Der deformierte Mensch

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Der deformierte Mensch
ver.di publik 10 | oktober 2011
k u l t u r b e u t e l B7
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Der deformierte
Mensch
Vaterlandsverräter | Der alte Mann blickt aus dem
Fenster in den winterlichen Nebel. Dort, vom Saum des
Waldes, sagt er, komme, wenn er nicht mehr weiter wisse, das Wort, nach dem er gesucht habe. Dort, bei den
Bäumen, findet der Schriftsteller Paul Gratzik Antworten
auf seine Fragen. Der Mensch Paul Gratzik aber weigert
sich, Antworten zu geben auf die Fragen, die ihm gestellt
werden.
F OTO S : P R O M O , V E R L E I H
Annekatrin Hendel hat es trotzdem versucht. In ihrem Dokumentarfilm rekapituliert sie die erstaunliche Geschichte
von Paul Gratzik, dem Flüchtlingskind, Tischler, Malocher,
gefeierten Bühnenautoren und Spitzel. 20 Jahre lang berichtet er als im aus der Theater- und Literaturszene der
ddr, und als er mit der Staatssicherheit bricht, wird er
selbst überwacht und zur Unperson. Aus dem Täter wird
ein Opfer.
Die Filmemacherin begleitet ihren mittlerweile 75-jährigen
Protagonisten zum Augenarzt und zum beklemmenden
Treffen mit seiner von ihm entfremdeten Tochter. Sie stapft
mit ihm durch die verschneite Uckermark, in die sich Gratzik zurückgezogen hat, um seine Einsamkeit ungestört im
Alkohol zu ertränken. Sie befragt auch die von Gratzik
bespitzelten Kollegen und Freunde, den schrecklich selbstgefälligen Führungsoffizier, die ehemalige Geliebte, die
erst vor der Kamera erfährt, dass sie mit der Stasi im Bett
lag, und auch Sascha Anderson, jenen Nachwuchsliteraten,
der später den in Ungnade gefallenen Denunzianten denunziert.
Anhand dieser Zeugenaussagen wird anschaulich: Gratzik
hat alle und alles verraten, seine Liebsten, seinen Staat,
seine Ideale und nicht zuletzt sich selbst. Heute schimpft
er, es sei „ein Scheißdreck, in diesem alten Mist rumzuwühlen“, und findet die ddr „mitnichten gescheitert“. Im
nächsten Moment gibt er sich zerknirscht, verdammt „das
kleine Arschloch Paul Gratzik“, den „Scheißvater“ und
wirbt um Mitleid, denn „auch Verräter leiden“. Er ist eitel
und verstockt, exzentrisch und selten demütig, einer, der
weiß, dass er gescheitert ist, aber sich sein bisschen Restwürde zu bewahren versucht.
Doch das ganze Drama dieses Lebens ist am deutlichsten
zu sehen in Gratziks Gesicht. Wenn er aus den Berichten
vorliest, die er geschrieben hat, wenn er seine Denunziationen vorträgt, dann scheinen in diesem zerstörten
Gesicht der Trotz und die Trauer auf, die Wut auf sich
selbst und auf alle anderen. Dann kann man in Paul Gratziks Gesicht lesen, was ein Überwachungsstaat aus einem
Menschen macht. Dass er den Menschen deformiert.
Thomas Winkler
d 2011, r: annekatrin hendel, mit paul gratzik, ursula
karusseit, ernstgeorg hering, renate biskup u.a.,
96 minuten, kinostart: 20.10.2011
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Der Fall Chodorkowsky | Wer ist er
nun wirklich: ein kapitalistischer Ausbeuter, Wirtschaftskrimineller oder
Idealist? Cyril Tuschi porträtiert eine
polarisierende Persönlichkeit, konzentriert sich dabei aber auf ihre Verdienste: Michail Chodorkowsky investierte in Bildung und
plädierte für
eine marktwirtschaftliche
Demokratie in einem Land, das Menschenrechte noch immer missachtet.
Die Aussagen der Befragten erhärten
den Eindruck, dass sich der Inhaftierte
im Laufe von Jahren selbstkritisch
zum Positiven veränderte und keineswegs nur wegen Steuerhinterziehung
in ein sibirisches Gefängnis wanderte.
Tuschi macht kein Hehl aus seiner
Überzeugung, dass sein Protagonist
mit seiner offenen Kritik an Putin zum
Feind des Kremls wurde, der ihn als
unbequemen Gegner loswerden wollte. Dafür spricht, dass kein hochrangiger russischer Politiker dem Regisseur
ein Interview geben wollte. Die brisante Doku mit ihrer hartnäckigen
Suche nach den wahren Motiven für
Chodorkowskys Verurteilung ist ein
Stich ins Wespennest. Nicht zufällig
warnten viele Interviewpartner den
Regisseur vor diesem Projekt.
kl
d 2011, r: cyril tuschi. 111 min., kinostart: 17.11.2011
Nur für Personal! | Oben die Herrschaft und unten die Bediensteten,
das klingt wie Eaton Place, die legendäre britische Fernsehserie. In Nur für
Personal! lebt die Großbürgerfamilie
in der weitläufigen Pariser Wohnung
im oberen
Stockwerk. Im
Dachgestühl
darüber hausen die spanischen Dienstmädchen des
Blocks: eine
verstopfte Etagentoilette und Wasserschüsseln statt Badezimmern, zumindest 1962. Der Arbeitgeber, ein damals ganz gemütlich arbeitender Börsenmakler, verguckt sich in den jungen Neuzugang. Doch der Film geht
nicht den Weg einer schäbig-schönen
Affäre. Stattdessen genießt der Spießer den Kontakt mit all den vitalen,
aber unter ihrer Armut leidenden
Frauen des Nachbarlands. Ein Culture
Clash, der sein Leben verändern wird.
Der außerdem die aktuellen Arbeitsverhältnisse international rekrutierter
Haushaltshilfen freundlich moralisierend illustriert, in einem Plot voller
Überraschungen. Frühstückseier spielen ihre Rolle, ein verwegenes Gläschen Malaga, sowie die Kunst des
Lohnultimatums.
jv
f 2010 r: philippe le guay. d: fabrice
luchini, sandrine kiberlain, carmen
maura, natalia verbeke, 106 min.,
kinostart: 3.11.11

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