Die „Vereinigten Staaten von Europa“ - Institut für Weltwirtschaft und
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Die „Vereinigten Staaten von Europa“ - Institut für Weltwirtschaft und
IWIM - Institut für Weltwirtschaft und Internationales Management IWIM- Institute for World Economics and International Management Die „Vereinigten Staaten von Europa“ und der Euro. Einige Anmerkungen zur aktuellen Debatte Professor Dr. Karl Wohlmuth, Fachbereich Wirtschaftswissenschaft, Universität Bremen Konferenzbeitrag für das Europapolitische Kolloquium 2012 zum Thema: Die „Vereinigten Staaten von Europa“ – ein Revival? Veranstaltet vom IWVWW e. V. in Zusammenarbeit mit der Leibniz-Societät, Freitag, 11. Mai 2012, Humboldt-Universität zu Berlin Band 41 Universität Bremen Die „Vereinigten Staaten von Europa“ und der Euro. Einige Anmerkungen zur aktuellen Debatte Andreas Knorr, Alfons Lemper, Axel Sell, Karl Wohlmuth (Hrsg.): Materialien des Wissenschaftsschwerpunktes „Globalisierung der Weltwirtschaft“, Bd. 41, Mai 2012, ISSN 0948-3837 (ehemals: Materialien des Universitätsschwerpunktes „Internationale Wirtschaftsbeziehungen und Internationales Management“) Bezug: IWIM - Institut für Weltwirtschaft und Internationales Management Universität Bremen Fachbereich Wirtschaftswissenschaft Postfach 33 04 40 D- 28334 Bremen Telefon: 04 21 / 2 18 – 66517 Fax: 04 21 / 2 18 - 4550 E-mail: [email protected] http://www.iwim.uni-bremen.de 1 Die „Vereinigten Staaten von Europa“ und der Euro. Einige Anmerkungen zur aktuellen Debatte Professor Dr. Karl Wohlmuth, Fachbereich Wirtschaftswissenschaft, Universität Bremen Konferenzbeitrag für: Europapolitisches Kolloquium 2012 der IWVWW e. V. in Zusammenarbeit mit der Leibniz-Societät, Freitag, 11. Mai 2012, Humboldt-Universität zu Berlin Abstract The discussion about the “United States of Europe” is intensified in recent times, in political as well as academic circles. This has various reasons: First, it is considered as necessary to deepen the European integration process because of the fact that various important policy areas are not covered yet. The sovereign debt crisis in Europe shows that fiscal policy is such an area and that fiscal rules may be inferior to a fiscal union. Second, steps towards political unification are considered as vital in order to save the Euro as it turned out that crisis management so far was not successful in Europe. Third, the formation of the G20 group shows that Europe has to unify politically in order to impact on the decision-making processes on world economy and world politics affairs. Experiences over 30 months of hectic crisis management in Europe show that five issues are important and have to be addressed: first, the failure of the European Constitution has quite negative effects on European integration and on crisis management as the Lisbon Treaty is not a full substitute; second, the economic policies in Europe are not coherent as there were no further steps towards a Political Union and especially towards fiscal coordination and federalism; third, the European Central Bank is overburdened with tasks because the balance between various economic policy actors is not granted; fourth, the lack of progress in further and deeper European integration is paralyzing decision-making processes in Europe and is leading to uneven and unsustainable growth patterns; and fifth, the neglect of all 2 lessons from the “political economy of reform policies” in Europe has impeded seriously the crisis management. It is shown in this contribution that these five properties of the unfinished European integration process have negative repercussions on Europe, and especially so on the Eurozone and the Euro. Therefore concerted steps towards political unification and towards the project “United States of Europe” are inevitable in order to save the Euro, the Eurozone and the European integration process. 3 Die „Vereinigten Staaten von Europa“ und der Euro. Einige Anmerkungen zur aktuellen Debatte Karl Wohlmuth, Universität Bremen Die Eurokrise und das Projekt „Vereinigte Staaten von Europa“ Zwei Fragen stellen sich derzeit und sind dringend zu beantworten: Hat es seit der Einführung des Euro Fortschritte beim Projekt „Vereinigte Staaten von Europa“ gegeben, bzw. ist die Integration in Europa in diesen Jahren vertieft worden? Hat der Euro in Europa als Klammer gewirkt, um den Prozess der Integration zu beschleunigen bzw. das Projekt der „Vereinigten Staaten von Europa“ voranzubringen? Beide Fragen können dezidiert verneint werden. Das Projekt „Vereinigte Staaten von Europa“ ist in diesen Jahren leider nicht vorangekommen. Der Euro hat auch nicht als Klammer gewirkt. Von einer Vertiefung der europäischen Integration durch Einbeziehung neuer Politikfelder und durch die Stärkung von europäischen Institutionen kann nicht gesprochen werden. Die aktuelle Krise in der Eurozone ist sogar dabei, den erreichten Stand der europäischen Integration zu gefährden. Die Auseinandersetzungen in Europa über die Maßnahmen zur Rettung des Euro und zur Lösung der Schuldenkrise gefährden sogar den Zusammenhalt der Gemeinschaft, weil aus der Sicht der Bevölkerung und der Medien in den europäischen Staaten die Identität Europas nicht erkennbar wird, der Nutzen weiterer Integrationsschritte bezweifelt wird und Souveränität, Autonomie und Handlungsspielräume der einzelnen Staaten bedroht scheinen. Insofern kann von einer Klammer durch den Euro nicht (mehr) gesprochen werden. Die populistischen Tendenzen bei den Wahlkämpfen in zahlreichen europäischen Ländern sind zu erwähnen, weil zum Teil offen europafeindlich vorgetragen, aber auch der Trend einer Umgehung von gemeinsam inaugurierten europäischen Institutionen durch die Art des politischen Entscheidungsprozesses („Merkozy“) ist äußerst bedenklich. Die sehr langsamen und widersprüchlichen Entscheidungsprozesse in Europa passen auch nicht zu der immer deutlicher erkennbaren Notwendigkeit, die Märkte (vor allem die 4 internationalen Finanzmärkte) von einer kohärenten, planvollen und effektiv koordinierten Wirtschaftspolitik der Euroländer/der EULänder zu überzeugen. Die Lage hat sich seit der Weltwirtschaftskrise von 2008/2009 zugespitzt, doch gab es auch vorher Probleme, gemeinsam und zeitnah auf aktuelle Entwicklungen angemessen zu reagieren. Argumentiert wurde anfangs von den politischen Befürwortern des Euro, dieser sei die „Krönung“ der europäischen Einigung und werde nicht nur den ökonomischen Prozess der Integration vorantreiben, sondern auch helfen, den Prozess der wünschenswerten politischen Einheit rascher voranzubringen. Allerdings sollte die Hauptlast der politischen Integration bei einer schnellen europäischen Koordination und Integration der Wirtschaftspolitik und bei einer Einbeziehung weiterer Gemeinschaftsaufgaben liegen. Bald kam es aber zu entscheidenden Änderungen in der Einschätzung der Rolle des Euro für Europa. Der Euro wurde zum eigentlichen „Motor“ des Einigungsprozesses erklärt, zu einem Instrument, um so die Integration Europas zu vertiefen1. Diese Überhöhung des Euro hat fatale Folgen gehabt. Der Euro wurde zum Symbol stilisiert – er symbolisiere die Werte der europäischen Einheit und schaffe Identität. Von der Notwendigkeit dezidierter Schritte zur politischen und weiteren ökonomischen Integration wurde mit solchen Metaphern abgelenkt. Es wurden Erwartungen geweckt, die der Euro nicht erfüllen konnte. Die Spaltung der Europäischen Union in Euroländer und in andere EU-Mitglieder hat zusätzliche Probleme gebracht. Diese Probleme addieren sich zur Spaltung in der Eurozone in Gläubiger- und Schuldnerstaaten, in Länder mit AAARatings und andere, etc. Nicht-Euro-Länder wie Dänemark und Polen sollten sich als Ratsvorsitzende aber dennoch am EuroKrisenmanagement aktiv beteiligen, wurden aber gar nicht zu allen politischen und technischen Sitzungen zugelassen. Nun geht es um Schadensbegrenzung in der Eurozone und darum, von wem neue Impulse für die europäische Integration ausgehen sollen. Neue Impulse für die Integration können aber nur von der Politik, von der 1 FAZ, Eurokrise, Vereinigte Staaten von Europa?, 15.10.2011, Hermann Lübbe, aus: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/kapitalismus/euro-krise-vereinigte-staaten-voneuropa-11516421.html 5 Wirtschaft und von der Zivilgesellschaft kommen, wobei den Medien eine bedeutende Rolle zukommt. Was wurde denn seit der Einführung des Euro im europäischen Einigungsprozess real vollbracht? Die EU hat „Business as Usual“ gemacht – es wurden Beitrittsverhandlungen geführt; in manchen Bereichen wurden die Bedingungen des Binnenmarktes verändert und auch vervollständigt; es wurden neue Institutionen gegründet, vor allem im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit und bei der Überwachung der Finanzmärkte; schließlich gab es auf allen politischen Ebenen und in vielen spezifischen Bereichen ein zeitraubendes Krisenmanagement. Entscheidende Vertiefungen des EU-Prozesses hat es aber nicht gegeben. Weder in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, noch in der Wirtschafts- und Finanzpolitik gab es wesentliche Schritte einer weiteren europäischen Integration. Auch in den Bereichen Migration, Asyl, Entwicklung, Sicherheit, Verteidigung, Außenpolitik, Verbraucherschutz, Gesundheit, Justiz, Forschung und Entwicklung kann nicht von wirklichen Fortschritten bei Koordination, Kooperation und Integration gesprochen werden. Auch von einer realen ökonomischen Konvergenz kann in Europa - trotz der Existenz zahlreicher Töpfe für Programme der Kohäsion und der Strukturangleichung über viele Dekaden hinweg - nicht gesprochen werden. Von Konvergenztendenzen kann in wichtigen Bereichen kaum gesprochen werden. Die Arbeits- und Sozialstandards, die Löhne und die Lohnnebenkosten, die Produktivitätsentwicklung, die Einkommen, der Wettbewerb auf den Märkten und die Wettbewerbsfähigkeit zeigen keinen klaren Trend zur Konvergenz. Die Anfälligkeit der Peripherie in der EU (von Irland bis Griechenland und Portugal) ist in all diesen Jahren nicht geringer geworden. Die Anfälligkeit dieser Länder hat aber unterschiedliche Ursachen (aufgeblähter Staatsapparat in Griechenland, Vernachlässigung der produktiven Sektoren in Portugal, extreme Standortpolitik Irlands). Die stark divergierenden Zinsen für Staatsanleihen der EU-Länder zeigen diese Unterschiede im Gefälle und in der Anfälligkeit deutlich genug. Der Weg zu den „Vereinigten Staaten von Europa“ ist nicht konsequent und nicht kontinuierlich weiter gegangen worden. Die Bewältigung der Eurokrise zieht nun zusätzlich Ressourcen und 6 politische Kapazität von der Aufgabe ab, Kohäsion, Strukturangleichung und Konvergenz in Europa zu fördern und mit dem Projekt „Vereinigte Staaten von Europa“ voranzukommen. Der Euro ist weder „Motor“ noch „Klammer“ im Integrationsprozess. Einerseits wächst in Teilen der „politischen Klasse“ und noch stärker in der Privatwirtschaft der europäischen Staaten die Einsicht, dass der Euro nur durch eine schnellere politische Integration gestärkt werden kann; mehr Europa wird vielerorts gefordert und es werden auch wieder verschiedene Modelle der Durchsetzung eines vereinigten Europas diskutiert. Andererseits werden aber, wieder vor allem von Teilen der „politischen Klasse“, ständig Schritte unternommen, die dem Ziel eines vereinigten Europa entgegenwirken. Die Verlagerung von Kompetenzen und Entscheidungen nach Brüssel zur Stärkung der zentralen Institutionen des europäischen Integrationsprozesses hat nicht stattgefunden; das Europäische Parlament und die Europäische Kommission wurden in den letzten vier Jahren der Wirtschafts-, Schulden- und Eurokrise weitgehend entmachtet. Entsprechendes gilt für den „Präsidenten“ und die „Außenministerin“ der EU. In der Öffentlichkeit wird oft ein anderer Eindruck vermittelt, meist von Politikern, die sich in Wahlkämpfen mit nationalen Parolen gegen die „Auswüchse der EU-Bürokratie“ profilieren wollen. In der Realität dominieren aber Entscheidungsmuster a la „Merkozy“. Erst nach einer Einigung der beiden wichtigsten europäischen Wirtschaftsmächte Deutschland und Frankreich kommt es zu weiteren politischen Abstimmungen. Dadurch kommt es nicht nur zu einer partiellen Lähmung der zentralen EU-Entscheidungsinstanzen, sondern auch zu einer Verlangsamung der Entscheidungsprozesse selbst. Hohe Transaktionskosten behindern dann nicht nur das EuroKrisenmanagement, sondern vor allem auch die Durchsetzung von mittel- und langfristigen Strategien für Europa durch die europäischen Institutionen. Dies hat Folgen, bis hin zur Erarbeitung von mittel- und langfristigen Strategien; die politische Umsetzung wird oft ausgeklammert. Allerdings sind manche Strategiedokumente der EU, wie etwa „Europa 2020“, als ein „Programm für intelligentes, nachhaltiges und inklusives Wachstum in Europa“, nur Auflistungen von Wünschen, nicht aber Strategien im Sinne einer planvollen und verbindlich vereinbarten Durchsetzung von interdependenten und abgestimmten Aktionsprogrammen. In der Strategie „Europa 2020“ 7 findet sich manches über die notwendigen Schritte zur Konvergenz und zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, doch ist das leider nicht rückgekoppelt mit der kurz-, mittel- und langfristigen Aktionsebene. Für das Euro-Krisenmanagement wird das daher nicht relevant. Die Euro-Krisenmanager scheinen diese längst existierenden Programme auch nicht weiter zu reflektieren, denn es wird ja inzwischen neben dem Fiskalpakt auch wieder über einen neuen Wachstums- und Stimulierungspakt diskutiert (für den händeringend Ideen gesucht werden!). Die „Vereinigten Staaten von Europa“ werden an manchen Orten wieder thematisiert, vor allem auch deshalb, weil es gilt, die Entscheidungsprozesse in Europa zu beschleunigen und die Transaktionskosten zu senken. Die Krisenhaftigkeit des Integrationsprozesses führt zu einer Revitalisierung des Projektes „Vereinigte Staaten von Europa“. Die Liste der Vorschläge und Pläne im Rahmen des Gesamtprojektes „Vereinigte Staaten von Europa“ ist lang. Verschiedene hypothetische Szenarien für den Prozess der europäischen Einigung wurden vorgestellt und verschiedene Formen der politischen Vereinigung (Einzelstaat, Bundesstaat, Staatenbund) wurden verglichen.2 Es geht immer auch um Visionen, ohne die politisches Handeln nicht wirklich gelingen kann. Jürgen Habermas hat die Bedeutung einer Zukunftsvision für Europa besonders klar hervorgehoben3. Es geht ihm darum, das europäische Gesellschaftsmodell (mit individuellen und sozialen Rechten und Normen) in der Zeit der Globalisierung international abzusichern. Ohne die Vereinigten Staaten von Europa wird Europas Schicksal letztlich fremden Händen und Mächten überlassen bleiben. Auch gelte es, das Gesellschaftsmodell Europas im Wettbewerb mit anderen Entwürfen (der USA und auch Chinas) international durchzusetzen. Eine Zurückgewinnung von politischer Gestaltungskraft durch Entscheidungen auf supranationaler Ebene ist zwingend. Dazu gehört auch eine ausreichende eigene Finanzbasis, über die die EU nicht wirklich verfügt. Habermas bezieht sich auch ausdrücklich auf das Manifest des früheren belgischen Ministerpräsidenten Guy 2 WIKIPEDIA, United States of Europe, Access: http://en.wikipedia.org/wiki/United_States_of_Europe 3 Jürgen Habermas, Über die Zukunft Europas, Der Standard, 21. März 2006, Access: http://derstandard.at/2374069 8 Verhofstadt. Er forderte ein föderales Kerneuropa, mit einer Integration von fünf Politikbereichen: Sozial- und Wirtschaftspolitik, Wissenschaftsund Technologiepolitik, Rechtsund Sicherheitspolitik, Außenpolitik, und Verteidigungspolitik. Dieses Kerneuropa sollte selbstverständlich offen sein für all jene Länder, die bereit sind, diesen Weg zu gehen4. Im Gegensatz dazu sind aber die aktuellen Meinungen von europäischen Politikern zum Thema eher taktisch bestimmt. Der Mut, diese Forderung nach einer föderalen Struktur so klar auszusprechen, ist aber leider in den meisten europäischen Ländern bei den Politikern nicht anzutreffen. Es bleibt bei vagen Bekundungen von Forderungen nach mehr Kooperation. Die Folgen sind gravierend, insbesondere auch für den Euro, denn die genannten fünf Politikbereiche sind im Sinne der Forderung von Habermas, das europäische Gesellschaftmodell im Weltkontext offensiv durchzusetzen, von ganz zentraler Bedeutung. Der Euro als Weltwährung würde von dieser Entwicklung direkt profitieren - mehrere Funktionen der Weltwährung (Anlagewährung, Notierungswährung, Reservewährung, Transaktionswährung) würden unmittelbar an Bedeutung gewinnen. Zudem würden die anderen Euroländer und die restlichen EU-Länder von diesem Mechanismus der Währungsstabilisierung profitieren. Die Perspektiven einer Europäischen Politischen Union und das Krisenmanagement in Europa Die gegenwärtige Lage ist kompliziert, da international nicht mit einer schnellen Vertiefung des Integrationsprozesses in Europa durch Einbeziehung weiterer wichtiger Politikfelder gerechnet wird. Die Schritte zu einer Europäischen Politischen Union werden zu zaghaft gegangen. Einige Aspekte des gegenwärtigen Integrationsbefundes sind besonders gravierend. Daraus ergeben sich Prioritäten und Handlungsempfehlungen zur Vertiefung des europäischen Integrationsprozesses und auch Folgerungen zur Rettung des Euro: 4 WIKIPEDIA, United States of Europe, Access: http://en.wikipedia.org/wiki/United_States_of_Europe 9 1. Das Scheitern der Europäischen Verfassung: Das Scheitern der europäischen Verfassung hat schwerwiegende Konsequenzen für die europäische Integration, insbesondere aber auch für die Richtung und Wirksamkeit der europäischen Wirtschafts- und Währungspolitik gehabt. Wenn auch die These vertreten wird, der dann ausgehandelte Grundlagenvertrag hätte die wesentlichen Inhalte des Verfassungsvertragswerkes gerettet, so stimmt dies nur zum Teil. Die rechtliche Stellung, die gesellschaftliche Verankerung und die politische und ökonomische Wirkung einer Verfassung sind ganz anders zu bewerten. In der EU und auch global wäre die Durchsetzung einer Europäischen Verfassung durchaus als Signal einer Vertiefung des europäischen Integrationsprozesses gewertet worden. Die Wirtschafts- und Währungsunion hätte einen wesentlichen Anker erhalten. Zudem ist die Verfassung ein Instrument zur Abklärung von Zuständigkeiten und Funktionen, also werden auf der Basis der Verfassung auch Transaktionskosten gespart und Entscheidungsprozeduren beschleunigt und vereinfacht Es ging bei der Europäischen Verfassung im Prinzip darum, alle europäischen Verträge durch den neuen Text zu ersetzen. Der Vertrag von Lissabon ist hingegen nur eine Abänderung/Anpassung bestehender EU-Verträge. Es ist im Augenblick nicht absehbar, wann und wie die europäische Verfassungsdiskussion wieder aufgenommen werden könnte. Insbesondere die Bestimmungen in der Europäischen Verfassung über die erweiterte Kooperation in der EU sind wegweisend für die Wirtschaftskooperation und hilfreich für Länder, die schneller im Integrationsprozess vorangehen wollen. Was hat das Scheitern der Europäischen Verfassung mit dem Euro zu tun? Das Scheitern der Europäischen Verfassung zeigte, wie divergierend die Interessen in Europa sind und dass es keinen wirklichen Konsens zur Vertiefung der europäischen Integration gibt. Das für eine Gemeinschaftswährung wichtige Signal der planmäßigen Weiterführung der politischen Einheit bleibt aus. Wenn das Signal einer Konvergenz zur politischen Einheit über längere Zeit ausbleibt, wird die Unsicherheit auf den Finanzmärkten hinsichtlich der Überlebensfähigkeit der Eurozone verstärkt; die Investoren testen die möglicherweise schwachen Euro-Länder hinsichtlich ihrer Kreditwürdigkeit bzw. auch hinsichtlich der Fähigkeit, in der 10 Eurozone zu verbleiben. Wenn vom Euro-Paradox des stabilen Außenwerts trotz innerer Krisen gesprochen wird, dann klärt sich dieses Paradox durch die riesige Handelsbilanz-Überschussposition im Euroraum, denn die hohe Attraktivität deutscher Staatsanleihen bei den Investoren gleicht die abnehmende Attraktivität von Staatsanleihen einer wachsenden Zahl von anderen Euro-Ländern immer noch aus5. 2. Das Fehlen einer Wirtschaftspolitik: kohärenten europäischen Das Fehlen einer kohärenten Wirtschaftspolitik in Europa wiegt besonders schwer und belastet die Konsolidierung des Projekts „Euro“. Der Blick auf die Politik in den USA zeigt, was Kohärenz heißt und wie diese erreicht werden kann. Der amerikanische Präsident muss, um wiedergewählt zu werden, vor allem eine gute Beschäftigungsbilanz vorweisen. Ungünstige Daten zur Arbeitslosigkeit und zur Zahl der neu geschaffenen Arbeitsplätze können die Wiederwahl gefährden. Präsident Obama wie auch vor ihm die Präsidenten Bush Junior und Clinton legen daher besonderen Wert auf einen möglichst flexiblen und abgestimmten Einsatz von Instrumenten der Fiskalpolitik, der Geldpolitik, der Strukturpolitik und der Handelspolitik. Zudem achten sie darauf, dass durch den Einsatz von steuernden Instrumenten in anderen Politikbereichen (Rüstung, Umwelt, Sozialpolitik, Gesundheitspolitik, etc.) die Kohärenz der Wirtschaftspolitik gewahrt bleibt. Das heißt, die Instrumente der Wirtschaftspolitik dürfen nicht zu spät, nicht zu gering dosiert und nicht widersprüchlich eingesetzt werden. Die Fiskalpolitik, die Geldpolitik und die Strukturpolitik müssen also zusammenpassen, dürfen sich nicht gegenseitig aushebeln. Aus europäischer Sicht wirkt der Politikstil in den USA befremdlich, doch immer geht es um möglichst große Kohärenz. Der auch innenpolitisch gewagte Einsatz von Präsident Obama zur Rettung der Autoindustrie, die aus europäischer Sicht gigantischen Stimulierungs-, Rettungs- und Stützungsprogramme nach der Weltwirtschaftskrise von 2008/2009, die komplementäre Liquiditätspolitik des amerikanischen 5 Meyer-Rix, Ulf, 2012, Das Euro-Paradox, Stabiler Außenwert trotz innerer Krise, Friedrich Ebert Stiftung, Perspektive, Februar 2012 11 Zentralbanksystems, und andere Entscheidungen in wirtschaftsnahen Politikbereichen zeigen vor allem auch deutlich, wie schnell und konzertiert die amerikanische Administration reagieren kann. Auch China hat wachsende Probleme, eine kohärente Wirtschaftspolitik durchzusetzen, weil lokale Akteure (der Zentralbank, regionale staatliche Institutionen, staatliche Banken und Unternehmen) die zentrale Geld- und Fiskalpolitik aushebeln können. Das Beispiel China zeigt, dass das Verhältnis der Zentralregierung zu den lokalen Regierungen in den Provinzen immer wieder überprüft werden muss, um eine kohärente Politik durchzusetzen. Wenn dies auch nur unvollkommen gelingt, so ist doch die Möglichkeit dazu gewahrt. In Europa gibt es diese Korrekturmöglichkeit aber nicht, denn das würde Institutionen der Vereinigten Staaten von Europa voraussetzen. All diese Möglichkeiten der zentralen Steuerung hat Europa nicht. Es kann nicht schnell auf Krisen reagiert werden; insbesondere können die Instrumente der Fiskalpolitik und der Strukturpolitik nicht schnell, flexibel und widerspruchsfrei angewendet werden. Die zentralen europäischen Institutionen in Brüssel haben allenfalls die Möglichkeit, Koordinationstreffen einzuberufen und Vorschläge für eine koordinierte Fiskalpolitik zu unterbreiten. Sie können auch für andere (noch nicht gemeinschaftlich gestaltete) Politikbereiche Vorschläge machen, wie Krisenerscheinungen koordiniert begegnet werden könnte. Der Weg zum koordinierten Einsatz der Instrumente ist aber sehr lange und mit vielen Unwägbarkeiten und Widersprüchlichkeiten versehen. Mit Regeln – für einen Fiskalpakt und für einen neu angedachten Wachstumspakt - wird versucht, der europäischen Wirtschaftspolitik ein Stützkorsett einzuziehen, also Koordination und Kohärenz durch Regeln herzustellen. Dies kann aber nicht gelingen, weil niemand da ist, der schnell und kohärent auf Krisen reagieren kann. Alles hängt davon ab, wie die 17 bzw. die 27 Länder die wirtschaftliche Lage beurteilen, ihren internen politischen Handlungsspielraum einschätzen und die Wirksamkeit der möglichen wirtschaftspolitischen Maßnahmen prognostizieren. Der „Fiskalpakt“ ist noch lange nicht durch die Parlamente und schon wird die Diskussion über einen neuen Wachstumspakt eröffnet. Es stellt sich dabei die Frage, ob denn der Wachstumsaspekt bisher übersehen wurde oder ob Wachstumspolitik 12 nach der Einigung über den Fiskalpakt neu definiert werden muss. Offensichtlich wird auch nicht an einen Wachstumspakt im Sinne der Schaffung von neuen Grundlagen für ein nachhaltiges und störungsfreies Wachstum gedacht6. Es geht offensichtlich wieder nur um einige Maßnahmen, um die Sparpolitik gemäß Fiskalpakt in einem etwas besseren Licht erscheinen zu lassen. Der Vorschlag, einen Schuldentilgungspakt für Europa einzuführen, also über die Haushaltsüberwachung deutlich hinauszugehen und wachstumsförderlichen Elementen mehr Raum zu geben, ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert. Dieser Vorschlag wurde von der deutschen Regierung, obwohl vom eigenen Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage vorgebracht, gar nicht weiter diskutiert. In diesen Pakt waren von der gesamten Anlage her Wachstumsperspektiven integriert7. Wichtig ist es also, festzuhalten, dass Regeln noch lange nicht zu einer kohärenten Wirtschaftspolitik führen. Abgesehen davon bedeuten fiskalische Regeln und fiskalische Pakte noch lange nicht die Herstellung einer fiskalischen Union mit einer Konvergenz der fiskalischen Systeme und der Tendenz zu einer gemeinsamen Fiskalpolitik. Die Entscheidungen über die Krisenfonds (die temporäre European Financial Stability Facility/EFSF und der permanente European Stability Mechanism/ESM) und über die Rolle der Europäischen Zentralbank (EZB) in der Krise zeigen ja auch deutlich genug, dass von einer Einigkeit hinsichtlich der Höhe und der Funktion der finanziellen und monetären Kriseninterventionen nicht die Rede sein kann. Dies führt zu neuen Unsicherheiten, da die Finanzmärkte und viele Experten die Höhe der Fonds und deren Funktionsweise eher kritisch beurteilen; auch das Agieren der EZB wird kritisch bewertet. Der Blick ist weithin auch nur auf die Budgetdefizite gerichtet, nicht so sehr auf die Schuldenbestände der Staaten. Dies führt zu einem Wettlauf um Sparerfolge zu Lasten des Wachstums, weil der Pfad der längerfristigen Entschuldung unberücksichtigt bleibt. Die Fragen des 6 Vgl. zu den neuen Grundlagen der Wachstums den Jahresbericht der BIS/Bank For International Settlements, 81st Annual Report, 1 April 2010 - 31 March 2011, Basel, 26 June 2011, Basel: Bank for International Settlements, Chapter II: Building new foundations for sustainable growth, pp. 18 - 32 7 Pusch, Toralf, 2012, Kann ein Schuldentilgungspakt Europa aus der Krise führen?, Friedrich Ebert Stiftung, Internationale Politikanalyse, Berlin: FES, Abteilung Internationaler Dialog 13 öffentlichen Schuldenbestandes in Europa werden insgesamt weithin unterschätzt. Vorschläge des deutschen „Sachverständigenrates (SVR) zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ mit dem Ziel des systematischen Schuldenabbaus wurden nicht weiter diskutiert. Trotz der vereinbarten Schuldenbremse können die konkreten Schritte zur Lösung des Schuldenproblems in Europa sehr unterschiedlich ausfallen und auf den Märkten für Unsicherheit sorgen. Gefahren ergeben sich aus der riesigen impliziten Verschuldung, etwa durch Renten- und Pensionsansprüche in der Zukunft; im Rahmen der gegenwärtigen Diskussionen zum Schuldenproblem werden diese Verbindlichkeiten gar nicht thematisiert8. Für die Zukunft bilden sich daher noch weit größere Ungleichgewichte zwischen den Euroländern heraus, wenn das strukturelle Verschuldungsproblem nicht gelöst wird. 3. Die systematische Überforderung Zentralbank in der Krise: der Europäischen Der Vorwurf lautet, dass das Versagen der Politik in den Euroländern die Europäische Zentralbank (EZB) zu Maßnahmen zwingt, die langfristig die Unabhängigkeit und die Effektivität dieser Institution aushebeln, ja das eigentliche Aufgabengebiet, die Sicherung der angemessenen Geldversorgung und der Preisstabilität, in den Hintergrund rücken. Die EZB werde auf Grund des Politikversagens der europäischen Nationalstaaten zu einer Institution, die ersatzweise agieren müsse, um Koordinationsmängel der europäischen Wirtschaftspolitik auszugleichen. Dazu kommt noch der Vorwurf, dass Konstruktionsmängel des Eurosystems und Systemfehler der EZB zusätzlich zur Verunsicherung auf den Märkten führen. Was wird nicht alles von der EZB erwartet? Die EZB soll die Geldversorgung in der Eurozone sichern und die Preisstabilität gewährleisten. Dies ist - im Sinne einer durchschnittlichen Performance – wohl auch gelungen. Die EZB soll den Außenwert der Währung gegenüber dem Dollar und anderen international bedeutsamen Währungen möglichst stabil halten. Auch diese Aufgabe 8 Koch, Daniel, 2011, Wirksame Begrenzung der Staatsverschuldung auf nationaler und europäischer Ebene, S. 67 - 94, in: List Forum für Wirtschafts- und Finanzpolitik, Band 37, Heft 1-2 14 ist weithin realisiert worden. Die EZB soll eine Kreditklemme im Kreditsystem der Eurozone verhindern, indem Liquidität in bisher nicht dagewesenem Umfang und über längere Fristen für die Banken bereitgestellt wird. Die etwa 1000 Mrd. Euro an Liquiditätshilfe innerhalb weniger Monate werden in ihren Wirkungen auf die Kreditvergabe der Banken aber recht kontrovers eingeschätzt. Die EZB soll einen Beitrag zur Lösung der Staatsschuldenkrise leisten, insbesondere durch Aufkäufe von Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt. Durch diese „lender of last resort“-Funktion der EZB soll eine Stabilisierung von Kursen und Zinsen erreicht werden; vor allem aber soll der Zugang jener Länder zu den Finanzmärkten gewahrt werden und sollen Ansteckungsgefahren in der Eurozone generell und insbesondere gegenüber dem privaten Bankensystem reduziert werden. Diese Rolle der EZB wird zunehmend kritisch gesehen, obwohl die Vertreter der EZB argumentieren, dass ja nicht auf dem Primärmarkt Staatsanleihen erworben würden, also keine direkte Finanzierung von Staatsdefiziten stattfinde. Die Kritiker sehen vor allem die Gefahr, dass dadurch ein Schuldenakkumulationszyklus in Gang gesetzt werde, der politisch in der Eurozone nicht mehr zu stoppen sei, weil es eben keine Fortschritte bei der Politischen Union gibt. Die EZB soll auch einen Beitrag zur Reduzierung der Staatsschuldenlast erbringen, etwa in Bezug auf Griechenland, was ein überaus kontroverses Thema ist. Die EZB soll auch die Hauptlast bei der Überwachung der Kreditinstitute tragen. Die EZB soll schließlich auch zur Disziplinierung der Wirtschaftspolitik in der Eurozone beitragen, also ihre Reputation einsetzen, um eine stetige Konsolidierung der Staatsfinanzen und Strukturanapassungen anzumahnen. Zudem soll die EZB alles unter eigener Verantwortung tun, also bestätigen, dass nicht der Druck der Euro-Regierungen und von „Merkozy“ dafür verantwortlich ist. Die EZB hat offensichtlich schon Wochen vor dem BarcelonaRatstreffen am 3. Mai 2012 damit begonnen, ihre Autonomie gegenüber der Politik zurück zu gewinnen und die traditionelle Aufgabe der Inflationsbekämpfung wieder stärker zu betonen. Widerstände gegen weitere Käufe von Staatsanleihen, gegen eine Senkung des Diskontsatzes unter 1% und gegen weitere Liquiditätshilfen an die Banken haben zugenommen; insbesondere die Deutsche Bundesbank bremst diesen Kurs. Der Ball wird wieder an 15 die Euro-Regierungen zurückgegeben mit der Forderung, die Maßnahmen zur Wachstumsstimulierung und zur Schuldenkonsolidierung simultan anzugehen. Das Barcelona-Treffen symbolisiert auch, wie die EZB die Hauptaufgaben in der Eurozone sieht. Die Region Barcelona ist von der Arbeitslosigkeit und der Jugendarbeitslosigkeit besonders betroffen. Die Regierungen der Euroländer müssen aus der Sicht der EZB neben der Schuldenkonsolidierung mehr für den Strukturwandel und vor allem für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit tun. Die Raten der Arbeitslosigkeit sind in einigen europäischen Ländern auf einem untragbar hohen Niveau zwischen 10 Prozent (dem Durchschnitt der Eurozone der 17 Länder und der EU der 27 Länder) und 20 Prozent der Erwerbsbevölkerung. Ein Wachstumspakt wird von der EZB daher ausdrücklich befürwortet, doch werden entschiedene fiskalische und strukturelle Reformschritte besonders hervorgehoben. Die Regierungen der Eurozone haben aus der Sicht der EZB auch über die angemessene Höhe der Krisenfonds zu entscheiden, also über die Höhe der Garantieleistungen, um so die EZB zu entlasten. Die Regierungen der Eurozonenländer sind aber bei all diesen Fragen uneinig, sowohl bei den Modalitäten der Schuldenkonsolidierung als auch der Wachstumsstimulierung und schließlich auch hinsichtlich der Rolle, die die EZB bei der Krisenbewältigung spielen soll. Wahlkämpfe in wichtigen Euroländern und die weitere Entwicklung der Wirtschaftslage können sehr schnell wieder zur Forderung nach einer starken Rolle der EZB führen. Dazu kommt, dass Experten der Eurozone schwere Konstruktionsmängel und große politische Koordinations- und Reaktionsprobleme bescheinigen; auch das EZB-System wird zunehmend kritisch bewertet und es wird Reformbedarf angemahnt9. 9 See as examples for such critical positions: Daianu, Daniel, 2012, Euro Zone Crisis and EU Governance: Tackling a Flawed Design and Inadequate Arrangements, CASE Network Studies & Analyses, No. 433, 2012, CASE – Center for Social and Economic Research, Warsaw, 2012; George Soros, Keynote Speech at the opening Session, Conference of the Institute for New Economic Thinking/INET, with the Title: Paradigm Lost: Rethinking Economics and Politics, Axica Conference Center & Federal Foreign Office, Berlin, April 11, 2012; access: http://ineteconomics.org/sites/inet.civicactions.net/files/Soros%20SpeechBerlin%20INET201 2.pdf; Heinsohn, Gunnar/Otto Steiger, 2011, The European Central Bank and the Eurosystem, An analysis of the missing central monetary institution in the European Monetary Union, pp. 217252, in: Detlev Ehrig/Uwe Staroske/Otto Steiger, Eds., The Euro, the Eurosystem and the 16 Als Konstruktionsmängel gelten erstens die unzureichende Überwachung/Regulierung der Finanzmärkte und des Bankensystems und zweitens das Fehlen einer gemeinsamen (föderativen) Fiskalpolitik. Folgen dieser Konstruktionsmängel sind die Gefahr von systemischen Finanzmarktrisiken und die Gefahr von untragbaren Staatsschuldenniveaus. Die gemeinsame Geldpolitik muss – zur Korrektur der Konstruktionsmängel - insbesondere durch eine gemeinsame Fiskalpolitik (möglichst auf föderativer Grundlage) ergänzt werden. Wie das organisiert werden kann, das ist offen, doch kommen auf Brüssel neue Aufgaben zu. Darüber hinaus ist die Finanzierung der EU neu zu überdenken; insbesondere geht es um den für eine Antikrisenpolitik notwendigen EU-Finanzierungsrahmen und um die Finanzierungsbasis durch eigene Finanzquellen (Stichwort: Finanztransaktionssteuer oder Börsenumsatzsteuer). Neben den genannten Konstruktionsfehlern ist auf die Tatsache zu verweisen, dass die Eurozone manche Voraussetzungen für ein optimales Währungsgebiet seinerzeit bei der Gründung nicht erfüllt hat und auch nach mehr als 10 Jahren noch nicht erfüllt bzw. nur unzureichend erfüllt (Lohn- und Preisflexibilität, Handelsintegration, zyklische Konvergenz, Faktormobilität, insbesondere 10 Arbeitskräftemobilität, und fiskalischer Föderalismus) . Zu diesen Konstruktionsfehlern kommen Fehler bei der politischen Koordination, da meist auf Krisen nur reagiert wird, also kein Frühwarnmechanismus existiert, um Probleme zu identifizieren. Zudem werden Entscheidungen spät und mit nur kurzfristigem Problemlösungshorizont angegangen11. Zu den Konstruktionsmängeln und den politischen Koordinationsproblemen kommt noch ein drittes Problem. Reformen des EZB-Systems sind in der gegenwärtigen Lage kaum durchzusetzen, da jeder Reformansatz als Versuch einer politischen Beeinflussung der EZB gewertet würde. Das EZB-System wird ja von mehreren Seiten her kritisiert (unzureichende Klärung bei den notwendigen Sicherheiten, die für Kredite hinterlegt werden European Economic and Monetary Union, Review and Prospects of a Unified Currency, Berlin: LIT Verlag Dr. W. Hopf 10 Daianu, Daniel, 2012, Euro Zone Crisis and EU Governance: Tackling a Flawed Design and Inadequate Arrangements, CASE Network Studies & Analyses, No. 433, 2012, CASE – Center for Social and Economic Research, Warsaw, 2012, S. 7 - 8 11 Daianu, Daniel, 2012, Euro Zone Crisis and EU Governance: Tackling a Flawed Design and Inadequate Arrangements, CASE Network Studies & Analyses, No. 433, 2012, CASE – Center for Social and Economic Research, Warsaw, 2012, S. 10ff 17 müssen; Risiken im TARGET2-System, also beim internen EuroZahlungssystem; Probleme bei der Interpretation der Aufgaben, der Organisation und des Entscheidungsmechanismus; Übernahme einer de facto-Rolle als „Lender of Last Resort“; Umfang und Zeitpunkt für Liquiditätshilfen an Banken, insbesondere die Long Term Refinancing Operations/LTRO; Umgang mit den Ansprüchen der wichtigen nationalen Zentralbanken, wie der Deutschen Bundesbank im EZBSystem; Umgang mit Wertverlusten der Aktiva im EZB-System im Falle von Zahlungsproblemen von Euroländern, etc.). Insbesondere die neue Aufgabe der EZB, ein „Lender of Last Resort“ für Staaten und Banken der Eurozone zu sein, führt zu Kontroversen. Ein Verzicht der EZB auf Aufkäufe von Staatsanleihen auf Sekundärmärkten könnte sehr schnell zu einem noch weit höheren Interventionsbedarf zur Rettung von Banken führen, da – im Durchschnitt und bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt - die Bankverbindlichkeiten in der Eurozone dreimal so hoch sind wie die staatlichen Verbindlichkeiten12. Diese Rolle als Lender of Last Resort kann von der EZB aber verantwortungsvoll nur dann übernommen werden, wenn entscheidende Schritte zur politischen Vereinigung unternommen werden und auch erfolgreich implementiert werden13. Hier schließt sich wieder der Kreis: ohne Politische Union verschärfen sich in Europa die ökonomischen Widersprüche. Alle Vorschläge zur Rettung des Euro (EZB als „Lender of Last Resort“ für Staaten und Banken; Euro-Krisenfonds in ausreichender Höhe, um Märkte zu beeindrucken; und effektive Schuldengrenzen für Staaten in Verbindung mit wachstumsstimulierenden Maßnahmen) basieren daher auf einem Modell der vertieften Europäischen Politischen Integration. 12 De Grauwe, Paul, 2011, The European Central Bank as a lender of last resort, p. 3, in: VOX, Research-based policy analysis and commentary from leading economists, 18 August 20111, 10 pages, Access: http://www.voxeu.org/index.php?q=node/6884 13 De Grauwe, Paul, 2011, The European Central Bank as a lender of last resort, in: VOX, Research-based policy analysis and commentary from leading economists, 18 August 20111, 10 pages, Access: http://www.voxeu.org/index.php?q=node/6884 18 4. Der lähmende Stillstand bei der Vertiefung der europäischen Integration: Werden die fünf (5) Kernpolitikbereiche für die „Vereinigten Staaten von Europa“ nach Guy Verhofstadt als Messlatte genommen14, dann kann man deutlich erkennen, wie der Stillstand bei der Vertiefung der europäischen Integration sich auf alle wesentlichen Politikbereiche auswirkt. Für alle fünf Politikbereiche (Sozial- und Wirtschaftspolitik; Wissenschaftsund Technologiepolitik; Rechtsund Sicherheitspolitik; Außenpolitik; und Verteidigungspolitik) gibt es im Sinne des Projekts „Vereinigte Staaten von Europa“ riesigen Handlungsbedarf. In all diesen Bereichen ist die europäische Integration über allgemeine Bekundungen und symbolische Handlungen nicht wesentlich vorangekommen. Was hat das nun mit dem Euro zu tun? Der Dollar zeigt, dass all diese Faktoren eine Rolle bei der Bewertung der Währung auf den Devisenmärkten und bei der Wahl der Währung durch die privaten und öffentlichen Akteure hinsichtlich aller Weltwährungsfunktionen spielen. Die Anleger und Investoren reagieren auch in Bezug auf den Euro besonders in Krisensituationen der Weltpolitik und der Weltwirtschaft recht sensibel auf Inkonsistenzen der europäischen Politik und auf fehlende Perspektiven der Kohäsion in Europa. Wenn auch der Außenwert des Euro relativ stabil ist, gefährden die inneren Krisen in der Eurozone immer stärker den Zusammenhalt der EU und der Eurozone („EuroParadox“). Es ist daher nur eine Frage der Zeit, wann es zur Implosion kommt. Der Stillstand bei der Vertiefung der europäischen Integration kann auch in Bezug auf die fünf (5) Dimensionen der ökonomischen Globalisierung verdeutlicht werden. Die Techno-Globalisierung, die Finanz-Globalisierung, die Handels-Globalisierung, die Globalisierung der Arbeitsmärkte und die Globalisierung der industriellen Wertschöpfungsketten erfordert sehr dringend von der EU eine pro-aktive Mitgestaltung der Globalisierung der Weltwirtschaft. Die Dynamik des EU-Raumes und letztlich auch die zukünftige Rolle des Euro werden von dieser Fähigkeit zur Mitgestaltung der Globalisierung - auch im erweiterten 14 Verhofstadt, Guy (2006), Die Vereinigten Staaten von Europa, Manifest für ein neues Europa, Grenz Echo Verlag, Eupen 19 gesellschaftlichen Sinne von J. Habermas - abhängen. Die Gestaltung der Globalisierung der Weltwirtschaft in diesen fünf Bereichen der ökonomischen Seite der Globalisierung kann aber nur gelingen, wenn die Europäische Politische Union konsequenter angesteuert wird. Allenfalls im Bereich der Handels-Globalisierung gibt es gestaltendes Potential der EU, kaum aber in den anderen vier (4) Bereichen. Anders formuliert, die Zukunft des Euro wird auch durch die Möglichkeit bestimmt, diese fünf Bereiche der ökonomischen Globalisierung zu beeinflussen15. Das erfordert aber schnelle politische Schritte, um über die bereits gemeinschaftlich organisierten Bereiche (Handel, Währung, Binnenmarkt) hinausgehen zu können. Sowohl in Bezug auf die Techno-Globalisierung, die FinanzGlobalisierung und die Globalisierung der Arbeitsmärkte als auch in Bezug auf die Globalisierung der industriellen Wertschöpfungsketten sind nennenswerte Fortschritte in der EU-Politik nicht erkennbar, die eine aktivere Gestaltung auf globaler Ebene möglich machen könnten. Analysiert man all die Faktoren monetärer, finanzieller und realwirtschaftlicher Art und auch jene in der Erwartungsbildung, die den Wechselkurs des Euro bestimmen können, etwas genauer, dann zeigt sich, über welche Transmissionskanäle die oben diskutierten fünf Kern-Politikbereiche und die fünf Dimensionen der Globalisierung auf den Wechselkurs des Euro einwirken16. Insgesamt ergibt sich ein besonderes Krisen- und Gefahrenpotential, wenn die Rückwirkungen der Globalisierung auf die EU und auf die Kernpolitikbereiche nicht ernst genug genommen werden. 15 Sinn, Hans-Werner / Rauscher, Michael / Bartel, Rainer / Wohlmuth, Karl, 2002, Wie viel Globalisierung verträgt die Welt?, in: ifo Schnelldienst 55 (24), S. 3-16, Verlag: ifo Institut für Wirtschaftsforschung, München 2002 16 Lindert, Peter H., 1986, International Economics, Eight Edition, Homewood, Illinois: IRWIN 1986, Chapter 15, What Determines Exchange Rates? 20 5. Das Fehlen einer planvollen Krisenbekämpfungsstrategie in der Eurozone: Ein zukunftsorientierter und planvoller Mechanismus für ein Krisenmanagement ist in der Eurozone nicht in Sicht17. Erstaunlicherweise werden bei der Antikrisenstrategie in Europa alle Lehren ignoriert, die sich aus der Politischen Ökonomie der Politikreform und des Krisenmanagements ergeben haben. Immerhin liegt diesen Lehren die Auswertung der Erfahrungen mit vielen Finanz- und Wirtschaftskrisen in Lateinamerika, Asien und in Ostund Mitteleuropa zugrunde. Diese Lehren haben aber weniger mit dem Inhalt der Politikreformen und des Krisenmanagements zu tun als mit der Durchsetzung von Reformen in einem bestimmten politischen Kontext. Zwölf Prinzipien werden genannt, um notwendige Reformen auch durchzusetzen. Es ist sicherlich auch möglich, diese Erfahrungen in der gegenwärtigen Eurokrise zu nutzen.18 Erstens ist es wichtig, dass die Tiefe und die Dimensionen der Krise erkannt werden und auch die Notwendigkeit, eine radikale Abkehr von der bisherigen Politik zu organisieren. Es wird bezweifelt, dass „Merkozy“ zu dieser Lagebeurteilung und zur Kurskorrektur in der Lage waren. Nach der Wahl des neuen Präsidenten in Frankreich, F. Hollande, hat sich dieses Thema wohl auch weitgehend erledigt. Zweitens bedarf es zur Krisenüberwindung einer neuen Führung im Krisenmanagement. In mehreren Krisenländern der EU haben sich schon politische Änderungen vollzogen, und nunmehr auch in Frankreich. Entscheidend ist nun aber die Frage, wer die Führung in Europa übernehmen wird – wieder die EU-Kommission und andere Akteure in Brüssel oder ein neues Duo „Merkhollande“. Es mag sein, dass es zu Änderungen kommt, doch zeigt die Politische Ökonomie der Reform auch, dass jene politischen Führungspersönlichkeiten, die die Krise nicht lösen konnten, dies auch in Zukunft nicht schaffen werden. Es ist daher wahrscheinlich, dass in Europa mindestens bis 17 Aslund, Anders, 2011, The Failed Political Economy of the Euro Crisis, 3 pages, November, 18th, 2011, Access: http://www.piie.com/realtime/?p=2515; Truman, Edwin M., 2011, Euro Area Crisis Management: A Case Study in Dithering, 2 pages, June 16th, 2011, Access: http://www.piie.com/blogs/?p=2215; Re-Define, n. d., Building a Complete Crisis Management Framework for the EU, Access 7/5/2012: http://www.re-define.org/node/115 18 Vgl. zu diesen 12 Prinzipien: Aslund 2011, op. cit. 21 2013 ein Machtvakuum existieren wird. All dies mag – bei einer Verschärfung der Krise in der Eurozone – einen Machtwechsel in der Bundesrepublik Deutschland und auch auf EU-Ebene begünstigen. Drittens sind für das erfolgreiche Krisenmanagement Politiker mit visionären Konzepten und Führungsstilen notwendig, und dazu kommt es nicht ohne den Einstieg von „Outsidern“. Dies ist ja etwa in Italien schon erreicht worden; auch die Übergangsregierung in Griechenland wird so geführt. Reguläre Wahlen wie in Griechenland können aber sehr schnell wieder ein kurzsichtiges politisches Lagerund Vorteilsdenken herbeiführen. Viertens sind bei Reformen wichtige Politikfelder anzugehen; es darf nicht nur zu symbolischen Handlungen kommen. Die Konzentration der Reformpolitik auf wichtige Felder der Fiskal-, Struktur– und Wachstumspolitik ist entscheidend auf der Ebene der Nationalstaaten wie auch auf der Ebene der EU und der Eurozone. Die Schwächung der Europäischen Kommission und anderer europäischer Institutionen durch „Merkozy“ in fast allen wichtigen Fragen der Reform hat fatale Wirkungen, wie dies jetzt mit der Infragestellung des Fiskalpaktes deutlich erkennbar wird. Die Thematik der Finanztransaktionssteuer, obwohl im Prinzip ein wichtiges Anliegen, wurde zu einem Wahlkampfinstrument für Sarkozy und für Merkel und Schäuble zu einem Instrument, um die Opposition „ins Boot zu holen“. Von zentralen Fragen der Fiskal-, Struktur- und Wachstumspolitik auf europäischer Ebene wurde dadurch abgelenkt. Fünftens spielen Ökonomen bei der Krisenbewältigung eine dominierende Rolle, wie dies etwa auch in Italien gesehen werden kann. Ökonomische Ordnungsmodelle gewinnen als Ausgangspunkt für Änderungen von Rechtsordnungen und Verfassungen schnell an Gewicht. Die Verankerung der „Schuldenbremse“ in den Verfassungen europäischer Länder zeigt, dass es recht schnell zu Anpassungen der Rechtsordnungen kommen kann. Auch EU-Verträge unterliegen diesem Anpassungsdruck, doch hat sich im Gefolge der Krise ein Machtungleichgewicht zu Lasten der EU-Institutionen ergeben. Die Folgen sind gravierend, denn die Bevölkerung ist in einer wachsenden Zahl von europäischen Ländern mit der Richtung und dem Tempo der Entscheidungen „a la Merkozy“ nicht einverstanden; die legitimierten EU-Institutionen müssen daher wieder massiv gestärkt werden. 22 Sechstens ist es eine Einsicht aus der Politischen Ökonomie der Reformen und des Krisenmanagements, dass neue Regierungen schnell umfassende Krisenbekämpfungsprogramme vorlegen und umsetzen sollten, die konsistent und glaubwürdig sein müssen. Während die Bundesrepublik Deutschland mit den Hartz-Reformen punkten kann, steht insbesondere Frankreich unter Präsident Hollande vor einer solchen Aufgabe. Italien unter Monti kann dann ein Erfolgsmodell werden, wenn nach den Neuwahlen der Kurs der schnellen Reformen fortgesetzt werden wird. Die Perspektiven für Reformen in Spanien sind demgegenüber skeptischer zu beurteilen. Siebtens ist es wichtig, dass die Reformer und die Reformen die Machtpositionen der „alten Eliten“ und deren ökonomische Interessenssphären schnell begrenzen. Ein Konsens mit den Konzepten der „alten Eliten“ ist in einer schweren Krise nicht möglich. Dies hat etwa für Reformen in Griechenland große Relevanz, denn es fragt sich, ob die beiden alten Parteien als „Notregierung“ wirklich in der Lage sein werden, eine Wende herbeizuführen. Aus der Sicht der Politischen Ökonomie der Reformen kann „Heilung“ nur von der „neuen Elite“ (von den neuen Parteien) kommen, so konträr die Losungen dieser Parteien auch zu den Vorstellungen von „Merkozy“ und der „Troika“ liegen mögen. Zunächst gilt es, die ökonomischen Interessen und Positionen der „alten Eliten“ in Griechenland zu bekämpfen. Dass dies in einem integrierten europäischen Kapitalmarkt nicht einfach zu realisieren sein wird, das ist klar. Dennoch führt kein Weg daran vorbei. In den baltischen Staaten, insbesondere in Lettland, in Irland, in Schweden und auch in Rumänien sind solche Auseinandersetzungen zwischen der alten Elite und der neuen Elite deutlich zu beobachten. In Griechenland und in Frankreich, aber auch in Italien, Großbritannien und Spanien, stehen solche Auseinandersetzungen jetzt an. Achtens ist Transparenz im gesamten Prozess des Krisenmanagements notwendig, denn die Reformer müssen ihre Prinzipien und Programme der Bevölkerung und den Medien Schritt für Schritt und möglichst klar vermitteln können. Dies ist in den letzten Jahren in Europa nicht ausreichend geschehen. Unter dem Druck von „Merkozy“ wurden Beschlüsse gefasst, die dann von Politikern der anderen Länder in ihren Heimatländern sofort wieder kritisiert wurden. So konnte auch 23 nicht der Eindruck von Ernsthaftigkeit bei den Reformen entstehen. Die Märkte haben dieses Verhalten als Aktionismus abgestraft. Neuntens ist zur erfolgreichen Umsetzung von Reformen und Antikrisenstrategien immer auch internationale Unterstützung notwendig, etwa durch den IWF oder in Europa durch die EUÜberschussländer und die zahlreichen EU-„Finanzierungstöpfe“. Die Art und Weise der Verhandlungen über die notwendigen „Krisenfonds“ hat international nur Kopfschütteln hervorgerufen. Die IWF/EZB/EU-Finanzprüfungen der „Troika“ in Griechenland wurden als entwürdigend empfunden und haben nachteilig gewirkt. Selbst gegenüber den Verhandlungen des IWF mit Entwicklungsländern über neue Finanzierungsprogramme ist in Griechenland mit den Bewertungen und Verhandlungen der „Troika“ eine neue Qualität der Auflagenpolitik (Konditionalität) erreicht worden. Zehntens müssen Programme des Krisenmanagements ausreichend finanziert sein, um glaubwürdig und wirksam sein zu können, was für die zahlreichen Rettungsprogramme bzw. Krisenfonds der EU bzw. der Eurozone nach Meinung der meisten internationalen Experten (und auch der Experten der EU-Kommission in ihren Vorschlägen) nicht zutrifft. Die Märkte wurden daher auch nicht nachhaltig beeindruckt. Auch in dieser Hinsicht wurden Vorschläge der EUKommission und Empfehlungen der internationalen Finanzexperten überhaupt nicht ernst genommen. Elftens muss ein Antikrisenprogramm schnell und engagiert umgesetzt werden, insbesondere von neuen Regierungen, wenn sie erfolgreich agieren wollen. Die Periode der „Ausnahmepolitik“ muss möglichst kurz gehalten sein, da sonst die Unterstützung für Reformen bröckelt. So hat Lettland im ersten Jahr der Reformen 60 Prozent der Anpassungsleistungen erbracht, aber Griechenland nur 30 Prozent19. Mehr als das geforderte Minimum muss daher getan werden, um Reformen erfolgreich durchzusetzen. Zwölftens sind fiskalische Reformen vor allem auf schnell wirkende Ausgabenkürzungen und weniger auf Steuererhöhungen zu stützen, doch müssen die Ausgabenkürzungen und die Steuererhöhungen selektiv und planvoll sein, um den Prozess der Strukturreformen von Anfang an zu unterstützen. Zudem müssen die Maßnahmen als sozial ausgewogen und als gerecht empfunden werden. Soziale 19 Aslund 2011, op. cit., S .2 24 Sicherungssysteme müssen daher im Kern erhalten werden. All das ist offensichtlich in Griechenland nicht geschehen; die Bevölkerung hat den alten Parteien/Eliten auch nicht zugetraut, so ein Programm zu entwickeln und durchzusetzen. Die „Troika“ wurde als verlängerter Arm der alten Parteien/Eliten gesehen. Insofern kann ein neues Programm nur mit neuen Personen und neuen Parteien initiiert werden. Werden diese zwölf Prinzipien für nachhaltige Politikreformen insgesamt betrachtet und bewertet, dann kann schon gesagt werden, dass Europa praktisch alle zwölf (12) Lehren missachtet hat und dass die Rezessionsgefahr in Europa ein Ergebnis dieser verfehlten Politik des Krisenmanagements ist. Die Kette von Misserfolgen führt zu Vertrauensverlust in die Politik, und dieser Vertrauensverlust kann nur durch neue Personen/Parteien/Eliten/Regierungen behoben werden, aber auch nur dann, wenn diese zwölf (12) Lehren für erfolgreiche Politikreformen beachtet werden. Es ist daher durchaus notwendig und sinnvoll, dass die EU und die Eurozone von den Erfahrungen Lateinamerikas, Asiens und Ost- und Mitteleuropas, und auch von den Erfahrungen mancher EU-Staaten, so der baltischen Staaten, Schwedens und Irlands lernen. Bald 30 Monate währt nun die Eurokrise und diese lange Periode der Erfolglosigkeit zwingt zu einer Neubesinnung auf jene Erfahrungen und Lehren, die bisher ignoriert wurden20. Zwei Lehren sind von besonderer Bedeutung für das Krisenmanagement: die „Dimensionierung“ der Maßnahmen und die „Ownership“ der Maßnahmen. Erstens zur Dimensionierung der Maßnahmen im Krisenmanagement. Die sogenannte Powell21-Bernanke-Geithner-Doktrin (PBG) vom stark dimensionierten Einsatz der Politikreformen und der komplementären Finanzmittel, um die Märkte vom Reformprogramm zu überzeugen, kann in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Die These der PBG-Doktrin ist es, durch Überreaktion der Politik die Überreaktion der Märkte zu bekämpfen/ja zu brechen. Europa hat hingegen den Weg einer geringen Dosierung und einer nur langsamen Erhöhung des Interventions- und Finanzierungsrahmens für die Antikrisenstrategie gewählt und ist damit gescheitert. Märkte haben 20 Truman, Edwin M., 2011, op. cit. General Powell ging strategisch davon aus, dass Kuwait am schnellsten befreit werden kann, wenn Material und Personal überdimensioniert vor Ort verfügbar sind, so dass Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Operation gar nicht erst aufkommen. 21 25 auf Entwicklungen in Europa sicherlich überreagiert, aber die Politik hat definitiv unterreagiert. Die Asymmetrie in der Reaktion der Märkte und der Politik ist das Problem. Zweitens wurden die Probleme der krisenhaften Eurozonenländer nicht als Probleme der gesamten Eurozone gesehen, sondern als Probleme der Regierungen in Griechenland, Irland und Portugal, und jetzt auch der Regierung in Spanien. Erst kürzlich kam der Hinweis von Minister Schäuble, dass die Lohnerhöhungen in Deutschland durchaus stärker als in anderen EU-Ländern ausfallen dürften und sollten, um so Ungleichgewichte bei den Leistungsbilanzsalden auszugleichen. Auch der Verweis auf die fünf Kriterien für ein optimales Währungsgebiet führt hier weiter und zeigt die Verantwortung aller Mitglieder der Eurozone für das Funktionieren des Währungsraumes auf. Die fehlende „Ownership“, die fehlende Anerkennung der krisenhaften Probleme in der Eurozone als Probleme der gesamten Gemeinschaft, ist zu betonen. Zudem ist noch zu beachten, dass die Strategie des Krisenmanagements aus drei Komponenten von Maßnahmen besteht und keine der drei Komponenten vernachlässigt werden darf22: Krisenprävention („crisis prevention“), Krisenabschwächung („crisis mitigation“) und Krisenbewältigung („crisis resolution“). Auch diesbezüglich ist nicht klar, wie die Gesamtstrategie aussieht, wer diese Gesamtstrategie in Europa formuliert und durchsetzt, was die EU, die Eurozone und die Eurozonenländer eigentlich erreichen wollten und konnten. Hinsichtlich aller drei Komponenten des Krisenmanagements sind Zweifel angebracht, ob klar ist, was eigentlich geleistet werden sollte. Für Europa ergeben sich daher neue Herausforderungen und Aufgaben, die zunächst eine realistische Zustandsbeschreibung erforderlich machen. Erkennbar ist, dass ein Krisenmanagement a la „Merkozy“ eklatant gescheitert ist. Erkennbar ist aber auch, dass nur Schritte hin zu den „Vereinigten Staaten von Europa“ Auswege aus der Krise und Perspektiven für die Vertiefung der europäischen Integration liefern können. 22 Vgl. dazu Re-Define, n. d., op. cit. 26 Schlussbemerkungen In politischen und in akademischen Kreisen wird wieder stärker über das Projekt „Vereinigte Staaten von Europa“ diskutiert. Dies hat mehrere Gründe: Erstens geht es darum, die Integration in der Europäischen Union zu vertiefen, also wichtige Politikbereiche, wie die Fiskalpolitik, gemeinschaftlich zu organisieren. Der Hintergrund dafür ist die eskalierende Staatsschuldenkrise in europäischen Ländern, da offensichtlich die bisher existierenden fiskalischen Regeln nicht gegriffen haben. Zweitens geht es darum, den Euro und die Europäische Wirtschaftsund Währungsunion zu retten, also über das hektische Krisenmanagement hinauszugehen, das in den letzten Jahren vorherrschte. Durch eine Mehr an Europäischer Politischer Union sollen die Fundamente der Wirtschafts- und Währungsunion gestärkt werden. Drittens wird eine Europäische Politische Union als Voraussetzung für eine stärkere Rolle in der Weltwirtschaft und in der Weltpolitik gesehen, da die G20-Treffen immer wieder die Schwächen der Verhandlungsposition Europas deutlich machen. Das Krisenmanagement in Europa zur Rettung des Euro währt nun schon über 30 Monate und ist bisher sehr wenig erfolgreich gewesen. Die Entscheidungen haben sich nicht als nachhaltig erwiesen. Das Projekt „Vereinigte Staaten von Europa“ wird auf Grund dieser Erfahrungen thematisiert. Daraus ergeben sich Folgerungen für eine Stärkung der Europäischen Politischen Union. Fünf Aspekte bzw. Problembereiche des gegenwärtigen Integrationsprozesses werden mit Bezug zur Lage der Eurozone und des Euro beleuchtet: erstens das Scheitern der Europäischen Verfassung; zweitens die fehlende Kohärenz der europäischen Wirtschaftspolitik; drittens die Überforderung der Europäischen Zentralbank; viertens der lähmende Stillstand bei der Vertiefung der europäischen Integration; und fünftens die Vernachlässigung der Lehren aus der Politischen Ökonomie der Reformpolitik beim europäischen Krisenmanagement. Es zeigt sich, dass diese fünf Problembereiche von Bedeutung für die 27 Zukunft der EU, der Eurozone und des Euro nur dann erfolgreich angegangen werden können, wenn schnell engagierte Schritte zur Europäischen Politischen Union hin erfolgen. Diese Schritte würden auch das Projekt der „Vereinigten Staaten von Europa“ voranbringen. Materialien des Wissenschaftsschwerpunktes “Globalisierung der Weltwirtschaft” (ehemals: Materialien des Universitätsschwerpunktes „Internationale Wirtschaftsbeziehungen und Internationales Management“) (Previously published volumes with the main focus on “Globalisation of the World Economy”) Bd. 1 Heise, Arne: Die Internationalisierung der Bremer Wirtschaft, 1991. 85 S. Bd. 2 (vergriffen) Rimkus, Holger: Außenhandel über die Bremer und Hamburger Häfen nach der Wiedervereinigung, 1993. 101 S. Bd. 3 (vergriffen) Gößl, Manfred M.: Der Europäische Wirtschaftsraum (EWR): Politökonomische Begründung und inhaltliche Analyse eines pragmatischen Konzepts für die gesamteuropäische Wirtschaftsintegration, 1995. 84 S. Bd. 4 (vergriffen) Fischer, Jürgen: Dynamische Märkte in der Weltwirtschaft und internationale Unternehmenstätigkeit, 1995. 199 S. Bd. 5 Meyer, Ralf/Kottisch, Andreas: Das „Unternehmen Stadt“ im Wettbewerb: Zur Notwendigkeit einer konsistenten City Identity am Beispiel der Stadt Vegesack, 1995. 48 S. Bd. 6 Ryzhenkow, Alexander V.: Technology Policy for a future-oriented Social Market Economy in Russia, 1995, 69 S. Bd. 7 Kottisch, Andreas/Meyer, Ralf: Das Unternehmen als soziales System: Zur Notwendigkeit einer ganzheitlichen Betrachtungsweise, 1995. 52 S. Bd. 8 Gößl, Manfred M./Lemper, Alfons: Geschäftspartner VR China: Chancen und Risiken für den Handelsund Investitionserfolg der deutschen Industrie - Extrakt der IV. Jahreswirtschaftstagung des Instituts für Weltwirtschaft und Internationales Management, 1995. 52 S. Bd. 9 Sell, Axel: Investition und Finanzierung unter besonderer Berücksichtigung der Planung und Bewertung von Projekten (in Russisch), 1996. 186 S. Bd. 10 Meyer. Ralf/Vosding, Henriette: Die Analyse der touristischen Nachfrage für Bremen (Stadt), 1997. 76 S. Bd. 11 Wiegand, Maren/Wohlmuth, Karl: Bremen im nationalen und internationalen Standortwettbewerb Bestandsaufnahme und Perspektiven - Zentrale Thesen der Referenten bei der V. Jahreswirtschaftstagung des Instituts für Weltwirtschaft und Internationales Management, 1998. 55 S. Bd. 12 Bass, Hans-Heinrich: J. A. Schumpeter. Eine Einführung, (Gastvorlesungen an der AichiUniversität, Toyohashi / Japan), 1998. 58 S. Bd. 13 Sell, Axel: Formen der Internationalisierung wirtschaftlicher Aktivitäten, 1998. 116 S. Bd. 14 Ermentraut, Petra: Standortmarketing als Element einer ganzheitlichen StadtmarketingKonzeption – Eine Bewertung des Wirtschaftsstandortes Bremen durch ansässige Unternehmen, 1998. 78 S. Bd. 15 Wauschkuhn, Markus: Strukturwandel und standortpolitischer Handlungsbedarf im Land Bremen, 1998. 38 S. Bd. 16 Stehli, Henning: Das Außenwirtschaftskonzept der Freien Hansestadt Bremen. Zielsetzungen und Wirkungszusammenhänge der Außenwirtschaftsförderung. Mit einem Vorwort von Karl Wohlmuth und Anmerkungen von Alfons Lemper, 1999. 39 S. Bd. 17 Gutowski, Achim: Innovation als Schlüsselfaktor eines erfolgreichen Wirtschaftsstandortes – nationale und regionale Innovationssysteme im globalen Wettbewerb, 1999. 105 S. Bd. 18 Feldmann, Alfred: Die Wohlfahrtsökonomie von Amartya Sen und ihr Einfluß auf die Messung von Entwicklung, 2000. 83 S. Bd. 19 Gutowski, Achim: "Der Drei-Schluchten-Staudamm in der VR China - Hintergründe, Kosten-Nutzen-Analyse und Durchführbarkeitsstudie eines großen Projektes unter Berücksichtigung der Entwicklungszusammenarbeit", 2000. 122 S. Bd. 20 Sell, Axel/Birkemeyer, Holger/Ignatov, Andrej/Schauf, Tobias: Modernisation of Enterprises - A Literature Review, 2000, 81 S. Bd. 21 Meyer-Ramien, Arne: Die Entwicklung des Telekommunikationsclusters im nationalen Innovationssystem Finnlands, 2001. 76 S. Bd. 22 Knorr, Andreas/Arndt, Andreas: Successful Entry Strategies on the Deregulated US Domestic Market – the Case of Southwest Airlines, 2002, 33 S. Bd. 23 Knorr, Andreas/Arndt, Andreas: ‘Noise wars’: The EU’s ‘Hushkit Regulation’ Environmental Protection or ‘Eco’-protectionism?, 2002, 24 S. Bd. 24 Knorr, Andreas/Arndt, Andreas: Why did Wal-Mart fail in Germany?, 2003, 28 S. Bd. 25 Knorr, Andreas/Arndt, Andreas: Wal-Mart in Deutschland – eine verfehlte Internationalisierungsstrategie, 2003. 30 S. Bd. 26 Reker, Christoph: Direktinvestitionstheorie: Stand und Potenzial der Ursachenforschung, 2003. 47 S. Bd. 27 Schütt, Florian: The Importance of Human Capital for Economic Growth, 2003, 59 S. Bd. 28 Knorr, Andreas/Arndt, Andreas: Swissair’s Collapse – An Economic Analysis, 2003, 18 S. Bd. 29 Wohlmuth, Karl: Belarus, die EU-Osterweiterung und die Transformation in der Russischen Föderation. Wie wird der Transformationsprozess von Belarus international bewertet?, 2004. 21 S. Bd. 30 Yun, Chunji: Rise of the Chinese Economy and East Asian FTA - Japan’s Strategic Change and Continuity, 2004, 37 S. Bd. 31 Knorr, Andreas: Antidumping rules vs. competition rules, 2004, 15 S. Bd. 32 Knorr, Andreas Will Eastern Enlargement Force the EU to Fundamentally Reform its Common Agricultural Policy (CAP)?, 2004, 14 S. Bd. 33 Yun, Chunji Production Network Development in Central/Eastern Europe and Its Consequences, 2004. 52 S. Bd. 34 Eichinger, Andreas/Knorr, Andreas: Potential and Limitations of Air-rail Links – A General Overview, 2004, 13 S. Bd. 35 Freiling, Jörg: Research on Entrepreneurship Development in Germany: What are the Lessons for Developing Countries?, 2005, 19 S. Bd. 36 Knorr, Andreas: Ökonomisierung der öffentlichen Verwaltung – einige grundsätzliche ordnungstheoretische Anmerkungen, 2005. 21 S. Bd. 37 Sell, Axel Corporate Planning, Global Management Tools: An Introduction to Standardised Middle and Long-Term Corporate Planning, 2006, 113 S. Bd. 38 Sell, Axel Аксель Зелль: Корпоративное планирование: стандартизированное управление планирования в долгосрочной и краткосрочной перспективе,in russischer Sprache, (nur als hard copy erhältlich), 2006. 113 S. Bd. 39 Bauer, Erich/Liu, Yanli: Segmenting the Chinese Consumer Goods Market – A Hybrid Approach, 2006, 82 S. Bd. 40 Wohlmuth, Karl/Dorow, Katrin/Urban, Tino (Eds.): Reconstructing Economic Governance after Conflict in Resource-Rich African Countries, Learning from Country Experiences, 2008, 320 S. Bd. 41 Wohlmuth, Karl: Die „Vereinigten Staaten von Europa“ und der Euro. Einige Anmerkungen zur aktuellen Debatte, 2012, 27 S.