Das Rätsel der verschwundenen Harke-Seiten

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Das Rätsel der verschwundenen Harke-Seiten
Das Rätsel der verschwundenen Harke-Seiten
HElM ATGESCHICHTE Nienburgerin Anna-Verena Hiller ist Landessiegerin beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten
AnnaVerena Hiller im Harke-Archiv mit den Ausgaben des dritten Quartals 1938. Der Band mit den
letzten Monaten jenes Jahres fehlt - und mit ihm die Berichterstattung über die Reichspogromnacht.
Die 18-jährige Nienburgerin hat sich mit dem Verschwinden beschäftigt.
Foto: Lachnit
Warum sind alle Berichte
über die Geschehnisse
der Reichspogromnacht
1938 aus dem Harke-Archiv verschwunden? Die
18-jährige Abiturientin
Anna Verena Hiller ist
dieser Frage nachgegangen. Ihr Verdacht: Der
1992 verstorbene langjährige Harke-Chefredakteur
Erich Prüssner hat die
Ausgaben verschwinden
lassen. Beweisen kann
sie das allerdings nicht.
VON HOLGER LACHNIT
Nienburg. Alles begann damit, dass Anna Verena Hiller
auf der Suche nach einer Projektarbeit im Rahmen des Seminarfachs war. Ihr Tutor am
Marion-Dönhoff-Gymnasium,
Dirk Paulsen, schlug eine Teilnahme am Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten
vor. ,Ärgernis, Aufsehen, Empörung: Skandale in der Geschichte" - so lautet das Motto
des Wettbewerbs.
„Anfangs hatte ich keine
Idee, welchen Skandal ich näher untersuchen könnte", erinnert sich die 18-Jährige. Also
wandte sie sich an Nienburgs
Museumsleiter Dr. Eilert Ommen, der wiederum an Patricia
Berger vom Stadtarchiv verwies. „In einem Nebensatz erwähnte Frau Berger, dass die
Harke vom November 1938
verschwunden sei und man
nicht wisse, was mit den Ausgaben passiert ist. Da war mir
klar, dass ich mein Wettbewerbsthema gefunden hatte."
Die Idee zu ihrer Arbeit „Das
Verschwinden der Lokalszeitung Die Harke vom November 1938 - ein vertuschter
Skandal?" war geboren. Im
September 2010 besuchte Anna
Hiller ein Vorbereitungsseminar der Körber-Stiftung in Berlin. Dort wurde ein erstes Konzept der Arbeit erstellt und
Arbeitsmethoden erläutert.
Zurück in Nienburg, machte
sich die junge Frau gleich an die
Arbeit. Akribisch arbeitete sie
den historischen Kontext auf.
Sie befragte aktuelle und ehemalige Mitarbeiter der Harke,
suchte im Stadtarchiv nach Antworten und kam dabei immer
mehr auf den Verdacht, dass das
Verschwinden der Ausgaben
des vierten Quartals 1938 aus
dem Harke-Archiv im direkten
Zusammenhang mit den Novemberpogromen und der Berichterstattung in der Heimatzeitung darüber stehen müsse.
Also fragte sich Anna Hiller,
wer ein Interesse daran haben
könnte, dass die Artikel darüber nie wieder ans Licht der
Öffentlichkeit gelangten.
Unter anderen gerät sogar
Nienburgs Stadt- und Kreisarchivar Frank Gatter in diesen Personenkreis: „Nichtsdestotrotz
besteht
eine
Vermutung der Autorin, dass
das Stadtarchiv durch das bewusste Zurückhalten von Informationen nicht zur Aufklärung des Verschwindens der
Harke vom Oktober bis Dezember
1938
beiträgt",
schreibt die Autorin. Sie wirft
dem Stadtarchiv gar einen
„bewussten Ausschluss der
Öffentlichkeit bei der Erforschung von Lokalgeschichte"
vor - um wenig später im Zusammenhang mit einer Aktenanfrage dem Archivar zu unterstellen: „Eigenen Angaben
zufolge war die Akte komplett, die Autorin kann jedoch
nicht ausschließen, dass Thomas F. Gatter einzelne Dokumente aus welchen Gründen
auch immer entfernt hat."
Auch der stellvertretende
Harke-Chefredakteur Holger
Lachnit bekommt sein Fett weg.
Anna Hiller schreibt: „Lachnit
gab an, dass es sich bei dem Verschwinden der Harke aus dem
letzten Quartal 1938 keineswegs
um ein ,mysteriöses Verschwinden' handele, sondern schlichtweg um einen Diebstahl. Er
machte jedoch darauf aufmerksam, dass in Nienburg existierende Verschwörungstheorien,
nach denen ,ein Verantwortlicher der Harke nach dem Zweiten Weltkrieg antisemitische
Artikel angeblich verschwinden
lassen wollte' sich nicht belegen
lassen. Holger Lachnit machte
ferner darauf aufmerksam, dass
eine Privatperson möglicherweise eine Originalausgabe mit
einem bestimmten Geburtsdatum oder einer Familienanzeige als Erinnerung bekommen
wollte und deshalb das ganze
Quartal entwenden musste. Archive hätten in der Nachkriegszeit nicht den heutigen Stellenwert genossen, und auch das
Harke-Archiv sei bis weit in die
1980er Jahre für jeden frei zugänglich gewesen, der das Verlagshaus betreten habe.
che, dass die Quartale ab 1935
in Erichs Prüssners Privatwohnung gelagert wurden. Ob
Holger Lachnit bewusst falsche Angaben zur Aufbewahrung des betreffenden Quartalsbandes machte oder nicht
von der Lagerung in Erich
Prüssners Wohnung wusste,
bleibt offen."
Die Lagerung der Bände in
der Wohnung des ehemaligen
Chefredakteurs ist der zentrale
Punkt in der Arbeit der 18-Jährigen. Zum Kronzeugen dafür
wird der lokale Historiker Dr.
Karl-Heinz Speckmann erhoben. Die Zusammenarbeit mit
ihm sei ein „Volltreffer" gewesen, schwärmt Anna Hiller. Dr.
Speckmann wird als „unabhängige Person" bezeichnet, „die
nicht in die Geschäfte der Harke involviert war".
Ob Dr. Speckmann tatsächlich so unvoreingenommen ist?
Ehemalige langjährige HarkeMitarbeiter wissen von persönlichen Differenzen zwischen
Erich Prüssner und dem Historiker, auf die Anna Hillmann in
ihrer Arbeit nur am Rande einDies widerspricht der Tatsa- geht. Sie berichtet, dass Veröf-
fentlichungen Dr. Speckmanns
in der „Nienburger Stadtzeitung" in den 80er Jahren dazu
geführt hätten, „dass Erich
Prüssner nicht die geplante öffentliche Ehrung in der Stadt
Nienburg/Weser erfuhr".
Unbestritten ist, dass Erich
Prüssner in dem 30er und
40er Jahren Artikel verfasst
hat, die nach heutiger Betrachtungsweise eindeutig als
nationalsozialistisch und antisemitisch einzustufen sind.
Anna Hiller spricht in diesem
Zusammenhang von „Hetzartikeln" und belegt dies durch
mehrere Zitate. Ihre Vermutung: Erichs Prüssner hat alle
Artikel der Monate rund um
die Reichspogromnacht am 9.
November 1938 verschwinden lassen, um möglicherweise seine übelsten Verunglimpfungen zu vertuschen.
Dr. Speckmann hat laut
Anna Hiller erzählt, dass Erich
Prüssner die Archivbände der
Jahre ab 1935 in seiner Privatwohnung gelagert habe. Prüssner habe zu Speckmann gesagt,
dass er ihm keine Informationen über den Verbleib des feh-
talsbände ab 1935, dem Jahr, in
dem er seine Tätigkeit bei der
Harke aufgenommen hat, in
seiner Privatwohnung lagerte,
kann man schließen, dass er
selbst kontrollieren wollte, wer
die Bände auslieh und somit
Informationen über seine Tätigkeit als Hauptschriftleiter
und seine Berichterstattungsweise zu Gunsten des NS-Regimes erlangen konnte. Diese
Kontrolle war für ihn angesichts der Tatsache, dass er
1949 seinen alten Posten als
Chefredakteur der Harke wieder einnehmen konnte und im
Zuge der Entnazifizierungsmaßnahmen in Nienburg auch
nicht belangt wurde, womöglich von besonderer Bedeutung. Eine erneute Veröffentlichung seiner Artikel aus der
NS-Zeit, wie im Falle der Veröffentlichung einiger seiner
Artikel durch Dr. Speckmann,
hätte sein Ansehen in der Stadt
beschädigen können."
lenden Archivbands geben
könne. Anna Hiller vermutet,
dass die Bände erst 1987 im
Zusammenhang mit der Übertragung der Harke-Originale
auf Mikrofilm wieder ins Verlagshaus gelangt seien. Dieser
Darstellung widerspricht allerdings ein ehemaliger HarkeMitarbeiter, der in jener Zeit
den „Heimatboten" zusammenstellte und dafür auf regelmäßigen Zugriff auf alte Harke-Jahrgänge angewiesen war.
Anna Hiller vertraut hingegen ganz auf die Aussagen Dr.
Speckmanns: „Aus der Tatsache, dass Erich Prüssner Quar-
Der Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten
ist der größte historische Forschungswettbewerb für junge
Menschen in Deutschland
und will bei Kindern und Jugendlichen das Interesse für
die eigene Geschichte wecken, Selbstständigkeit fördern und Verantwortungsbewusstsein stärken.
Im weiteren Verlauf ihrer
Arbeit relativiert Anna Hiller
diese Behauptungen jedoch:
„Für diese Theorie gibt es jedoch keine Beweise, die es
möglich machen, Erich Prüssner als den Schuldigen zu bezeichnen."
Dennoch bewertet die Autorin das Verschwinden des Harke-Archivbands als „vertuschten Skandal": „Unabhängig
davon, wer aus welchem Motiv
versucht hat, den Quartalsband
verschwinden zu lassen, behindert ein Fehlen von Archivgut
der Harke und somit wichtigen
Primärquellen die Aufarbeitung der Geschehnisse im November 1938 in entscheidendem Maße", heißt es in Anna
Hillers Schlussbetrachtungen.
Die Juroren des Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten schlossen sich dieser
Würdigung an: Sie erhoben
Anna Verena Hillers Arbeit in
den Rang eines Landessieges.
Seit Wettbewerbsgründung 1973 durch den damaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann und den
Stifter Kurt A. Körber haben
über 123 000 junge Menschen
mit mehr als 25 000 Beiträgen
an den Wettbewerbsrunden
unter wechselnden Themenstellungen teilgenommen.
www.koerber-stiftung.de