Crash in der 79. Etage - Reporter

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Crash in der 79. Etage - Reporter
Crash in der 79. Etage
Am 28. Juli 1945 kam es in New York zum wohl größten anzunehmenden Unfall:
Im Nebel verirrt, steuerte ein Militärpilot seine Maschine quer durch Manhattans HochhausStalakmitenfeld und prallte mit 300 km/h gegen das Empire State Building. Fast 50 Jahre
später hat der Historiker Cay Rademacher die Katastrophe rekonstruiert: die Ursachen, den Ablauf,
die Folgen. Eine aufregende und lehrreiche Geschichte noch heute
B
edford Army Air Base.
Massachusetts, 8.55 Uhr.
Der Morgen des 28. Juli
1945 ist ungemütlich und
kalt. Eine geschlossene
Wolkendecke lässt die Sonne nicht
durchkommen, gelegentlich nieselt es.
Der Krieg in Europa ist seit über zwei
Monaten beendet, und auch der Fall
Japans scheint nur noch eine Frage von
Tagen – obwohl hier auf der Army Base
niemand etwas von der Atombombe
ahnt. Die Zeit der großen Katastrophen
ist, so hoffen die Offiziere, vorbei.
Vor Lieutenant Colonel William F.
Smith Jr. liegt die letzte Etappe auf einem
Routineflug. Seine zweimotorige B-25
Mitchell gehört zur 457. Bombergruppe,
stationiert in South Dakota. Smith fliegt
sie in mehreren Stationen quer durch die
USA. Bedford ist der letzte Halt vor dem
Endziel Newark in New Jersey.
Smith, ein erfahrener und hochdekorierter Pilot, kommt aus Alabama und hat
1942 die Elite-Militärakademie in West
Point abgeschlossen. Danach flog er
rund 100 Kampfeinsätze über Deutschland, davon 34 als Pilot einer „Fliegenden Festung“. Nach 18 Monaten in Europa ist der 27-Jährige, der so aussieht, wie
sich Hollywood einen wagemutigen
Kampfpiloten vorstellt, im Juni 1945 in
die USA zurückgekehrt.
Neben dem Piloten besteigen an diesem nebligen Morgen zwei weitere Män-
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ner die B-25: Sergeant Christopher S.
Domitrovich, auch er ein hochdekoriener Flieger, und Albert G. Perna, Flugzeugmechaniker bei der Navy in Bedford. Perna ist als Passagier an Bord,
weil er über Newark nach New York City
reisen will. Er muss seinen Eltern beistehen, die den Tod seines Bruders betrauern, der vor Okinawa auf dem Zerstörer
„Luce“ gefallen ist.
Es ist genau fünf Minuten vor neun, als
die B-25 zu ihrer letzten Etappe abhebt.
Der Wetterdienst hat für die gesamte Ostküste anhaltenden Nebel und eine tief
hängende Wolkendecke vorhergesagt.
Empire State Building. Manhattan,
New York City, 9.40 Uhr. Dieser Büroturm ist eine Stadt für sich, eine Stadt in
der Vertikalen. 102 Stockwerke, 381
Meter hoch, mit einer Nutzfläche von
gut 200 000 Quadratmetern. Allein die
Stahlträger wiegen 55 000 Tonnen – damit hätte man auch zwei Schienenstränge von New York nach Baltimore legen
können. Der Wolkenkratzer wurde am
1. Mai 1931 eröffnet und ist 1945 noch
immer das höchste Gebäude der Welt.
In seinen ersten Jahren erhielt es von
den New Yorkern den Spitznamen „Empty State Building“, weil die teuren
Büroflächen in den Zeiten der großen
Depression kaum zu vermieten gewesen
waren. Erst während des Zweiten Weltkriegs hat sich daran etwas geändert.
NBC Radio sitzt hier mit seiner Zentrale,
die meisten Büroflächen sind vermietet
unter anderem an Organisationen, die
erst durch die Kriegsanstrengungen
Amerikas geschaffen wurden.
Doch am Morgen des 28. Juli macht
das Haus seinem alten Spitznamen noch
einmal alle Ehre. Samstags wird in New
York auch im Krieg – gegen Japan wird
noch gekämpft – gar nicht oder nur mit
verminderter Belegschaft gearbeitet. Und
die Aussichtsplattformen im 86. und 102.
Stockwerk, auf denen sich an guten Wochenenden bis zu 10 000 Menschen täglich drängen, sind jetzt kaum besucht.
Der obere Teil des Wolkenkratzers
ragt in die tief hängende Nebel- und
Wolkendecke hinein. An der Spitze hat
man bei klarem Wetter einen Ausblick
bis zu 130 Kilometern, doch heute ist die
Sicht auf wenige Meter geschrumpft.
Halten sich an einem normalen Werktag
durchschnittlich bis zu 15 000 Menschen
gleichzeitig im Empire State Building
auf, so sind es am Morgen des 28. Juli
höchstens 1500 Personen.
Flughafen La Guardia, Queens, New
York City, 9.45 Uhr. An diesem Morgen
hat Victor Barden Dienst als Chief Operator im Tower des Flughafens. Plötzlich
meldet sich Colonel William F. Smith bei
ihm: Er befinde sich 15 Meilen südlich
und erbitte Hinweise über die Wetterbedingungen am Flughafen in Newark.
1
Barden ist überrascht, denn Newark liegt
knapp 15 Meilen südwestlich von La
Guardia. Smith hätte mit seiner Maschine
schon ungefähr am Zielort sein müssen.
Die Crew im Tower rät dem Piloten,
sich direkt an Newark zu wenden. Doch
kaum zwei Minuten später sehen die
Männer im Kontrollturm von La Guardia
die B-25 südöstlich am Himmel auftauchen. Barden vermutet, dass Smith landen will, und gibt ihm die üblichen Angaben durch: Runway, Windstärke,
Windrichtung. Doch der Pilot funkt zurück, er wolle unbedingt nach Newark.
Die Fluglotsen wenden sich daraufhin
an ihre Kollegen von der übergeordneten
Airways Traffic Control. Denen ist der
Flug gar nicht gemeldet worden, denn
die B-25 fliegt nach Sichtflugregeln: unterhalb der überwachten Luftstraßen.
Airways Traffic Control gibt durch, dass
die Wolkenhöhe in Newark zurzeit bei
nur 180 Metern liege, und rät Smith dringend, in La Guardia zu landen.
Weil die B-25 eine Militärmaschine
ist, muss die Flugleitung auf dem zivilen
Flughafen erst Instruktionen von der Army Advisory F1ight Control einholen,
um eine offizielle Landefreigabe zu erlangen. Die B-25 muss so lange südöstlich New Yorks Warteschleifen fliegen.
Zu Bardens Überraschung erklärt die
Army Advisory Flight Control, die Wetterangaben ihrer zivilen Kollegen seien
fehlerhaft: In Newark herrsche kein so
schlechtes Wetter, die Wolkendecke liege bei 1000 Fuß, gut 300 Meter, die Sicht
betrage zweieinviertel Meilen, über drei
Kilometer.
Der Tower meldet sich daraufhin wieder bei Smith und gibt ihm die Angaben
der Army Advisory Flight Control weiter. Der Pilot möge wegen der unterschiedlichen Wetterberichte selber entscheiden, ob er landen oder lieber nach
Newark weiterfliegen wolle. Smith besteht auf Weiterflug.
a Guardia liegt direkt am East River
im Stadtbezirk Queens. Fliegt Smith
jetzt eine kleine Schleife Richtung Osten,
kann er über Brooklyn und Staten Island
nach Newark kommen – die meiste Zeit
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über Wasser. Er kann aber auch einige
Flugsekunden einsparen, wenn er die direkte Route nach Newark nimmt. Dafür
müsste er quer über Manhattan fliegen.
Barden erteilt der B-25 schließlich
zögernd die Freigabe für Newark, aber
nicht ohne Smith vorher anzuweisen, bei
schlechter Sicht umzukehren und doch
in La Guardia zu landen. Der Tower gibt
dem Piloten eine letzte Nebelwarnung
mit: „Wir können von hier aus nicht
mehr die Spitze des Empire State Building sehen.“
Manhattan, New York City, 9.48 Uhr.
Stanley Lomax ist Sportreporter der Radiostation WOR. Er sitzt in seinem Wagen, als er plötzlich direkt über sich Motorenlärm hört. Dann sieht er eine B-25
im Tiefflug über die Häuserschluchten
rasen. „Steig, du Narr, steig!“, schreit er
dem Piloten zu. Wie er reagieren Hunderte von Menschen auf den Bomber, der
da plötzlich aus dem Nebel auftaucht
und sich offensichtlich zwischen den
Wolkenkratzern verirrt hat.
Eigentlich geben die Civil Air Regulations klare Regeln für das Überfliegen
geschlossener Ortschaften vor. Eine Mindesthöhe von 1000 Fuß muss eingehalten
werden. Zusätzlich aber gilt die Vorschrift, über einer Stadt so hoch zu fliegen, dass Piloten auch bei plötzlichem
Motorausfall noch im Gleitflug über freies Land oder Wasser kommen können.
Für Manhattan Island ist deshalb eine
Mindestflughöhe von 2000 Fuß festgesetzt worden. Diese Regeln haben allerdings einen Haken: Sie gelten offiziell
für Zivilmaschinen. Militärpiloten wird
nur „empfohlen“, sich daran zu halten.
Später wird es Hunderte von Zeugenaussagen geben, die einander teilweise
deutlich widersprechen. Dennoch lassen
sich die letzten Sekunden des Fluges der
B-25 zumindest grob rekonstruieren.
Die meisten Zeugen sehen das Flugzeug erstmals, als es, vom East River
kommend, nördlich der 42. Straße aus
dem Nebel auftaucht. Smith fliegt schon
da unter 1000 Fuß und in einer 15-GradKurve in die Stadt hinein.
Der Bomber ist im Nebel zwischen
den Wolkenkratzerschluchten Manhattans wie eine Fliege in einer steinernen Falle gefangen. Smith, der seine
Kampfeinsätze in Europa bravourös bestanden hat, scheint ausgerechnet hier,
mitten über New York, verloren zu sein.
ie Maschine fliegt Südwestkurs
mit einer Geschwindigkeit von 200
bis 250 Meilen in der Stunde. Nur durch
ein Manöver im letzten Augenblick kann
Smith eine Kollision mit dem Grand Central Office Building verhindern. Die B-25
irrt weiter und zerschellt beinahe an einem
Wolkenkratzer an der Fifth Avenue.
In seinen letzten Flugsekunden zieht
der Bomber eine Schneise des Schre­
ckens durch die Stadt. Überall in den
Büros, in den Geschäften, in den Läden,
auf den Straßen schauen die Menschen
wie erstarrt nach oben. Manche reißen
reflexartig die Arme über den Kopf, um
sich zu schützen.
Jemand, der alles ganz genau verfolgen kann, ist Eddie Greenberg. Er arbeitet im 17. Stockwerk eines Hochhauses
an der 39. Straße. Er sieht den Bomber.
vielleicht 60 Meter über sich. Dann hört
er eine mächtige Explosion und schreit:
„Oh my God, he hit the Empire State!“
D
Empire State Building. 9.49 Uhr. Ob
William F. Smith noch die Zeit hat, zu
erkennen, was da plötzlich direkt vor
ihm aus dem dichten Nebel auftaucht,
lässt sich nie mehr feststellen. Um genau
elf Minuten vor zehn prallt seine rund elf
Tonnen schwere B-25 mit mindestens
200 Meilen Geschwindigkeit zwischen
dem 78. und 79. Stockwerk auf das Empire State Building.
Die Maschine kracht in die nördliche
Fassade, in Höhe der Aufzugschächte,
280 Meter oberhalb der 34. Straße, und
reißt dort ein etwa fünfeinhalb mal sechs
Meter großes Loch. Die beiden Tragflächen werden bei dem Aufprall zerfetzt
und schlagen wie Bomben in der Nachbarschaft des Wolkenkratzers ein.
er Rumpf – besser gesagt: der Teil,
der nach dem Aufprall davon übrig
ist – fegt wie ein großes Geschoss 25
D
2
Meter quer durch die Etage und durchschlägt auch noch die gegenüber­
liegende südliche Fassade. Trümmer,
Glas und einer der beiden Motoren stürzen auf die 33. Straße hinunter. Der
Einschlag des Bombers ist so mächtig,
dass einer der riesigen Stahlträger im
79. Stock um fast einen halben Meter
eingedrückt wird.
Dem Aufprall folgt eine Explosion.
Rund 3000 Liter Flugbenzin ergießen
sich danach brennend in die Büros der
79. Etage und hoch über die Nordfassade des Wolkenkratzers bis hinauf zur
Aussichtsplattform im 86. Stockwerk.
Die gigantische Konstruktion schwankt
durch den Aufprall zweimal hin und her.
Ihre Spitze leuchtet wie eine gigantische
Fackel mit roter Lohe durch den Nebel,
dann verschwindet das obere Drittel des
Wolkenkratzers in Nebel und dichtem,
schwarzem Rauch.
Das brennende Flugbenzin rast wie
eine Höllenflut weiter durch den 78. Stock,
dann die Treppenhäuser hinunter bis in
die 75. Etage. Alles Brennbare in seinem
Weg steht sofort in Flammen.
William F. Smith, sein Kopilot Chris­
topher S. Domitrovich und Albert G. Pema
haben keine Chance. Wenn sie nicht direkt
durch den Aufprall getötet worden sind,
dann starben sie im Flammeninferno.
Zwei von ihnen – wahrscheinlich
Smith und Domitrovich – werden durch
den Aufprall der B-25 aus dem Flugzeug
hinaus­geschleudert. Ihre Leichen finden
Rettungsteams später im 79. Stock.
In dieser Etage sitzen an diesem
Samstag Mitarbeiter der National Catholic Welfare Conference (NCWC), einer
von der katholischen Kirche getragenen
Organisation, die humanitäre Hilfe für
die vom Weltkrieg verwüsteten Länder
Europas organisiert. Anders als viele
Hundert Menschen in Manhattan, haben
die Männer und Frauen von dem Bomber
nichts bemerkt. Bis er wie eine Ausgeburt der Hölle von draußen hereinbricht.
Ihre Räume stehen sofort in Flammen; sie werden dort oder auf der Flucht
zu den Treppenhäusern vom Feuer eingeholt. Drei Frauen entkommen in ein
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unzerstörtes kleines Büro auf der Süd­
seite des Empire State Building. Dort
schlagen sie in ihrer Not die Fensterscheiben ein, um mehr Luft zu bekommen – dann erreicht der Brand auch
diesen Ort.
Paul Dearing ereilt ein anderer Tod.
Die zerschmetterte Leiche des NCWCPublicity Directors wird später auf einem
schmalen Gesims in Höhe des 72. Stockwerks gefunden. Bis zu dieser Etage ist
das Empire State Building breiter als im
oberen Drittel. Dieser Gebäudevorsprung bewahrt Dearing zwar vor einem
300 Meter tiefen Fall, doch schon die
sieben Stockwerke seines Sturzes sind
tödlich.
Ist er von der Explosion aus dem Fenster geschleudert worden? Oder, von den
Flammen eingeschlossen, in Panik hinausgesprungen? Kein Spezialist wird
später diese Fragen beantworten können.
Dieser Tod aber bewahrt Dearings Körper davor, bis zur Unkenntlichkeit zu
verbrennen. Er wird hinterher das erste
Opfer sein, das die Polizei eindeutig
identifizieren kann.
Als sich die 37 Jahre alte Catherine
O’Connor von dem Schock des Einschlags
erholt hat, ist bereits der größte Teil ihres
NCWC-Büros in Flammen aufgegangen.
Sie sieht sich um und entdeckt einen Kollegen: Joseph Fountain. Die Kleidung des
47-Jährigen brennt lichterloh, doch er hält
sich noch auf den Beinen.
„Come on, Joe, come on, Joe!“,
schreit sie ihm zu. Joseph Fountain
kämpft sich aus den Flammen und erreicht mit Catherine O‘Connor und zwei
weiteren Frauen ein kleines Büro an der
Südseite. Der dichte Qualm macht ein
weiteres Fortkommen unmöglich, vor
allem für den schwer verletzten Mann.
Die vier beten.
uch alle anderen Menschen, die
sich um 9.49 Uhr zwischen dem
75. und 102. Stockwerk aufhalten, befinden sich in Lebensgefahr. Doch sie
haben mehr Zeit als die Männer und
Frauen vom NCWC, auf die Katastrophe zu reagieren – auch wenn viele nicht
einmal wissen, was geschehen ist.
A
Ein Mann. der über 25 Jahre in China
verbracht hat, glaubt an ein verheerendes
Erdbeben, wie er es schon im Femen
Osten erlebte. Andere denken an einen
japanischen Kamikaze-Flieger oder an
einen Zusammenbruch des gigantischen
Wolkenkratzers.
Dramatische Szenen spielen sich auch
an den Fahrstühlen ab. Der zweite Motor
der B-25 und Teile des Fahrwerks knallen in den Aufzugschacht Nr. 7, reißen
die unbesetzte Kabine aus ihrer Aufhängung und stürzen mit dem Lift den 300
Meter tiefe Schacht bis in das unterste
Kellergeschoss hinunter.
Das 20-jährige Liftgirl Betty Lou Oliver hat seinen Lift auf der Südseite des
Empire State Building gerade auf dem
75. Stockwerk angehalten und die Tür
geöffnet, als brennendes Flugbenzin von
oben durch die Aufzugschächte in die
Kabine schwappt. Zugleich schleudert
die Wucht der Explosion die junge Frau
aus der Kabine hinaus auf den Flur.
Dort wird sie – verbrannt, blutend, hys­
terisch und kaum ansprechbar – von Barbara Brown und Penny Skepko gefunden,
zwei Angestellten der Air Cargo Transport Corporation. Die beiden Frauen bringen die Verletzte in ihr Büro und leisten
Erste Hilfe. Dann machen sie sich auf,
Betty Lou Oliver hinunterzubringen, um
die Verletzte ins Krankenhaus zu fahren.
Sie gehen zu dem ebenfalls schwer
beschädigten Aufzug Nr. 6, in dem eine
andere junge Frau Dienst hat, die zwar
durchgeschüttelt worden, aber sonst unverletzt geblieben ist. Barbara Brown
und Penny Skepko wollen gerade in den
Lift einsteigen, als sie ihren Chef Roy
Penzell kommen sehen. Der weist sie an,
nicht mit hinunterzufahren und die verletzte Betty Lou Oliver in der Obhut
ihrer Kollegin zu belassen.
Die beiden Frauen gehorchen und gehen zurück in ihre Büros. Penzell bleibt
auf dem Flur und sieht, wie ich die Tür
der Aufzugskabine schließt. Plötzlich
hört er einen lauten Knall und der Lift
stürzt in die Tiefe.
Die beschädigten Seile von Aufzug 6
sind gerissen, die beiden jungen Frauen
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fallen 275 Meter tief ins unterste Kellergeschoss. Der massige Gummipuffer,
am Ende jedes Schachtes angebracht,
durchschlägt den Boden der Kabine.
Herabstürzende Metallseile zerschmettern das Dach.
Penzell und seine beiden Angestellten
retten sich später über eine Treppe nach
unten.
m 9.49 Uhr sind fünf Aufzugskabinen zwischen dem 66. und 102.
Stockwerk unterwegs, fast alle ohne
Passagiere. Die Kabinen, die nicht in die
Tiefe stürzen, bleiben in den langen
Schächten stecken; auf manche regnet
brennendes Flugbenzin herab.
Abe Gluck, ein 36 Jahre alter Liftboy,
steht während des Crashs mit dem Ticket­
kontrolleur Sam Watkinson vor seiner
Kabine im 80. Stockwerk. Die beiden
Männer hören die Explosion. Gluck
glaubt an einen Blitzeinschlag oder eine
Explosion im Maschinenraum. Zum
weiteren Nachdenken bleibt ihnen keine
Zeit. Eine Flammenwalze rast auf die
beiden zu, und die Männer fliehen den
Flur hinunter.
Der 69-jährige Watkinson ist langsamer als Gluck, bleibt zurück und wird
von den Flammen eingeholt. Gluck hört
ihn schreien, kehrt um und zieht den alten
Mann aus dem Feuer. Die beiden schleppen sich in ein leeres Büro. Hier bricht
Watkinson zusammen. Sein Freund zieht
ihn zu einem Fenster, doch dichte Rauchschwaden füllen bald den Raum.
Gluck irrt hinaus in den Qualm, bis er
den Eingang zu einem Treppenhaus findet. Er eilt zurück und trägt den bewusstlosen Watkinson einige Stockwerke tiefer zu einer Etage, in der noch Aufzüge funktionieren. Er nimmt den Lift
ins 5. Stockwerk, wo sie von Ärzten gefunden werden. Erst jetzt bemerkt er
„etwas Feuchtes an meinen Beinen“ –
sein eigenes Blut.
Auf der schmalen Aussichtsplattform
im 102. Stockwerk steht vor dem Unglück Lieutenant Allen Aiman. Er starrt
in die graue Nebelwand, als er plötzlich
unter sich die B-25 auf das Gebäude zurasen sieht. Er ist viel zu verblüfft, um
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erschrocken sein zu können. Doch einen
Augenblick später überzeugen ihn die
Explosion und das Zittern, das durch das
gigantische Bauwerk läuft, dass er sich
nicht getäuscht hat. Er bringt sich gemeinsam mit seiner Frau unbehelligt in
Sicherheit.
Im verglasten Teil der Aussichtsplattform im 86. Stock kommt es zu einer
absurden Situation. Brennendes Flugbenzin ist bis hierher hochgespritzt. Und
Metallteile der B-25 sind aus dem
79. Stock bis auf die offene Galerie der
Plattform geschleudert worden. Schnell
dringen Qualm, Flammen und eine große
Staubwolke aus den Aufzugschächten
ins Innere der Etage. Um Luft hereinzulassen, müssen die drei Wärter die Zugänge zur Galerie draußen aufbrechen,
die wegen des schlechten Wetters verschlossen sind. In der Aufregung kann
niemand die Schlüssel finden.
Dennoch kommt es zu keiner Panik –
wohl auch, weil aus den Lautsprechern
noch immer sanfte Musik dringt. Als der
Manager Frank W. Powell die Besucher
zusammenruft und über Treppen hinunter in Sicherheit führt, tut er das zu den
Klängen eines langsamen Walzers.
n den Büros der Caterpillar Tractor
Company im 80. Stock läuft keine
Musik. Arthur E. Palmer und D. J. Norden sind bei der Arbeit, als die Katastrophe über sie hereinbricht. Palmer sitzt an
seinem Schreibtisch, als das Flugzeug,
das er weder gesehen noch gehört hat,
nur wenige Meter unter ihm im Wolkenkratzer einschlägt. Er wird mit seinem
Tisch ein Stück hochgeschleudert, dann
sieht er Flammen außen am Fenster.
„Das ist eine Bombe der Japaner“,
denkt er, doch dann riecht er Flugbenzin
und glaubt an einen Absturz. Er rennt
zum Fenster und sieht hinaus, kann aber
wegen der Flammen und des Rauches
nichts erkennen. In diesem Augenblick
stürzt eines der Liftgirls in sein Büro.
Das Mädchen hat Verbrennungen an Armen und Beinen und will sich in panischer Angst aus dem Fenster stürzen. Die
beiden Männer können es aufhalten und
beruhigen.
I
Dann geht Palmer auf den Flur, doch
dichter Qualm dringt aus den Aufzugschächten und treibt ihn zurück. Die drei
sitzen in einer Falle. Um sich Luft zu
verschaffen, öffnen sie ein Fenster. Sie
finden einen kleinen Hammer und durchbrechen die Wand zur benachbarten
Bürosuite. Als das Loch groß genug ist,
kriecht zuerst Norden hindurch, dann
schieben die beiden Männer das verletzte Mädchen durch die Öffnung, zuletzt
folgt Palmer. Aus diesen Büros erreichen
sie ein noch nicht blockiertes Treppenbaus. Sie schleppen sich rund 30 Stockwerke hinab, bis sie auf ein erstes
Rettungsteam stoßen.
Empire State Building, 9.52 Uhr.
Hunderte Menschen sind Zeugen der
Katastrophe, und so dauert es nur Sekunden, bis die Telefonleitungen zu Polizei
und Feuerwehr heißlaufen. Der erste
Feueralarm wird um 9.52 Uhr gegeben –
von einem Feuerwehrmann.
Fire Lieutenant William Murphy sieht
zwar den Bomber nicht, als er durch die
Straßen schlendert, aber er hört die
Explo­sion und bemerkt den Qualm. Er
eilt zum Feuermelder an der Ecke Fifth
Avenue und 30. Straße. Wenige Sekunden später trifft ein weiterer Feueralarm
in der Zentrale ein – aus dem Empire
State Building selbst. William Sharp ist
Bauarbeiter und hat gerade im 73. Stockwerk zu tun, als die B-25 in den Wolkenkratzer kracht. Die Wucht von Aufprall
und Explosion schleudert ihn gegen
eine Wand. Sharp rappelt sich langsam
wieder hoch, greift sich eine Schaufel
und schlägt den Feuermelder an der
Wand ein.
in Assistant Manager der Raytheon
Manufacturing Company im 53.
Stock des Lincoln Building hat dagegen
Probleme, seinen Alarm an den Mann zu
bringen. Während seine Kollegen noch
aus dem Fenster starren, rennt er zum Telefon und informiert die Flugsicherheit
vom La Guardia Airport. Der Mann in der
Telefonzentrale hält die Mitteilung, so­
eben sei ein Flugzeug auf das Empire
State Building geprallt, für einen makab-
E
4
ren Scherz. Erst nach mehrmaliger Beteuerung schenkt er der Nachricht Glauben. Der Raytheon-Manager informiert
auch den Tower vom Mitchell-FieldF1ughafen und das militärische Hauptquartier der Eastern Sea Frontier. In allen
Fällen ist er der Erste, der diese Stellen
vom Unglück informiert.
41 Wagen von 23 Feuerwachen rasen
zum Empire State Building, wo sie gegen zehn Uhr eintreffen. Fire Commissioner Patrick Walsh und seine Männer
haben das höchste Feuer zu löschen, das
jemals in einem Gebäude ausgebrochen
war. Den bisherigen, nun um mehr als
40 Stockwerke überbotenen Rekord,
heilt das Sherry-Netherlands-Hotel in
Manhattan, dessen obere Stockwerke
1927 in Brand gerieten.
Die meisten seiner Leute schickt
Walsh zu den Flammen hinauf, die in
280 Meter Höhe die Etagen verwüsten.
Andere weist er an, ins unterste Kellergeschoss zu gehen. Dort liegen die
Trümmer der Aufzugskabinen 6 und 7
und Flugzeugteile. An manchen Stellen
lodern kleine, von verspritztem Flugbenzin genährte Brände.
Die Arbeit der Feuerwehr ist einfacher als zunächst befürchtet. Bis zum
60. Stock fahren die Männer mit dem
Aufzug hoch. Dann sind es noch 18 Etagen, die sich die Feuerwehrleute, beladen mit schwerer Lösch- und Atemschutzausrüstung, durch die verqualmten
Treppenhäuser hochkämpfen müssen,
um zum Feuer zu gelangen.
Aber selbst in diesen arg ramponierten Stockwerken funktioniert die Hauptwasserleitung noch; kein wichtiges Rohr
des 100 Kilometer langen Leitungssys­
tems im Empire State Building ist zerstört worden. Die Männer können ihr
großes Löschgerät anschließen und den
Brand von Anfang an massiv bekämpfen. Schlimmer als die Flammen ist der
dichte Qualm. Einige Männer brechen
trotz ihrer Atemschutzanzüge mit
Rauchvergiftungen zusammen und müssen versorgt werden.
Ärzte und Sanitäter des Bellevue
Hospitals kümmern sich um die Verletz-
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ten. Auch Geistliche beteiligen sich an
den Rettungsarbeiten. Einige eilen aus
Kirchen herbei, andere gehören zu den
Überlebenden des NCWC, die nach ihrer
Flucht nun mit Feuerwehr und Sanitätern
zurückkehren. Sie spenden das Sterbe­
sakrament den verkohlten Menschen,
mit denen sie noch vor wenigen Momenten gesprochen haben.
Auf ihrem gefährlichen Weg zur Einschlagstelle stoßen die Rettungsteams
nach und nach auf die Opfer der Katastrophe. Es sind verkohlte Leichen, die
einige der Männer an die Opfer des gerade beendeten Krieges in Europa erinnern. Doch manchmal kommt es auch
zum Happy End.
Der 26-jährige Harold J. Smith sitzt
zum Zeitpunkt des Unglücks in seinem
Büro im 62. Stock. Er rennt zum Fenster,
sieht nach oben und entdeckt über sich
drei Frauen, die sich weit aus dem Fens­
ter lehnen und verzweifelt winken, weil
sie von Rauch und Flammen eingeschlossen sind. Er stürzt ins Treppenhaus, wo er
auf einen Feuerwehrtrupp trifft. Er führt
die Männer in das Stockwerk, in dem er
die Frauen vermutet. Er hat sich nicht
verrechnet: Die Feuerwehr kann drei
Frauen und einen Mann vor dem Ersti­
cken retten. Es sind Catherine O’Connor,
zwei Kolleginnen und der schwer verletzte Joseph Fountain von der NCWC.
ährend sich die Rettungsteams
durch die Trümmer kämpfen, versorgen auf den unteren Etagen und auf
den Straßen 25 Ärzte und 24 Schwestern, 13 Sanitäter und 15 Rotkreuzhelfer
die Menschen, die aus dem Wolkenkratzer strömen. 15 Ambulanzwagen sind
zwar zur Unglücksstelle gerast und pendeln danach zwischen dem Büroturm
und den Krankenhäusern der Stadt. Über
400 Polizisten sind im Einsatz.
In einer Lobby des Wolkenkratzers
haben die Helfer ein Nothospital eingerichtet. Einige der Opfer leiden unter
Rauchvergiftungen und Verbrennungen,
andere unter Brüchen, Schnittwunden
oder anderen Verletzungen. Viele müssen wegen Schocks behandelt werden.
Oder sie sind völlig ausgepumpt, weil sie
W
sich oder andere aus höchster Gefahr gerettet haben, oder weil sie 70, 80 oder
noch mehr Stockwerke hinuntergelaufen
sind. Genau 1860 Treppenstufen sind es
vom 102. Stockwerk bis zur Straße,
mehr als dreimal so viel wie vom Turm
des Kölner Doms herab.
Viele Mitglieder der Rettungsteams
und auch manche ins Freie taumelnde
Opfer sind für eine andere Hilfe dankbar,
die das New Yorker Rote Kreuz in staunenswerter Schnelligkeit erbringt. Nur
wenige Minuten nach dem ersten Alarm
erreichen zwei Küchenwagen aus der
nahe liegenden New Yorker Zentrale den
Wolkenkratzer, mit 230 Litern frisch
aufgebrühten Kaffees und unzähligen
Donuts.
ew Yorks Bürgermeister Fiorello
La Guardia ist gerade vor dem Rathaus angelangt, als er in seinem Wagen
über Funk von dem Feuerwehralarm erfährt. Er lässt alle Termine platzen und
weist den Fahrer an, ihn sofort zur Unglücksstelle zu bringen. Kurz darauf
kann man den Bürgermeister sehen, wie
er vom 60. Stock an die Treppen hochsteigt, über die Kaskaden schmutzigen
Löschwassers in die Tiefe rauschen.
Er kommt so früh im 79. Stock an,
dass er die Löscharbeiten mitverfolgen
kann. Obwohl es dort oben „heiß wie in
einem Backofen“ ist, wie er sich später
erinnert, bleibt er 90 Minuten. Als der
Bürgermeister die ersten Details erfährt,
schüttelt er wütend die Faust. „lch habe
ihnen immer wieder gesagt, nicht über
die Stadt zu fliegen!“, ruft La Guardia so
laut, dass sich die Feuerwehrleute nach
ihm umdrehen. Für ihn ist klar, dass die
Verantwortung für dieses Unglück bei
dem Militärpiloten liegt.
Von der erstaunlichsten Rettungs­
aktion dieses Tages aber erfährt der Bürgermeister erst später – woraufhin er den
Helden auszeichnet und sich stolz mit
ihm zusammen von der Presse fotografieren lässt.
Donald Malony ist erst 17 Jahre alt.
Er kommt aus Detroit und dient seit neun
Monaten bei der Coast Guard in Connecticut als Sanitäter. Er hat frei an diesem
N
5
Samstag und steht direkt vor dem
Empire State Building, als das Unglück
geschieht.
Malony springt in das nächstgelegene
Gebäude, um sich vor den herabfallenden Trümmern zu schützen. Dann rennt
er in den Drugstore im Parterre des Empire State Building. „Gib mir Morphium,
Spritzen, Nadeln und Erste-Hilfe-Sets!“,
ruft er dem Verkäufer zu. Er trägt an diesem Tag die Uniform der Coast Guard,
ein aufgenähtes Rotes Kreuz weist ihn
als Sanitäter aus. Deshalb gibt ihm der
Angestellte sofort den größten ErsteHilfe-Satz, den er finden kann.
Und deshalb nehmen ihn die Feuerwehrmänner mit, die gerade hereinstürzen, um sich im Keller an die brennenden, abgestürzten Aufzugskabinen heranzuwagen. Sie schlagen ein Loch in die
Aufzugskabine 6, die aus der 75. Etage
hinuntergeknallt ist. Malony kriecht als
Erster hindurch, weil er den schmächtigsten Körper hat. Niemand erwartet
ernsthaft, noch Überlebende zu finden.
och Betty Lou Oliver und ihre Kollegin leben noch, schwer verletzt
zwar, doch sie sind bei Bewusstsein.
Techniker vermuten später, dass die
automatischen Sicherheitsvorkehrungen
im Schacht den Fall der Kabine so weit
verlangsamt haben, dass die beiden jungen Frauen durch den Aufprall nicht
zerschmettert wurden.
Malony leistet Erste Hilfe, danach eilt
er nach oben, findet drei Verletzte im
70. Stock und trägt sie nacheinander zu
anderen Rettungsteams in Stockwerken
darunter. Anschließend hilft er bei den
Rettungsaktionen in der 79. Etage.
Am berühmtesten aber wird sein erster Einsatz. Denn als er in den Fahrstuhl
kriecht, ruft Betty Lou Oliver aus:
„Thank God, the Navy’s here! I’ll be
okay now.“
Nach 40 Minuten kann der Fire Commissioner die meisten seiner Männer
nach Hause schicken. Die Brände sind
niedergekämpft, langsam verzieht sich
der Rauch aus den mit Löschwasser überfluteten Etagen. Einige der Feuerwehrleute müssen noch die Gefangenen in den
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stecken gebliebenen Aufzügen befreien,
was eine weitere halbe Stunde dauert.
Andere machen sich in den verwüsteten
Etagen an die Aufräumarbeiten und versuchen, die Leichen zu identifizieren.
Noch herrscht Unklarheit, wie viele
Menschen sich zum Zeitpunkt des Unglücks im 78. und 79. Stock befunden
haben, wie viele entkommen konnten –
und wie viele nicht. Manche Opfer sind
so verstümmelt, dass sich nicht einmal
mehr das Geschlecht erkennen lässt. Ein
Mann findet Reste eines Propellers, die
sich in eine Wand hineingebohrt haben,
und ein Stück Stoff mit der Aufschrift:
„Do not remove from plane No. 0588“.
Times Building, New York City, 10.00
Uhr. David H. Joseph ist City Editor der
„New York Times“. Er ist für die gesamte
New Yorker Berichterstattung des Weltblattes verantwortlich und sitzt bereits an
der Arbeit, als die ungeheure Explosion
Manhattan erschüttert. Er muss nicht lange warten, um herauszufinden, was geschehen ist. Die Mitarbeiter der Telefonzentrale im 11. Stock auf der Südseite des
Times Building haben den besten Blick
auf das Empire State. Sie rennen hinunter
und informieren Joseph.
Der wirft sofort die gesamte Struktur
der Zeitung um. Die Sonntagsausgabe
soll zwar von der japanischen Front
berichten und von der Ratifizierung der
Uno-Charta durch den US-Senat, doch
diesem Unglück in Manhattan gibt
Joseph den größten Raum.
Frank S. Adams ist einer der besten
Reporter – und hat seinen freien Tag.
Joseph ruft ihn zu Hause in Queens an
und beauftragt ihn, die „lead-all story“
zu schreiben, den längsten Artikel über
die Katastrophe.
Auch Adams’ Kollegen bekommen
zu tun. Ein Reporter soll Menschen interviewen, die zum Zeitpunkt des Unglücks im Empire State Building waren;
ein anderer Augenzeugen in Manhattan
befragen, die von den letzten Sekunden
des Fluges erzählen können. Wieder andere Mitarbeiter – insgesamt setzt die
Zeitung 25 Reporter ein – eilen zu den
Zentralen von Feuerwehr und Polizei, in
die Krankenhäuser und zum Roten
Kreuz, zum Rathaus und auf den LaGuardia-Flughafen.
ie „New York Times“ druckt Stories über die ersten Radiomeldungen ebenso wie Porträts des Piloten
Smith und seiner zwei Mitflieger.
Kleinere Artikel widmen sich spektakulären Einzelschicksalen, etwa Betty Lou
Olivers Sturz und deren Rettung durch
Malony.
Der Funkverkehr von Lieutenant
Colonel Smith mit dem La-GuardiaF1ughafen und die fatale Flugfreigabe
ist eine Story wert, dazu kommt ein Hintergrundbericht über die Sicherheitsregeln für Flugzeuge. Ein Reporter befragt
Erzbischof Francis J. Spellman, dessen
Gebet für die Opfer im Wortlaut abgedruckt wird. Schließlich folgt eine Liste
aller Verletzten und der Toten, die bis in
die Nacht auf Sonntag identifiziert werden können.
Neben den Texten sollen vor allem
Fotos dem Leser einen drastischen Eindruck von der Katastrophe geben. Ernie
Sisto vergisst sein schmerzendes Magengeschwür und schleppt seine schwere
Speed Graphic Kamera in den 81. Stock.
Er blickt von dieser etwas erhöhten Position auf das Loch des Einschlags, dann
schraubt er ein Weitwinkelobjektiv vor
die Kamera.
Es gelingt ihm, einige Feuerwehrleute
zu einem waghalsigen Manöver zu überreden: Er setzt sich auf eine Fensterbank,
die Feuerwehrmänner halten ihn an den
Fußknöcheln fest, und Sisto lehnt sich
weit hinaus in die Tiefe. Aus dieser spektakulären Position heraus macht er etliche Aufnahmen. Eines der Fotos ziert am
nächsten Tag dreispaltig die Titelseite
unterhalb der Schlagzeile.
Wer ein Radio eingeschaltet hat, muss
nicht bis zur Sonntagsausgabe der Zeitungen warten, um sich über den Crash
zu informieren. Manche Stationen sind
beinahe live dabei. Edwin P. Kenny, ein
Techniker des Senders WOR, steht gerade auf dem Dach des 25 Stockwerke hohen Gebäudes, um Wettermessgeräte
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abzulesen, als er die B-25 am Empire
State Building zerschellen sieht. Er rast
hinunter in die Aufnahmestudios und
berichtet dem Ansager von dem Unglück. Der unterbricht sofort das Programm und bringt die erste Meldnng fast
zeitgleich mit den ersten Telefonanrufen
um 9.49 Uhr.
Manhattan, am Tag danach. Die New
Yorker starren auf das schwarz verkohlte
Loch in der Nordfassade des höchsten
Gebäudes der Welt. Viele staunen, dass
der ungeheure Aufprall keine bedeutenden Schäden in der Statik des Wolkenkratzers angerichtet hat. Sie staunen
auch, dass der Brand recht leicht bekämpft werden konnte und dass relativ
wenige Opfer zu beklagen sind. Nicht
auszudenken, was geschehen wäre, wenn
Smith an einem Montag gestartet wäre.
Dennoch bleibt das Unglück entsetzlich genug: 14 Tote, 25 Verletzte und
Sachschaden in Höhe von einer Million
Dollar – eine hohe Summe im Vergleich
zu den Baukosten von 25 Millionen Dollar im Jahre 1931. Die Army übernimmt
alle Kosten.
Viele Verletzte können nach kurzer
Behandlung wieder entlassen werden,
die meisten sind schon am Samstagnachmittag wieder zu Hause. Betty Lou Oliver aber liegt mit schweren Verbrennungen und mehreren Knochenbrüchen 18
Wochen im Bellevue Hospital.
Feuerwehrleute, Reporter, Techniker.
Ingenieure, Vertreter von Stadt und Army haben schon am Samstagmittag begonnen, die am schwersten beschädigten
Teile des Wolkenkratzers zu untersuchen. Noch Stunden später stürzten
Glasstücke auf die abgesperrten Straßen.
Doch schon bald kann Hugh A. Drum,
Präsident der Eigentümer- und Betreibergesellschaft des Empire State Building, vor der Presse feststellen, dass der
Bau keine ernsten strukturellen Schäden
erlitten habe.
Erzbischof Francis J. Spellman liest
am Sonntag in der St. Patrick’s Cathedral
vor 1000 Gläubigen die erste Toten­
messe. Bereits in der Nacht hat er zu dem
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Unglück gesagt: „Die klaffende Wunde
in dem Gebäude ist ein karges Symbol
für die Ruinen in den Herzen derer, die
ihrer Liebsten beraubt wurden und die in
vielen Fällen nicht einmal in der Lage
sind, ihre geliebten Angehörigen zu
identifizieren.“
n diesem Sonntag sind alle Aufzüge bis zum 67. Stock wieder in Betrieb. Zwischen der 67. und der 80. Etage fahren immerhin fünf Kabinen. Die
Aussichtsplattformen im 86. und 102.
Stockwerk bleiben vorerst geschlossen.
Die Löcher in der Nord- und Südfassade
des Bauwerks werden provisorisch mit
Planen und Brettern verkleidet. Die
Reparaturen dauern zwölf Monate, dann
steht das Empire State Building wieder
so da, als wäre nie etwas geschehen.
Nie wird endgültig geklärt, wie es zu
dem Unglück gekommen ist. „Wenn der
Pilot dort geblieben wäre, wo er hingehörte, dann hätten wir keine Probleme“,
erklärt Bürgermeister La Guardia am
29. Juli vor der Presse. Die Army setzt
eine Kommission ein, die keine eindeutigen Ergebnisse vorlegt – aber der
Tower-Besatzung von La Guardia vorwirft, der B-25 die Freigabe nicht verweigert zu haben.
Erwiesen ist, dass Smith von Anfang
an nicht auf der Mindesthöhe von 2000
Fuß flog, als er Manhattan erreichte.
Aber weshalb tauchte er dort plötzlich
im Tiefflug aus dem Nebel auf?
ar es der Leichtsinn eines im
Kriege übermütig gewordenen
Piloten, der seinen beiden Mitfliegern
am Ende eines langen Überlandflugs etwas bieten wollte? Der ihnen vielleicht
„einmal New York zeigen“ wollte und in
den Steinschluchten in eine unentrinnbare Falle geriet? Hatte er Probleme mit
den Instrumenten? Glaubte er sich auf
der vorgeschriebenen Höhe und erkannte seinen Irrtum erst, als plötzlich die
ersten Wolkenkratzer vor ihm lagen?
Andere Augenzeugen glauben, die
B-25 habe Motorprobleme gehabt. Dagegen spricht, dass der Bomber mit mindestens 200 Meilen pro Stunde Geschwindigkeit ins Building gerast ist.
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Ein Zeuge sagt gar aus, dass er die Maschine mit ausgefahrenem Fahrwerk
gesehen habe, „als wollte der Pilot so die
Geschwindigkeit abbremsen“. Wieder
andere meinen, Smith habe Probleme
mit Steuer- und Höhenruder gehabt.
Das könnte durchaus die Ursache für
den Crash gewesen sein. Doch alle Zeugen haben die B-25 nur wenige Sekunden lang unter schlechten Wetterverhältnissen gesehen. Niemand hatte Zeit, den
Todesflug eingehend zu beobachten.
New York wäre nicht New York, würden nicht auch bei diesem Unglück sofort einige Leute ein Geschäft wittern.
Edward Blod und zwei weitere HobbyAstronomen richten normalerweise
nachts ihre Teleskope vom Dach eines
Hochhauses an der 42. Straße auf den
Sternenhimmel. Am Morgen des 29. Juli
aber bauen sie ihre Geräte mit dem ersten
Sonnenlicht um. Gegen Geld kann jeder
Neugierige durchs Teleskop einen Blick
auf die zerschmetterte Fassade hoch
oben am Empire State Building werfen.
Die Schaulustigen stehen in langen
Schlangen vor der neuen Attraktion.

W
Cay Rademacher, 29, ist Historiker und freier Journalist in Köln. Für die Rekonstruktion der Katastrophe hat er vier Wochen in der Library of Congress in
Washington recherchiert. Bei seinem Besuch auf
dem Empire State Building hat es ihn stark beruhigt,
dass weit und breit kein Flugzeug zu sehen war.
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