nämlich einen debilen Sohn von etwa 6 Jahren. Ernst Fuchs
trug schon damals ein buntes Käppi, unter dem er sein schulterlanges Haar versteckt
hielt. Er bemüht sich redlich, das schwachsinnige Kerlchen zu bemuttern, aber zugleich
doch irgendwie zu bändigen.
Plötzlich schielt der verrotzte Kleine zu ihm hoch und schreit: „Zaubara !“.
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Wir waren sofort wach, so hellsichtig schien dieser behinderte Zwerg das Wesen
unseres Maler-Genies durchschaut zu haben. Oder nur dessen Käppi ?
‚He made my Day’, denke ich heute noch, wenn ich ihn so vor mir sehe. Ernst Fuchs
war und ist nämlich wirklich ein ‚Zauberer’, auf seine ganz eigene Weise. Ein Magier,
wie man ihn vor 2-3 Jahrhunderten noch gesteinigt oder verbrannt hätte. Ein Hexenmeister, dem wirklich nichts Menschliches fremd schien damals, und der aus allem
Leben und Denken um ihn herum seine immense Bild-Phantasie saugte. Ein archaischer ‚Zauberer’, verkleidet als zeitlos prophetischer Künstler. Aber auch in finanziellen
Dingen genial. Halber Jude, ganzer Christ, ganzer Künstler, halber Kaufmann.
Doch sein persönliches Schicksal ist ebenso tragisch: Hätte er diese göttlichen Gaben
nicht, müsste er nicht den Herrgott spielen und 70 hungrige Mäuler stopfen, die zusammen kein Gran seines Talents besitzen.
Schweikhardt: Soviel zum Ernst Fuchs. Wer hat Dich denn noch interessiert ?
Radax: Ein ganz anderer Maler der Spitzenklasse war Rudolf Hausner, den ich aber
erst 1964 näher kennen lernte, als ich aus der Schweiz zurückkam, wo ich ein paar
Jahre gelebt und an Filmen gearbeitet hatte, wie ‚Sonne halt !’ und ‚Am Rand’.
Der erste ORF-Fernsehdirektor Gerhard Freund war eben dabei, seinen Posten
aufzugeben, um in München in die Privatwirtschaft zu gehen und dort die ‚Intertel’ zu
gründen. Im führungslosen ORF stand also ein Interregnum bevor, in dem kaum Filme
in Auftrag gegeben wurden. Daher schlug ich dem damaligen Unterrichts-Ministerium
ein Projekt vor: ‚Filmothek der Bildenden Kunst in Österreich’. Ich wollte für Mittelschulen bis Hochschulen über jeden Maler, Dichter, Bildhauer und Musiker, den ich seit
der Art Club-Zeit kannte, ein ganz persönliches Portrait drehen.
Naturgemäß war das nichts für den ORF, der damals mehr an Fußball als an Kultur
interessiert war, aber Jahre später meine Idee dennoch ‚nachgeahmt’ hat, wie etliche
andere meiner Vorschläge. Die Programm-Macher dort haben nie begriffen, dass
unterhaltsame Kunsterziehung, später hieß das ‚Infotainment’, mehr Wissen über
Moderne Kunst gebracht hätte, als der übliche Zeichenunterricht an den Schulen, samt
faden Museums-Besuchen. Aber an einer Kunsterziehung’ des Publikums waren weder
der ORF noch unsere Schulbehörden interessiert. Dabei hatte ich Maler, Bildhauer,
Dichter und Musiker bereits gründlich recherchiert, jedes Projekt einzeln kalkuliert,
sodaß man sofort mit diesen Dokumentarfilmen hätte beginnen und auf Jahre planen
und finanzieren können. Ich ging dann nach Deutschland und habe dort Filme gedreht.
Schweikhardt: Wollte das BfU nicht einmal einen Pilotfilm drehen lassen ?
Radax: Ich schlug Rudolf Hausner als ersten Maler vor, weil er der Älteste war und
einiges zu sagen gehabt hätte über den Unterschied zwischen Kunst und Können.
Der konnte nämlich noch in klassischer Technik malen, die er vor dem Krieg beim
berühmten Anderson erlernt hatte. Außerdem wusste er auch einige interessante, und
entlarvende Geschichten über andere Künstler.
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Zum Beispiel besuchte ihn Fuchs einmal kurz im Atelier, bewunderte und lobte sein ca.
fünf Quadratmeter großes Tafelbild ‚Laokoon’, an dem er schon 3 Jahre lang malte.
Dann eilte er nach Hause und zeichnete mit Silberstift auf 3 Quadratmeter Eselshaut in
nur 3 Monaten einen ‚Anti-Laokoon’. Einen Käufer hatte er auch schon. Worauf sein
Freund Hausner geschworen hat seinen Freund Fuchs nie wieder ins Atelier zu lassen.
„Der hat ja ein derart fotografisches Gedächtnis, dass er nach nur einmal Sehen alles
nachmalen kann“, musste Hausner leider zugeben. „Wie ein Savant !“
Oder: Im Krieg war Hausner als Soldat einmal drei Tage in den Karpaten in einer Hütte
mit zwei Kameraden eingeschneit. Weil man sich aber nicht dauernd anstarren kann,
ohne durchzudrehen, hat sich Hausner einfach zur Wand gedreht und in den Anblick
der Holzmaserung versenkt.
Dabei bemerkte er, dass ihn diese Maserungen zu seltsamen Landschafts-Visionen
inspirierten. Natürlich gab es das schon in der Renaissance. Wunderbar gezeichnete
Phantasie-Landschaften, scheinbar. Hält man sie aber schräg vor sich hin, erscheint in
der Landschaft zum Beispiel ein Portrait von Kaiser Karl V.
Diese anthropomorphe Kunst hat Hausners Vorkriegs-Malstil völlig verändert.
Nach seiner Heimkehr aus der Gefangenschaft hat er versucht, als Maler Geld zu
verdienen und durfte für das Bundes-Denkmalamt historische Dokumente restaurieren.
Natürlich musste auch seine Frau Hermi arbeiten gehen, wenn es überhaupt etwas
gab, außer dem ‚Trümmerfrauen’-Job, also Ziegelschupfen für ein paar Schillinge.
Auch Hausners kleines Atelier war von einer Bombe schwer beschädigt.
Es herrschten Zustände, wie sie sich kein heute noch so arm lebender Künstler
vorstellt. Vor allem gab’s nie genug zu essen, und keinen ‚McDonalds’ um die Ecke.
Lebensmittelmarken gab es, aber nur selten das, was darauf stand.
Nicht ‚Joggen im Rathauspark’ oder gar ‚Marathon-Läufe’ waren in, sondern HamsterKäufe’, wenn es irgendwo plötzlich Mehl oder Zucker gab. Die berühmten ‚Hamsterfahrten’ aufs Land hinaus waren für viele die letzte Rettung. Entweder mit dem
Fahrrad, oder am Dach eines völlig überfüllten Zuges. Die Bauern wussten schon nicht
mehr wohin mit den vielen Klavieren, die für 1 Kilo Butter verkauft wurden.
Endlich kam auch nach Wien eine neue Art zusätzliche, amerikanische Versorgung.
‚Care Pakete’ wurden im Zuge des ‚Marschall-Planes’ verteilt. Jede Familie bekam von
Zeit zu Zeit ein etwa 5 Kilo schweres Paket, auf das man angewiesen war. Konserven
waren darin, mit Erbsen, Bohnen, Mais. Eine mit dem berüchtigten ‚Silver-Hake’, im
Volksmund ‚Sübahackl’ genannt. Ein kleiner Hering, der einen schon traurig ansah,
wenn man die Dose öffnete. Dagegen war eine kleine Blechschachtel mit ‚Corned Beef’
ein echtes Festmahl, für 1-3 Personen. Trockenmilch-Pulver und ähnliche Raritäten
waren ebenso begehrte Tauschobjekte, wie Rasierklingen, oder gar eine ganze Tafel
‚Hershey-Schokolade’.
Schweikhardt: Diese ‚Care Pakete’ wurden an die Bevölkerung verteilt, und niemand
kontrollierte, dass sie nicht auf dem Schwarzmarkt landeten ?
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Radax: Es gab auch da recht große Unterschiede, ob einer Ex-Nazi war oder nicht.
Hausner erzählte mir im Vertrauen, dass es sogar in der Malerei Unterschiede gab, die
für die Zuteilung eines ‚Care Pakets’ ausschlaggebend waren. „Wer realistisch malte,
wie in gewisser Weise auch ich, der malte, nach Ansicht westlicher Politiker, politisch
nicht mehr korrekt. Wurde man vor dem Krieg als Anhänger der ‚Entarteten Kunst’ und
deshalb als Kommunist verdächtigt, wurde man nach dem Krieg als ‚Schamhaar-Maler’
und Nazi verdächtigt. Nach Meinung von US-Kulturkommissaren wie Häussermann, die
ihre Weisungen von Washington bekamen, waren nämlich ‚die Kommunisten’ politisch
plötzlich wieder viel gefährlicher als die alten Nazi. Wer realistisch malte, malte für die
im Stile des ‚Sozialistischen Realismus’. Wurde er denunziert, war er ausgeschlossen
vom Privileg der allgemeinen (Unter-)Ernährung und bekam keine Care Pakete mehr.
Bis er so malte, wie es im ‚Kalten Krieg’ politisch korrekt war.
Schweikhardt: Man musste seinen Malstil ändern, um Essen zu bekommen ?
Radax: Kunst wurde politisiert, Künstler manipuliert. Natürlich haben viele nur um zu
überleben ganz anders gemalt als sie wollten. Aber andere sind für ihre Kunst
gestorben. Das würde heute keinem einfallen. Lieber würde er seinen Malerkittel nach
dem politischen Wind hängen. Oder den aktuellen Börsenkursen.
Schweikhardt: Du meinst, nach dem Krieg haben die Siegermächte diktiert wie die
Kunst in Europa auszusehen hatte ? Warum ?
Radax: Das hängt mit dem Siegerdenken zusammen, auf beiden Seiten.
Etwa 1950 hat sich das amerikanische Nachkriegs-Kunstgewissen plötzlich besonnen,
dass viele Künstler noch immer vom Studium der vornehmlich französischen Malerei
beeinflusst waren, und nicht wirklich amerikanisch, nicht genug patriotisch malten.
Vor allem war es unbeliebt, Amerika negativ darzustellen. Edward Hopper mit seinen
einsamen Menschen in New York, seinen in der Großen Depression verlassenen
Farmer-Häusern in Connecticut, seinen menschenleeren Leuchttürme, das ging nicht
mehr, nachdem man die bösen Deutschen besiegt hatte und Weltmacht Nummer 1
war.
Die Vereinigten Staaten hatten die Welt gerettet, indem sie Nazideutschland vernichtet
hatten. Dass dieser Krieg die USA endlich aus der Rezession seit 1929 führte, England
seine Weltmacht an ‚Uncle Sam’ verpfänden musste, um gegen Hitler zu überleben,
war kein Thema mehr.
Neues Thema war, dass der ehemalige Kriegspartner Sowjetunion nicht aufhören
wollte ‚die Welt zu revolutionieren’. Und das mit richtig großen, aber realistischen
Stalin-Gemälden auch noch laut verkündete. Wie sollte man sich dagegen abgrenzen,
wenn nicht mit einer vollkommen anderen, ‚westlichen Kultur’ ? Und dazu gehörte,
neben Jazz und Jeans, auch Kunst.
Schweikhardt: Du meist wirklich, der ‚Sozialistische Realismus’ wurde als eine der
Nazi-Kunst ähnliche, rückständige und antidemokratische angeprangert ?
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Radax: Aber natürlich musste man jetzt endlich was entgegen stellen. Etwas derart
anderes, dass man deutlich den Unterschied zwischen Ost und West sehen konnte.
Jederzeit und überall. Von der Werbung bis zum Museum.
Schweikhardt: Der Kalte Krieg war also auch ein Krieg der Kunst-Stile ?
Radax: Wieso kommt denn sonst jemand auf die Idee, die amerikanische Kunst darf
endlich nicht mehr mit der europäischen oder gar russischen verwechselt werden ?
Sie sei autochthon amerikanisch und vor allem demokratisch, weil von jedermann
nachzumachen.
Schweikhardt: Das erinnert mich an Beuys: ‚Jeder ist ein Künstler !’
Radax: Am Anfang dieser ‚Revolution der Modernen Kunst’ stand Jackson Pollock. Der
kam wohl im Permanentrausch auf den Gag, die Farben aus der Dose gleich direkt auf
die darunter liegende Leinwand zu tropfen. Das habe auch was vom Bombardieren der
Nazi-Städte, erkannten pfiffige Kritiker. Aber das war jetzt eine pazifistische Kunst.
Auch der Partylöwe Yves Klein fand es lustiger, nackte Girlies blau anzumalen, die sich
noch nass auf Leinwänden am Gallery-Boden abdrucken mussten. Vor möglichst
vielen Fotografen und Snobs, die ihre Sektgläser umklammerten. ,So ein Gedränge
war in der 5th Avenue-Gallery. Huch !!’
Schweikhardt: Die Militärbesatzung diktierte also hier die abstrakte westliche Malerei
als Kunst in Freiheit zu überleben, wie umgekehrt die Polit-Kommissare jenseits der
Grenze den braven Sozialistischen Realismus als Markenzeichen der Sowjetunion
‚empfahlen’.
Radax: Zumindest erfuhr man im Amerikanischen Leseraum im ‚Kurier-Eck’ an der
Kärntnerstraße zwischen den Zeilen, dass man malen sollte, wie der Polit-Wind wehte.
Oder man nage halt weiter am Hungertuch, wie Rudolf Hausner und alle anderen
‚Kommunisten’, die keine Lust hatten, sich mit der Imitation amerikanischer Künstler ein
paar Konserven mehr zu erschleichen. Lieber riskierten sie beim Schleichhandel im
‚Ressel-Park’ von der Militärpolizei hopp genommen zu werden. Dafür gab’s danach
wenigstens ein ordentliches Gefängnis-Essen und vielleicht von den Wärtern eine
Stange ‚Chesterfield-Zigaretten’, im Tausch gegen Großvaters goldene Armbanduhr.
Amerika war hier einerseits zwar sehr präsent, andererseits aber auch sehr weit weg.
New York war für uns so unerreichbar wie der Mond. Wer heute nur so zum Einkaufen
übers Weekend hinfliegt, ist viel zu verwöhnt und blasiert, um jenen Thrill zu spüren,
den ich im Sommer 1950 beim damaligen ‚Café Weghuber’ erlebt habe.
Schweikhardt: Du machst mich neugierig !
Radax: Von der ‚Hundsgruppe’ kommend, in düstere Gedanken versunken, merkte ich
erst als die Reifen am Randstein quietschten, dass neben mir ein großes Auto hielt. Ich
war aber nicht nervös, denn ich erkannte sofort, es war ein nagelneuer ‚Mercury’ und
kein alter russischer Jeep. Im 4. Bezirk wäre eine Entführung dramatischer und jeden47
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falls lauter gewesen. Der sowjetische Hochkommissar war nämlich der Meinung, er
könne in seinem Bezirk tun und lassen, was er will. Angeblich ‚Verdächtige’ nach
Moskau verschleppen, gleich oder nach Jahren im Butyrka-Gefängnis erschießen
lassen, danach am Donskoje-Friedhof verbrennen und die Asche verstreuen lassen,
das war alles ‚karascho’. So ging es damals zu in Wien. Viele unschuldige Österreicher
sind auf diese Art plötzlich und für immer verschwunden. Düstere Gedanken, die gut zu
den Bildern der Hundsgruppe passten. Die Kunst war damals nicht so schwach wie
heute, weil die Bedrohung stärker war. Insofern hatten Rainer-Bilder ihre Berechtigung.
Schweikhardt: Aber was geschah dann ?
Radax: Zu meinem Glück waren es keine Entführer, sondern nur vier amerikanische
Offiziere. Ich sehe sie noch, wie sie sich aus ihrer dunkelblauen Limousine erheben,
ganz wie in einer Traum-Werbung im ‚Look-Magazine’. Die Offiziere entfernten ein paar
Stäubchen von ihren Parade-Uniformen, gegen die jede russische armselig aussah,
und entfernten sich plaudernd zum ‚Café Weghuber’, das es heute auch nicht mehr
gibt. Mich ließen sie, staunend über ihr Traumauto, wie einen Eingeborenen zurück,
der sich dachte: ‚Ja – so eine ‚Rosenholz(-farbene) Hose’ wie diese Offiziere, das wäre
echt cool’, aber keine Blue Jeans, wie sie schwarze Mechaniker in den
Militärwerkstätten trugen. Oder höchstens Künstler wie Ernst Fuchs, der sich extra so
eine aus L.A. mitbrachte, weil man sie hier noch nirgends bekam. Es sei denn, man
hatte, wie ich, Beziehungen zum PX-Shop in der Stadtbahnstation ‚Währinger-Straße’,
wo heute nur ein ‚Billa’ ist. Damals war es das Paradies in Wien, für dessen verbotene
Früchte manche Jungfrau ihren Leib und verzweifelte Kriegswitwen gar ihr zweites
Eheleben hingaben an der Seite eines Army-Feldwebels, neben dem sie dann
irgendwo in Ohio verkümmert sind.
Der Vater meiner Jugendfreundin hatte eine Stelle im besagten ‚PX’. Er kam aus
Amsterdam, wo er 20 Jahre auf der Holland-Amerika-Linie als Steward ein herrliches
Leben führte, bis ihn die Deutschen ausgebombt hatten. Bei Kriegsende kam er nach
Wien und durfte als Armee-Angestellter natürlich auch für sich einkaufen, was jedem
‚Normalwiener’ verboten war. So kam eben ich zu meiner Blue Jeans.
Schweikhardt: Die war damals also noch keine Mode für Freizeit-Kultur ?
Radax: Der deutsche Levi Strauss hat diese Nietenhosen für die Goldgräber gemacht.
Heute ist deren Produktion eine Goldgrube in Südchina, wo sie chemisch ‚stonewashed’ und von Hand geschabt werden, mit 8000 Liter Wasser pro Hose, während
täglich Hunderte Kinder verdursten. Hauptsache Models und reiche Russinnen kommen daher, als würden sie im Bergwerk arbeiten. Schlechtes Gewissen ?
Ich jedenfalls habe meine Jeans getragen, weil sie strapazierbarer waren als normale
Hosen. Weil ich als Kameramann durch Bergwerke gekrochen und in Künetten-Gräben
der Baustellen herumgeturnt bin. Aber nicht, um damit in der Bank als Cowboy zu
spielen oder den Mädchen in der Disco meinen strammen Po zu zeigen. Ich habe die
Jeans so lange getragen, bis sie beim Bücken unterm Knie aufrissen. Noch drei Mal
habe ich sie geflickt, aber schließlich abgeschnitten und als kurze Hose noch zwei
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Sommer getragen. Schließlich war sie aber derart zerfranst, wie man sie heute nur um
viel Geld kaufen kann. Aufheben hätte ich sie sollen und als ‚Original-Jeans der 50erJahre’ bei e-Bay für 2.000,- Euro anbieten. Blue Jeans als mündelsichere Aktie !
Schweikhardt: Apropos Jeans – wie ging denn die Filmarbeit weiter ?
Radax: Natürlich war es mein Traum Regisseur zu werden. Schon beim Zusehen der
Dreharbeiten zum ‚Dritten Mann’ wurde er gewaltig stimuliert. Filmakademie gab es in
Wien noch lange keine, Drehbücher zum Studieren natürlich auch nicht und Filmbücher
konnte man nur mühsam im Ausland bestellen. Um zur täglichen Praxis auch die
nötige Theorie zu lernen, konnte ich mir nur alle möglichen Sorten von Filmen
anzusehen. Die neuesten Technicolor-Westernfilme im amerikanischen ‚Kolosseum’
auf der Nussdorfer Straße. Im ‚Kruger Kino’ erwischte ich eher zufällig den surrealen
Spielfilm von Helmut Käutner, ‚Der Apfel ist ab !’. Der hat mich aber, auch weil er witzig
war, derart fasziniert, dass ich ihn mir elf Mal angesehen habe.
In der ersten Reihe saß ich ‚im Mondlicht der Leinwand’, wie Cocteau so schön sagte,
und schrieb jedes Mal ein weiteres Stück Handlung und Dialoge mit dem Bleistift mit,
weil es damals keine Kugelschreiber gab. Ich staune heute noch über das ‚Drehbuch’.
Schweikhardt: Hast Du nicht auch einmal mitgefilmt, was ja heute verboten ist ?
Radax: Das war bei ‚The Lady from Shanghai’ von Orson Welles, mit Rita Hayworth.
Da besaß ich schon auf Teilzahlung eine 9.5mm Schmalfilmkamera. Damit drehte ich
im ‚Opernkino’, vom Ecksitz am Mittelgang der 10. Reihe, im Einzelgang langsam die
ca. 90 Minuten Schwarzweißfilm mit. Natürlich ergab das keine Raubkopie, sondern je
nach Szenenlänge 3 bis 40 Kader. Die projizierte ich daheim auf kleine Kartons,
zeichnete die besten Bilder nach und schrieb dazu auch alle Dialoge, die ich diesmal
nach nur 5 Mal Ansehen notiert hatte. Videos, die man sich zu Hause hätte wiederholt
ansehen können, waren völlig undenkbar. Frage: Wie hätte ich Film lernen sollen ?
Antwort: Nur auf meine Weise.
Schweikhardt: Gab es in der Kunstszene nicht ähnliche Anregungen wie Kinofilme ?
Radax: Doch. 1957 kam ein französischer Maler nach Wien, ich glaube auf Einladung
von Otto Mauer und dem Intendanten Wochintz der Kammer-Oper beim Fleischmarkt.
Der angekündete Maler hieß Matthieu und war der berühmteste Action-Painter seiner
Zeit. Der Saal war bummvoll mit allen Künstlern, die endlich lernen wollten, wie man
richtiges Action-Painting macht, das man auch international vermarkten konnte.
Auf der Opernbühne stand eine gut fünf Meter breite und 3 Meter hohe Leinwand.
Nach kunstkritischer Einführung durch Msgr. Mauer, wurden Farbkübel hereingetragen.
Plötzlich schrie der Künstler auf und sprang mit vollem Pinsel die Leinwand hoch, um
ein rotes ‚Zeichen’ zu setzen. Dasselbe mit schwarz, mit Gelb, und alles mit ‚avec’ !
Nach 10 Minuten war die Leinwand schon recht nett bemalt nach Strich und Faden und
sah aus wie ein Vorhang der berühmten Finnin Marimekko. Aber nein, das Farb-Ballett
wurde zur Farb-Palette und schließlich zu einer einzigen Schmierage.
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Schweikhardt: Hast Du nicht eine ähnliche Szene in Deinem Film ‚Am Rand’ gedreht ?
Radax: Richtig. Ich habe 4 Jahre später in Zürich die Matthieu-Performance ironisch
nachgestellt, mit zwei lustigen Action-Malern aus Genf. Die hüpfen genauso wild vor
der Leinwand herum und toben sich noch ärger aus als der Künstler damals in Wien.
Dort konnte man nach diesem ‚Event’ erleben, wie das Vorbild der ‚Abstrakten Malerei’
so manchen Künstler reizte auch seinen Ruhm mit ein paar kühn hingefetzten Zeichen
und Klecksen zu begründen. Prachensky und Hollegha hatten ihre Methoden jedoch
schon zum Patent angemeldet. Also verlegte Nitsch sich mehr aufs Schütten.
Weil diese Bilder so rasch fertig waren, aber immer wieder neue Nachahmer fanden,
entstand die einträgliche Freizeit-Industrie von ‚Abstrakten Schulen’. Sodaß heute jeder
Arzt, Rechtsanwalt oder besser situierte Pensionist, seine vier Wände mit eigenen
‚Abstrakten Bildern’ schmücken kann, die er im Waldviertel oder auf einer fernen Insel,
natürlich unter lockerer Anleitung von meist erfolglosen Meistern, zu malen gelernt hat.
Eigentlich gab der ausverkaufte oder besser: ausgeraubte Pariser Kunstmarkt diese
Mode vor, aber hier wurde sie hurtig nachgemacht.
Schweikhardt: Jedenfalls eine authentische Schilderung der Nachkriegskunstjahre.
Man konnte sich damals also entscheiden solide und langsam zu malen und dabei zu
hungern, oder etwas rasch hinzufetzen und bald ein Auto zu fahren.
Radax: Das typisches Beispiel dafür war, ich wollte es damals nicht glauben, Hundertwasser, der arme, in Wien erfolglose Fritz Stowasser, der es aber in Paris endlich zum
Erfolg gebracht hatte und stolz verkündete: „Maler sein ist kein Hungerleider-Beruf !“
Gleich vom ersten Erfolg kaufte er sich eine ‚Renault Dauphine’. Übrigens gab auch
der angeblich sparsame Thomas Bernhard seinen ersten Literaturpreis gleich für das
Sport-Cabrio ‚Triumph TR 5’ aus. Und der sonst knauserige Ernst Fuchs, immer fleißig
malend, fuhr als Erster einen Rolls Royce !
Sogar Rudolf Hausner, der langen Jahre ohne ‚Care Paket’ überdrüssig, worauf es ihm
allmählich nicht mehr an Geld mangelte, stellte in den 3 Garagen seiner Villa in der
Hinterbrühl einige Luxus-Oldtimer ein. ‚Nur als Kapitalanlage’, wie er mir gestand.
Schweikhardt: Aber es heißt doch immer auch beim Film könne man reich werden.
Radax: Fragt sich: Welche Filme hätte ich drehen müssen, um ebenfalls zu einem
schicken Ami-Schlitten zu kommen? Geistlose Fernseh-Unterhaltung, Heimatfilme,
Pornos ? Auch in die Kunst der Nachkriegszeit hatte sich etwas Obszönes geschlichen.
Ein kommerzielles Denken, das nach immer mehr oberflächlicher, aber spektakulärer
‚Kunst’ verlangte. Resultat: Heute gibt es kaum mehr anderes als Spaßkunst für eine
hedonistische Spekulations-Gesellschaft. Seinerzeit große Namen wie Miró, Picasso,
Calder, Braque, Max Ernst, Magritte usw. konnte man bestenfalls schlechter imitieren,
aber sensationell Neues gab es nicht mehr. Die frühen Mikl, Hutter, Brauer, Hollegha,
Fuchs waren noch stark. Allerdings brauchte es Jahre sich durchzusetzen. Also
wurden sie Professoren, auch wenn sie selten an der Akademie waren. Darum sieht ja
alles, was dort herauskommt, wie Assistenten-Malerei aus.
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Schweikhardt: Eigentlich hätten die auch nach Paris gehen sollen, oder New York.
Radax: Das konnten die aber nicht mehr. Die konnten sich von der bequemen, leicht
stinkenden Kittelfalte der ‚Tante Wien’ nicht losreißen. Hundertwasser war da stärker.
Er besaß nicht nur ein geniales Farbtalent, er war auch ein genialer Geschäftsmann.
Seit ich 1965 über ihn den ersten Film gedreht habe, den zweiten kurz vor seinem Tod,
wusste ich, dass er sieben Hungerjahre vor dem ‚Café Margot’ oder ‚ Café de Flore’
hocken und warten musste, bis ihn jemand auf irgendwas einlud. Übernachtet hat er im
Gartenhaus seines Freundes René Brò und fuhr tagsüber mit dessen Fahrrad
verzweifelt durch den stinkenden Autoverkehr. Aber genau diese Jahre verarbeitete er
künstlerisch in eine Spirale, die sein Markenzeichen wurde. Der große Kunsthändler
Raimond Cordier erkannte die Hundertwasser-Spirale als das neue Emblem einer Zeit,
die sich immer mehr um sich selbst dreht. Er war es, der Hundertwasser entdeckt und
groß gemacht hat.
Schweikhardt: In Wien hätte wohl kein Galerist ihn nur annähernd so gut verkauft !
Radax: Cordier lehrte die Franzosen sogar den schwierigen Namen ‚Ünderwasser’
auszusprechen. Und so konnte der nicht mehr arme Künstler sich bald eine teure
‚Citroen DS’, eine ‚Déesse’ (franz.) Göttin des futuristischen Automobils leisten. Bald
konnte sich Fritz sogar ‚La Picaudière’ in der Normandie kaufen, dann die ‚Hahn-Säge’
im Waldviertel, eine Wohnung vom amerikanischen Sammler Aberbach in Venedig,
dazu ein Boot, und dann ein richtig großes Schiff, mit dem er sogar bis Neuseeland
fuhr, wo er schon seit 1973 ein riesiges Grundstück besaß, samt 3 Häusern, die er
abwechselnd bewohnte.
In Wien hätte er sich eines Tages vielleicht aus dem Fenster der mütterlichen Wohnung
hinter seinen Farbtropfen hinabgestürzt.
Schweikhardt: Was taten die Anderen in der Wiener Kunst-Szene ? Was wurde aus
den Malern der ‚Galerie nächst St. Stephan’ um den legendären Monsignore Mauer ?
Radax: Der Mauer sammelte die Non-Figurativen, Abstrakten, Un-Gegenständlichen
um sich, oder wie immer sie von der Kritik benannt wurden. Denn für Otto Mauer mag
der Anblick eines Christus, der wie Ernst Fuchs aussah, irritierend gewesen sein, so
altmeisterlich er auch gemalt sein mochte. Ähnliches aus 7 Jahrhunderten hatte der
klerikale Kunsthistoriker schon zur Genüge im seinem Dom-Museum. Mauer wollte, als
unbestritten modern denkender Geistlicher, etwas absolut Neues in der sakralen Kunst.
Irgendwie war er eine Spezies ‚Kunst-Luther’, der gegen die Bedenken seiner Kollegen
und Vorgesetzten das Verständnis für Moderne Kunst im Kirchenraum neu definieren
und durchsetzen wollte. Natürlich war er, wie jeder Reformator, zu früh erschienen.
Und 1973 leider schon zu früh gestorben.
Schweikhardt: Was war denn die eigentliche Triebfeder seiner Pionier-Leistung ?
Radax: Meiner Theorie nach hatte Mauer erkannt, dass man religiöse Inhalte nicht
bildlich darstellen, sondern in ein abstraktes Bild hineindenken sollte. Darstellungen
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Gottes waren für ihn, aus moderner Sicht, Götzenbilder. Hieß es denn nicht schon im
Alten Testament: ‚Du sollst Dir kein Abbild machen von Deinem HERRN !’ ?
Wenn auch auf höchstem künstlerischen Niveau, kam für Mauer alles Figurative einer
Götzenanbetung gleich. Als klerikaler Intellektueller und Kanzel-Löwe war er zugleich
ein prophetischer Ikonoklast, der den Anfängen eines künftigen Bildersturms rechtzeitig
wehren wollte.
Schweikhardt: Trotz allem sind die Künstler um St. Stephan’ international eher nur in
Fachkreisen bekannt geworden. Hingegen die ‚Wiener Phantastischen Realisten’ durch
den Kunsthistoriker und Publizisten Dr. Wieland Schmidt in Deutschland, weltweit.
Radax: Mauer konnte eben nicht verhindern, dass die ‚Phantastischen Realisten’ mit
ihrer großen Ausstellung in der ‚Kestner-Gesellschaft Hannover 1965, den Durchbruch
in Deutschland und danach in der ganzen Welt geschafft haben.
Schweikhardt: Du hast also begonnen, Filme über Maler und Dichter für das
Fernsehen in Deutschland zu drehen. Ich glaube von 1969 bis 1999 ?
Radax: Nachdem ich jetzt fast nur über die Kunst der Anderen berichtet habe, muss
ich auch etwas über meine eigene Entwicklung seit Kriegsende sagen. Schon vor 1969
habe ich 1954 meinen ersten Spielfilm in Italien gedreht, ‚Das Floß’, ein Boat-PeopleDrama, wie es sich fast täglich ereignet. Danach den bekannten Experimental-Film mit
Peter Kubelka ‚Mosaik im Vertrauen’. 1957 in der Schweiz experimentelle Werbefilme
u.a. für ‚Geigy’. Und schließlich das berühmte ‚Sonne halt !’ in Italien. Dann wieder
neue Filme in der Schweiz, darunter ‚Am Rand’ und, neben etlichen Projekten,
Nachtstudio-Filme für den ORF über Artmann, Bauer, Hanke, Frischmuth etc.
Schweikhardt: Ich weiß, mit Filmen über ‚Konrad Bayer’, die ‚Schizophrenen Künstler’,
‚Thomas Bernhard’ – 3 Tage’, ‚Der Italiener’, ‚James Joyce’, Ludwig Wittgenstein’ usw.
Radax: Ich habe mich eben doch schon früh für das Filmemachen entschieden.
Schweikhardt: Aber was ist in den Jahrzehnten aus Deiner Malerei geworden ?
Radax: Die hat sich neben meiner Filmarbeit dennoch langsam weiter entwickelt.
Mein englischer Freund, Peter Rhidian Williams, als Waliser eigentlich notirischer
Engländer-Hasser, schickte mir 1953 aus Venedig eine farbige Postkarte mit dem
Gemälde einer New Yorker Hausfassade aus knallroten Ziegeln im Morgenlicht, ich
glaube Ecke 27. Straße. ‚Early Sunday Morning’, neben ‚Night Hawks’ Edward Hoppers
berühmtestes Gemälde.
Schweikhardt: Was ist denn so Besonderes an dieser Ziegelmauer ?
Radax: Die Fassade erinnerte mich stark an meine Kindheit in ‚Hirtl’s Waisenhaus’ in
Mödling bei Wien; auch im englischen Backstein-Stil erbaut. Auf dem Hopper-Bild sind
im ersten Stock die Rollos in den Fenstern halb herabgezogen. Dahinter scheinen alle
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zu schlafen. Auch auf der Straße ist kein Mensch zu sehen. Nur der Betrachter fühlt
sich wie ein Frühaufsteher vor der Fassade. Ein unheimliches Bild, bei dem man nur
spürt, was man nicht sehen kann, weil es hinter der Fassade geschieht.
Der amerikanische Maler Edward Hopper hatte damit den Biennale-Preis gewonnen.
Für mich stand fest, genau solche Bilder wollte auch ich malen. Dieses ‚Portrait’ einer
Backstein-Architektur im Sonnenlicht gab mir Mut es mit der Malerei aufzunehmen.
Denn ich kannte das Gefühl, in der Morgensonne vor dem Laden der ‚WIMO’ (‚Wiener
Molkerei’) am Laurenzerberg zu stehen, um mir von meinem selbst verdienten Geld ein
Viertel Milch und eine Topfengolatsche zu kaufen ! Nur die weißgraue Wiener Jugendstilarchitektur passte nicht zu der optimistischen ‚Early Morning Sun’ !
Schweikhardt: Du warst also wie ein früher ‚Zadrazil’ mit seinen Wiener Ansichten.
Radax: Nein – aber ein expressionistisches Portrait à la Kokoschka gefiel mir ebenso
wenig wie die religiösen Farb-Orgien eines Böckl. Ich finde ja Heiligen-Malerei pervers.
Aber ich musste zwischen der abstrakten Scylla und der surrealen Karybdis hindurch,
hinaus ins offene Meer der Phantasie. Vielleicht mit einer realistischen, einer erzählenden Malerei, wie ein Film, dazu auf einer breiten Cinemascope-Leinwand.
Diese breite Fassade war auch das Geheimnis von ‚Early Sunday Morning’.
Den Anstoß zum ersten surrealen Ölbild gab eine kanadische Grusel-Erzählung, die
mir H.C. Artmann geliehen hatte. ‚Thus I refused Beelze’ (etwa: So wehrte ich dem
Beelzebub) inspirierte mich zum magischen Querformat von 32x11 Wiener Zoll.
Einen Monat lang habe ich nach der täglichen Filmarbeit daran gemalt, oft noch in der
Dämmerung meiner winzigen Studentenbude in der Wiesingerstraße. Eigentlich in
guter Gesellschaft. Zwei Stock unter mir übte täglich der Pianist Paul Badura-Skoda.
Aber leben hätte ich von der Malerei nicht können. Und fragte mich, wie es die anderen
Künstler machten ? Vielleicht hätte ich als Werbegraphiker arbeiten können ?
Am nächsten Bild zeichnete ich schon in jeder freien Minute im ‚Stambul’ am Fleischmarkt, unserem Dichter-Treff nach der ‚Strohkoffer-Zeit’, noch lange vor dem ‚Hawelka’.
Meine philosophische Lieblingslektüre hieß damals ‚Pessimismus, ein Stadium der
Reife’. ‚Warten auf Godot’ erschien mir mit 19 Jahren als wichtigstes Theaterstück der
Welt. Jean-Paul Sartre und Albert Camus ließen mich mein Schicksal wie vom Räderwerk einer gigantischen Bahnstation gelenkt erscheinen. Das wollte ich als ‚erzählende
Malerei’ so darstellen: Nacht. Ein Haus aus roten Backsteinen (Hopper lässt grüßen),
vor dem ein, zwei Güter-Waggons stehen. Eine der Schiebetüren ist weit geöffnet, ich
stehe als Silhouette davor und leuchte mit der Blendlaterne hinein. Drinnen liegt ein
Stapel von Krautköpfen mit Gesichtern von Freunden und Bekannten. Über dem
Wagon erhebt sich das große Fenster des Stellwerks. (Atelierfenster zur Welt.)
Schweikhardt: Außer Dir sieht man keinen Menschen ?
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Radax: Moment – die Krautköpfe haben zwar Münder, reden aber nicht, weil sie das in
einem Gemälde nicht können. In Filmen von Slawomir Mrozek hätten sie es gekonnt.
Nur hier in Österreich konnte ich es nicht. Für witzige Kurzfilme hatten die Polen Geld,
weil sie sozusagen auf der Siegerseite gelandet waren. Österreich zählte damals in
jeder Hinsicht zu den Verlierern. Das hatten sich meine Landsleute selber eingebrockt
und ich musste es auslöffeln. Natürlich war ich auf das Land und die ganze Welt böse.
Andererseits sah ich jetzt auch die Grenzen der Malerei gegenüber dem Filmmachen.
Malen war eine stumme, einsame Kunst. Filmemachen hatte Worte, Geräusche, Musik.
Mir fehlte also in der Malerei der Ton. Ich konnte mich nicht vollständig ausdrücken.
Schweikhardt: Das heißt, was Du zeigen wolltest, konntest Du nicht beschreiben ?
Radax: In der Malerei muss man dem Betrachter seine Ansichten überlassen. Im Film
kann ich ihm erklären und zeigen, was ich mit dem Dargestellten meine. Es gibt keine
Missverständnisse beim Interpretieren. Zum Beispiel im Bild ‚Das Stellwerk Gottes’.
Schweikhardt: Aha, jetzt hat es schon einen Titel !
Radax: Ja, das Beispiel soll Dir erklären, was damals die Geister in der Malerei schied.
Oben im Stellwerk steht ein seltsamer Mensch am Fenster. Er trägt eine EisenbahnerKappe, schaut uns resigniert an und trommelt nervös gegen das verregnete Fenster.
Mit langen Haaren und Bart sieht er aus wie unser Jesus Christus.
Die Frage war natürlich: Würden ihn alle Betrachter so sehen ? Ich konnte nur hoffen,
dass es mir gelingt den ‚Stellwart des Schicksals’ so darzustellen, dass die Betrachter
tatsächlich begreifen, wen aller ich mit dieser Darstellung wirklich gemeint hatte.
Diesen Text und alles Weitere über Leben und Werk von Ferry Radax finden Sie im
Internet unter http://www.ferryradax.at
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