INQA-Bericht Nr. 39 - Initiative Neue Qualität der Arbeit

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INQA-Bericht Nr. 39 - Initiative Neue Qualität der Arbeit
Förderung und Erhalt
intellektueller Fähigkeiten
für ältere Arbeitnehmer
39
Abschlussbericht des Projekts ›Pfiff‹
Initiative Neue Qualität der Arbeit
Neues Denken für eine neue Arbeitswelt
Sichere, gesunde und zugleich wettbewerbsfähige Arbeitsplätze sind die Vision der
Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA). Gemeinsame Projekte des Bündnisses aus
Sozialpartnern, Sozialversicherungsträgern, Bund, Ländern, Stiftungen und Unternehmen machen deutlich: Wer in Humankapital investiert, profitiert von motivierteren Mitarbeitern, sinkenden Krankenständen und einem fortschrittlichen Unternehmensimage. Im
Jahr 2002 gestartet, sind Eigendynamik und Überzeugungskraft der Initiative inzwischen
weithin sichtbar – INQA works!
INQA bündelt Kräfte!
»Gemeinsam handeln, jeder in seiner Verantwortung« – dieser Grundsatz von INQA
hat sich in der Praxis bewährt. Unter dem Dach der Initiative haben sich mit den Thematischen Initiativkreisen (TIK) spezialisierte Arbeitsgruppen gebildet. Ihr inhaltliches
Spektrum reicht vom ›Netzwerk Baustelle‹ über ›Älter werden in Beschäftigung‹ bis zu
›Neue Qualität der Büroarbeit‹. Bürokratie oder verkrustete Strukturen sucht man hier
vergebens. Die TIK erarbeiten zielführende Aktivitäten zu einzelnen Schwerpunktthemen und setzen sie in Eigenregie um. Das gewonnene Wissen dient dem Transfer in die
betriebliche Praxis. Ob als Unternehmer, Arbeitnehmervertreter oder Gesundheitsexperte
– jeder INQA-Initiativkreis ist offen für Menschen, die etwas bewegen wollen.
INQA-Bericht
Gabriele Freude, Michael Falkenstein, Joachim Zülch
Förderung und Erhalt
intellektueller Fähigkeiten
für ältere Arbeitnehmer
39
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Abschlussbericht des Projekts ›Pfiff‹
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Abschlussbericht ›Pfiff‹
Impressum
Programm zur Förderung und zum Erhalt intellektueller Fähigkeiten
für ältere Arbeitnehmer (PFIFF)
Herausgeber:
Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA)
Geschäftsstelle
c/o Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin
Nöldnerstr. 40/42
10317 Berlin
Tel.: 0 30 / 5 15 48 - 4000 Fax: 0 30 / 5 15 48 - 4743
E-Mail [email protected]
Internet www.inqa.de
Fachliche Begleitung und Projektkoordination:
Dr. Gabriele Freude,
Leiterin der Arbeitsgruppe „Mentale Gesundheit und kognitive Leistungsfähigkeit“
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin
Nöldnerstr. 40-42
10317 Berlin
Tel.: 0 30 / 5 15 48 - 0 Fax: 0 30 / 5 15 48 - 4170
E-Mail: [email protected]
Das Projektteam:
Institut für Arbeitsphysiologie an der Universität Dortmund
Prof. Dr. med. Michael Falkenstein
Leiter der Projektgruppe „Altern und ZNS-Veränderungen“
Ardeystr. 67
D - 44139 Dortmund
Tel.: +49 / 231 1084 277
Fax: +49 / 231 1084 401
E-Mail: [email protected]
Ruhr-Universität Bochum
Fakultät für Maschinenbau
ISE - Lehrstuhl für Industrial Sales Engineering
Leitung: Prof. Dr. phil. Joachim Zülch
Universitätsstr. 150
44801 Bochum
Deutschland
Telefon: +49 (0)234 / 32-26 38 8
Fax: +49 (0)234 / 32-14 28 0
E-Mail: [email protected]
Redaktion und Satz:
KONTEXT Oster & Fiedler GmbH, Hattingen
Fotos: FOX-Foto – Uwe Völkner, Lindlar
Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit vorheriger Zustimmung der
Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA)
Dortmund 2009
ISBN: 978-3-86918-030-4
Abschlussbericht ›Pfiff‹
Inhaltsverzeichnis
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Teil 1: Das Projekt PFIFF – Programm zur Förderung und zum Erhalt
intellektueller Fähigkeiten für ältere Arbeitnehmer
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Gabriele Freude
PFIFF – Programm zur Förderung und zum
Erhalt intellektueller Fähigkeiten für ältere Arbeitnehmer
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Michael Falkenstein, Nele Wild-Wall
Einfluss arbeits- und lebensstilbezogener Faktoren
auf die kognitive Leistungsfähigkeit
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Patrick Gajewski, Michael Falkenstein Fluide kognitive Funktionen bei Beschäftigten
in der Automobilindustrie
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Joachim Zülch, Catharina Stahn Das Projekt PFIFF – Von der Wissenschaft zum
praxisorientierten Nutzen
Teil 2: Ältere Arbeitnehmer: Perspektiven von Wissenschaft,
Politik und Betrieben
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Winfried Hacker
Arbeitswelt im Wandel – Herausforderungen an die geistige Leistungsfähigkeit
älter werdender Arbeitender
73
Gottfried Richenhagen
Leistungsfähigkeit, Arbeitsfähigkeit, Beschäftigungsfähigkeit und ihre
Bedeutung für das Age Management
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Jürgen Pfister
Die Entwicklung einer „demografitten“ Unternehmenskultur in der METRO Group
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Abschlussbericht ›Pfiff‹
Abschlussbericht ›Pfiff‹
Teil 1
Das Projekt PFIFF –
Programm zur
Förderung und zum Erhalt
Intellektueller
Fähigkeiten
Für ältere Arbeitnehmer
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Abschlussbericht ›Pfiff‹
Dr. Gabriele Freude ist Leiterin der Arbeitsgruppe „Mentale Gesundheit und kognitive Leistungsfähigkeit“ bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.
Nach Studium und Promotion in Biologie an der Humboldt-Universität Berlin (1973
bis 1981) schloss sie ein Postgradualstudium an, das sie mit dem Abschluss „Fachwissenschaftler der Medizin“ absolvierte.
Seit 1981 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin des damaligen ZAM, der späteren
Bundesanstalt für Arbeitsmedizin, heute Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. Dort leitete sie seit 2005 die Arbeitsgruppe „Arbeitsgestaltung bei psychischen Belastungen, Stress“, seit 2009 ist sie Leiterin der Arbeitsgruppe „Mentale
Gesundheit und kognitive Leistungsfähigkeit“.
Als Leiterin verschiedener Forschungsprojekte beschäftigte sie sich mit den Schwerpunkten „Psychische Belastung, Stress“, „Altern und Arbeit“ sowie „Kognitive Leistungsfähigkeit“. Als Leiterin des Vitalitätslabors an der BAuA und Autorin zahlreicher
Veröffentlichungen in nationalen und internationalen Fachzeitschriften beschäftigte
sie sich intensiv mit den Themengebieten „Vitalität und Arbeit“ sowie „Psychophysiologie und kognitive Leistungsfähigkeit“.
Dr. Gabriele Freude
Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin
Nöldnerstraße 40-42
10317 Berlin
[email protected]
Abschlussbericht ›Pfiff‹
Gabriele Freude
PFIFF – Programm zur Förderung und zum Erhalt intellektueller Fähigkeiten für ältere Arbeitnehmer
Das Projekt im Überblick
Die Arbeitswelt ist im Wandel. Neue Informations- und Kommunikationstechnologien, die Bedeutung von Wissen insgesamt sowie die Notwendigkeit von
lebenslangem Lernen stellen zunehmend höhere Anforderungen an die geistige
Leistungsfähigkeit von Beschäftigten. Im Kontext des demographischen Wandels
gewinnen diese Entwicklungen zusätzliche Brisanz, insbesondere dann, wenn
die Anforderungen an die Grenzen der menschlichen Informationsverarbeitung
stoßen. Der Erhalt und die Förderung der geistigen Leistungsfähigkeit während
des gesamten Berufslebens wird eine zunehmend wichtiger werdende Zielgröße des modernen Arbeits- und Gesundheitsschutzes. Tragfähige Konzepte zur
Förderung kognitiver Kompetenzen älter werdender Arbeitnehmer sowie zur
Gestaltung von – aus kognitiver Perspektive – förderlichen Arbeitsbedingungen/
Arbeitssystemen sind gefragt. Dazu sind Akteure aus Politik, Wirtschaft und
Wissenschaft gleichermaßen gefordert.
Vor diesem Hintergrund wurde im ersten Quartal 2007 von der Bundesanstalt
für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) und der Initiative Neue Qualität
der Arbeit (INQA) das Projekt PFIFF „Programm zur Förderung und zum Erhalt
intellektueller Fähigkeiten für ältere Arbeitnehmer“ ins Leben gerufen und während der gesamten Laufzeit (Mai 2007 bis Dezember 2008) fachlich betreut. Die
Leitung von PFIFF wurde dem Institut für Arbeitsphysiologie Dortmund (IfADo)
übertragen. Weitere Kooperationspartner waren die Ruhruniversität Bochum,
die Gesellschaft für Gehirntraining (GfG) und die Adam Opel AG Bochum, der
Partner der betrieblichen Praxis.
In dem vorliegenden Tagungsband sind Forschungs- und Umsetzungsergebnisse des Projekts (Beiträge von Prof. Michael Falkenstein, Dr. Nele Wild-Wall,
Dipl.-Psych. Catharina Stahn, Dr. Patrick Gajewski und Prof. Joachim Zülch) zusammengefasst. Darüber hinaus wird von Prof. Winfried Hacker das mit PFIFF
im engen Zusammenhang stehende Thema „Arbeitswelt im Wandel – Herausforderungen an die geistige Leistungsfähigkeit älter werdender Arbeitnehmer“
aus arbeitswissenschaftlicher/arbeitspsychologischer Perspektive diskutiert.
Dem Thema „Kognitive Fitness älterer Beschäftigter – ein Thema in den Betrieben“ werden sich Dr. Gottfried Richenhagen, insbesondere aus der Perspektive
des „Age Managements“ in Unternehmen sowie Jürgen Pfister widmen, der
seine Erfahrungen im Hinblick auf „Die Entwicklung einer „demografitten“ Unternehmenskultur in der METRO Group“ darstellen wird.
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Abschlussbericht ›Pfiff‹
Einige Ergebnisse von PFIFF sind bereits veröffentlicht. Dabei soll insbesondere auf die Internetseite zum Projekt www.pfiffprojekt.de und die Broschüre
„Geistig fit im Beruf! – Wege für ältere Arbeitnehmer zur Stärkung der grauen
Zellen“ verwiesen werden.
Ziele und Bausteine von PFIFF
Übergeordnetes Ziel des Projektes war es, einen Beitrag zur Gestaltung von
Maßnahmen zum Erhalt und zur Förderung kognitiver Kompetenzen älterer
Arbeitnehmer zu leisten. Dabei war es uns wichtig, wissenschaftliche Ergebnisse
aus der Forschung in eine für die Praxis nutzbare Form umzusetzen. Insbesondere bestand die Aufgabe von PFIFF in der Erarbeitung eines Umsetzungskonzeptes, auf dessen Basis betriebliche Akteure ihr Arbeitsumfeld gestalten und die
kognitiven Kompetenzen der Beschäftigten positiv beeinflussen können, sodass
die geistige Fitness von Arbeitnehmern/ -innen bis ins hohe Alter gefordert und
gefördert werden kann.
Das Konzept zum Projekt sah vor, auf Basis einer umfangreichen Aufarbeitung
des nationalen und internationalen Stands der Forschung zunächst modellhafte
Untersuchungen zu altersbedingten Veränderungen der kognitiven Leistungsfähigkeit durchzuführen. Dabei sollten nicht nur Leistungs- und Verhaltensdaten
sondern auch neurophysiologische Methoden zur Anwendung kommen. Ansätze moderner neurophysiologischer Forschung waren uns deshalb wichtig, da auf
ihrer Basis Aussagen über die der geistigen Arbeit zugrundeliegende Mechanismen der Informationsverarbeitung gegeben werden können, die mit Leistungsdaten oder Parametern des menschlichen Verhaltens nicht möglich sind. So lassen z. B. Parameter der bioelektrischen Hirnaktivität Aussagen über das Ausmaß
der Anstrengung oder über Veränderungen spezifischer Stadien der Informationsverarbeitung bei der Bearbeitung mentaler Aufgaben zu, die für Empfehlungen zur Arbeitsgestaltung (z. B. im Hinblick auf die kognitive Ergonomie) wichtig
sind. Darüber hinaus waren im Rahmen des Projektes Untersuchungen zum
Einfluss von Arbeitsplatzmerkmalen, Arbeitsbelastungen, zur psychomentalen
Beanspruchung sowie zum dispositionellen Bewältigungsverhalten von Beschäftigten auf die kognitive Leistungsfähigkeit von Bedeutung.
Die anspruchsvollen Aufgaben von PFIFF wurden im Rahmen der folgenden
„Arbeitspakete“ bearbeitet:
1. Systematische Aufarbeitung des nationalen und internationalen
Stands der Forschung über arbeits- und lebensstilbezogene Einflussfaktoren auf die kognitive Leistungsfähigkeit als Ausgangsbasis
für die Entwicklung eines Maßnahmenkatalogs
2. Modellhafte Untersuchungen über altersbezogene Veränderungen
der kognitiven Leistungsfähigkeit unter Einbeziehung von neurophysiologischen Methoden zur Untersuchung altersbezogener
Abschlussbericht ›Pfiff‹
Strategien der Informationsverarbeitung bei Beschäftigten der
Automobilindustrie (Adam Opel AG)
3. Erarbeitung eines Konzepts zum Erhalt und zur Förderung kognitiver Kompetenzen im Berufsleben auf Basis der erarbeiteten Literaturübersicht und der Ergebnisse der modellhaften Untersuchungen.
Insbesondere sollte ein Maßnahmenkatalog mit Handlungsempfehlungen für Akteure des betrieblichen Gesundheitsschutzes erstellt werden. Darüber hinaus sollte ein Workshopkonzept und die
dafür erforderlichen Schulungsunterlagen erarbeitet werden, das
auf die Förderung kognitiver Kompetenzen gerichtet ist
4. Entwicklung und Anpassung eines Trainingskonzeptes zur Förderung kognitiver Kompetenzen durch die Gesellschaft für Gehirntraining. Auf dieser Grundlage wurde kognitives Training im betrieblichen Setting ermöglicht.
Systematische Aufarbeitung des nationalen und internationalen Stands der Forschung
Voraussetzung für sämtliche Umsetzungsaktivitäten im Rahmen des Projektes
war ein umfassender Überblick über den Stand der Forschung zu neuroprotektiven arbeits- und lebensstilbezogenen Einflussfaktoren auf die kognitive
Leistungsfähigkeit. Die besondere Bedeutung von arbeitsbezogenem Stress, der
lernförderlichen Arbeitsgestaltung sowie von Qualifikation und Weiterbildung für
die kognitive Leistungsfähigkeit wird bei der Ergebnisdarstellung ebenso hervorgehoben wie der Einfluss von sportlicher Aktivität (insbesondere im Ausdauerleistungsbereich) oder Ernährung. Ebenso findet der Aspekt der Trainierbarkeit
insbesondere bei Älteren besondere Berücksichtigung bei der Literaturrecherche.
Zudem sollte der aktuelle Stand der Forschung für den Bereich kognitives und
emotionales Bewältigungsverhalten in Bezug auf altersbedingte Defizite aufgearbeitet werden, um dadurch eine fundierte Ausgangslage für die spätere Erarbeitung des Umsetzungskonzepts zur Förderung kognitiver Kompetenzen zu
schaffen. Die Ergebnisse der Literaturrecherche sind im Detail unter
www.pfiffprojekt.de dargestellt.
Modellhafte Untersuchungen über altersbezogene Veränderungen der kognitiven
Leistungsfähigkeit unter Einbeziehung von neurophysiologischen Methoden
In einer zweiten Arbeitsphase wurden ausgewählte kognitive Funktionen
bei zwei Gruppen von Arbeitnehmern mit unterschiedlichen Tätigkeitsprofilen
und unterschiedlichen kognitiven Anforderungen (Fließband vs. Instandhaltung)
untersucht. Die neurophysiologischen und arbeitswissenschaftlichen Untersuchungen erfolgten bei unserem Industriepartner, der Adam Opel GmbH. Die
hierzu unter Laborbedingungen simulierten Arbeitsaufgaben forderten insbesondere sog. fluide kognitive Funktionen, die entscheidende Bausteine vieler berufli-
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Abschlussbericht ›Pfiff‹
cher Tätigkeiten sind. Sie beinhalten u. a. schnelle Informationsverarbeitung und
Reaktionen, das Wechseln von Aufmerksamkeit und Aufgaben, das gleichzeitige
Ausführen mehrerer Tätigkeiten, das Planen von Handlungssequenzen etc. In
der Grundlagenforschung konnten für diesen Funktionsbereich bereits Altersunterschiede beschrieben werden, die im PFIFF Projekt, in Abhängigkeit der durch
die berufliche Tätigkeit bedingten unterschiedlichen kognitiven Anforderungen,
zu differenzieren waren. Insbesondere zielten die experimentell simulierten Aufgaben auf einen schnellen Wechsel von Aufmerksamkeit, Inanspruchnahme des
Arbeitsgedächtnisses sowie der Unterdrückung von irrelevanten Ablenkreizen.
Die Untersuchung des Einflusses von „Arbeitsanforderung“ und „Alter“ war bei
der Versuchsplanung besonders zu berücksichtigen.
Darüber hinaus sollten Zusammenhänge zwischen altersassoziierten Veränderungen der fluiden Funktionen, arbeitsbezogenen Einflussfaktoren sowie
dispositionellem Bewältigungsverhalten analysiert werden.
Konzept zum Erhalt und zur Förderung kognitiver Kompetenzen –
Workshopkonzept – Maßnahmenkatalog – Training
Mit dem zu erarbeitenden Workshopkonzept sollten drei Ziele verfolgt werden.
Erstens sollten Empfehlungen zur Arbeitsgestaltung und zur Lebensführung
gegeben werden. Zweitens war beabsichtigt, die individuellen Ressourcen der
Arbeitnehmer/-innen zu stärken, indem z. B. Methoden zur Stressbewältigung
in das Umsetzungskonzept implementiert sowie Wissen über lebensstilbezogene protektive Einflussfaktoren auf die kognitive Leistungsfähigkeit vermittelt
wurden. Und drittens sollte ein Trainingsprogramm zur Steigerung der geistigen
Leistungsfähigkeit Bestandteil des Workshopkonzepts sein.
Die erarbeiteten Module des Workshops stützen sich auf die Ergebnisse der
Literaturrecherche. Darauf aufbauend stehen die Themen „Stress und Stressbewältigung“, „Die Rolle von Kognitionen, Ernährung, Sport und Lebensführung“, „Kognitives Training“ sowie „Empfehlungen für die Arbeitsgestaltung“ im
Mittelpunkt der Workshops. Eine Vielzahl von Instrumenten sollten ebenfalls im
Rahmen des Projektes zur Unterstützung der Umsetzungsmaßnahmen entwickelt werden, wie z. B. Trainerleitfaden, Foliensätze und diverse Übungen.
Ausblick
Es ist anzunehmen, dass das Thema „Erhalt und Förderung der kognitiven
Leistungsfähigkeit im Berufsleben“ künftig in der Arbeitswelt eine noch größere
Rolle spielen wird. PFIFF gibt den Beschäftigten und Unternehmen die notwendigen Werkzeuge in die Hand, damit sie sich diesen Herausforderungen erfolgreich stellen können. Dabei kann die geistige Leistungsfähigkeit auch durch
kognitives Training stabilisiert und gefördert werden. Mit diesen Maßnahmen
sollte nicht erst im Alter begonnen werden. Sie sollten während des gesamten
Erwerbslebens eine Rolle spielen.
Abschlussbericht ›Pfiff‹
Vor diesem Hintergrund wurde ein Nachfolgeprojekt von PFIFF (PFIFF 2)
konzipiert mit dem Schwerpunkt der Implementierung des erarbeiteten Umsetzungskonzepts in die Unternehmen. Damit sollen die notwendigen Transferleistungen zwischen theoriebasierten Konzepten und praxisbezogenem Nutzen
erbracht werden. Zunächst sollen die Maßnahmen in einer Pilotphase bei älteren
Beschäftigten in der Automobilindustrie umgesetzt und für den betrieblichen
Kontext optimiert werden. Zur Sicherung der Nachhaltigkeit ist eine wissenschaftliche Evaluation der Wirksamkeit der Trainingsmaßnahmen geplant. Die
Erfahrungen sollen in einer zweiten Phase dazu genutzt werden, Gesundheitsakteure aus unterschiedlichen Unternehmen gemäß des Leitgedankens „train the
trainer“ zu schulen. Somit können diese als Multiplikatoren die Mitarbeiter ihrer
Unternehmen trainieren. Mit dem geplanten Vorhaben kann ein Beitrag dazu
geleistet werden, eine nachhaltige Verbreitung des Konzeptes zum Erhalt und
zur Förderung kognitiver Kompetenzen im Berufsleben zu sichern. Informationen über weitere Entwicklungen im Rahmen des „PFIFF 2 Projektes“ sind unter
www.pfiffprojekt.de zu finden.
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Abschlussbericht ›Pfiff‹
Prof. Dr. Michael Falkenstein (geb. 17.05.1949 in Bochum) hat Diplome in Elektrotechnik und Psychologie (Universität Bochum 1977 and 1985), sowie das Staatsexamen in Medizin (Universität Essen 1978). Promotion zum Dr. med. 1983 und Habilitation in Psychologie 1996. Von 1978 bis 1995 arbeitete er am Institut für Physiologie
der Ruhr-Universität, wo er zuletzt ein Projekt zu nicht-pharmakologischen Trainingsprogrammen für Schmerzpatienten durchführte.
Seit 1986 arbeitet er am Institut für Arbeitsphysiologie, IfADo in Dortmund; seit
2000 ist er dort Leiter der Projektgruppe 3 „Kognitive Neurophysiologie informatorischer Arbeit“. (ab 2006: „Altern und ZNS-Veränderungen“). Seine ForschungsSchwerpunkte liegen in der Untersuchung von exekutiven Kontrollfunktionen und
ihrer Messung mit neurophysiologischen Methoden, sowie in Veränderungen von
kognitiven Hirnfunktionen im Alter und bei Störungen des zentralen Nervensystems.
Aktuelle Schwerpunkte seiner Arbeit im angewandten Bereich sind die Analyse von
Veränderungen von Hirnfunktionen bei Älteren durch verschiedene Interventionen,
sowie Diagnostik und Training bei älteren Beschäftigten und Verkehrsteilnehmern. Er
leitet etliche Drittmittelprojekte auf nationaler (DFG, BMBF, BMAS) und europäischer Ebene (EU).
Prof. Dr. Michael Falkenstein
Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund
[email protected]
Dr. rer. nat. Nele Wild-Wall ist wissenschaftliche Mitarbeiterin (stellv. Projektleiterin) am Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund in der Projektgruppe „Altern und ZNS-Veränderungen“ bei Prof. M. Falkenstein. Sie studierte 1994
bis 2000 Psychologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und schloss mit dem
Diplom ab. 2000 bis 2003 war sie Doktorandin im DFG-geförderten Graduiertenkolleg „Klinische und kognitive Neurowissenschaften“ an der Humboldt-Universität. Mit
dem Thema „Interaktion der Emotions- und Bekanntheitserkennung bei Gesichtern“
promovierte sie zum Dr. rer. nat. Von 2003 bis 2004 arbeitete sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Essen über das
Thema „Neurophysiologie automatischer und kontrollierter Aufmerksamkeitsprozesse
bei schizophrenen Patienten“. Seit 2004 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin der
Projektgruppe „Altern und ZNS-Veränderungen“ am Institut für Arbeitsforschung an
der TU Dortmund (IfADo). Von 2007 bis 2009 absolvierte sie ein berufsbegleitendes
Diplom-Studium „Soziale Gerontologie“ an der TU Dortmund.
Dr. Nele Wild-Wall
Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund
[email protected]
Abschlussbericht ›Pfiff‹
Michael Falkenstein, Nele Wild-Wall
Einfluss arbeits- und lebensstilbezogener Faktoren
auf die kognitive Leistungsfähigkeit
Der Prozess des Alterns bringt eine Reihe von körperlichen und geistigen
Veränderungen mit sich, die oft erst im höheren Alter deutlich in Erscheinung
treten. Negative Veränderungen zeigen sich in den sog. fluiden Funktionen, d. h.
schnelle kontrollierte Informationsverarbeitung, Kurzzeitgedächtnis, Arbeitsgedächtnis (Kurzzeitgedächtnis plus Verarbeitung der Gedächtnisinhalte), Wechsel
zwischen Aufmerksamkeit und Aufgaben, Mehrfachtätigkeit, Hemmung von
Störeinflüssen und spontanen Handlungen, Handlungskontrolle und -planung
usw. In anderen Bereichen, z. B. im Erfahrungswissen, zeigen sich mit dem Alter
sogar Verbesserungen. Viele alternsbedingte Veränderungen sind biologisch
determiniert. Allerdings weiß man heute, dass es viele positive und negative Einflussfaktoren gibt, die den Alternsprozess mehr oder weniger erfolgreich beeinflussen. Faktoren wirken dann besonders intensiv, wenn ihre Einwirkungsdauer
groß ist. Arbeit und Lebensstil wirken insgesamt den ganzen bewusst erlebten
Tag lang auf den Menschen ein, daher sollten sie starken Einfluss haben. Die
folgende Übersicht benennt wichtige arbeits- und lebensstilbezogene Faktoren,
die kognitive Funktionen im Alter günstig oder ungünstig beeinflussen.
Arbeitsbezogene Faktoren
Anspruchsvolle kognitive Aktivität wirkt sich anscheinend positiv auf die fluide
Intelligenz aus (z. B. Hultsch et al., 1999; Schooler & Mulatu, 2001; Schooler et
al., 1999; Singh-Manoux et al., 2003; Wilson et al., 1999). Arbeit ist die Tätigkeit,
mit der wir uns zeitlich am längsten und am intensivsten beschäftigen und die
daher einen starken Einfluss auf die kognitive Leistungsfähigkeit haben sollte.
Tätigkeiten mit flexiblen und variablen geistigen Anforderungen und Übungsoptionen sowie der Möglichkeit, neue Dinge zu erlernen, verbessern anscheinend in
der Tat die kognitiven Funktionen bei Beschäftigten.
Hohe Komplexität der Arbeit ist mit einer besseren kognitiven Flexibilität
verbunden. Der positive Einfluss anspruchsvoller Tätigkeit auf die geistige Leistungsfähigkeit nimmt mit steigendem Alter sogar zu (Schooler et al., 1999).
Personen mit geistig fordernden Berufen zeigten über 7 Jahre leichte Verbesserungen ihres kognitiven Status, während diejenigen, deren Beruf mehr physische
Anforderungen verlangte, einen leichten Rückgang über diesen Zeitraum zeigten
(M. Potter & Jones, 2006). In einer nachfolgenden Arbeit konnten die Autoren
(G. G. Potter et al., 2008) bei über 1000 Probanden einen klaren Zusammenhang zwischen dem Grad der intellektuellen Arbeitsanforderungen und kognitiver Leistung zeigen. Darüber hinaus zeigte sich, dass Personen mit geringeren
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Abschlussbericht ›Pfiff‹
intellektuellen Fähigkeiten im frühen Erwachsenenleben besonders stark von intellektuell anspruchsvoller Arbeit profitierten (Andel et al., 2007). Diese Autoren
konnten auch zeigen, dass hohe Komplexität der Arbeit im mittleren Alter auch
im hohen Alter offenbar noch einen kognitiven Vorsprung gab. Eine Gruppe
aus Toulouse um Marquié konnte bei über 2000 Beschäftigten einen starken
linearen Zusammenhang zwischen der kognitiven Stimulierung durch die Arbeit
und vier unterschiedlichen kognitiven Funktionen (unmittelbare Wiedergabe,
Wiedererkennung, selektive Aufmerksamkeit und Verarbeitungsgeschwindigkeit)
feststellen (Marquié, 2009).
Eine simple und effektive Methode zur Anreicherung ansonsten monotoner
Tätigkeit ist die Rotation zwischen Arbeitssituationen und -plätzen. Frieling und
andere (2008) konnten zeigen, dass zum einen Rotation die Arbeitsfähigkeit
(gemessen mit dem WAI) und die Problembewältigungskompetenz fördert und
Resignation vermindert, andererseits Ältere weniger rotieren. Leistungsgeminderte Beschäftigte werden zudem an weniger Arbeitsplätzen eingesetzt, was sie
noch schlechter macht, wodurch ein Teufelskreis aufgebaut wird. Erschwerend
hinzu kommen Anklammerungstendenzen Älterer an „ihren“ Arbeitsplatz. Hier
ist dringend ein Umdenken bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern erforderlich.
In einer Studie von Stegmaier und Mitarbeitern (2006) wurden die subjektiven
Angaben von älteren Beschäftigten zur Auswirkung von Arbeitsmerkmalen auf
ihre Innovations- und Anpassungsfähigkeit untersucht . Die Auswertung ergab,
dass vor allem Autonomie bei der Arbeit und das Feedback von Vorgesetzten mit
der Innovationsfähigkeit positiv zusammenhängen. Auch für die Bewältigung
Abschlussbericht ›Pfiff‹
unsicherer Arbeitssituationen und für das Lernen neuer Technologien und Verfahren bestand ein positiver Zusammenhang zwischen Autonomie bzw. Feedback des Vorgesetzten.
In zwei Felduntersuchungen zeigten Bergmann und Mitarbeiter (2006), dass
es keinen Zusammenhang zwischen Innovationstätigkeit und Alter gibt. Nachgewiesen wurde hingegen ein Zusammenhang zwischen Innovationstätigkeit und
Lerninhalten der Arbeitsaufgabe. Beschäftigte, die Arbeitsaufgaben mit höheren
Lernanforderungen verrichteten, sind etwa 3 Mal häufiger Innovatoren. Allerdings haben – unabhängig von Alter – die untersuchten kleinen und mittleren
Unternehmen ihre Mitarbeiter kaum zu Innovationen angeregt.
Nachtarbeit und Schichtarbeit scheinen einen ungünstigen Effekt auf die
kognitive Leistungsfähigkeit zu haben. Die Gruppe um Marquié konnte kürzlich zeigen, dass physische Aktivität und Arbeit vor 6 Uhr früh und nach 22 Uhr
abends sich abträglich auf die kognitive Leistungsfähigkeit am nächsten Tag auswirkte (Ansiau et al., 2007). Dieselbe Gruppe konnte an über 3000 Beschäftigten
zeigen, dass männliche Schichtarbeiter eine niedrigere kognitive Leistung hatten
als Niemals-Schichtarbeiter (Rouch et al., 2005). Zudem bestand eine klare
Dosis-Effekt-Relation: Bei den Schichtarbeitern war die Gedächtnisleistung mit
zunehmender Dauer der Schichtarbeit schlechter. Vier Jahre nach dem Aussetzen der Schichtarbeit war die Gedächtnisleistung wieder deutlich höher. Hieraus
kann zweifelsfrei abgeleitet werden, dass Schichtarbeit die kognitive Leistung
beeinträchtigt.
Weiterhin kann angenommen werden, dass die Kombination von kognitiv wenig fördernder Arbeit und Schichtarbeit besonders starke Beeinträchtigungen mit
sich bringen sollte. Genau dies konnte in der Untersuchung bei Schichtarbeitern
mit hoch-repetitiver Tätigkeit im Rahmen des Projekts PFIFF bestätigt werden
(siehe Beitrag von Gajewski in dieser Broschüre).
Insgesamt lässt sich feststellen, dass sich komplexe Arbeitsbedingungen, die
das Lernen unterstützen und Problemlösefertigkeiten abverlangen, positiv auf
die intellektuellen Funktionen älterer Menschen auswirken. Umgekehrt können
Defizite entstehen, wenn kognitive Funktionen durch die Tätigkeit in einem
bestimmten Arbeitsfeld wenig oder nicht beansprucht und gefördert werden und
monotone Tätigkeiten im Berufsleben dominieren.
Lebensstilfaktoren
Die Literaturstudie ergab konsistent vier Lebensstilfaktoren, die sich modulierend auf kognitive Funktionen auswirken: Stress, körperlich-sportliche Betätigung, Ernährung, und geistige Betätigung. Auf den Faktor Stress wird im Beitrag
von Zülch und Stahn näher eingegangen.
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Abschlussbericht ›Pfiff‹
Körperlich-sportliche Aktivität und geistige Leistungsfähigkeit
Generell besteht ein breiter Konsens darüber, dass körperliches Training das
Wohlbefinden, die Gesundheit und Lebensqualität auch im mittleren und höheren Alter steigert (Eyigor et al., 2007). Durch Sport können wir aber nicht nur
unseren Körper, sondern auch unseren Geist beeinflussen! In der wissenschaftlichen Literatur liegen heute bereits viele Untersuchungen über die positiven
Aspekte von sportlicher Betätigung
–– auf die Lebensqualität,
–– das emotionale Wohlbefinden (Mechling, 2005),
–– die geistige Leistungsfähigkeit und sogar
–– auf die Minderung des Risikos degenerativer und demenzieller Erkrankungen wie z. B. der Alzheimer Demenz (Oswald, 2004) vor.
Bisher gibt es, bis auf wenige Ausnahmen (Etnier et al., 2006), relativ viele
wissenschaftliche Artikel, die einen positiven Zusammenhang zwischen körperlich-sportlichen Aktivitäten und der geistigen Leistungsfähigkeit insbesondere im
Alter zeigen (N. Cassavaugh et al., 2004; S.J. Colcombe & Kramer, 2003; Kramer
et al., 2005; Kramer et al., 2006; McAuley et al., 2004; Mechling, 2005; Oswald,
2004).
Wissenschaftliche Untersuchungen
In vielen wissenschaftlichen Untersuchungen wurden die Teilnehmer nach
dem vergangenen oder derzeitigen Ausmaß ihrer körperlich-sportlichen Betätigung befragt. Zusätzlich wurden Labortests zur geistigen Leistungsfähigkeit
durchgeführt. In den meisten Untersuchungen zeigte sich ein positiver Zusammenhang zwischen körperlich-sportlicher Betätigung und der geistigen Leistungsfähigkeit insbesondere bei älteren Teilnehmern (DiPietro, 2001; Lundberg
et al., 1994). Dieser Zusammenhang ist besonders stark, wenn man die Ausdauerleistung betrachtet. Van Boxtel und Kollegen (1997) untersuchten jüngere und
ältere Personen mit verschiedenen Tests zur geistigen Leistungsfähigkeit und
zur körperlichen Ausdauerleistung. Ältere Personen mit einer höheren Ausdauerleistung waren besser in den Tests zur geistigen Leistungsfähigkeit als Ältere mit
schlechterer Fitness.
Auch beim Projekt PFIFF wurden die Teilnehmer nach ihrer körperlichen Aktivität gefragt. Schon bei einem simplen kognitiven Leistungstest, bei dem auf bestimmte Reize eine Taste gedrückt werden sollten und bei anderen Reizen nicht
(Go/NoGo-Aufgabe) machten ältere Arbeitnehmer mit einer körperlich aktiveren
Alltagsgestaltung weniger Fehler. Sie ließen weniger Zielreize („Targets“) aus als
ältere Arbeitnehmer mit einer weniger aktiven Alltagsgestaltung.
Es ist allerdings problematisch, wenn man bei Personen nur zu einem Zeit-
Abschlussbericht ›Pfiff‹
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punkt die sportliche Fitness und geistige Leistungsfähigkeit untersucht. Hier
könnte der Einwand kommen, dass die sportlichen Personen nicht durch den
Sport geistig fit geblieben sind, sondern dass geistig fitte Personen eher Sport
treiben und die geistig weniger fitten seltener Sport treiben. Daher ist es besser,
sich die Effekte von Fitness und geistiger Leistungsfähigkeit über einen längeren Zeitraum anzusehen (sog. Längsschnittstudie). So befragte der Neurologe
Larson und seine Kollegen (2006) 65-jährige und ältere Untersuchungsteilnehmer über einen Zeitraum von 6 Jahren zu ihrer sportlichen Freizeitgestaltung.
In diesem Zeitraum fanden sie positive Zusammenhänge zwischen einer körperlich aktiven Freizeitgestaltung und einem reduzierten Risiko für demenzielle
Erkrankungen. In einer anderen Untersuchung wurden ehemalige Studenten
der Harvard-Universität über einen langen Zeitraum von 26 Jahren im Alter
Abb. 1: Zweifach-Wahlreaktionsaufgabe - ältere
Arbeitnehmer
zwischen 38 bis 72 Jahren untersucht (Lee et al., 2004). Sie wurden u. a. zu ihrer
körperlichen Aktivität im Alltag befragt. Die Personen, die sich im Alltag mehr
bewegten, zeigten eine geringere Sterbewahrscheinlichkeit im hohen Alter: Die
älteren Personen, die körperlich weniger aktiv waren, hatten ein erhöhtes Risiko,
in dem Untersuchungszeitraum zu sterben.
Noch bessere Aussagen können Untersuchungen liefern, die sich den Effekt
von sportlichem Training auf die geistige Leistungsfähigkeit in einer Trainingsgruppe verglichen mit einer Kontrollgruppe (kein oder ein anderes Training)
ansehen. So verglichen der Psychologe Kramer und seine Kollegen (1999) ältere
Erwachsene, die entweder einer Ausdauer-Trainingsgruppe zugeordnet wurden
oder einer Gymnastik- & Kräftigungsgruppe. Die erste Gruppe zeigte verglichen
mit der zweiten nach dem Training verbesserte Leistungen nicht nur in der Ausdauer, sondern auch in Tests, die bestimmte Gehirnfunktionen messen. Förder-
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Abschlussbericht ›Pfiff‹
liche Effekte von Ausdauertraining auf die geistige Leistungsfähigkeit wurden in
vielen weiteren Studien gefunden, welche Ausdauertrainingsgruppen mit Kontrollgruppen verglichen. Eine berühmte Arbeit aus der Kramer-Gruppe fasste 18
gut kontrollierte Studien zur Wirkung körperlichen Trainings auf verschiedene
kognitive Funtionen zusammen (2003). Ausdauertraining zeigte einen robusten
positiven Effekt auf die kognitive Leistung, besonders auf bestimmte fluide Funktionen, die sog. exekutiven Kontrollfunktionen. Dies sind jene eingangs schon
erwähnten Hirnfunktionen, die im Alter tendenziell nachlassen, und die vielen
sehr komplexen kognitiven Leistungen zugrunde liegen wie z. B. der Unterdrückung von ablenkender Information.
Mechanismen des Zusammenhangs
Welche Mechanismen sind nun für die positive Wirkung von Bewegung und
körperlicher Aktivität auf die geistige Leistungsfähigkeit verantwortlich? Dazu
sind Studien besonders aufschlussreich, die Veränderungen am Gehirn direkt
untersuchen. Beim Menschen ist das natürlich nicht möglich. Allerdings kann
man z. B. mit der Magnet-Resonanz-Tomographie (MRT) die Gehirnaktivität und
-struktur messen. Hier zeigte sich bei einigen Untersuchungen ein Effekt von
körperlicher Bewegung auf Veränderungen in der Hirnstruktur (S. J. Colcombe et
al., 2003) oder in der Hirndurchblutung (S. J. Colcombe et al., 2004).
In letzter Zeit wird besonders der Einfluss von Neurotrophinen, vor allem dem
sog. „brain derived neurotrophic factor“ (BDNF) diskutiert. Neurotrophine (Eiweiße) werden von unserem Gehirn produziert, wirken als Wachstumsfaktoren
im Nervensystem und beeinflussen die Signalweitergabe und die Bildung von
neuen Kontakten zwischen den Nervenzellen (Lessmann et al., 2003). Das Neurotrophin BDNF ist nicht nur bei der frühen Gehirnentwicklung und Reifung in
den ersten Lebensjahren und in der Kindheit wichtig. Es wirkt über den gesamten Entwicklungs- und Alternsprozess des Gehirns. BDNF ist besonders wichtig
für Lernen und Gedächtnisbildung; die Produktion von BDNF wird im Gehirn
durch körperliche Bewegung angeregt (Kramer et al., 2006).
Geistige Aktivität und kognitive Leistungsfähigkeit
Je nach Ausbildung und täglichem Umgang mit kognitiven Ressourcen (‚Use it
or lose it‘) können kognitive, insbesondere fluide, Funktionen bei Älteren gegenüber Jüngeren defizitär sein, oder aber auf gleichem Niveau. Wie bereits dargelegt fördert geistige Herausforderung im Beruf die kognitive Leistungsfähigkeit.
Das gleiche gilt für den Alltag: Wer anspruchsvolle Hobbies pflegt, wie Gesellschaftsspiele und Tanzen, ist im Alter geistig fitter und entwickelt seltener eine
Demenz (z. B. Hultsch et al., 1999) (Verghese et al. 2003).
Die Frage ist, ob auch das Training einzelner oder mehrerer kognitiver Funktionen durch ein formales Traning verbessert werden können, wie es z. B. beim
Abschlussbericht ›Pfiff‹
Sport durch aerobes oder gezieltes Muskeltraining möglich ist, seine körperliche
Fitness insgesamt zu verbessern. Vor allem in den USA werden seit etlichen
Jahren erhebliche Anstrengungen zur Erforschung der Wirkung von kognitiven
Trainings auf kognitive Funktionen sowie Berufs- und Alltagsfähigkeiten aufgewandt (z. B. National Institute on Aging: Symposium on Cognitive Training for
Older Adults im Frühjahr 2004). Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass auch
im Alter kognitive, und insbesondere fluide, Funktionen (wie Aufgabenwechsel,
Doppeltätigkeit) gezielt trainiert und damit verbessert werden können. Ältere
lernen z. B. selbst komplexe Funktionen wie Doppeltätigkeit zu verbessern, und
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Abschlussbericht ›Pfiff‹
ihre Leistung nähert sich durch das Training der von Jüngeren an (z. B. Bherer et
al., 2005). In unserem Labor konnten wir kürzlich zeigen, dass die Leistung in
einer fahrähnlichen Doppelaufgabe (Fahren bei Seitenwind und eine zusätzliche
Aufmerksamkeitsaufgabe) durch Training bei Älteren bereits im Verlauf einer
Stunde erheblich verbessert werden konnte (Hahn, 2009). Auch hier nähert sich
die Leistung Älterer der Jüngerer allmählich an, während die Jüngeren eher auf
einem guten Niveau verharren und sich nur geringfügig verbessern.
Trainings-Studien mit großen Probandenzahlen und längerem Training zeigen,
dass sich die jeweils trainierte Funktion stark verbessert, die Übertragung des
Effekts auf andere, untrainierte Funktionen („Fern-Transfer“) aber eher gering ist
(z. B. Projekt ACTIVE; (Ball et al., 2002). „Nah-Transfer“, d. h. die Übertragung
des Effekts auf ähnliche Aufgaben, ist offenbar gegeben. Die Leistungsverbesserung bleibt also meist auf die trainierte Funktion beschränkt, jedoch nicht nur auf
die trainierte Aufgabe (z. B. (Willis & Schaie, 1986). Dies impliziert, dass man zur
breiten Förderung kognitiver Kompetenz im Alter nicht nur einzelne Funktionen,
wie logisches Denken oder Aufgabenwechsel, sondern möglichst viele Grundfunktionen trainieren sollte (Oswald, 2004; Willis & Schaie, 1986).
In der Tat konnte eine große Studie in Deutschland (SIMA) zeigen, dass ein
kombiniertes Training verschiedener kognitiver und psychomotorischer Funktionen bei Älteren eine deutliche positive Wirkung auf die kognitive Leistung hatte
und die Entwicklung einer Demenz markant verzögerte (Oswald, 2004; Willis &
Schaie, 1986). Kombinationen von Maßnahmen bzw. vielschichtige Trainingsprogramme sind anscheinend effektiver als das Training einzelner Funktionen.
Nah-Transfer bedeutet aber noch nicht zwingend, dass die im Labor gelernten
Leistungen sich auf den Alltag auswirken. Willis & Schaie konnten jedoch aus
der Kenntnis des kognitiven Leistungsstands recht gut die Leistungen in alltagsnahen Aufgaben vorhersagen. Zudem haben einige gut kontrollierte Laborstudien gezeigt, dass im Labor trainierte kognitive Funktionen Verbesserungen in
Alltags- und beruflichen Leistungen bewirken. Beispielsweise konnten (junge)
Piloten durch Training eines PC-Spiels ihre Flugleistungen erheblich verbessern
(Gopher, 1994). Aber auch Ältere konnten profitieren: So konnten ältere Tennisspieler durch perzeptuell-kognitives Training (verglichen mit unspezifischem
Training) ihre Leistungen im Tennis deutlich verbessern (Caserta et al., 2007),
und ältere Autofahrer konnten durch Training einzelner Aufmerksamkeits- und
Kontrollfunktionen im Labor ihre Fahrleistung im Fahrsimulator verbessern (N.
Cassavaugh & Kramer, 2009).
Dies bedeutet, dass die Übung einer Funktion (wie des Kurzzeitgedächtnisses)
diese vermutlich auch in anderen Kontexten und vor allem im Alltag verbessert.
Wichtig scheint hier eine Annäherung an die Alltagssituation. Beim Training des
Kurzzeitgedächtnisses sollte also möglichst ein alltagsnahes und -relevantes
Training verfolgt werden, z. B. das Merken von Gesichter-Namen-Verknüpfungen,
welches für den Alltag besonders hohe Relevanz hat. Formale Trainings sollten
Abschlussbericht ›Pfiff‹
also auch möglichst realitätsnahe Elemente enthalten. Dies ist z. B. beim sog.
Mentalen AktivierungsTraining MAT (Lehrl, 1994 ) der Fall, welches verschiedene
fluide kognitive Funktionen trainiert.
Relativ unklar ist, wie lange die Wirkung eines kognitiven Trainings anhält bzw.
wie oft und wie lange trainiert werden muss, um die Wirkung aufrecht zu erhalten. Hierzu gibt es wenig Forschung. Aus der oben erwähnten ACTIVE-Studie
ergab sich, dass ein Auffrischtraining (booster) die Leistungen erheblich verbesserte.
Wie ebenfalls bereits erwähnt, verbessert kognitiv stimulierende Aktivität, z. B.
komplexe Freizeitbeschäftigung wie Musizieren, die kognitive Kompetenz. Daraus lässt sich schließen, dass ständiges oder jedenfalls regelmäßiges Training
notwendig ist. Beim MAT wird tägliches aber kurzes Training empfohlen.
Geistige Aktivität oder kognitives Training führt nachweislich zu strukturellen
und funktionellen Veränderungen im Gehirn, wie an zwei Beispielen gezeigt
werden soll: Jonglieren, eine komplexe visumotorische Fertigkeit, führt zum Zellwachstum im visuellen Kortex und im Hippocampus, der bekanntlich eine Rolle
für das Kurzzeitgedächtnis spielt (Boyke et al., 2008). Eine Laborstudie aus dem
renommierten Karolinska-Institut, bei der das räumliche Kurzzeitgedächtnis trainiert wurde, zeigte verstärkte Aktivierung frontaler und parietaler Regionen nach
dem Training, die beide eine wichtige Rolle für fluide Funktionen spielen (Olesen
et al., 2004).
Es gibt verschiedene kognitive Trainings in Papier-und-Bleistift-Form (z. B.
Sudoku oder das bereits erwähnte MAT) wie auch als PC-basierte oder internetbasierte Programme. Erstere haben den Vorteil der optimalen und allgegenwärtigen Verfügbarkeit, letztere den Vorteil der automatischen Rückmeldung und
der flexiblen Adaptation an die aktuelle individuelle Leistung. Solche Programme
müssen sorgfältig selektiert und an die Bedürfnisse und Problembereiche Älterer
angepasst werden.
Sinnvoll erscheint schließlich auch die Entwicklung spezifischer kognitiver
Trainingsprogramme für ausgewählte Berufe, welches sich an den spezifischen
beruflichen Anforderungen und Strukturen orientieren. Ein solches Training würde gezielt die Beschäftigungsfähigkeit (vor allem älterer) Mitarbeiter fördern.
Ernährung und kognitive Leistungsfähigkeit
Verschiedene Nahrungsmittel und die in ihnen enthaltenen Wirkstoffe haben
offenbar einen starken Einfluss auf die geistige Leistungsfähigkeit und möglicherweise auch auf die Entwicklung von Demenzen, z. B. der Alzheimerschen
Demenz.
Dies sind vor allem bestimmte Fette, Früchte und Gemüse. Die im Wesentlichen für die kognitionsfördernde und Wirkung verantwortlichen Stoffe sind
Omega-3-Fettsäuren, Antioxidantien und Vitamine.
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Abschlussbericht ›Pfiff‹
Fette oder besser Fettsäuren spielen eine wesentliche Rolle für die kognitive
Effizienz im Alter. Fettsäuren sind meist langkettige Moleküle mit vielen Kohlenstoff-Atomen. Eine gesättigte Fettsäure ist eine Fettsäure, die keine Doppelbindungen aufweist. Einfach ungesättigte Fettsäuren (MUFA) besitzen eine Doppelbindung und mehrfach ungesättigte Fettsäuren (PUFA) haben zwei oder mehrere
Doppelbindungen zwischen den Kohlenstoffatomen der Kette. Omega-3- oder
n-3-Fettsäuren haben ihre erste Doppelbindung auf dem drittletzten Kohlenstoffatom der Kette. Gesättigte Fettsäuren stecken in Fleisch, Molkereiprodukten und
Backwaren, MUFA vor allem in Oliven- und Rapsöl und Omega-3-PUFA in Fisch.
Warum ist Fett – und zwar das richtige Fett – so wichtig für das Denken? Von
allen Organen des menschlichen Körpers hat das zentrale Nervensystem – und
damit das Gehirn – den größten Fettanteil. Das Gehirn, die Netzhaut und andere
neuronale Gewebe haben dabei einen besonders hohen Gehalt an PUFA. PUFA
sind primärer Bestandteil neuronaler Membranen. Zudem beeinflussen sie
Entzündungsprozesse im zentralen Nervensystem: Während Omega-6-PUFA
eher entzündungsfördernd wirken, sind Omega-3-PUFA entzündungshemmend.
Quelle von Omega-6-PUFA sind pflanzliche Öle, die wichtigste Quelle von
Omega-3-PUFA ist fetter Fisch.
Der Verzehr von Fisch scheint das Risiko eines kognitiven Abbaus im Alter zu
verringern. Mehrere Verlaufs-Studien konnten einen Zusammenhang zwischen
Fischkonsum und kognitivem Status sowie der Entwicklung von Demenzen bei
Älteren nahe legen. In einer vielzitierten Studie, die in den Archives of Neurology
publiziert wurde, beobachteten Wissenschaftler des Rush Instituts für gesundes
Altern in Chicago über 800 Ältere (65- bis 94-Jährige) über einen Zeitraum von
vier Jahren (Morris et al., 2003). Teilnehmer, die wenigstens ein Mal pro Woche Fisch aßen, hatten ein 60% geringeres Risiko, eine Demenz zu entwickeln
als Fischverächter. Diese Relation blieb auch bestehen, wenn der Einfluss des
Verzehrs anderer Fette, von Vitamin E sowie der kardiovaskuläre Zustand in
Betracht gezogen wurde. In einer umfangreichen Nachfolgestudie der Autoren
mit mehr als 3000 über 65-Jährigen wurde der Verlauf der kognitiven Leistung
im Alter über einen Zeitraum von sechs Jahren verfolgt. Es zeigte sich, dass
der geistige Abbau bei Studienteilnehmern, die ein- oder mehrmals pro Woche
Fisch aßen, deutlich geringer war als bei Teilnehmern, die keinen Fisch aßen.
Verglichen mit Personen, die seltener als einmal pro Woche Fisch aßen, war der
geistige Abbau bei Personen, die einmal pro Woche Fisch aßen 10% langsamer,
und bei denjenigen, die zweimal pro Woche Fisch aßen 13% langsamer (Morris
et al., 2005).
Insgesamt gibt es eine überwältigende Evidenz für positive Effekte von Omega3-Fettsäuren auf die geistige Leistungsfähigkeit und die Prävention von Demenz.
Omega-3-Fettsäuren finden sich nicht nur in Fisch oder Meeresfrüchten, sondern
auch in pflanzlichen Ölen, wie Rapsöl, Leinsamenöl und Nussöl (v. a. in Walnüssen), sowie in Fleisch und Eiern (Meyer et al., 2003). Daher erscheint es zur
Erhaltung der geistigen Leistungsfähigkeit wichtig, nicht nur den den Fischkonsum zu erhöhen, sondern den Verzehr von jedweder Nahrung mit hohem Gehalt
Abschlussbericht ›Pfiff‹
an Omega-3-Fettsäuren.
Fleisch von Tieren aus Stallhaltung enthält allerdings nur wenig Omega-3Fettsäuren. Im EU-Projekt „Healthy Beef“, an dem Forscher aus England, Irland, Frankreich, Belgien und Deutschland beteiligt waren, wurde gezeigt, dass
Rinder, die während der Sommerperiode auf der Weide grasten, im Mittel eine
dreifach höhere Anreicherung von Omega-3-Fettsäuren gegenüber Rindern aus
der Stallzucht aufwiesen. Diese Daten sprechen also klar dafür, zum Erhalt der
kognitiven Leistungsfähigkeit Fleisch, wenn man es denn isst, aus Weidehaltung
zu bevorzugen.
Während Fisch Omega-3-Fettsäuren enthält, die wichtige Bausteine für Nervenzellen sind, entfalten Gemüse und Früchte ihre Wirkung v.a. wegen ihrer antioxidativen Eigenschaften. Antioxidantien verhindern die Oxidation (das „Rosten“)
empfindlicher Moleküle durch sog. freie Radikale, die natürlicherweise beim
Zellstoffwechsel entstehen, also bei der Gewinnung von Energie aus Nahrung
und Sauerstoff (Grune 2005). Die Antioxidantien fungieren als Radikalenfänger
und schützen die empfindlichen Moleküle. Unzureichendes Abfangen freier Radikale über eine längere Zeit oder Überproduktion von Radikalen können zu ihrer
Anhäufung führen, was als „oxidativer Stress“ bezeichnet wird. Oxidativer Stress
wird als eine Hauptursache des Alterungsprozesses angesehen (Grune, 2005).
Das Gehirn ist besonders anfällig für Oxidationen, v. a. wegen seines hohen
Sauerstoffumsatzes und seiner empfindlichen Zellmembranen mit den darauf
befindlichen Strukturen, z. B. Rezeptoren. Auch Proteine und die DNS, der Träger
der Zellinformation, reagieren empfindlich auf oxidativen Stress. Die Oxidation
zentraler Moleküle (Proteine, DNS, Lipide) kann direkt zu Fehlfunktionen führen.
Die Oxidation eines Enzyms kann zu seinem Funktionsverlust führen, und die
Oxidation von Membranlipiden zum Aufbrechen der Zellmembran und damit
zum Zelltod.
Bei milder geistiger Beeinträchtigung im Alter sind, ähnlich wie bei der Alzheimer-Demenz, Antioxidantien im Blut verringert. Daher scheint der Verzehr von
Antioxidantien wichtig, um dem Übergang in eine volle Demenz vorzubeugen
(Rinaldi et al., 2003).
In einer sehr umfangreichen Studie der Harvard School of Public Health
wurden der Einfluss des Verzehrs von Gemüse und Früchten auf die kognitive
Leistungsfähigkeit und ihre Veränderung mit dem Alter untersucht und in der
renommierten Zeitschrift Annals of Neurology publiziert (Kang et al., 2005).
Mehr als 13000 ältere Frauen (70 plus) wurden über einige Jahre hinsichtlich ihrer Essverhaltens beobachtet und hinsichtlich ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit
beurteilt. Hierbei wurde die kognitive Leistungsfähigkeit zwischen denjenigen
Personen verglichen, die besonders viel und besonders wenig Obst und Gemüse verzehrten. Bei der Aufteilung in die Nahrungsmittel-Untergruppen zeigte
sich eine bessere Leistungsfähigkeit insbesondere für das Kurzzeit-Gedächtnis
bei Personen mit starkem Verzehr von Kohl und anderen Kreuzblütlern sowie
Blattgemüse. Zudem zeigte sich ein geringerer Abfall der kognitiven Leistungs-
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fähigkeit über die zwei Beobachtungsjahre bei Vielessern im Vergleich zu Wenigessern von Gemüse. Überdies gab es einen linearen Zusammenhang: Je
mehr Gemüse gegessen wurde, desto geringer war die Abnahme der kognitiven
Leistungsfähigkeit. Auch hier war der Effekt im Wesentlichen nur bei den Gedächtnisaufgaben zu sehen, und bei grünem Gemüse, Kohl und Hülsenfrüchten.
Insgesamt ist es klar, dass der Verzehr von Gemüse und Obst über verschiedene Mechanismen, insbesondere antioxidative Eigenschaften, die kognitive
Leistungsfähigkeit im Alter fördert. Gemüse und Obst sollten in großen Mengen
verzehrt werden. Eine ideale Quelle für Antioxidantien, die immer verfügbar ist,
ist Trockenobst.
Kaffee ist reich an Polyphenolen und hat daher einen Effekt auf die kognitive
Leistung (z. B. van Duinen et al., 2005). Eine neuere, groß angelegte Studie des
Nationalen Instituts für Öffentliche Gesundheit der Niederlande in Bilthoven
(FINE) mit über 600 älteren Männern hat ebenfalls gezeigt, dass der Konsum
von Kaffee (optimalerweise 3 Tassen/Tag) den kognitiven Abbau deutlich verringert (van Gelder et al., 2007). Ähnlich günstige Wirkung auf kognitive Leistungen
scheint grüner Tee zu haben. Der Konsum von wenigstens einer Tasse Grüntee
pro Tag ging mit erhöhten Leistungen in einem bekannten kognitiven Test, dem
MMST, einher (Kuriyama et al., 2006).
Darüber hinaus wurde in verschiedenen Studien gezeigt, dass leichter Alkoholkonsum insgesamt einen günstigen Effekt auf die geistige Fitness und deren
Rückgang im Alter zu haben scheint. Eine große Studie zur Alkoholwirkung, die
English Longitudinal Study of Ageing (ELSA), wurde mit über 6000 über 50-Jährigen durchgeführt, wobei die kognitive Leistungsfähigkeit durch drei einfache
Tests zum Kurzzeitgedächtnis, Rechnen und zeitlicher Orientierung erfasst wurde.(Lang et al., 2007). Teilnehmer, die Alkohol (in mäßigen Dosen) konsumierten, hatten insgesamt bessere kognitive Leistungen als Abstinenzler. Alkohol
wirkt offenbar in mäßiger Dosierung schützend auf das kardiovaskuläre System;
daher wird von einigen Wissenschaftlern angenommen, dass die kognitive
Schutzwirkung über das Gefäßsystem des zentralen Nervensystems vermittelt
wird. Eine andere Vermutung ist, dass Alkohol in Maßen über seine Förderung
der sozialen Interaktion wirkt.
Insgesamt scheinen Alkohol und Antioxidantien additiv zu wirken, sodass
der Genuss von Rotwein (er enthält das sehr potente Antioxidans Resveratrol)
optimal zur Erhaltung der kognitiven Leistungsfähigkeit im Alter erscheint. Sehr
wichtig ist hierbei die Menge: max. 1-2 Gläser Rotwein pro Tag reichen; stärkeres
Trinken kann (abgesehen von den bekannten Wirkungen auf die Leber) auch
zum Abbau wichtiger Hirnstrukturen, wie dem Kleinhirn, führen (Piguet et al.,
2006).
Die Literatur zeigt konsistent eine günstige Wirkung bestimmter Nahrungsmittel auf die kognitive Leistungsfähigkeit sowie auf die verzögerte Entwicklung
einer Demenz. Diese Nahrungsmittel sollten verstärkt verzehrt werden, wobei
Abschlussbericht ›Pfiff‹
auf eine ausreichende Menge zu achten ist (i. W. 5 Portionen Obst, Gemüse und
Nüsse pro Tag, 2 Portionen Fisch pro Woche, Kaffee und Grüntee, etwas Rotwein).
Fazit
Insgesamt ergibt sich überzeugende Evidenz für die positive Wirkung verschiedener Einflussfaktoren auf die kognitive Kompetenz im allgemeinen und
die geistige Fitness Älterer im besonderen. Die Faktoren sind geistig anregender
Lebensstil und geistig anspruchsvolle Arbeit, sowie körperliches und geistiges
Training. Idealerweise sollte die tägliche Arbeit geistig und körperlich anregen
und trainieren. Wenn dies nicht realisierbar ist, sollte ein individuelles körperliches und kognitives Training in der Freizeit erfolgen. Ergänzend sollte der angemessene Umgang mit Stressoren gelernt und im Alltag umgesetzt werden.
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Wilson, R. S., Beckett, L. A., Bennett, D. A., Albert, M. S., & Evans, D. A. (1999).
Change in cognitive function in older persons from a community population:
relation to age and Alzheimer disease. Archives of Neurology, 56(10), 1274-1279.
29
30
Abschlussbericht ›Pfiff‹
Dr. rer. nat. Patrick D. Gajewski studierte Psychologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf mit dem Schwerpunkt biologische Psychologie. Von 2001 bis 2007
war er beschäftigt als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arbeitsphysiologie
(heute: Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU-Dortmund; IfADo) im Rahmen eines DFG-Schwerpunktprogramms „Exekutive Funktionen“, in dem funktionale
Mechanismen von höheren kognitiven Funktionen bei Menschen erforscht wurden.
Gleichzeitig war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Experimentelle Biologische Psychologie an der HHU Düsseldorf bei Prof. Petra Stoerig. Dort arbeitete er
mit Hilfe elektrophysiologischer Verfahren an der Erforschung von Handlungskontrolle und Gesichterverarbeitung. Im Jahre 2005 promovierte er zum Thema „Enkodierungsprozesse beim Aufgabenwechsel“ an der mathematisch-naturwissenschaftlichen
Fakultät der HHU in Düsseldorf. Ab 2005 kooperierte er mit der Arbeitsgruppe von
Prof. M. Falkenstein zum Thema „Elektrophysiologische Korrelate von Aufgabenwechseln“. Seit Oktober 2007 arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der
Arbeitsgruppe „Altern und ZNS-Veränderungen“ im Bereich der alters- und trainingsbedingten Veränderungen von kognitiven Kontrollfunktionen.
Dr. Patrick Gajewski
Leibniz-Institut für Arbeitsforschung an der TU Dortmund
[email protected]
Abschlussbericht ›Pfiff‹
Patrick Gajewski, Michael Falkenstein Fluide kognitive Funktionen bei Beschäftigten
in der Automobilindustrie
Zusammenfassung
Die psychophysiologische Untersuchung bei der Adam Opel GmbH verfolgte
die Frage, inwieweit sich ältere von jüngeren Arbeitnehmern hinsichtlich ihrer
kognitiven Basis- und Kontrollfunktionen unterscheiden und wie diese Funktionen durch langfristige Arbeitsplatzanforderungen beeinflusst werden. Eine PCgestützte Testbatterie ermöglichte die Erfassung von kognitiven Funktionen wie
Flexibilität, Arbeitsgedächtniskapazität, Daueraufmerksamkeit sowie Hemmung
von habituellen Reaktionen. Die Ergebnisse zeigen, dass Ältere keine Defizite
beim schnellen Wechsel zwischen Aufgaben haben, was auf eine weitgehend
gut erhaltene kognitive Flexibilität hinweist. Allerdings weisen ältere Beschäftige Arbeitsgedächtnis- und Daueraufmerksamkeitseinbußen auf. Die älteren
Beschäftigten aus dem Qualitätssicherungssektor erbrachten deutlich bessere
Leistungen als die älteren Arbeitnehmer aus dem Bereich der Fließbandmontage, trotz eines gleichen Bildungsniveaus und sogar geringfügig höheren Alters.
Diese Unterschiede waren auch in hirnphysiologischen Maßen erkennbar. Bei
den jüngeren Beschäftigten zeigt sich dagegen kein wesentlicher Unterschied für
die Arbeitstypen.
Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass altersbedingte Beeinträchtigungen der
Kontrollfunktionen durch stereotype Arbeit verstärkt werden könnten, während
ältere Beschäftigte mit flexiblen Arbeitsanforderungen anscheinend über gute
Kompensationsfähigkeiten verfügen.
Veränderung kognitiver Funktionen im Alter
Kognitive Funktionen kann man in sogenannte kristalline und fluide Funktionen unterteilen. Alles Verhalten wird über diese Funktionen realisiert. Kristalline
Funktionen sind z. B. Erfahrungswissen und Urteilsvermögen, also eher stabiles
gespeichertes Wissen (Repräsentation) und der Umgang damit. Erfahrungswissen und Urteilsvermögen sind bei Älteren sehr gut ausgeprägt und in der Regel
wachsen sie auch noch mit dem Lebensalter. Fluide oder Kontroll-Funktionen
sind zum Beispiel der Wechsel von Aufmerksamkeit und Aufgaben, schnelle
Informationsverarbeitung und Reaktion, die gleichzeitige Ausführung von zwei
oder mehr Tätigkeiten, die Unterdrückung ablenkender irrelevanter Information,
das ständige Auffrischen des Arbeitsgedächtnisses und die Planung von Handlungssequenzen. Bei diesen Funktionen zeigen sich im Alter gewisse Einbußen,
wie in Abbildung 2 illustriert.
Die beiden feinen grünen Linien in der Abbildung 1 geben die Bandbreite an,
31
32
Abschlussbericht ›Pfiff‹
Abb. 2: Veränderung von
kristallinen und fluiden kognitiven Funktionen als Funktion
des Alters
mit der sich diese Abnahme vollziehen kann. Es gibt Ältere, die keine Defizite
zeigen. Das heißt, dass es keine schicksalhafte Abnahme im Bereich dieser
Funktionen gibt. Wenn man nun Labortests hierzu durchführt, dann sieht man,
dass fluide Funktionen bei Älteren manchmal beeinträchtigt sind. Es ist jedoch
gar nicht so leicht, Versuche zu entwickeln, in denen diese Beeinträchtigungen
in nennenswerter Stärke zum Tragen kommen. Nennenswerte Unterschiede sind
eine Verlangsamung der Reaktionszeit um mehr als 60 Millisekunden oder eine
um wenige Prozentpunkte erhöhte Fehlerrate. Dennoch gibt es Bereiche, in denen Ältere ganz klare Defizite aufweisen. Diese Defizite hängen außerdem vom
Bildungs- und Trainingsgrad ab.
Die untersuchten Funktionen sind wichtig für den Beruf und den Alltag und
können sich aufgrund von ungünstigen Lebensumständen (falsche Ernährung,
Bewegungsmangel oder ungünstige Arbeitssituation) defizitär entwickeln.
Alle kognitiven Funktionen werden in den neuronalen Netzwerken durch den
Austausch elektrischer Signale realisiert. Mit Hilfe des Elektroenzephalogramms
lassen sich die dabei entstehenden Spannungsschwankungen auf der Kopfoberfläche messen. So können die einzelnen Schritte der Informationsverarbeitung
untersucht werden.
Was wird mit dem EEG (Elektroenzephalogramm) gemessen?
Durch die Aufzeichnung der Hirnströme kann man einzelne kognitive Prozesse objektiv messen und quantifizieren. Hierdurch können Ursachen von Verhaltensdefiziten geklärt sowie latente Veränderungen bei Älteren detektiert werden.
Die wichtigsten kognitiven Funktionen, die wir untersuchen, sind Aufmerksamkeit, Arbeitsgedächtnis, Reaktionsauswahl, -vorbereitung, -aktivierung oder
-hemmung. Außerdem lässt sich mit der Methode die Verarbeitung von Fehlern, die Rückmeldung über das eigene Verhalten oder das Ausmaß an Konflikt
Abschlussbericht ›Pfiff‹
zwischen zwei Informationen oder Reaktionen analysieren. Das EEG hat eine
exzellente zeitliche Auflösung und ist relativ leicht anzuwenden. Die EEG-Signalabschnitte werden zeitgleich zu einem bestimmten Ereignis (Reiz, Reaktion oder
Rückmeldung) gemittelt.
Durch die Mittelung entsteht ein ereigniskorreliertes Potential (EKP), in dem
systematische Potentialschwankungen hervorgehoben und nichtsystematische
(Rauschen) unterdrückt werden (s. Abb. 2). Damit lassen sich Schlüsse ziehen ‚wann‘ (durch die Latenz bestimmter EKP-Komponenten), ‚wo‘ (durch ihre
räumliche Verteilung) und mit ‚welcher Intensität‘ (durch ihre Amplitude) ein
Informationsverarbeitungsschritt im Gehirn stattfindet. Für die Untersuchung
der kognitiven Mechanismen werden standardisierte experimentelle Aufgaben
verwendet, die ein Modell für geistige Anforderungen in der realen Welt darstellen.
Die Untersuchung kognitiver Funktionen bei Beschäftigten
der Adam Opel GmbH in Bochum
Die vorliegende Untersuchung verfolgte die Frage, inwieweit sich die fluiden
Funktionen zwischen älteren und jüngeren Arbeitnehmern unterscheiden und
wie langfristige Arbeitsbedingungen diese Funktionen im Alter beeinflussen.
Weiterhin sollte untersucht werden, ob sich diese Veränderungen auf hirnphysiologischer Ebene manifestieren. Insbesondere wurden Kontrollfunktionen, wie
kognitive Flexibilität und Arbeitsgedächtnis in den Blick genommen.
Als Probanden wurden 91 ältere und jüngere Arbeitnehmer aus der Linienfertigung (Produktion und Montage) und aus der Instandhaltung und Qualitätssicherung des Opel-Werks rekrutiert:
33
Abb. 3: Beispiel für ein
erreigniskorreliertes Potential (EKP). Dargestellt ist ein
Potential (N1), das synchron
zur Reizpräsentation gemittelt
wurde. Diese sogenannte N1Komponente (N für negativ)
erreicht ihr Maximum 153 ms
nach dem Reizauftritt und ist
am stärksten an den visuellen
Hirnregionen an der Elektrode
O2 ausgeprägt. Die Amplitude der N1 ist u.a. sensitiv für
die Ausrichtung der visuellen
Aufmerksamkeit.
34
Abschlussbericht ›Pfiff‹
–– Gruppe 1:
23 ältere Linienarbeiter, Durchschnittsalter 50 Jahre (48-54), seit durchschnittlich 22 Jahren am Fließband
–– Gruppe 2:
23 junge Linienarbeiter, Durchschnittsalter 24 Jahre (19-28), seit durchschnittlich 3 Jahren am Fließband
–– Gruppe 3:
23 ältere Instandhalter, Durchschnittsalter 52 Jahre (48-58), seit durchschnittlich 28 Jahren in der Instandhaltung
–– Gruppe 4:
22 junge Auszubildende, Durchschnittsalter 20 Jahre (18-30), seit durchschnittlich 2 Jahren im Betrieb
Aufgaben zur Messung der kognitiven Flexibilität und Arbeitsgedächtnis
Das Aufgabenwechselparadigma wird als ein Modell für den Einfluss eines
ständigen Wechsels der Umweltanforderungen auf das kognitive System eingesetzt. Gleichzeitig kann damit ein endogen angestoßener Wechsel untersucht
werden. Mit diesem experimentellen Paradigma lassen sich zwei fluide Kontrollfunktionen untersuchen: kognitive Flexibilität und Arbeitsgedächtnis.
Abschlussbericht ›Pfiff‹
35
Abb. 4: Schematische Darstellung eines Versuchsdurchgangs. Zunächst wird kurz ein
Punkt präsentiert, der fixiert
werden soll. Danach erscheint
eine Zahl (Zielreiz), die nach
einer bestimmten Regel kategorisiert werden soll (s. dazu
Text).
In der reizbasierten Variante
kündigt ein Hinweisreiz (im
Beispiel: NUM) die verlangte
Aufgabenregel an. In der
gedächtnisbasierten Variante
wechselt die Aufgabenregel
alle drei Durchgänge. Ein Hinweisreiz wird nicht präsentiert,
sondern lediglich ein Platzhal-
In dem verwendeten Testdesign wurde in jedem Durchgang eine Zahl von 1
bis 9 ausgenommen 5 für 300 ms dargeboten. Je nach Aufgabenart sollten die
Probanden die Zahlen danach kategorisieren, ob die Zahl:
a) kleiner oder größer als 5 ist (NUM für numerisches Urteil),
b) gerade oder ungerade ist (GER für Geradzahligkeit) und
c) ob sie in kleiner oder großer Schrift erscheint (SCH für Schriftgröße).
Die Antwort sollte mit einer von zwei Tasten (links oder rechts) so schnell wie
möglich erfolgen.
Zunächst wurden die drei Aufgabenregeln in separaten Blöcken bearbeitet.
In dieser Bedingung ist die Gedächtnisbelastung minimal, weil jeweils nur ein
Aufgabentyp relevant ist.
In dem ersten Mischblock wurden alle drei Aufgabenregeln in einer zufälligen
Reihenfolge präsentiert. In dieser Bedingung ist die Gedächtnisbelastung mittelgroß, denn alle drei Aufgabentypen kommen zwar gemischt vor, die relevante
Aufgabe wird aber durch einen Reiz angezeigt (exogener Wechsel).
Im nachfolgenden Block wurden die Aufgaben in einer festen Reihenfolge bearbeitet, ohne dass der Aufgabentyp durch einen Reiz angezeigt wurde. In dieser
Bedingung wechselt der Aufgabentyp alle drei Durchgänge. Die Aufgabenfolge
muss aus dem Gedächtnis abgerufen werden, wodurch eine starke Gedächtnisbelastung auftritt (endogener Wechsel).
Ergebnisse
Die Reaktionszeiten und Fehlerraten stellt die Tabelle 1 dar.
Die sogenannten ‚Mischkosten‘ stellen ein Maß für die Arbeitsgedächtnis-
ter (XXX). Die Abfolge der Aufgabenregeln muss aus dem
Gedächtnis abgerufen werden.
Nach einem Tastendruck
erscheint eine Rückmeldung,
ob die Reaktion richtig (grün)
oder falsch war (rot). Anschließend erscheint der Fixationspunkt für den nachfolgenden
Durchgang.
36
Abschlussbericht ›Pfiff‹
randomisierte Abfolge
einfach
Wiederholung
feste Abfolge
Wechsel
Wiederholung
Wechsel
Gruppe
RZ
FR
RZ
FR
RZ
FR
RZ
FR
RZ
FR
AL
572
3,2
1000
11,8
1166
13,0
799
17,2
890
14,2
JL
492
3,5
898
10,0
1006
9,2
614
9,2
694
8,2
AQ
539
1,9
987
5,7
1157
6,1
730
7,9
831
9,1
JQ
477
4,6
860
13,4
1001
12,9
594
12,1
673
12,0
Tab. 1: Deskriptive Statistiken.
Reaktionszeiten (RZ in ms)
und Fehlerraten (FR in %) in
den einfachen (kein Aufgabenwechsel) und gemischten Blöcken mit randomisierter und
fester Abfolge der Aufgaben
für alle 4 Probandengruppen:
ältere Linienproduktion (AL),
belastung dar. Die Kosten werden berechnet, indem für jeden Probanden die
Leistung in einfachen Blöcken ermittelt und mit den Wiederholungen der Aufgaben aus den gemischten Blöcken verglichen wird. Da man in den gemischten
Blöcken (insbesondere in Blöcken ohne Hinweisreize) alle drei Aufgabenregeln
parat halten muss, ist die Gedächtnisbelastung höher als bei den einfachen
Aufgaben. Die Mischkosten sind unterschiedlich stark ausgeprägt, je nachdem
ob die Aufgaben durch einen Hinweisreiz angekündigt oder aus dem Gedächtnis
heraus aktiviert werden.
junge Linienproduktion (JL),
ältere Qualitätssicherung (AQ)
und junge Qualitätssicherung.
Abb. 5: Reaktionszeiten (in
ms) und Fehlerraten (in %)
in einfachen und gemischten
Blöcken mit zufälliger (reizbasiert; oben) und fester
Abfolge (gedächtnisbasiert;
unten) der Aufgaben für alle
4 Probandengruppen: ältere
Linienproduktion (AL), junge
Linienproduktion (JL), ältere
Qualitätssicherung (AQ) und
junge Qualitätssicherung (JQ)
Abbildung 5 stellt die Mischkosten als verlängerte Reaktionszeiten und Fehlerraten bei gemischten relativ zu konstanten Blöcken dar, wenn die Aufgaben
durch einen Hinweisreiz angekündigt werden (oben) und wenn die Aufgabenfol-
Abschlussbericht ›Pfiff‹
Abb. 6: Ereigniskorrelierte Potentiale (EKPs) in einfachen Blöcken (oben) und einem gedächtnisbasierten Mischblock (unten). Links: auf den Reiz (S) bezogene Potentiale zeigen die sog. P3, die die
Zuordnung von Reiz und Reaktion widerspiegelt und damit die Funktion des Arbeitsgedächtnisses.
Sie wird auch als ein Maß für die Zuordnung von kognitiven Ressourcen verwendet. Rechts: auf
die Reaktion (R) bezogene Potentiale zeigen die sog. Ne (Fehlernegativität), die die Fehlerdetektion widerspiegelt. Arbeitsgedächtnis und Fehlerdetektion sind insbesondere bei den älteren
Linienarbeitern abgeschwächt. Ältere Linienproduktion (AL), junge Linienproduktion (JL), ältere
Qualitätssicherung (AQ) und junge Qualitätssicherung (JQ).
ge aus dem Gedächtnis abgerufen werden muss (unten). Ältere Teilnehmer sind
grundsätzlich langsamer als junge. Das Ausmaß der Mischkosten unterscheidet
sich jedoch nicht zwischen jungen und älteren Teilnehmern, wenn die Aufgaben
reizbasiert indiziert werden (Abb. 4 oben links). Die wenigsten Fehler machen
ältere Beschäftigte aus dem Bereich der Qualitätssicherung (oben rechts).
Alle Teilnehmergruppen nutzen das Wissen über die Aufgabenreihenfolge.
Dies führt zu schnelleren Reaktionszeiten als bei zufälliger Aufgabenreihenfolge (vgl. links unten vs. links oben). Allerdings sind die Mischkosten bei älteren
höher als bei jungen Personen, wenn die Aufgabenabfolge aus dem Gedächtnis
abgerufen werden soll. Das hängt offenbar mit der Schwierigkeit zusammen,
mehrere Aufgaben und die Aufgabenabfolge simultan im Gedächtnis aufrecht
zu erhalten und/oder selektiv die relevante Aufgabe zum richtigen Zeitpunkt
37
38
Abschlussbericht ›Pfiff‹
auszuwählen. Hinsichtlich der Fehlerraten schneiden die älteren Beschäftigten
aus dem Bereich der Produktion überproportional schlecht ab. Dies findet sich
ebenfalls in den elektrophysiologischen Befunden wider.
Abbildung 6 stellt die entsprechenden ereigniskorrelierten Potentiale aus einem einfachen und einem gedächtnisbasierten Block dar.
Die P3, die etwa 400 Millisekunden nach der Reizpräsentation auftritt und
mit Aktualisierung von Gedächtnisinhalten oder Zuordnung von kognitiven
Ressourcen bei Aufgabenbearbeitung in Verbindung steht, unterscheidet sich
nicht bei beiden Gruppen älterer Beschäftigter in den einfachen Blöcken (Abb.
5 links oben). Sie ist aber deutlich abgeschwächt im gemischten Block, wenn
das Gedächtnis stark belastet ist. Die Fehlernegativität (Ne), die in Folge einer
falschen Reaktion auftritt (Abb. 5 rechts), ist bei den älteren Beschäftigten aus
dem Produktionsbereich deutlich abgeschwächt, was als Beeinträchtigung der
Fehlerwahrnehmung interpretiert werden kann.
Die ‚spezifischen Wechselkosten‘, die als Maß für die Flexibilität des kognitiven
Systems interpretiert werden, wurden in den gemischten Blöcken ermittelt. Dazu
wurden die Reaktionszeiten in dem ersten Durchgang, nach dem die Aufgabe
gewechselt hat, mit Wiederholungen der Aufgaben in dem gleichen Block verglichen (z. B. NUM GER vs. NUM NUM).
Abschlussbericht ›Pfiff‹
Ergebnisse: Ältere Probanden sind konsistent langsamer als junge (Tab. 1).
Bei den Aufgaben, in denen ein endogener Wechsel gefordert wird, sind ältere
Beschäftigte aus dem Bereich Produktion (AL) langsamer als ältere aus dem
Bereich Instandhaltung/Qualitätssicherung (AQ).
Dieser Unterschied verschwindet, wenn der Wechsel exogen angestoßen wird.
Dieses Muster trifft ebenfalls auf die Anzahl der Fehler zu. Ältere Linienarbeiter
könnten also eher daran gewöhnt sein, auf extern vorgegebene Anforderungen
zu reagieren.
Wichtiger ist die Beobachtung, dass das Ausmaß der spezifischen Wechselkosten sich nicht zwischen jungen als auch älteren Produktions- und Nichtproduktionsbeschäftigten unterscheidet. Mit anderen Worten: Die Fähigkeit zum schnellen Wechseln zwischen den Aufgaben als ein Maß für die kognitive Flexibilität
unterscheidet sich nicht zwischen jungen und alten Probanden.
Die Ergebnisse zeigen, dass die Fähigkeit zum schnellen Wechsel zwischen
Aufgaben (spezifische Kosten) weder durch das Alter noch durch die Arbeitsplatzanforderungen moduliert wird. Allerdings treten bei älteren Beschäftigten
insbesondere aus dem Produktionsbereich Leistungseinbußen ein, wenn Aufgaben im Arbeitsgedächtnis aufrechterhalten und selektiv aktiviert werden müssen
(Mischkosten). Während die älteren Beschäftigten aus dem Qualitätssicherungssektor die niedrigste Fehlerrate von allen Probandengruppen aufweisen, nimmt
die Fehlerrate bei den älteren Produktionsarbeitern überproportional zu. Diese
Beobachtung geht mit einer Reihe von elektrophysiologischen Befunden einher,
in denen die Zuteilung von kognitiven Ressourcen bei der Reiz-Reaktionsanalyse
(P3) als auch die Fehlerwahrnehmung (Ne) bei den älteren Montagearbeitern
beeinträchtigt zu sein scheinen. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die
Kontrollfunktionen bei den Beschäftigten der Linienproduktion stärker nachlassen, als bei den älteren Beschäftigten des Qualitätssicherungssektors trotz des
gleichen Bildungsniveaus und sogar geringfügig höheren Alters. Diese Beobachtungen lassen einen Zusammenhang zwischen hirnphysiologischen Veränderungen und langjähriger monotoner Tätigkeit vermuten.
Fazit: Während ältere Beschäftigte aus dem Qualitätssicherungssektor Geschwindigkeit gegen Genauigkeit austauschen, bestehen bei Fließbandbeschäftigten bereits ab ca. 50 Jahren ganz spezifische kognitive Defizite.
39
40
Abschlussbericht ›Pfiff‹
Prof. Dr. Joachim Zülch ist seit 2005 Inhaber des Lehrstuhls für Industrial Sales
Engineering an der Fakultät für Maschinenbau der Ruhr-Universität Bochum. Sein
wissenschaftlicher Werdegang begann 1985 am Institut für Arbeitswissenschaft der
Ruhr-Universität Bochum (IAW/RUB), wo er zum Dr. phil. promovierte und zunächst als wissenschaftlicher Assistent, später als Akademischer Rat und Oberrat
arbeitete. 2002 wechselte er zur Fakultät für Maschinenbau der RUB und wurde
Koordinator des Bachelor/Master-Studiengangs Sales Engineering and Product
Management. 2005 folgte die Professur an der Fakultät für Maschinenbau der RUB.
Seit 2000 ist er zudem Leiter des Europäischen Forschungszentrums für Business-toBusiness Management (eurom).
Die Stationen seiner unternehmerischen Tätigkeiten waren:
1990 Aufbau der INNOTEC GmbH & Co. KG am Technologiezentrum
an der RUB
1991 Aufbau des „Zentrums für Informationsverarbeitung
in der Produktion“ (Prof. Dr.-Ing. H. Schnauber,
IAW/RUB, Prof. Dr.-Ing. W. Maßberg, Fakultät für
Maschinenbau/RUB, Prof. Dr.-Ing. W. Seifert,
Fakultät für Maschinenbau/RUB
1994 – 2003 Geschäftsführender Mitgesellschafter der
INNOSYS GmbH Bochum
Seit 2004 Geschäftsführender Mitgesellschafter des
mib – Management Institut Bochum GmbH
Prof. Dr. Joachim Zülch
Ruhr-Universität Bochum
Fakultät für Maschinenbau
[email protected]
Dipl.-Psych. Catharina Stahn ist wissenschafltiche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für
Industrial Sales Engineering (ISE) der Ruhr-Universität Bochum. Nach dem Studium
arbeitete sie schwerpunktmäßig am Verbundprojekt InVirtO zu dynamischen Netzwerken sowie seit 2007 am Projekt „PFIFF“ – Programm zur Förderung und zum
Erhalt intellektueller Fähigkeiten für ältere Arbeitnehmer mit. Dabei führte sie ein
Stresstraining bei Beschäftigten der Adam Opel GmbH Bochum durch und war an
der Auswertung neuropsychologischer sowie arbeitsplatzbezogener Variablen beteiligt.
Abschlussbericht ›Pfiff‹
Joachim Zülch, Catharina Stahn Das Projekt PFIFF – Von der Wissenschaft zum
praxisorientierten Nutzen
1. Einfluss von Stress und Arbeitsplatzmerkmalen auf die geistige Leistungsfähigkeit: kurze Literatur-Übersicht und Analyse im Projekt PFIFF
Durch Wettbewerbsdruck, Internationalisierung und Einbindung neuer Technologien haben psychische Belastungen am Arbeitsplatz zugenommen (Flake
2001; Lenhardt 2005). Die durch psychische Belastungen direkt und indirekt
entstehenden Kosten werden mittlerweile ähnlich hoch wie jene für physische
Arbeitsbelastungen geschätzt (Kuhn 2002). Dabei ist Stress eine wesentliche
Einflussgröße auf die geistige Leistungsfähigkeit. Sowohl chronischer (Caswell
et al. 2003; Öhman et al. 2007) als auch akuter Stress (Fuchs und Flügge 2001;
Jelicic et al. 2004) wirken ungünstig auf die geistige Leistung.
Durch chronischen Stress kann das sog. „Burnout-Syndrom“ entstehen. Menschen, die unter diesem Syndrom leiden, haben oft Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsschwierigkeiten (Sandström et al. 2005). Gianaros et al. (2007) fanden
Beziehungen zwischen chronischem Stress und einer Abnahme der sog. „grauen
Substanz“ im rechten Teil des Hippocampus, einer Hirnregion, die das Lernen
und das Gedächtnis unterstützt.
Eine Studie aus dem Jahr 2007 (Öhman et al.) über den Zusammenhang zwischen chronischem Stress und Kognition zeigte, dass bei ambulant behandelten
41
42
Abschlussbericht ›Pfiff‹
Patienten, die unter chronischem Stress litten, Defizite bzw. Unterschiede in
verschiedenen Gedächtnisformen im Vergleich zu einer Kontrollgruppe auftraten. Die Patientengruppe berichtete ebenfalls über mehr subjektive Beschwerden
hinsichtlich der eigenen Gedächtnisleistung.
Bei Stress schüttet unser Gehirn Hormone aus: Noradrenalin und Cortisol
spielen in diesem Prozess eine besondere Rolle. Das Gehirn gibt aber nicht nur
Hormone bei Stressreaktionen ab, sondern empfängt sie auch gleichzeitig, wenn
wir einer unkontrollierbaren Belastung gegenüberstehen. Hüther (1997) nennt
dieses Phänomen „Zentrales Adaptationssyndrom“. Noradrenalin und Cortisol
haben großen Einfluss auf die Funktion des Gehirns, besonders im Hinblick auf
die neuronalen Verschaltungen: Bei kurzfristigen und kontrollierbaren Belastungen führt das Ausschütten von Noradrenalin zur Stabilisierung bestehender
Schaltkreise, was bedeutet, dass alle Verschaltungen im Gehirn, die zur Bewältigung genutzt werden, besser ausgebaut und effektiver gemacht werden.
Wenn eine Stressreaktion länger anhält, dann wird hingegen vermehrt Cortisol
produziert, was dazu führt, dass die neuronalen Strukturen nicht mehr so stabil
sind. Außerdem wird bei chronischem Stress die Kommunikation zwischen den
Nervenzellen eingeschränkt.
Abschlussbericht ›Pfiff‹
Chronischer Stress wirkt sich also nachteilig auf das Gehirn aus und kann uns
somit letztendlich in der Erfüllung von geistigen Anforderungen einschränken
(McEwen 1998).
Studien (Alderson & Novack 2002; Alexander et al. 2007; Kirschbaum et al.
1996; Lee et al. 2007; Lupien & Lepage 2001; Lupien et al. 2005; Oei et al. 2006;
Wolf et al. 2001), die den Effekt von Stresshormonen auf die Kognition untersucht haben, konnten die Beeinträchtigung von Gedächtnisleistungen nachweisen. Das Erfahren von Stress kann die Leistung im episodischen Gedächtnis
(Jelicic et al. 2004; Vondras et al. 2005) und im Arbeitsgedächtnis (Klein & Boals
2001a, 2001b) sowohl bei jungen als auch alten Personen (Caswell et al. 2003;
Lee et al. 2004; Lupien et al. 1997; Wolf et al. 1998) beeinträchtigen.
Die Beschaffenheit des Arbeitsplatzes hat ebenfalls einen großen Einfluss auf
die geistige Leistungsfähigkeit (Warr 1994). Einbußen machen sich bemerkbar,
wenn
–– geistige Funktionen durch die Tätigkeit in einem bestimmten Arbeitsfeld
nicht beansprucht und gefördert werden (Estryn-Behar et al. 2005),
–– monotone Tätigkeiten (Rowe & Kahn 1998) und Aufgaben mit stärkeren
manuellen und geringeren intellektuellen Anforderungen (Jorm et al.
1998; Schmand et al. 1997) im Berufsleben dominieren sowie
–– Nacht- und Schichtarbeit (Folkard 1996; Folkard & Akerstedt 2004; Folkard & Tucker 2003; Rouch et al. 2005) den Arbeitsablauf bestimmen.
Demgegenüber stehen Befunde zum positiven Einfluss bestimmter Tätigkeitsmerkmale: Es wurde gezeigt, dass sich geistige Aktivität positiv auf die fluide Intelligenz und Gedächtnisleistungen auswirkt (z. B. Hultsch et al. 1999; Schooler
& Mulatu 2001; Singh-Manoux et al. 2003; Wilson et al. 1999) und anspruchsvolle und komplexe Arbeit eine wichtige geistige Stimulierung zur Verringerung
des Altersabbaus darstellt (Bosma et al. 2003). Der positive Einfluss anspruchsvoller Tätigkeit auf die geistige Leistungsfähigkeit nimmt mit steigendem Alter
sogar zu (Schooler et al. 1999; Warr 1995). Eine ausführlichere Betrachtung von
Arbeitsplatzfaktoren auf die geistige Leistungsfähigkeit findet sich im Beitrag von
Wild-Wall und Falkenstein.
In einem weiteren Arbeitspaket wurde der Einfluss von bestimmten Arbeitsplatzmerkmalen (Zeitdruck, selbst- oder fremdbestimmte Arbeit) sowie stressbezogenen Faktoren auf die im Rahmen der neurophysiologischen Untersuchung
erhobenen kognitiven Funktionen untersucht. Diese Ergebnisse wurden ebenfalls auf signifikante Gruppenunterschiede hinsichtlich Faktoren wie
–– Lebensstil (z. B. Ernährung, Rauchen),
–– Arbeitsplatzmerkmale (Zeitdruck, selbst- oder fremdbestimmte Arbeit,
Umfeld) und Coping geprüft.
Dazu wurden u. a. folgende Fragebögen eingesetzt:
43
44
Abschlussbericht ›Pfiff‹
1. Fragebogen zum Modell beruflicher Gratifikationskrisen (Effort-reward imbalance at work questionnaire; ERI). Das Modell beruflicher Gratifikationskrisen
ist ein Modell zur Messung von psychosozialen Belastungen am Arbeitsplatz.
Es wird davon ausgegangen, dass das Erleben dauerhafter psychosozialer
Beanspruchung am Arbeitsplatz aus der mangelnden Balance zwischen hoher
beruflicher Verausgabung (effort) und niedrigen Belohnungschancen (reward)
resultiert. Eine berufliche Gratifikationskrise entsteht somit, wenn sich Menschen immer wieder stark verausgaben, ohne eine angemessene Belohnung zu
erhalten. Der Fragebogen besteht aus drei Subskalen:
–– „Verausgabung“ (Anforderungen der Arbeitsumwelt; je höher der Gesamtwert ausfällt, desto mehr Anstrengung wird erlebt).
–– „Belohnung“ (finanzielle und statusbezogene Aspekte, Anerkennung,
Arbeitsplatzsicherheit; ein niedriger Wert spiegelt eine geringe Erwartung
des Probanden hinsichtlich Belohnungen wider).
–– „berufliche Verausgabungsbereitschaft“ (overcommitment). Hohes
Overcommitment bedeutet, dass man sich bei der Arbeit extrem verausgabt und nicht in der Lage ist, eine distanziertere Haltung gegenüber
Arbeitsbelangen einzunehmen.
2. Copenhagen Psychosocial Questionnaire (COPSOQ). Beim COPSOQ-Fragebogen handelt es sich um ein Instrument zur Erfassung psychischer Belastungen (19 Skalen) und Beanspruchungen bei der Arbeit (6 Skalen) mit insgesamt
87 Items (verkürzte Version), wobei ein hoher Wert einer hohen Ausprägung auf
dieser Skala entspricht.
3. Work Ability Index (WAI). Beim Work Ability Index (auch Arbeitsfähigkeitsindex oder Arbeitsbewältigungsindex) handelt es sich um einen Fragebogen zur
Erfassung der subjektiven Arbeitsfähigkeit von Erwerbstätigen mit insgesamt 7
Dimensionen. Die Werte des WAI können als frühe Indikatoren für vorzeitigen
Erwerbsausstieg sowie Mortalität verwendet werden. Die Gesamtwerte für die
„Arbeitsfähigkeit“ werden in vier Gruppen eingeteilt (von „sehr niedrig“ bis
„sehr gut“).
Gruppenunterschiede
Die aufgeführten Ergebnisse zeigen die berechneten Mittelwerte der Gruppen.
Signifikante Gruppenunterschiede fanden sich z. B. beim Work Ability Index. Den
höchsten WAI-Wert wies die Gruppe „flexible Tätigkeit/junge Probanden“ auf
(42,52: „gute Arbeitsfähigkeit“), den niedrigsten Wert hatte die Gruppe „Linientätigkeit/alte Probanden“ (35,22: „niedrige Arbeitsfähigkeit“).
Eine Beispielfrage aus der Skala lautet: „Waren Sie in letzter Zeit aktiv und
rege?“
Hinsichtlich der Subskala „Soziale Beziehung und Führung“ des Copenhagen
Psychosocial Questionnaire zeigten sich ebenfalls signifikante Gruppenunter-
Abschlussbericht ›Pfiff‹
45
Abb. 7: Mittelwertsvergleiche
bei der Skala „Soziale Beziehung und Führung“ des
COPSOQ und beim Work
Ability Index
schiede. Den höchsten Mittelwert hatte die Gruppe „flexible Tätigkeit/junge
Probanden“ (66,43), den niedrigsten Wert die Gruppe „Linientätigkeit/alte Probanden“ (49,57).
Eine Beispielfrage aus der Skala lautet: „Wie oft erhalten Sie Hilfe und Unterstützung von Ihrem unmittelbaren Vorgesetzten?“
Bei der Subskala „Verausgabung“ des Fragebogens zum Modell beruflicher
Gratifikationskrisen (ERI) hatte die Gruppe „Linientätigkeit/alte Probanden“ den
46
Abschlussbericht ›Pfiff‹
höchsten (2,8), die Gruppe „flexible Tätigkeit/junge Probanden“ den niedrigsten
Mittelwert (1,68). Eine Beispielfrage aus der Skala lautet: „Im Laufe der letzten
Jahre ist meine Arbeit immer mehr geworden.“ Die Fragebogendaten wurden
nicht nur auf signifikante Gruppenunterschiede, sondern auch auf mögliche Beziehungen zu den gemessenen geistigen Funktionen untersucht. Dabei weisen
die berechneten Korrelationen auf mögliche Zusammenhänge zwischen den
erhobenen personenbezogenen und sozialen Faktoren, wie z. B. die erfahrene
soziale Unterstützung, die Arbeitsfähigkeit, die sozialen Beziehungen, Arbeitsplatzunsicherheit, die berufliche Verausgabungsbereitschaft, Führungsqualität
oder Burnout-Symptome und geistigen Funktionen wie Hemmungsprozesse,
Daueraufmerksamkeit und Arbeitsgedächtnis sowie die Reaktionsschnelligkeit
bei abweichenden, seltenen Reizen hin.
Abb. 8: Die Module des
PFIFF-Workshopkonzepts
2. Workshopkonzept und Maßnahmenkatalog
Auf Basis der Literaturrecherche und der Ergebnisse der modellhaften neurophysiologischen Untersuchung wurde zum einen ein Workshopkonzept nebst
Schulungsunterlagen zur Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit und der
individuellen Problembewältigungskompetenz der Beschäftigten entwickelt.
Zum anderen wurde ein Maßnahmenkatalog für die Akteure des betrieblichen
Gesundheitsschutzes verfasst, der arbeitsorganisatorische und qualifikatorische
Handlungsempfehlungen zu einer in geistiger Hinsicht altersgerechten Arbeitsgestaltung zusammenfasst.
Bei dem im Rahmen von PFIFF entwickelten modularen Workshopkonzept
handelt es sich um ein inhaltlich breit gefächertes Instrument, das zum Erhalt
und Aufbau der geistigen Leistungsfähigkeit beitragen soll.
Die Themenbereiche des Workshops gehen von Empfehlungen zu einer gesunden Lebensführung über die Vermittlung von Wissen zur Entstehung von Stress,
Abschlussbericht ›Pfiff‹
seinen Auswirkungen und möglichen Bewältigungsstrategien bis hin zu einem
Training zur Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit.
Durch die Konzeption des Workshopkonzepts wird die Möglichkeit zur Anpassung der einzelnen Module des Trainings an die spezifischen Rahmenbedingungen des Unternehmens geboten.
Das Workshopkonzept besteht aus folgenden Modulen:
1. Stress und Stressbewältigung
2. die Rolle von Kognitionen im Stressgeschehen
3. die Rolle sozialer Unterstützung im Stressgeschehen
4. Ernährung, Sport, Lebensführung
5. geistiges Training sowie
6. Empfehlungen zur Arbeitsgestaltung
Die Inhalte des Workshops sollen sowohl Unternehmer, das betriebliche
Gesundheitsmanagement und Personalverantwortliche als auch den einzelnen
Arbeitnehmer ansprechen, um der Verantwortlichkeit der Organisationen als
auch des Einzelnen für die Erhaltung der Leistungsfähigkeit Rechnung zu tragen.
Die Module des Workshopkonzepts wurden gewählt, da die wissenschaftliche
Literatur Befunde liefert, dass
1. Stress nachweislich negative Auswirkungen auf die geistige Leistungsfähigkeit hat (Alexander et al. 2007; Caswell et al. 2003; Fuchs
und Flügge 2001; Jelicic et al. 2004; Öhman et al. 2007; Sliwinski et
al. 2006).
2. der persönliche Denkstil (Kognitionen) eine wichtige Rolle im
Stressgeschehen spielt (Kaluza 2005).
3. sozial unterstützende Verhaltensweisen durch Kollegen und Vorgesetzte eine wichtige Ressource im betrieblichen Zusammenhang zu
sein scheint, da sie sowohl die Wirkung objektiver Stressoren als
auch die Wahrnehmung von Stressoren verringern kann (Zapf &
Frese 1991).
4. bestimmte Nahrungsmittel und körperliche Aktivität die geistige
Leistungsfähigkeit positiv beeinflussen können (Rahman et al.
2007; Van Gelder et al. 2007; Vaynman & Gomez-Pinilla 2006).
5. Training im Bereich der fluiden Intelligenzleistungen zur Steigerung
der geistigen Leistungsfähigkeit führen kann (Oswald et al. 1998;
Weidenhammer et al. 1986; Klingberg et al. 2005).
6. bestimmte Arbeitsbedingungen wie monotone Tätigkeiten und
Arbeit mit stärkeren manuellen und geringeren intellektuellen Anforderungen mit einer schlechteren geistigen Leistung zusammenhängen.
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Abschlussbericht ›Pfiff‹
Aufgrund der genannten ungünstigen Auswirkungen von Stress auf die geistige Leistungsfähigkeit erscheint es wichtig, am Individuum anzusetzen und seine
Kompetenzen auch in diesem Bereich zu fördern.
Abb. 9: Auszug aus dem
Trainerleitfaden
Da Stressreaktionen u. U. bereits im erwerbsfähigen Alter (<65) stärker und
chronisch werden (vgl. Martin et al. 2001), können rechtzeitige präventive
Maßnahmen zur Stärkung der individuellen Resilienz einen wichtigen Beitrag
zur Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit und damit zur Verlängerung der
Lebensarbeitszeit leisten.
Das Modul „Stress und Stressbewältigung“ soll die Teilnehmer über die
Entstehung und Auswirkungen von Distress informieren sowie Möglichkeiten
zu einem adäquaten Umgang mit belastenden Situationen aufzeigen. Es fußt
auf fundierten Erkenntnissen und bewährten Konzepten in diesem Bereich (z. B.
Beck 1999; Kaluza 2004). Den Teilnehmern soll vermittelt werden, dass man
bestimmten Situationen nicht hilflos ausgeliefert ist, sondern aktiv zum eigenen
Wohlbefinden beitragen kann. In diesem Zusammenhang spielen Kognitionen
(z. B. Selbstwirksamkeit und dysfunktionale Denkstile) eine wesentliche Rolle.
In einem weiteren Modul soll über die positive Wirkung von sozial unterstützendem Verhalten aufgeklärt werden.
Aufgrund zahlreicher Befunde zum günstigen Einfluss von Sport und bewusster Ernährung auf die geistige Leistungsfähigkeit sollen die Teilnehmer im Modul
zum Lebensstil erfahren, wie sie durch die richtige Ernährung und körperliche
Aktivität zum Erhalt und Aufbau der geistigen Leistungsfähigkeit beitragen können.
Da die positive Wirkung von geistigem Training im Bereich der fluiden Intel-
Abschlussbericht ›Pfiff‹
ligenzleistungen auf die Steigerung der geistigen Leistungsfähigkeit in zahlreichen Untersuchungen bestätigt werden konnte, stellt das Mentale Aktivierungs
Training (MAT) einen weiteren Bestandteil des Workshops dar.
Die Auswirkungen bestimmter Arbeitsbedingungen auf die geistige Leistungsfähigkeit sowie entsprechende Empfehlungen, um arbeitsorganisatorisch und
qualifikatorisch für die Erhaltung der geistigen Leistungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer beizutragen, sind im sechsten Modul zusammengestellt. Dieses Modul
wird ausführlich im zusätzlich entwickelten Maßnahmenkatalog behandelt, der
ebenfalls auf der PFIFF-Homepage zum kostenfreien Download angeboten wird.
Zu den einzelnen Themenfeldern des Workshopkonzepts gehören jeweils ein
Trainerleitfaden, Foliensätze und Übungen bzw. kleine Übungsszenarien. Ebenso
stehen weiterführende Literaturangaben bzw. Informationstexte zur Erarbeitung
der Thematik bereit. Das gesamte Material für das Training bildet den Rahmen
für einen ausführlichen Workshop von bis zu drei Tagen, fungiert aber auch
gleichzeitig als „Fundus“ für Trainer, die auf diesen zurückgreifen und sich so –
angepasst an die jeweiligen Möglichkeiten und Bedürfnisse des Auftraggebers
(Unternehmen, Krankenkasse etc.) – ein eigenes Konzept erstellen können.
Die Trainerleitfäden sind tabellarisch aufgebaut (vgl. Abbildung 9). Sie geben
das Lernziel mit den entsprechenden Inhalten und die Dauer jeder Einheit an.
Weiterhin werden Methoden und benötigte Materialien für die jeweiligen Einheiten angegeben sowie zur vertiefenden Vorbereitung und als Nachschlagewerk
entsprechende Literaturangaben.
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Abschlussbericht ›Pfiff‹
Auf der projekteigenen Homepage www.pfiffprojekt.de wird das Workshopkonzept zum kostenfreien Download angeboten. Sowohl bei den Inhalten als auch
beim Layout der Homepage wurde auf die zielgruppenspezifische Gestaltung
geachtet.
Für ein effektives und nachhaltiges Gesundheitsmanagement ist es empfehlenswert, Konzepte, wie sie im Rahmen von PFIFF erstellt wurden, z. B. in ein
vorhandenes Managementsystem zu integrieren. So besteht die Möglichkeit,
Gesundheitsakteure des Unternehmens gezielter in entsprechende Aktivitäten
zu involvieren, einen betrieblichen Steuerkreis zu etablieren sowie die stattgefundenen Veranstaltungen anhand von Kennzahlen langfristig evaluieren zu
können. Der Maßnahmenkatalog wurde erarbeitet, da angesichts der demographischen Entwicklungen Konzepte zum Erhalt und Ausbau der Arbeitsfähigkeit
unerlässlich sind. Ein wichtiger Ansatzpunkt in diesem Kontext ist das Training
von Körper und Geist über die gesamte Erwerbsspanne – nur so kann die Leistungsfähigkeit sichergestellt werden. Bei den erforderlichen Maßnahmen zum
Erhalt der Leistungsfähigkeit handelt es sich um:
–– Eine alternsgerechte Arbeitsgestaltung und betriebliche Gesundheitsförderung, die bereits bei den jungen Mitarbeitern ansetzen, um eine
Berufsverweildauer bis zum Erreichen des Renteneintrittsalters zu gewährleisten.
–– Die Bewahrung oder Wiederherstellung der Lernfähigkeit, damit Mitarbeiter den sich wandelnden Anforderungen gewachsen sind.
–– Den Abbau ungerechtfertigter Vorurteile über die Leistungsfähigkeit älterer Mitarbeiter (Buck 2002).
Unternehmen sollten Arbeit so gestalten, dass die Ressourcen und Potenziale
im Laufe der gesamten Erwerbsbiografie besser erhalten, gefördert und weiterentwickelt werden und somit eine längere Erwerbstätigkeit realisierbar und für
die Betroffenen auch wünschenswert wird.
Eine aktuelle Studie zeigte, dass in vielen Unternehmen immer noch eine
Diskrepanz zwischen den Konsequenzen der demographischen Entwicklungen und den ergriffenen Maßnahmen besteht (Berkowski & Dievernich 2008).
Die meisten der befragten Personalverantwortlichen erkennen ausschließlich
jene Folgen, mit denen sie in ihrer Personalarbeit bereits konfrontiert werden,
wie z. B. dem Mangel an gut ausgebildeten jungen Fachkräften. Zwar wird die
Bedeutung verschiedener Personalmaßnahmen zur Bewältigung dieser Schwierigkeit erkannt, doch gehen die gewählten Maßnahmen nicht über die Lösung
der heutigen Probleme hinaus. Die befragten Unternehmen konzentrierten sich
aufgrund des merklichen Fachkräftemangels auf den Planungsaspekt, um diesen
in Zukunft vermeiden zu können. Möglichkeiten wie die Rekrutierung von Frauen
Abschlussbericht ›Pfiff‹
und Älteren wurden bei über 30% der befragten Unternehmen nicht in Betracht
gezogen.
Für ein effektives Age Management sind jedoch Maßnahmen in vielen Unternehmensbereichen im Rahmen eines Mehrebenen-Ansatzes erforderlich.
Im Maßnahmenkatalog werden daher folgende Bereiche thematisiert:
–– Betriebliche Gesundheitsförderung,
–– Personalentwicklung sowie
–– Unternehmenskultur.
Der komplette Maßnahmenkatalog sowie die einzelnen Themenschwerpunkte
stehen auf der PFIFF-Homepage zum Download bereit.
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Abschlussbericht ›Pfiff‹
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Abschlussbericht ›Pfiff‹
Abschlussbericht ›Pfiff‹
Teil 2
Ältere Arbeitnehmer:
Perspektiven von Wissenschaft, Politik und Betrieben
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Abschlussbericht ›Pfiff‹
Prof. (em.) Dr. rer. nat. habil. Winfried Hacker ist Leiter der Arbeitsgruppe
„Wissen-Denken-Handeln“ an der TU Dresden.
Nach dem Studium der Psychologie an der TH Dresden 1952-1957 und dem Studium der Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Dresden folgte die Dissertation
über den Lidschlag in der Auge-Hand-Koordination (1961). 1965 folgte die Habilitation mit einer Arbeit zur Auge-Hand-Koordination. Bis zur Emeritierung im Jahr 2000
hatte er die Professur für Allgemeine Psychologie am Fachbereich Psychologie der
TU Dresden inne. Seither leitet er die Arbeitsgruppe „Wissen-Denken-Handeln“ am
Institut für Psychologie I der TU Dresden. Weitere Stationen:
–– 2001-2002 ½-Vertretungsprofessur für Arbeits- und Organisationspsychologie
–– Universität Gießen (mit Prof. M. Frese)
–– November 2003 - 2005 kommissarische Leitung des Instituts für Psychologie der Technischen Universität München
–– Ord. Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften
–– Dr. phil. h.c. der Universität Bern
Prof. (em.) Dr. rer. nat. habil. Winfried Hacker
TU Dresden
Fachrichtung Psychologie
Arbeitsgruppe „Wissen-Denken-Handeln“
[email protected]
Abschlussbericht ›Pfiff‹
Winfried Hacker
Arbeitswelt im Wandel – Herausforderungen an die geistige
Leistungsfähigkeit älter werdender Arbeitender
1. Arbeitswelt im Wandel
Eine oft genutzte Zusammenfassung besagt, Arbeit werde künftig zeitlich
flexibler (im Wechsel von Betriebsruhe, Kurzarbeit und Überstunden), örtlich
mobiler (als moderne Wanderarbeit), dezentraler in der Organisation (als Verlagerung von Verwaltungsfunktionen zu den Ausführenden) sowie mentaler in den
vorherrschenden Arbeitsanforderungen.
Entscheidend sind hinter dieser politisch korrekten Umschreibung die Widersprüche in diesem Wandel. Es gibt nicht „den“ Wandel, sondern darin gegensätzliche, sich verschlechternde und sich verbessernde Facetten. Des Weiteren
stehen den problematischen Veränderungen in der Wirtschaft zunehmend umfassendere internationale Idealforderungen gegenüber, beispielsweise in der DIN
EN ISO 6385 zu „gut gestalteten Arbeitsaufgaben“. Realsituation und Idealbild
driften im Wandel auseinander.
Skizzieren wir einige Facetten dieses Wandels:
1. Arbeitsverhältnis. Außerhalb der Beamtenwelt ist die arbeitslebenslange
Vollbeschäftigung abgelöst vorzugsweise durch prekäre Arbeitsverhältnisse mit
Patchwork-Arbeitsbiographien. Arbeitsverhältnisse sind befristet (auch bei Akademikern), Teilzeitverhältnisse mit teilweise marginaler Existenzsicherung sowie
Arbeit auf Abruf als neuzeitliche Version von Tagelöhnerarbeit und Leiharbeit
nehmen weiter zu.
Das macht u. a. auch herkömmliche arbeitswissenschaftliche Standards, die
längerfristige Vollzeitarbeit unterstellten, weithin wertlos.
2. Arbeitsplatzunsicherheit. Patchwork-Arbeitsbiographien bedingen Zukunftsungewissheit. Zeitweilige Arbeitslosigkeit betrifft auch vormals privilegierte Berufe wie Banker, Ingenieure oder Facharbeiter in scheinbar krisenfesten Branchen
der Realwirtschaft in der Folge des globalisierten Wirtschaftsdarwinismus. Arbeitskraft ist eine Ware und unterliegt daher den „Schweinezyklen“ des Marktes.
Dadurch ist arbeitsbedingtes Befinden (z. B. Ermüdung) nicht mehr allein
bedingt durch die jeweiligen Arbeitsanforderungen, sondern auch durch die
Arbeitsmarktsituation bezüglich des jeweiligen Arbeitsplatzes (Jahn & Hacker,
2004). Sehr vereinfacht: Unsichere Arbeitsplätze motivieren nicht notwendigerweise zu höherer Leistung, sondern erzeugen auch soziale Spannungen (z. B.
Mobbing) und machen im Extremfall krank.
Die unerlässliche neue Entwicklung zum Ermöglichen von Zukunftsgewissheit
bezüglich der Leistungssicherung (Flexicurity) setzt erst sporadisch ein: Der
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Abschlussbericht ›Pfiff‹
neue psychologische Vertrag der Sozialpartner muss anstelle arbeitslebenslanger Arbeitsplatzsicherheit die Möglichkeiten zum Erhalten und Fördern der
Beschäftigungsfähigkeit der Arbeitnehmer bieten. Das umfasst die betriebliche
Arbeitsgestaltung und Weiterbildung sowie diesbezügliche Eigeninitiative der
Arbeitenden.
Beschäftigungsfähigkeit scheint stärker dazu beizutragen, die eigene Position
am Arbeitsmarkt als günstig wahrzunehmen, als Unsicherheit am gegebenen
Arbeitsplatz zu bewältigen (De Cuyper, Bernhard-Oettel, Bentson, De Witte &
Alcaro, 2008).
3. Vollbeschäftigung in der Erwerbsarbeit ist auch perspektivisch wenig wahrscheinlich. Arbeitsplatzunsicherheit mit der psychischen Folge der Zukunftsungewissheit dürfte kein vorübergehender Zustand sein aus zwei Gründen:
–– Die Automatisierung beseitigt inzwischen auch die anteilig gewachsene
geistige Arbeit mittels IT-Lösungen von CAX bis Virtual Reality und die
systematische Rationalisierung geistiger Arbeit hat kaum begonnen.
–– Die anteilig gleichfalls gewachsene Dienstleistungsarbeit wird – so weit
irgend möglich – systematisch als Selbstbedienung auf die sog. Kunden
verlagert, also im Sinne der Koproduktion wegrationalisiert. Die Senioren-WGs zur wechselseitigen Pflege dürften nicht der letzte Ausdruck
dieser Entwicklung auch bei Humandienstleistungen sein.
Damit ist es nicht zwingend, dass es eine Nachfrage am Arbeitsmarkt geben
wird, die die Arbeitskraft Älterer im Gegensatz zur Frühverrentung attraktiv
macht (Bonß, 2000).
4. Rücknahme von sog. Humanisierungstrategien der Arbeitswelt. Das bleibende Überangebot von Arbeitskraft in wechselnden Segmenten der Wirtschaft – bei
zeitweiligem Mangel in anderen – ermöglicht mittels Kombination von Neotaylorismus und Toyotismus das Zurücknehmen ergonomischer Gestaltungsfortschritte. Beispielsweise sind in neuen Anlagen der profilbestimmenden deutschen Automobilindustrie und ihrer Zulieferer kurzgetaktete Fließbandarbeit,
Steharbeitsplätze, Überkopfarbeit oder die Rücknahme früherer Arbeitserweiterung und Arbeitsbereicherung aktuell. Das fällt sogar Nicht-Arbeitswissenschaftlern auf: Der SPIEGEL (No. 33/2008, S. 76) fasste zusammen „Menschliche
Arbeitswelt war gestern – vorwärts in die Vergangenheit stupider Handgriffe“
(Hawranek, 2008). Inwieweit das den Arbeitseinsatz Älterer erleichtert ist zumindest fraglich.
5. Wandel der beanspruchenden Arbeitsanforderungen. Gerade in Berufen mit
arbeitsinhaltlich optimalen Herausforderungen an die geistige Leistungsfähigkeit
im Sinne der DIN EN ISO 6385 – um an das Thema zu erinnern – gibt es eine
unübersehbare Flucht zumindest von deutschen Arbeitsplätzen:
Abschlussbericht ›Pfiff‹
–– 90% der verbeamteten deutschen Lehrer mit herausfordernden geistigen Aufgaben scheiden vorzeitig aus dem Berufsleben vorzugsweise aus
gesundheitlichen Gründen aus. Durch Pensionskürzungen wurde diesem
Trend teilweise erfolgreich begegnet, was für eine verbliebene geistige
Leistungsfähigkeit des Lehrpersonals spricht.
–– Unter dem medizinischen Personal, das Herausforderungen an die geistige Leistungsfähigkeit gleichfalls erlebt (Hacker & Looks, 2007), ist das
Interesse am Auswandern oder berufsfremder Arbeit nicht zu übersehen.
Dazu gibt es Hinweise, dass geistige Herausforderungen nicht von den konkreten Inhalten gelöst werden können. Ärzte wie Lehrer beklagen patienten- bzw.
schülerferne administrative Arbeitsanforderungen sowie Anforderungen aus
Merkmalen des Sozial- bzw. Bildungssystems, nicht aber Anforderungen des
Lehrens, Heilens oder Pflegens an sich. Potenzielle Ressourcen des Arbeitsinhaltes werden durch Verschlechterungen der Ausführungsbedingungen, insbesondere durch fehlende Zeitsouveränität im Sinne einer kontrollierten Autonomie
zerstört (Vieth, 1995).
6. Unerfüllte Erwartungen an den demographischen Wandel. Die Erwartung,
dass Verknappung an Jugend zur praktizierten, nicht nur zur verbalen Wertschätzung älterer Arbeitskräfte führen, ist wenigstens bis jetzt nicht erfüllt. In
Deutschland arbeiten bei Einbezug der geringfügig Beschäftigten nur 51 % der
über 55-Jährigen, in Schweden bspw. 70 %. Nur etwa 30 % der über 60-Jährigen
sind in Deutschland noch erwerbstätig.
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Abschlussbericht ›Pfiff‹
Vorerst sind als Ausweichlösungen das Wegautomatisieren bzw. Wegrationalisieren von lebendiger Arbeit und das Anwerben von Jugend aus dem deutschen
oder dem ausländischen Osten gegenüber einer altersgerechten Arbeitsgestaltung noch bevorzugt. Das wird durch juristische Lösungen der Zwangsverrentung gerade bei geistig anspruchsvoller Arbeit mit Herausforderungen an die
geistige Leistungsfähigkeit Älterer noch perfektioniert und zementiert. Bekanntlich mussten 6400 deutsche Ärzte seit 1999 ihre Kassenzulassungen mit dem
Erreichen von 68 Jahren zurückgeben, um, wie es in der Regelung des BMG
heißt, „Gefährdungen, die von älteren Berufstätigen ausgehen“ einzudämmen.
Deutsche Lehrstuhlinhaber müssen im Alter auswandern, um ihre Forschung
beispielsweise in den USA mit neuen Arbeitsgruppen fortsetzen zu dürfen. Zur
Verleihung von deutschen Preisen sollen sie nochmals nach Deutschland einreisen (so der Schering-Preisträger 2008, der in Köln emeritiert wurde und jetzt in
Boston arbeitet).
7. Anforderungswandel. In einigen Arbeitsbereichen der Wissensgesellschaft
werden die Anforderungen komplexer, vernetzter und dynamischer. Anstelle
gleichartig wiederkehrender Anforderungen dominieren dabei auf Weiterentwicklung gerichtete Anforderungen, kurz: Anstelle repetitierenden ist innovierendes
Arbeiten erforderlich. Dazu später mehr.
Abschlussbericht ›Pfiff‹
2. Welche Herausforderungen an die geistige Leistungsfähigkeit älterer Erwerbstätiger entstehen durch Veränderungen der Arbeitswelt?
1. Vorab ist klarzustellen, dass die Herausforderungen sich in Grenzen halten.
Herausforderungen an die geistige Leistungsfähigkeit Älterer betreffen derzeit in
Deutschland nur eine Minderheit Älterer. Wir sahen: Höchstens die Hälfte der
über 55-Jährigen sind hierzulande überhaupt erwerbstätig.
Des Weiteren kann die gesellschaftspolitische Erwünschtheit des Annehmens
geistiger Herausforderungen in der Arbeit durch Ältere in Deutschland als strittig betrachtet werden. Mit Frühverrentung werden nach wie vor politische Probleme „gelöst“. Gewerkschafter protestieren ohne die erforderliche Differenzierung in den Arbeitsanforderungen gegen die Erhöhung des Renteneintrittalters
trotz deutlich gestiegener Lebenserwartungen, Teile der geistigen Elite werden in
Deutschland zwangsverrentet, das für Gesundheit sachkundige Bundesministerium qualifizierte – wie wir sahen – ihre Weiterarbeit als Gefährdung anderer ab.
In manchen Bereichen ist inzwischen die Rentenbezugsdauer genau so lang wie
die Erwerbsdauer.
Kurzum: Tagespolitisch nützlich erscheinende Altersmythen, die als selbsterfüllende Prophezeiung wirken, werden in Deutschland kultiviert. Das hat sich in
den letzten vier Jahrzehnten kaum verändert (Sieber, 1972; Hacker, 1996).
Soweit der desillusionierende gesellschaftliche Hintergrund.
2. Geistige Herausforderungen entstehen im Wandel der Arbeitswelt zunächst
aus dem veränderten Typ von Arbeitsverhältnissen, nämlich
–– der Lebensgestaltung bei Patchwork-Arbeitsbiographien mit befristeten
Verträgen bzw. betriebsbedingten Kündigungen,
–– beim Entwickeln von Bewältigungsstrategien einer möglichen Zukunftsunsicherheit durch eigenen Einsatz für das Erhalten und Verbessern ihrer
Beschäftigungsfähigkeit, und
–– in einem solchen Umgang mit unterfordernder Arbeit und zeitweiliger Arbeitslosigkeit, der gesund und leistungsfähig erhält auf dem Hintergrund
von Lauterbachs Aussage, „… dass die Hälfte aller Arbeitslosen nach
einem Jahr bereits chronisch krank ist“ (DIE ZEIT, 29.09.2008, S. 15).
Also: Die zentrale Herausforderung an die geistige Leistungsfähigkeit im Wandel der Arbeitswelt ist das Erhalten von Beschäftigungsfähigkeit und von Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und zwar in jedem Alter, aber in der zweiten Hälfte
der Lebensarbeitsspanne in besonderem Maße.
3. Diese geistigen Herausforderungen der gewandelten Arbeitswelt an Ältere
sind Herausforderungen, die in der Kindheit und Jugend eingelöst werden
müssten. Das gilt wenigstens aus zwei Gründen:
Erstens sind sie weniger ein Lebensalters- als ein Kohortenproblem: Eine
gediegene Allgemein- und Berufsausbildung einschließlich des Erlernens der
Fähigkeit zum eigenständigen arbeitslebenslangen Lernen ist die Voraussetzung,
63
64
Abschlussbericht ›Pfiff‹
um spätere Weiterbildungs- und Lernangebote in der Arbeit überhaupt nutzen
zu können.
Wer keine Ausbildung nachweisen kann, wird in einer zunehmend anspruchsvolleren Arbeitswelt stets aufs Neue arbeitslos sein.
Zweitens gilt dies besonders wegen der Dürftigkeit altersangemessener, systematischer arbeitsbegleitender Weiterbildungsangebote in der deutschen Wirtschaft.
4. Ein in der Wissensgesellschaft wachsender Teil der nach der Verlagerung, Rationalisierung und Automatisierung verbleibenden Arbeitsaufgaben sind vorrangig
sog. innovierende Arbeitsaufgaben sowie anspruchsvolle interaktive, dialogische
Dienstleistungsarbeit.
Innovierende Arbeit erfüllt schlecht standardisierbare und wenig vorhersehbare Anforderungen und bedarf der Selbstorganisation, der Planung und
Selbstmotivierung des Vorgehens durch die Arbeitenden. Dabei geht es um ein
Arbeitshandeln, dass sich nicht beschränkt auf das gewissenhafte Einsetzen
erlernter Vorgehensweisen, sondern das darüber hinausgeht. Im Unterschied
zum repetitierenden Arbeitshandeln wird nach weiterführenden neuen Zielen
und Vorgehensweisen gesucht. Gegebenes wird – auch außerhalb professioneller Forschungs- und Entwicklungstätigkeit – infrage gestellt durch Produkt-,
Prozess- und organisatorische Neuerungen.
Konzepte wie proorganisationales, unternehmerisches, kontextuelles oder
Organisational Citizenship Verhalten betreffen diesen wirtschaftlich hochbedeutsamen Sachverhalt (Hacker, 2005).
Da im Sinne Baltes’ (1995) die kristallinen intellektuellen Leistungsvoraussetzungen mit dem Erfahrungsgewinn beim Älterwerden im Mittel bei gleichzeitig
zunehmender interindividueller Verschiedenheit wachsen, haben viele Ältere
zumindest keine schlechteren Bewältigungsvoraussetzungen hierfür (Looks,
Jahn & Hacker, 2005).
Gleiches gälte für interaktive Dienstleistungstätigkeiten, bei denen allerdings
die Ausführungsbedingungen, der Job Context, nicht die geistigen Anforderungen, zur Ausschaltung der Älteren führen, z. B. in der stationären und ambulanten Pflege (Stab & Hacker, 2007).
3. Herausforderungen an die geistige Leistungsfähigkeit – Was ist geistige Leistungsfähigkeit?
Geistige Leistungsfähigkeit für Alltagsarbeit verstanden nur als Informationsaufnahme, Informationsbearbeitung, Informationsverarbeitung und
Informationserzeugung (im Sinne fluider Intelligenz) wäre eine Verkürzung.
Arbeitsgedächtniskapazität, prospektive Gedächtnisleistungen, Reaktionszeiten
und Daueraufmerksamkeit sind problematisierbare Prädiktoren der Leistungsfähigkeit für psychisch anspruchsvolle Alltagsarbeitsprozesse. Das hat mehrere
Gründe:
Abschlussbericht ›Pfiff‹
1. Zwar gilt: Das Nadelöhr der geistigen Leistungsfähigkeit ist das sogenannte
Arbeitsgedächtnis, richtiger die mentale Kapazität des Behaltens von Informationen für weitere Verarbeitungsschritte beim gleichzeitigen Verarbeiten weiterer
Informationen (Baddeley, 1992). Und das Lebensalter und verschiedene Indikatoren der Arbeitsgedächtnis- bzw. Mentalkapazität (Lese- und Rechenspanne)
korrelieren hochsignifikant negativ (r=-.52 bzw. r=-.39, p<0.01) miteinander,
ebenso die sprachfreie Intelligenz (RAVEN-Test) und Textverstehen (r=-.70 bzw.
r=-.53, p<0.01) für einen Altersbereich von 18 bis „älter als 60“ Jahre (Oehme &
Schneider, 1998).
Aber: Beim Auspartialisieren der Arbeitsgedächtnisleistung aus der Beziehung
des Alters zur sprachfreien Intelligenz und zum Textverstehen verringern sich
die negativen Beziehungen, bleiben jedoch bei mittlerer Effektstärke signifikant.
Das Nadelöhr Mentalkapazität erklärt also nur Teile der geringeren Leistungen
Älterer!
Des Weiteren ist bei derartigen Befunden unbedingt zu beachten:
2. Das laborexperimentelle Testen von Leistungsgrenzen des Arbeitsgedächtnisses (testing the limits) entspricht nicht alltäglichen, situierten, kontext-, d. h.
wissensabhängigen und unterhalb der Höchstleistungsgrenzen angesiedelten
Arbeitsanforderungen. So beeindruckend die Untersuchbarkeit isolierter, exekutiver Funktionen auch mit bildgebenden Verfahren ist, ihre ökologische Validität
fehlt und die Interpretation der Befunde ist weit.
Ein Beleg ist das sogenannte Altersparadoxon des prospektiven Gedächtnisses, also der Tatbestand, dass das Behalten von Absichten bei Älteren zwar im
Laborexperiment, nicht aber im Alltag schlechter ausfällt als bei Jüngeren. Ältere
nutzen kompensatorische Strategien (zu solchen Strategien u. a. Hacker, Auerbach, Hagendorf & Rudolf, 1999; Hacker, Herrmann, Pakoßnick & Rudolf, 1998).
3. Menschen, auch und insbesondere Ältere, redefinieren Arbeitsanforderungen
mit Hilfe ihres Wissens (der kristallinen Intelligenz) so, dass sie trotz möglicher
Minderungen in einzelnen Leistungsvoraussetzungen von ihnen kompensatorisch erfüllt werden können. Sie entwickeln kompensatorische Bewältigungsstrategien für Anforderungen, die grundlagenwissenschaftlich als Anforderungen an
die fluide Intelligenz, das Arbeitsgedächtnis, das prospektive Gedächtnis oder
das Reaktionstempo gelten.
Die interessierende Frage ist also nicht die nach experimentell ermittelbaren
Grenzwerten, sondern die nach der Effektivität von Kompensationsstrategien.
Solche Strategien werden sowohl von selbst entwickelt und sie sind auch lehrbar.
Wir haben diese Strategienabhängigkeit von Funktionen der fluiden Intelligenz
wiederholt u. a. für verschiedene Indikatoren des Arbeitsgedächtnisses und des
prospektiven Gedächtnisses gezeigt:
Kontrollierte und automatische Arbeitsgedächtnisindikatoren, nämlich die
Satzspanne und die pronominale Inferenzdistanz, korrelieren zwar mit fluiden,
nicht aber mit kristallinen Intelligenzleistungen.
Diese Indikatoren sind jedoch wenig reliabel, weil sie durch verschiedene Strategien verschieden stark verändert werden können (Hacker, Priemuth, Breiten-
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Abschlussbericht ›Pfiff‹
stein & Wachter, 2001).
Die Selbstgestaltung des Arbeitsprozesses, neuerdings zitiert als „job crafting“, (Wrzesniewski & Dutton, 2001) geht über ein bloßes Kompensieren von
sich verringernden Leistungsfähigkeitsaspekten hinaus: Erfahrene ältere Mitarbeiter gestalten ihre Aufgaben nach den gewandelten Leistungsmöglichkeiten,
redefinieren sie kognitiv und beeinflussen ihre soziale Einordnung (u. a. im
Sinne des Annehmens und Bietens sozialer Unterstützung).
Tab. 7: Korrelative Prüfung von Beziehungen zwischen kontrollierten und automatisierten textbezogenen Arbeitsgedächtnis- sowie intellektuellen Leistungen
(Daten nach Hacker, Sieler & Pietzker, 2000).
Arbeitsgedächtnisindikatoren
Satzspanne komplett
- Inhaltswiedergabe
- Klassifizieren
Satzspanne vereinfacht
- Inhaltswiedergabe
- Klassifizieren
Pronominale
Inferenzdistanz
*p = 0,05
n
Fluide intellektuelle Leistungen (IL)
Text verstehen
Sprachfreies
(Verständnisfra- Schließen
gen)
(Raven-APM)
41 0,51**
41 ,35*
41
41
160
,48*
,35*
,48**
Kristalline IL
4.
(ausgewählte
Subtests des HA
WIE)
0,33*
,49**
0,21 ns
,08 ns
,59**
,31*
,51**
,26 ns
,25 ns
,16 ns
**p = 0,01. Erläuterungen im Text.
Geistige Leistungsfähigkeit ist abhängig von der Qualität der kognitionsergonomischen Arbeitsauftragsgestaltung (Hacker, 1991). Schlechte Gestaltung
ist schlecht für alle, für Frauen und Männer, für Junge und Alte, für Hoch- und
Geringqualifizierte.
Am Beispiel: Das Textverstehen ist eine entscheidende Arbeits- und Lernvoraussetzung. Die Arbeitsgedächtnisspanne bestimmt nicht allein, sondern
gemeinsam mit der Qualität der Textgestaltung das Verstehen (Hacker & Osterland, 1995).
Also: Zur geistigen Leistungsfähigkeit tragen neben Informationsaufnahme
und -verarbeitungsprozessen formaler Art (fluide Intelligenz) Kenntnisse und
Erfahrungen (kristalline Intelligenz) bei, und zwar auch kompensatorisch! Die
Kompensationsstrategien sind zwar bei Älteren besonders gefordert, helfen aber
auch Jüngeren. Kompensationsbegünstigende kognitionsergonomische Arbeitsgestaltung als „design for all“ hilft allen und erübrigt eine lediglich altengerechte
kognitive Arbeitsgestaltung.
Und schließlich:
5. Beim „design for all“, d. h. einer allgemeinpsychologischen anstelle nur
einer differentialpsychologischen Optimierung geistiger Anforderungen, sollten
neben den kognitiven auch die motivationalen einschließlich emotionalen An-
Abschlussbericht ›Pfiff‹
forderungen berücksichtigt werden. Beispielsweise verfügen Ältere häufiger über
angemessene Strategien der Gefühlsregulation in interaktiven Arbeitstätigkeiten.
2. Welche Bereiche der psychischen Leistungsfähigkeit Älterer sind im Wandel
der Arbeitswelt vorrangig gefordert?
Mindestens drei Facetten der psychischen Leistungsfähigkeit Älterer sind bei
einigen Veränderungen im vielgestaltigen Wandel der Arbeitswelt vorrangig
gefordert. Das sind:
1. Makrokognitive Vorgehensweisen im Sinne fachunspezifischer, also
übertragbarer Strategien der individuellen und kooperativen Bewältigung komplexer Anforderungen jenseits von kompensierbaren
Einzelfunktionen wie Gedächtnis- oder Aufmerksamkeitsspannen.
Das sind branchenübergreifende Strategien der rationellen Bewältigung typischer Anforderungen in wissensintensiver Arbeit beispielsweise zum Entwickeln und Auswählen von Vorgehensweisen,
zum Entscheiden, zur Ablaufplanung, zur Reflexion des eigenen
Vorgehens oder zur effizienten Kooperation (Gigerenzer, 2007).
Diese Befähigungen werden auch als Befähigung zum Selbstmanagement, als Handlungskompetenzen oder non-technical skills
bezeichnet (vgl. Sonntag & Stegmaier, 2007; Badke-Schaub, Hofinger & Lauche, 2008).
2. Resilienz (Widerstandsfähigkeit u. a. als Distanzierungsfähigkeit
und darauf fußend realistische Selbstwirksamkeitsüberzeugungen) sowie emotionale Stabilität. Diese psychischen Leistungsvoraussetzungen sind nur denkbar auf der Grundlage einer soliden
und übertragbaren Allgemein- und Berufsausbildung, welche die
Beschäftigungsfähigkeit sichert. Nur dann kann beispielsweise
Arbeitsplatzverlust nicht als deprimierendes Versagen und Demütigung erlebt, sondern als Herausforderung bewältigt werden.
3. Lernbefähigungen und zwar auch unter biologisch ungünstigeren
Lernbedingungen. In der Gesundheitspsychologie werden Lernbefähigungen als Bewältigungsstrategien den gesundheitsstabilisierenden Befähigungen zugeordnet.
Dabei ist zu bedenken:
4. Lernen wird durch Lernen gelernt. Das Fördern intellektueller Fähigkeiten älterer Arbeitnehmer im Arbeitsprozess selbst setzt eine lernförderliche Arbeitsgestaltung voraus. Es wäre wenig sinnvoll und
wenig wirkungsvoll, menschgemachtes Voraltern aufgrund defizitärer kognitiver Arbeitsgestaltung durch Zusatztrainings isolierter
kognitiver Funktionen aufhalten zu wollen.
5. An gesundheits- und lernförderlicher Arbeitsgestaltung auch
geistiger und Dienstleistungsarbeit als Bestandteil der Unterneh-
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Abschlussbericht ›Pfiff‹
menskultur geht auch bei einem Überangebot von Arbeitskraft kein
Weg vorbei. Menschzentrierte Arbeitsgestaltung ist altengerechte
Arbeitsgestaltung: Sie verhütet ein menschgemachtes Voraltern,
verzögert im idealen Fall das biologische Altern und entlastet damit
die Sozialsysteme.
Abschlussbericht ›Pfiff‹
Literatur:
Baddeley, A. (1992). Working Memory: An introduction. International Journal of
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Badke-Schaub, P., Hofinger, G. & Lauche, K. (Hrsg.)(2008). Human Factors. Psychologie sicheren Handelns in Risikobranchen. Springer Medizin: Heidelberg.
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Oerter & L. Montada (Hrsg.), Entwicklungspsychologie (S. 1116-1126). Weinheim: Psychologie VerlagsUnion.
Bonß, W. (2000). Was wird aus der Erwerbsgesellschaft? In U. Beck (Hrsg.), Die
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De Cuyper, N., Bernhard-Oettel, C., Berntson, E., De Witte, H. & Alarco, B.
(2008). Employability and Employees’ Well-Being: Mediation by Job Insecurity.
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DIN EN ISO 6385 (2004). Grundsätze der Ergonomie für die Gestaltung von
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Gigerenzer, G. (2007). Bauchentscheidungen. Die Intelligenz des Unbewussten
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Hacker, W. (Hrsg.) (1996). Erwerbsarbeit oder Zukunft – auch für „Ältere“?
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Hacker, W., Herrmann, J., Pakoßnick, K. & Rudolf, M. (1998). Was beeinflusst das
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Abschlussbericht ›Pfiff‹
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Lauterbach, K. (2008). Ein Hartz für Arme. DIE ZEIT, Nr. 40 (25.09.08).
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Bedingungen effizienter geistig schöpferischer Arbeit über die gesamte Lebensarbeitsspanne. In W. Hacker und K. Scheuch (Hrsg.): Innovationsressourcen:
Geistig-schöpferischer Tätigkeit während der gesamten Arbeitslebensspanne.
Wie können Krankenhausärzte und Gymnasiallehrer gesund und leistungsfähig
im Beruf alt werden? (S. 11-29). Regensburg: Roderer Verlag.
Oehme, D. & Schneider, U. (1998). Zu Beziehungen zwischen Arbeitsgedächtnis,
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und Methoden der Psychologie. Dresden: TUD-Eigenverlag.
Sieber, G. (1972). Die Altersrevolution (2. Aufl.) Rhauderfehn: Ostendorp Verlag.
Sonntag, K.-H. & Stegmaier, R. (2007). Arbeitsorientiertes Lernen. Zur Integration von Lernen und Arbeit. Standards Psychologie. Kohlhammer: Stuttgart.
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Vieth, P. (1995). Kontrollierte Autonomie: Neue Herausforderungen für die Arbeitspsychologie. Heidelberg: Asanger.
Wrzesniewski, A. & Dutton, J. E. (2001). Crafting a job: Revisioning employees as
active crafters of their work. Academy of Management Review, 26, 179-201.
Abschlussbericht ›Pfiff‹
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72
Abschlussbericht ›Pfiff‹
Dr. Gottfried Richenhagen ist Leiter des Referates „Arbeit und Gesundheit“ sowie
stellvertretender Leiter der Gruppe „Beschäftigungsfähigkeit und Berufliche Bildung“
im Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes NRW.
Nach dem Studium der Mathematik, Informatik und Didaktik an den Universitäten Bonn und Bielefeld folgte eine wissenschaftliche Tätigkeit an der Universität
Paderborn und eine Tätigkeit als Berater und Regionalleiter der Technologieberatungsstelle Oberhausen.
Bekannt wurde er durch zahlreiche Vorträge und Veröffentlichungen zu den Themen demografischer Wandel in der Arbeitswelt, Beschäftigungsfähigkeit sowie Gesundheit bei der Arbeit.
Dr. Gottfried Richenhagen
Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales
des Landes Nordrhein-Westfalen
Fürstenwall 25, 40219 Düsseldorf
[email protected]
Abschlussbericht ›Pfiff‹
Dr. Gottfried Richenhagen
Leistungsfähigkeit, Arbeitsfähigkeit, Beschäftigungsfähigkeit
und ihre Bedeutung für das Age Management
Kurzfassung
Veränderungen in der Arbeitswelt rücken die Begriffe der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit verstärkt in den Mittelpunkt der Arbeitswissenschaft und des
Human Ressource Managements. Diese Entwicklung ist jedoch noch relativ
jung. Demgegenüber wird der Begriff der Leistungsfähigkeit schon sehr viel
länger in Wissenschaft und Praxis verwendet. Der folgende Beitrag setzt sich
mit dem Verhältnis dieser drei Begriffe auseinander und fragt, welche (arbeits-)
wissenschaftlich fundierten Konzepte im Hinblick auf den Erhalt und die Förderung von Leistungs-, Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit im Rahmen des Age
Managements praktisch nutzbar gemacht werden können.
1. Einleitung
Tief greifende Veränderungen in der Arbeitswelt lenken die Aufmerksamkeit
verstärkt auf die Fähigkeiten der Beschäftigten. Dabei geht es um folgende Begriffe (in Klammern dahinter jeweils die Anzahl der Einträge, die diese Begriffe
zusammen mit dem als erstes genannten Suchbegriff „Arbeitswelt“ in Google
erzielen, Stand: 31.01.09):
–– Leistungsfähigkeit (1,23 Mio.),
–– Teamfähigkeit (0,38 Mio.),
–– Arbeitsfähigkeit (0,21 Mio.),
–– Kommunikationsfähigkeit (0,17 Mio.),
–– Handlungsfähigkeit (0,17 Mio.)
–– Anpassungsfähigkeit (0,14) und
–– Beschäftigungsfähigkeit (0,13 Mio.).
Fähigkeit kann dabei aus einer arbeitswissenschaftlichen Perspektive verstanden werden als „das interne Potential (intrinsisch oder ausbildungs- und erfahrungsorientiert), eine Handlung durchzuführen bzw. ein physisches oder mentales Arbeitsergebnis zu erzielen“ (Luczak/Frenz 2008, S. 25).
Ein Grund für den Bedeutungszuwachs der Fähigkeitskonzepte wird vielfach in
Entwicklungen gesehen, die diese tief greifenden Veränderungen charakterisieren: Globalisierung, Neue Technologien, Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft, Wertewandel und demographischer Wandel.
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74
Abschlussbericht ›Pfiff‹
Eine wichtige Argumentationsfigur lautet dabei etwa so: Die mit den angesprochenen Entwicklungen verbundenen Veränderungen stellen hohe Flexibilitätsanforderungen an Unternehmen und Beschäftigte. Sie können nur erfüllt werden,
wenn die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in hohem Maße bereit und in der
Lage sind, im „operativen Geschäft“ eigenverantwortlich zu handeln, öfter als
früher notwendige arbeitsorganisatorische Veränderungen nicht nur mitzumachen oder geschehen zu lassen, sondern aktiv zu begleiten, mitzugestalten oder
gar anzuregen.
Kern dieser Argumentation ist die Tatsache, dass die „Realisierung des gebotenen Flexibilitätspotenzials neuer Technologien und/oder Organisationsformen
wesentlich von den Fähigkeiten und Qualitäten der Mitarbeiter bestimmt wird,
mit den neuen Freiheitsgraden und Handlungsspielräumen umzugehen und
autonome Entscheidungen zu treffen“ (Kaluza/Blecker 2005, S. 19). Auf dieser
Basis lässt sich z. B. der Begriff der Beschäftigungsfähigkeit im Anschluss an die
Flexibilitätsforschung innerhalb der Ökonomie in eine direkte Verbindung mit Dimensionen strategischer Flexibilität von Unternehmen bringen und zwar mit den
Dimensionen „Replikationsfähigkeit“, deren Ziel die Erhöhung von Handlungsschnelligkeit ist, und „Rekonfigurationsfähigkeit“, bei der es um die Erweiterung
von Handlungsspielräumen geht (vgl. Seiler 2008, S. 9). Insgesamt wird dabei
Beschäftigungsfähigkeit „als Voraussetzung für weitere ökonomische Flexibilität
und die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen und Wirtschaftsstandorten betrachtet“ (Blancke/Roth/Schmid 2000, S. 6 mit weiteren Belegen).
Eine andere Argumentationsfigur wird durch die vorauszusehenden Veränderungen induziert, die mit dem Prozess des demographischen Wandels in der
Arbeitswelt verbunden sind. Wenn die Belegschaften altern, was auf Grund der
demographischen Rahmenbedingungen bei vielen Unternehmen kaum zu verhindern sein wird, dann kommt es – so diese Argumentation – in Zukunft stärker
als in den vergangenen Jahrzehnten darauf an, Verlusten an Wettbewerbs- und
Innovationsfähigkeit vorzubeugen, die durch eine altersbedingte Abschwächung
des Produktivitätsfortschrittes hervorgerufen werden könnten. Sie drohen nämlich, wenn die Humanressourcen nicht besser als bisher gepflegt und länger im
und dem Unternehmen erhalten werden können (vgl. z. B. Richenhagen 2008).
Diese Argumentation lenkt die Aufmerksamkeit auf das sogenannte Age Management, d. h. auf ein demographiebewusstes Personalmanagement:
„Age Management means managing the work ability of personnel and the
success of the enterprise. It is the everyday management and organization of
work from the viewpoint of the life course and resources of people whether
the changes are caused by the ageing process or by other age-related factors.
Young people need management that supports and improves their situation,
whereas seniors need other solutions to maintain their work ability and mo-
Abschlussbericht ›Pfiff‹
tivation. In addition, work needs and objectives change with age. Combining
them with the objectives of an organization requires continuous development
of everyday methods and practices“ (Ilmarinen 2005, S. 233).
Im Diskussionskontext des Age Managements existieren aber verschiedene
Leitbegriffe, deren Verhältnis zueinander bisher in wesentlichen Aspekten noch
nicht ausreichend geklärt ist. So setzt z. B. die Arbeitsmedizin und insbesondere die Arbeitsphysiologie den Schwerpunkt in vielen Untersuchungen auf den
Begriff der Leistungsfähigkeit, so etwa das PFIFF-Projekt, d.h. das Programm
zur Förderung und zum Erhalt intellektueller Fähigkeiten für ältere Arbeitnehmer
(www.pfiffprojekt.de), dem auch dieser Sammelband gewidmet ist. In anderen
Bereichen der Arbeitswissenschaft hat sich durch die „finnish age policies“ (für
eine kurze Darstellung vgl. z. B. Ylikoski 2007) der Begriff der work ability, zu
deutsch Arbeitsfähigkeit etabliert (vgl. z. B. Ilmarinen/Tempel 2002). Aus der Arbeitsmarktforschung und Arbeitsmarktpraxis kommt der Begriff der employability, zu deutsch Beschäftigungsfähigkeit (vgl. z. B. Blancke/Roth/Schmidt 2000).
Alle diese Begriffe sind für das Age Management von Bedeutung und sie sollen
daher im folgenden in diesem Kontext betrachtet werden.
2. Leistungsfähigkeit
2.1 Begriffsdefinition
Die Arbeitsphysiologie als Bestandteil der Arbeitsmedizin befasst sich schon
lange mit dem Begriff der Leistungsfähigkeit. Dabei lag der Fokus zunächst und
vor allem auf der körperlichen und weniger auf der geistigen Leistungsfähigkeit.
Man ging von der Vorstellung einer einheitlichen und als solcher messbaren
körperlichen Leistungsfähigkeit aus, die sich zumindest bis ins Jahr 1948 zurückverfolgen lässt (Ulmer 2001, S. 1). Später differenzierte sich dieses Paradigma
aus und es setzte sich langsam, wenn auch nicht immer und überall (vgl. a.a.O.,
S. 2) die Erkenntnis durch, dass „es wenig Sinn haben kann, von der Leistungsfähigkeit zu sprechen, sondern dass man diesen Begriff stärker differenzieren
muss, selbst wenn man sich nur auf die körperliche Leistungsfähigkeit beschränkt“ (Rutenfranz 1983, S. 100, Hervorhebung G.R.). Als Leistungsfähigkeit
bezeichnet man demnach die Gesamtheit aller Fähigkeiten und Fertigkeiten, die
ein Mensch in die Realisierung einer Arbeitsaufgabe einbringen kann (vgl. Sargirli/Kausch 2007, S. 787).
Obwohl klar ist, dass die Leistungsfähigkeit nicht nur von individuellen, sondern auch von situativen Faktoren bestimmt wird, bleibt der Be­griff dennoch
gerade im Vergleich zu dem der Arbeitsfähigkeit stark auf abstrakte, d.h. von der
konkreten Arbeitssituation losgelöst betrachtete, menschliche Eigenschaften, auf
Grundfähigkeiten (wie z. B. Geschlecht, Konstitution, Gesundheit und Alter) so-
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Abschlussbericht ›Pfiff‹
wie auf erworbene Kenntnisse und Fertigkeiten und somit auf das Individuum an
sich bezogen. Er spiegelt die Relativität der potenziellen Leistung vor dem Hintergrund der zu erledigenden Arbeitsaufgaben und der sonstigen Arbeitsbedingungen kaum wieder. Denn erst werden in der Forschungspraxis rund um diesen
Begriff zumeist einzelne Elemente der Leistungsfähigkeit eines Menschen, wie
z. B. Muskelkraft, Ausdauer, Reaktions- oder Rechenfähigkeit in Laborsituationen
erforscht, um sie dann erst in einem zweiten Schritt mit den Anforderungen der
Arbeitssituation in Beziehung zu setzen (vgl. z. B. Hettinger 1979). Dies ist zwar
zur Reduzierung der Komplexität einerseits notwendig, birgt aber andererseits
die Gefahr von Fehlschlüssen, weil zur Erledigung einer Arbeitsaufgabe die analysierten und isolierten Elemente der Leistungsfähigkeit in einen ganz anderen
Wirkungszusammenhang gestellt werden müssen, als sie die Laborsituation
hergibt.
Dieses Phänomen ist im Hinblick auf den hier interessierenden Zusammenhang als „brisantes Paradox der Altersforschung“ (Kliegel/Mayr 1997) bekannt.
Ein besonders augenfälliges Beispiel: Die Unfallhäufigkeit von älteren Fahrerin-
Abschlussbericht ›Pfiff‹
nen und Fahrern im Öffentlichen Personennahverkehr ist (nach Untersuchungen
von Ell 1995, S. 160ff.) geringer als die jüngerer Fahrerinnen und Fahrer, obwohl
auf Grund nachlassender Reaktionszeiten im Alter eher eine erhöhte Unfallhäufigkeit zu erwarten wäre.
2.2 Bedeutung für das Age Management
Mittlerweile – so lässt sich mit Hacker (2003, S. 5) feststellen –, ist die Beziehung von Leistungsfähigkeit und Lebensalter umfassend erforscht. Diese
Forschungen rund um den Begriff der Leistungsfähigkeit im Altersverlauf liefern
wertvolles, praktisch anwendbares Grundwissen für das Age Management. Sie
haben altersstabile und altersvariable Anteile nachgewiesen und dabei gezeigt:
„Altern muss nicht Abbau und Verlust bedeuten, sondern kann in vielen Bereichen geradezu Gewinn sein“ (Lehr 2005, S. 3).
In beruflichen Kontexten wirken die altersstabilen und altersvariablen Anteile
in unterschiedlicher Weise zusammen und „häufig sind einzelne Anteile kompensierbar durch andere bzw. durch andersartige Arbeitsweisen oder durch
Hilfsmittel (die auch altersunabhängig genutzt werden). Beispielsweise sind verlangsamtes Reaktionstempo durch Voraussicht oder verringerte Kurzzeitbehaltensspannen durch externes Speichern wettzumachen. Außerdem hat die Rolle
körperlicher Arbeitsanforderungen durch Mechanisierung und Automatisierung
deutlich abgenommen. Alles das macht verständlich, dass mehrheitlich keine
Verschlechterungen der beruflichen Leistungen mit dem Lebensalter nachweisbar sind. Nur etwa 10 % der individuellen Unterschiede in der Arbeitsleistung
sind allein durch das Lebensalter aufgeklärt“ (Hacker 2003, S. 5).
Trotz dieser Erkenntnis und obwohl schon Plato wusste: „Der Blick des Geistes beginnt ja erst dann scharf zu sehen, wenn der der Augen in seiner Sehkraft
nachzulassen anfängt“ (zitiert nach Rufener 1958, S. 174), ist dennoch festzustellen, dass die Leistungsfähigkeit älter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vielfach
in den Unternehmen noch vor dem Hintergrund eines reinen Defizitmodels
betrachtet wird. Das zeigen z. B. Befragungen von Entscheidungsträgern, die das
Institut für Beschäftigung und Employability der FH Ludwigshafen durchgeführt
hat (Rump/Eilers 2006, S. 133ff). Das Altern im Erwerbsleben ist dem Defizitmodell zufolge vor allem dadurch gekennzeichnet, dass bestimmte physische
und psychische Fähigkeiten nachlassen, es wird somit oft mit dem Verlust von
Leistung und körperlichen Funktionen gleichgesetzt und ignoriert vielfach die
gleichzeitig anzutreffenden Zuwächse. „Älter zu werden, so die gängige Meinung, bedeutet, Leistungsdefizite zu haben, sich gegenüber Neuem zu verschließen, unflexibel zu sein. Jung steht dagegen für Innovation und Leistungsfähigkeit“ (Böhne/Wagner 2005, S. 348).
Diese Sichtweise mag ihren Grund auch in der Tatsache haben, dass das
Altern im Berufsleben zum Problem werden kann, wenn Beschäftigte auf lange
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Abschlussbericht ›Pfiff‹
Sicht in beanspruchungsintensiven Tätigkeiten verbleiben und wenn eine dort
geforderte spezifische Belastung dazu führt, dass das individuelle Leistungsvermögen die Beanspruchungsfolgen immer weniger abmildern kann (Stichwort
„Leistungsgewandelte“). Beispiele hierfür sind andauernde Montagearbeiten
über Kopf (z. B. in der Automobilindustrie) oder generell Schichtarbeit in ungünstigen Arbeitszeitmodellen. Dies betrifft nicht nur physische, sondern auch
psychische Beanspruchungen, die sich z. B. durch das Burnout-Syndrom zeigen.
Der Gesundheitszustand und das Leistungsvermögen der Beschäftigten sind
dann hauptsächlich das Ergebnis der Arbeitsbedingungen der Vergangenheit
und weniger durch deren kalendarisches Alter bestimmt. Auch können natürlich
neben den Arbeits- die sonstigen Lebensbedingungen und somit private Verhaltensweisen zu einer wesentlichen Reduktion der Leistungsfähigkeit beitragen. Zu
bedenken ist dabei aber, „dass die jeweiligen Beschäftigungs- und Lebensbedingungen von Erwerbstätigen in vielfacher Weise eng miteinander verbunden sind“
(Gerlmaier 2007, S. 114).
Insgesamt ist daher im Einklang mit der Altersforschung (vgl. z. B. Voelpel/
Leibold/Früchtenicht 2007, S. 105ff.) festzustellen, dass es bei älteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu einer, im Vergleich mit der Gruppe der jüngeren
Beschäftigten, größeren Unterschiedlichkeit der Leistungsfähigkeit kommt (vgl.
auch Lehr 2005, S. 3, Ilmarinen 2005, S. 136, Kruse 2008, S. 19), deren Ursache
nur zu einem geringen Teil im kalendarischen Alter, zu einem größeren Teil
jedoch aus Beanspruchungen im Berufs- und Privatleben resultiert. Hierauf müssen sich die Führungskräfte bei alternden Belegschaften einstellen.
Erforderlich ist demnach die Beachtung aller alters- und alternsbezogenen
Aspekte als alltägliche Führungsaufgabe, wahrgenommen durch die Gestaltung
der individuellen Arbeitsaufgabe als auch der Arbeitsumgebung, sodass jeder –
unabhängig vom Alter – sich befähigt fühlt, persönliche und betriebliche Ziele
zu erreichen (vgl. Ilmarinen 2008), erforderlich ist also – kurz gesagt – ein Age
Management, das demzufolge sehr viel stärker auf den einzelnen Beschäftigten
und seine Leistungsfähigkeit eingeht, als es bisher üblich ist. Unternehmen müssen daher ihre Strategien in Bezug auf den Umgang mit dem „Humankapital“
verschieben und zwar vom „one size fits all“ hin zum „Prinzip ‚fair und maßgeschneidert‘, indem unterschiedliche, auf Bedürfnisse und Vorlieben des Individuums zugeschnittene Vereinbarungen Einzug in die Unternehmenswirklichkeit
erhalten“ (Voelpel/Leibold/Früchtenicht 2007, S. 232). Dies wird vor allem zu
einer Herausforderung für die mittlere Führungsebene werden!
Abschlussbericht ›Pfiff‹
3. Arbeitsfähigkeit
3.1 Begriffsdefinition
In Deutschland wird mehr derzeit noch mehr über Arbeitsunfähigkeit als über
Arbeitsfähigkeit gesprochen, sodass solche Phänomene wie das des Präsentismus („krank zur Arbeit“) sowie dessen ökonomischen Folgen (vgl. Hemp 2005,
Boëthius 2008) oft übersehen werden. Im Zusammenhang mit alternden Belegschaften wird sich dies ändern, der Fokus in den Unternehmen verschiebt sich
dann hin zur Arbeitsfähigkeit.
Durch den Begriff der Arbeitsfähigkeit werden die Arbeitsanforderungen integraler Bestandteil des Fähigkeitskonzeptes. Während Leistungsfähigkeit – wie
oben dargelegt – letztendlich isoliert vom Arbeitskontext gesehen wird, änderte
sich dies bei der work ability. Dieser Begriff wurde beginnend in den 1980er-Jahren in Finnland im Zusammenhang mit dem Arbeitsbewältigungs-Index (work
ability index oder kurz WAI) vor allem von Ilmarinen und Tuomi (2004) geprägt.
Man kann dies durchaus mit einem Paradigmenwechsel i. S. von Thomas S.
Kuhn (1974) vergleichen. Es wird nun die Fähigkeit des Arbeitenden in eine konstitutive Beziehung zu den Anforderungen gesetzt, die zu erfüllen sind: „Work
ability is built on the balance between a person´s resources and work demands.
A person´s resources consist of health and ability, education and competence,
and values and attitudes (Ilmarinen 2005, S. 132). Kurz gesagt: Arbeitsfähigkeit
bezeichnet die relative Leistungsfähigkeit im Hinblick auf konkret zu benennende Arbeitsanforderungen, insbesondere im Hinblick auf die vor Ort zu erledigenden Arbeitsaufgaben; sie wird nicht abstrakt und allgemein als Fähigkeit zur Arbeit verstanden, sondern als Fähigkeit zu bestimmten Aufgaben in bestimmten
Situationen. „Arbeitsfähigkeit strebt eine auf Dauer angelegte Balance zwischen
den Arbeitsanforderungen und den Fähigkeiten der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer an und die gemeinsame Verantwortung von Management und
Belegschaft, diese auch zu erreichen“ (Warwick Institute 2006, S. 8).
Diese Begriffsdifferenzierung wird vor allem durch die Notwendigkeiten befeuert, die im Zusammenhang mit dem demographischen Wandel und alternden Belegschaften entstehen und entstehen werden. Denn wenn es nicht mehr
darum gehen kann, ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mehrheitlich in
den vorzeitigen Ruhestand „zu begleiten“, so rückt die Frage ihrer spezifischen
Leistungsfähigkeit sowie die alters- und alternsgerechte Arbeitsgestaltung in den
Mittelpunkt.
Zusammengefasst bezeichnet Arbeitsfähigkeit die Summe der Faktoren, die
einen Menschen in einer bestimmten Arbeitssituation in die Lage versetzen, die
ihm gestellten Arbeitsaufgaben erfolgreich zu bewältigen (vgl. Ilmarinen/Tempel,
2002, S. 166). Arbeitsfähigkeit ist also immer ein Paar, das durch eine Person
und eine Situation gekennzeichnet ist.
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Abschlussbericht ›Pfiff‹
3.2 Bedeutung für das Age Management
Der Erhalt und die Förderung der Arbeitsfähigkeit kann als die zentrale Aufgabe des Age Managements beschrieben werden. Bei der Erfüllung dieser Aufgabe
sind die arbeitswissenschaftlichen Erkenntnisse von großer Bedeutung, die im
Zusammenhang mit den „finnish age policies“ gewonnen wurden (vgl. Ilmarinen/Tempel 2002, Ilmarinen 2005). Zusammengefasst im Haus der Arbeitsfähigkeit besagen sie, dass Arbeitsfähigkeit in der Interaktion von Humanressourcen und Arbeitsanforderungen weiterentwickelt und gefördert, aber auch
reduziert und vermindert wird. Auf Seiten des Individuums sind Gesundheit,
Kompetenz und Werte (i. S. von Einstellungen und Motivation) die entscheidenden Faktoren, auf Seiten der Arbeitsanforderungen geht es um Aufgabeninhalt,
Arbeitsorganisation, Arbeitszeit, Arbeitsumgebung und Management bzw.
Führung.
Die Beiträge der einzelnen Faktoren, d.h. ihre Stärke und Wirkungsrichtung
sind in dem epidemiologisch abgesicherten Modell durchaus sehr unterschiedlich. So trägt z. B. die Zufriedenheit mit dem Verhalten des Vorgesetzten sehr viel
mehr zur Förderung der Arbeitsfähigkeit bei als manche ergonomische Verbesserung (vgl. Ilmarinen/Tempel 2002, S. 249f). Umgekehrt ist bei einer geringen
Anerkennung und Wertschätzung der Arbeit das Risiko der Verschlechterung der
Arbeitsfähigkeit sehr viel größer, als dies bei zu geringem körperlichen Training
in der Freizeit der Fall ist (a.a.O.). Auch zeigt sich, dass der Verlust an Arbeitsfähigkeit bei einer schlechten Balance mit dem Zeitablauf sehr viel schneller
vonstatten geht als der anschließende Wiederaufbau.
Diese Erkenntnisse lassen sich praktikabel nutzen, wenn sie in ein Managementvorgehen eingebunden werden: Analyse, Maßnahmenentwicklung und -umsetzung sowie Wirksamkeitsprüfung sind dabei die entscheidenden Schritte. Zur
Unterstützung bei der Analyse kann der Arbeitsbewältigungs-Index (Ilmarinen/
Tempel 2002, S. 169ff., siehe auch www.arbeitsfaehigkeit.net) ggf. kombiniert
mit dem KFZA (Prümper/Hart­manns­gru­ber/Frese 1995) eingesetzt werden (weitere Instrumente siehe z. B. Seiler 2008, S. 11ff). Dieses Vorgehen wurde z. B. im
sogenannten HAWAI4U-Projekt (Handlungshilfe Work Ability Index für Unternehmen), das das Land NRW und der Europäische Sozialfonds gefördert haben,
praktisch erprobt (vgl. www.hawai4u.de).
4. Beschäftigungsfähigkeit
4.1 Begriffsdefinition
Eine weitere Differenzierung der für die Arbeitswelt wichtigen Fähigkeitskonzepte ergibt sich aus folgender Überlegung: Die mit dem globalen Wettbewerb
Abschlussbericht ›Pfiff‹
zunehmende Dynamik und Flexibilisierung der Arbeitswelt erfordert eine Sichtweise, die die Leistungsfähigkeit der Beschäftigten nicht nur vor dem Hintergrund bestehender oder zukünftiger Arbeitszuschnitte innerhalb des Unternehmens, sondern auch vor dem Hintergrund der Erfordernisse des Arbeitsmarktes
sieht (vgl. Blancke/Roth/Schmid 2000). Der Heizer einer Dampflok kann sehr
wohl leistungs- und arbeitsfähig sein, er ist jedoch ohne Weiteres nicht beschäftigungsfähig, da es für seinen Beruf keinen wirklichen Arbeitsmarkt gibt. Im
Begriff der Beschäftigungsfähigkeit werden daher die Kom­petenzen, Fähigkeiten
und Eigenschaften einer Person zu den Anforderungen und Möglichkeiten von
Unternehmen und Arbeitsmarkt gesetzt.
Das erste, allerdings sehr einfache Konzept von Beschäftigungsfähigkeit
geht auf den Beginn des 20. Jahrhunderts zurück und unterteilte im Hinblick
auf Unterstützungsmaßnahmen Personen, die von Armut und Arbeitslosigkeit
betroffen waren, in solche, die „beschäftigungsfähig“ waren, und solche, für die
dies nicht zutraf (Deeke/Kruppe 2003, S. 7). Hieraus entwickelten sich dann im
Laufe der Zeit verschiedene Konzepte von Beschäftigungsfähigkeit (Gazier 1999,
S. 68f. kategorisiert sieben Hauptkonzepte), die u. a. durch Einführung quantitativer Aspekte („mehr oder weniger beschäftigungsfähig“) entstanden.
Beginnend in den 1990er Jahren avancierte Beschäftigungsfähigkeit zu einer
zentralen Dimension der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungs-, aber auch der
Bildungspolitik der Europäischen Union (Schemmann 2004, S. 111). Zuerst lag
dabei der Schwerpunkt im Rahmen der ersten Europäischen Beschäftigungsstrategie auf besonderen Zielgruppen des Arbeitsmarktes (arbeitslose Jugendliche, Langzeitarbeitslose), später wurden auch in Unternehmen tätige Personen
einbezogen. In dieser Tradition bezeichnet Beschäftigungsfähigkeit auch ein
arbeitspolitisches Konzept, so z. B. im Bundesland Nordrhein-Westfalen, wo es
auf einem differenzierten Instrumenten-Mix aus Beratung, Weiterbildungsaktivierung, innovativen Projekten sowie auf einem zielgerichteten Informations- und
Servicemanagement ruht (vgl. Loß/Matzdorf/Richenhagen/Riepert 2009).
Mittlerweile hat sich die folgende allgemeine Definition von Beschäftigungsfähigkeit herausgebildet: „Beschäftigungsfähigkeit beschreibt die Fähigkeit einer
Person, auf der Grundlage ihrer fachlichen und Handlungskompetenzen, Wert­
schöpfungs- und Leistungsfähigkeit ihre Arbeitskraft anbieten zu können und
damit in das Erwerbsleben einzutreten, ihre Arbeitsstelle zu halten oder, wenn
nötig, sich eine neue Erwerbsbeschäftigung zu suchen“ (Blancke/Roth/Schmidt
2000, S. 9). Kürzer: Beschäftigungsfähigkeit „ist die Fähigkeit, fachliche, soziale
und methodische Kompetenzen unter sich wandelnden Rahmenbedingungen
zielgerichtet und eigenverantwortlich anzupassen und einzusetzen, um eine
Beschäftigung zu erlangen oder zu erhalten“ (Rump/Eilers, 2006, S. 21). Oder
noch kürzer: Beschäftigungsfähigkeit ist andauernde Arbeitsfähigkeit, die sich in
stark wandelnden Arbeitsmärkten beweist.
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Abschlussbericht ›Pfiff‹
4.2 Bedeutung für das Age Management
Beschäftigungsfähigkeit ist der allgemeinste Leitbegriff, an dem sich das Age
Management als Zielgröße ausrichten kann. Er umfasst die Arbeitsfähigkeit und
gibt ihr eine externe, d. h. auf den Arbeitsmarkt gerichtete Orientierung. Ein Age
Management, das sich daran ausrichtet, stärkt nicht nur die Arbeitsfähigkeit der
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, sondern auch ihre Fähigkeit zum „self-management“ und „self-marketing“ und zwar so, „dass sie sich auf flexibilisierten
Arbeitsmärkten (relativ) frei bewegen und dadurch ihre Existenz sichern können“
(Blancke/Rothe/Schmid 2000, S. 9).
Handlungsansätze zu einem am Leitbegriff der Beschäftigungsfähigkeit orientierten Age Management wurden von Rump und Eilers entwickelt. Sie heben
dabei hervor, „dass ein ganzheitliches Vorgehen entscheidend [ist], das einer
Gesamtstrategie folgt und die Unternehmenskultur sowie Führung im Blick hat“
(Rump/Eilers 2006, S. 140). Als zentrale Bedingungen sehen sie „die Schaffung
eines lernförderlichen Umfeldes“ an sowie die „Eliminierung des Kriteriums
‚Alter‘ als Entscheidungs- und Handlungsgrundlage“ (a.a.O.) zugunsten einer
Orientierung auf die Beschäftigungsfähigkeit. Kurz gesagt: Die Frage, die zu
stellen ist, lautet nicht mehr „Wie alt?“, sondern „Welche Aufgabe, in welcher
Lebensphase, in welchem Unternehmen?“.
Bei beiden oben genannten Bedingungen besteht in Deutschland noch Nachholbedarf. So liegt z. B. im EU15-Ländervergleich Deutschland unterhalb des
Abschlussbericht ›Pfiff‹
EU15-Durchschnittes, wenn Beschäftigte (repräsentativ) danach gefragt werden,
ob Lernen von Neuem bei der Arbeit möglich ist (Richenhagen 2007, S. 112).
Insbesondere ist der Anteil älterer Beschäftigter, die Neues bei der Arbeit lernen
können, im EU15-Vergleich sehr gering. Während die Spitzenreiter Finnland,
Dänemark und Schweden auf Werte über 80 % kommen, bleibt Deutschland mit
rund 60 % der Älteren (hier über 45-Jährige) unterhalb des EU15-Mittelwertes
von 67,1 %, wobei zusätzlich noch ein deutliches Gefälle zwischen Männern und
Frauen zu Ungunsten der Frauen festzustellen ist (Ilmarinen 2005, S. 301).
Auch an der Einhaltung der zweiten Grundbedingung sind im Lichte neuerer wissenschaftlicher Erkenntnisse Zweifel angebracht. So zeigen z. B. Daten
des IAB-Betriebspanels 2002, dass ca. die Hälfte der Unternehmen grundsätzlich nicht oder nur unter Bedingungen bereit ist, ältere Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter neu einzustellen (Brussig 2005). Ein weiteres Indiz ist, dass in
Deutschland im Vergleich zu anderen EU-Staaten relativ hohe Differenzen in
der betrieblichen Weiterbildungsbeteiligung Älterer und Jüngerer festzustellen
sind. Während die Differenz in Deutschland -12%-Punkte beträgt, liegt sie beim
Spitzenreiter Finnland bei +1% (Bannwitz 2008, S. 26), d.h. dort nehmen anteilig
sogar geringfügig mehr Beschäftigte aus der Gruppe der Älteren (> 54 Jahre) an
betrieblichen Weiterbildungsmaßnahmen teil, als dies bei der Gruppe der Jüngeren der Fall ist.
5. Fazit
Die Begriffe Leistungsfähigkeit, Arbeitsfähigkeit und Beschäftigungsfähigkeit
lassen sich folgendermaßen in Beziehung zueinander setzen: Leistungsfähigkeit
ist Voraussetzung für Arbeitsfähigkeit, irgendeine Form von Arbeitsfähigkeit
ist wiederum Voraussetzung für Beschäftigungsfähigkeit. Arbeitsfähigkeit kann
auch als relative Leistungsfähigkeit im Hinblick auf konkret zu benennende
Arbeitsanforderungen verstanden werden. Beschäftigungsfähigkeit lässt sich als
andauernde Arbeitsfähigkeit in sich wandelnden Arbeitsmärkten charakterisieren. Arbeitsfähigkeit wiederum ist „on-the-job employability“.
Hinter allen drei Begriffen stehen unterschiedliche Forschungsansätze und
Praxisbezüge. Sie leisten alle auf unterschiedliche Weise einen wesentlichen
Beitrag zu einem Ziel: Den großen Herausforderungen einer flexiblen Erwerbsgesellschaft im demographischen Wandel so zu begegnen, dass sich für die
Beschäftigten neue Sicherheiten im Rahmen eines „New Social Contracts“, eines
„New Deals“ ergeben. Denn wenn der Erhalt und die Förderung der Leistungs-,
Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit gemeinsame Aufgabe von Unternehmen
und Beschäftigten, von Wirtschaft und Staat werden, erhöhen sich für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer die Chancen, dauerhaft am Arbeitsleben teilzunehmen, sei es innerhalb oder außerhalb des Unternehmens oder der Organisation, in der sie momentan tätig sind.
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Abschlussbericht ›Pfiff‹
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Abschlussbericht ›Pfiff‹
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Abschlussbericht ›Pfiff‹
Dr. Jürgen Pfister leitet den Konzernbereich „Personal & Soziales“ (Corporate
Human Resources Management) der METRO Group in Düsseldorf seit August 2003.
Nach Abschluss des Soziologiestudiums in Frankfurt/Main mehrjährige Tätigkeit in
der sozialwissenschaftlichen Forschung mit den Schwerpunkten Bildungs- und Organisationsforschung. Im Anschluss an die Promotion 1986 Wechsel als Werkspersonalleiter zur Mars GmbH. Seit 1989 tätig in leitenden Funktionen des Personal- und
Organisationsmanagements in nationalen und internationalen Unternehmen der
Konsumgüterindustrie, des Pharma-Großhandels sowie der Chemie- und der Pharmaindustrie. Zahlreiche Veröffentlichungen und Vorträge zur Gestaltung des demographischen Wandels sowie zu Rolle, Aufgaben und Organisation des Human Resources
Managements und der Führung in internationalen Unternehmen. Seit 2002 Mitglied
des wissenschaftlichen Beirats und Dozent an der Düsseldorf Business School. Verleihung des Bundesverdienstkreuzes im April 2008 für Verdienste um die betriebliche
Ausbildung behinderter Jugendlicher und die Beschäftigung älterer Arbeitnehmer. Seit
März 2008 Vorsitzender des Vorstandes des im Jahre 2006 gegründeten Unternehmensnetzwerks ddn (Das Demographie Netzwerk).
Dr. Jürgen Pfister
METRO AG
Personal und Soziales
Postfach 23 03 61
40235 Düsseldorf
[email protected]
Abschlussbericht ›Pfiff‹
Jürgen Pfister
Die Entwicklung einer „demografitten“
Unternehmenskultur in der METRO Group
Die Alterung ist der Megatrend, der das soziale Gefüge in den Gesellschaften
Europas – unsere Arbeits- und Lebensgewohnheiten, unsere Sozialsysteme und
unsere Wertvorstellungen – in den nächsten Jahrzehnten radikal verändern wird.
Der Alterungsprozess wird in nahezu allen europäischen Ländern, vor allem aber
in Deutschland eine völlig neue, nie da gewesene Situation schaffen.
1. Die Alterung der Bevölkerung – Fakten
Charakteristisch für diesen Alterungsprozess ist zunächst einmal der Anstieg
der durchschnittlichen Lebenserwartung um etwa 3 Monate pro Jahr. Im Jahre
2030 wird die Lebenserwartung eines 40-Jährigen auf über 90 Jahre gestiegen
sein und damit um rund 10 Jahre über der eines 40-Jährigen im Jahre 2000 liegen. Das häufigste Alter in der Alterspyramide wird in Deutschland dann bei 65
Jahren liegen.
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Die Berufswelt altert rasch. Der Anteil der über 55-Jährigen an der Erwerbsbevölkerung Europas wird bis 2030 um 24 Millionen bzw. um 8,7% steigen. Dagegen wird der Anteil aller übrigen Altersklassen um ca. 20 – 25 % abnehmen.
Innerhalb von nur 100 Jahren hat sich die Zeitspanne der Erwerbsarbeit um
rund 20 Jahre – von damals 55 auf heute 35 Jahre – verkürzt. Für das Rentenzugangsalter von 60 Jahren lag der sogenannte Altenquotient 2001 bei 44, d.h.
100 Menschen im Erwerbsalter standen 44 Personen über 60 Jahre gegenüber.
Nach der „mittleren Variante“ der Vorausberechnung des statistischen Bundesamtes wird dieser Altenquotient bis zum Jahr 2030 auf 71 steigen. Es liegt auf
der Hand, dass die Rentenkassen diesen dramatisch wachsenden Bestand von
älteren Leistungsempfängern bei einer zugleich sinkenden Zahl der Beitragszahler auf Dauer nicht bewältigen können.
2. Die Entstehung einer globalen Wissensgesellschaft
Zeitgleich mit den Alterungs- und Schrumpfungsprozessen in den europäischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystemen entsteht eine globale Wissensgesellschaft. Bereits heute sind 80 von 210 Mio. Arbeitnehmern (=38%) aus 25
EU-Mitgliedsstaaten in hoch qualifizierten, nicht manuellen Tätigkeiten beschäftigt. In den wissens- und dienstleistungsintensiven Sektoren werden bis 2015 in
Europa mehr als 13 Mio. zusätzliche Jobs entstehen. Die Nachfrage nach qualifi-
Abschlussbericht ›Pfiff‹
zierten Arbeitskräften wird daher in Zukunft rapide zunehmen.
Dieser steigenden Nachfrage steht ein zurückgehendes Angebot an qualifizierten Arbeitskräften gegenüber. Das „Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung“
hat kürzlich dargelegt, dass bei Fortschreibung der heutigen Trends bereits im
Jahre 2015 mindestens 7 Millionen qualifizierte Arbeitskräfte in Deutschland
fehlen werden.
Dagegen ist der Anteil der einfachen, ungelernten Tätigkeiten an der betrieblichen Gesamtbeschäftigung in Deutschland allein im Zeitraum 2001 bis 2007
von 25 % auf 21 % stark gesunken. Und leider steigt in Deutschland ausgerechnet die Zahl der Geringqualifizierten stark an. Im Jahr 2005 hatten rund 20% der
Erwerbsbevölkerung in Deutschland, d.h. knapp 5 Millionen Personen zwischen
20 und 64 Jahren keinen beruflichen Abschluss. – Im Alter von 20 bis 24 Jahren
waren es 34%!
Am Arbeitsmarkt erleben wir gewissermaßen eine Zweiteilung des Arbeitskräfteangebots in ein schrumpfendes Segment an hochqualifizierten Arbeitskräften
einerseits und in ein wachsendes Segment von gering qualifizierten Arbeitskräften andererseits. In beiden Segmenten geht die Schere zwischen Angebot und
Nachfrage zunehmend auseinander: Während im ersten Segment einer steigenden Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften ein zurückgehendes Angebot
gegenübersteht, trifft im zweiten Segment eine sinkende Nachfrage auf ein
steigendes Angebot an gering qualifizierten Arbeitskräften.
3. Die Ursachen des Fachkräftemangels
Für die Unternehmen stellt sich die zentrale Frage, wie sie zukünftig ihren
steigenden Bedarf an hoch qualifizierten Fach- und Führungskräften in einem
schrumpfenden Arbeitsmarkt sicherstellen können. Um diese zentrale Frage zu
beantworten, müssen wir zunächst einen Blick auf die Ursachen des sich abzeichnenden Fachkräftemangels werfen. Eine Ursache, auf die wir im Übrigen
kaum Einfluss haben, liegt sicher zunächst in den Schrumpfungs- und Alterungsprozessen der Erwerbsbevölkerung in Europa begründet, die durch den
demographischen Wandel gewissermaßen vorprogrammiert sind. Eine zweite
wesentliche Ursache, auf die wir sehr gezielt Einfluss nehmen können, besteht
darin, dass wir in den Unternehmen die bestehenden Wissens-, Fähigkeits- und
Begabungspotenziale insbesondere der älteren Arbeitnehmer nicht genügend
ausschöpfen, konsequent nutzen und weiterentwickeln.
Die Arbeitslosenquote steigt mit zunehmendem Alter mit der Folge, dass in
der Altersgruppe der 55- bis 64-Jährigen nur noch knapp 50 % erwerbstätig sind.
Ein Lichtblick: Bei der Erwerbsbeteiligung Älterer sind in den letzten beiden
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Jahren in Deutschland Fortschritte erzielt worden – noch im Jahre 2004 lag
die Erwerbsbeteiligung Älterer nur bei 43 %. Dennoch: Nahezu die Hälfte aller
Unternehmen in Deutschland beschäftigt grundsätzlich keine über 50-Jährigen
mehr. Angesichts solcher Zahlen liegt ein wesentlicher Schlüssel zur Lösung des
Fachkräftemangels in Deutschland in der gezielten Ausschöpfung des Potenzials
der älteren Arbeitnehmer.
4. Altersdiskriminierung
Ausgerechnet die Gruppe der Älteren, die in einer schrumpfenden Gesellschaft
in Zukunft als einzige massiv wachsen wird, wird bis auf den heutigen Tag nach
wie vor auf die unterschiedlichste Weise, versteckt oder ganz offen, diskriminiert.
Beispiele dafür, wie sehr wir im Gestern verhaftet sind:
–– eine Rekrutierungspolitik, die sich vornehmlich an Jüngere wendet und
„Alter“ wie eine Qualifikationsanforderung behandelt,
–– eine Personalentwicklung, die Mitarbeiter, die das 40. Lebensjahr vollendet haben, als „nicht mehr entwicklungsfähig“ von weiteren Karriereplanungen ausschließt,
–– eine Personalplanung, die die Frühverrentung als probates Mittel des
Personalabbaus nutzt.
Abschlussbericht ›Pfiff‹
Wesentliche Ursache für diese Diskriminierung des Alters im Erwerbsleben
sind unsere tradierten Altersbilder und die Idealisierung der Jugendlichkeit. Was
wir später im Alter tun oder lassen, ja die gesamte Art und Weise, wie wir altern,
wird wesentlich durch die kollektiven Bilder bestimmt, die wir uns vom Alter
machen. Negative Altersbilder sehen das Alter wesentlich als Verlust von Fähigkeiten, als Einschränkung von Möglichkeiten. Im Vordergrund stehen Gebrechen
und Krankheit bis hin zu Siechtum und Tod. Jugend und Jugendlichkeit stehen
als Ideale im Vordergrund. Alt sein und altern möchte niemand. Verständlich,
dass eine Gesellschaft mit einem solchen negativen Altersbild das Alter und das
Altern unter allen Umständen vermeiden will, ausgrenzt und tabuisiert.
Altersbilder haben nachhaltige Konsequenzen für den praktischen Umgang der
Menschen mit ihren individuellen Alterungsprozessen ebenso wie für die gesellschaftliche Organisation von Alterungsprozessen und für das Maß an Wertschätzung, das eine Gesellschaft ihren älteren Mitmenschen zuteil werden lässt. Das
in einer Gesellschaft geltende Altersbild wirkt wie eine „self-fulfilling prophecy“:
Es schafft sich seine eigene Wirklichkeit.
Unser Umgang mit dem „Alter“ beruht auf einem Altersbild, das den klassischen Rentner des Industriezeitalters im Auge hat: 40 Jahre Betriebszugehörigkeit – Rente – Sofa und Fernseher – sozial isoliert – körperlich und geistig
verbraucht. In der Industriegesellschaft wurde „Alter“ deshalb automatisch
gleichgesetzt mit dem Ausschluss aus dem Arbeitsleben.
Für die geringe Erwerbstätigenquote der 55- bis 64-Jährigen ist vor allem die
tiefsitzende Vorstellung verantwortlich, dass ältere Arbeitnehmer eigentlich aufs
Abstellgleis gehören. Auf der Grundlage dieser Vorstellungen haben Arbeitgeber, Gewerkschaften und Politiker Millionen von Arbeitnehmern in den letzten
25 Jahren mit Erreichen des 55. Lebensjahres in den vorgezogenen Ruhestand
geschickt. Dabei wurde die mit den Vorruhestandsregelungen verfolgte Zielsetzung, jüngeren Arbeitslosen einen Arbeitsplatz zu sichern, nicht einmal ansatzweise erreicht. Resultat war vielmehr die Propagierung einer negativen Sicht des
älteren Arbeitnehmers, die in den Unternehmen bis heute nachwirkt und dazu
beiträgt, älteren Arbeitnehmern Arbeitsmarktchancen und Weiterbildungsmöglichkeiten vorzuenthalten. Wenn wir jedoch weiterhin diejenigen, die das 55.
Lebensjahr überschritten haben, reflexhaft in den Vorruhestand schicken, dann
signalisieren wir darüber hinaus auch den jüngeren Mitarbeitern von heute,
dass auch sie mit dem Erreichen eines bestimmten Lebensalters morgen nichts
mehr wert sind.
5. Wege zur Mobilisierung der Produktivitätsreserven „50plus“
Um die Produktivitätsreserven „50plus“zu nutzen, müssen wir in den Unternehmen zu einer Neubewertung des Alters kommen. Eine Kultur, die ältere und
alternde Menschen stärkenorientiert einsetzt und wertschätzt, können wir nur
dann entwickeln, wenn wir die tradierten Altersstereotype überwinden und durch
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ein konstruktives, chancenorientiertes Bild vom Alter ersetzen. Erste Anzeichen
für eine Wende sind bereits erkennbar: In der Wissensgesellschaft spielt die
körperliche Leistungsfähigkeit nicht mehr die entscheidende Rolle. Wir werden
in Zukunft nicht nur sehr viel mehr Ältere, sondern auch andere Ältere bekommen. Die neuen Alten unterscheiden sich in ihren Werthaltungen und in ihrem
Wunsch nach fortgesetzter aktiver Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erheblich von ihren Vorgängergenerationen. Das wachsende Heer der „Wissensarbeiter“ wird nicht – wie es noch die Industriearbeiter taten – von heute auf morgen
aus dem Arbeitsleben verschwinden. Mit dem Wandel zur Wissensgesellschaft
ist die Arbeit zunehmend Teil der Sphäre der Selbstverwirklichung geworden.
Das Bedürfnis, auch im Alter noch produktiv tätig sein zu wollen, wächst. Die
Datenbank des im Juni 2006 gegründeten Vermittlungsdienstes für hoch qualifizierte Fach- und Führungskräfte „Erfahrung Deutschland“ umfasst inzwischen
bereits rund 5.400 Senior-Experten. Bedingung für die Aufnahme in diese Datenbank ist ein Mindestalter von 55 Jahren!
War früher der Vorruhestand eine Errungenschaft, so ist es heute bereits ein
Privileg, auch mit 65 Jahren und danach weiterhin arbeiten zu können und zu
dürfen. Arbeit ist ein entscheidender Faktor, der zur Gesunderhaltung beiträgt.
Die Altersforscherin und ehemalige Bundesministerin Ursula Lehr folgert deshalb: „Eine Berufstätigkeit, die weder überfordert noch unterfordert, ist die beste
Geroprophylaxe“.
Die Lebensentwürfe für das Alter folgen keinem linearen Muster mehr. Deshalb ist keine soziale Gruppe so heterogen wie die der Älteren. Je älter wir
werden, umso weniger sagt die Anzahl der Jahre etwas aus über Fähigkeiten und
Fertigkeiten. Die körperliche und geistige Funktionsfähigkeit ist bei Menschen
gleichen chronologischen Alters sehr unterschiedlich. Sie wird entscheidend
durch das „functional age“ bestimmt. Das „functional age“ ist das Resultat von
biologischen und sozialen Faktoren, die während des gesamten Lebens einwirken. Dabei spielen Schulbildung, Berufsausbildung, Lebensstil und Reaktionen
auf Belastungen eine entscheidende Rolle. Wer mit 50 oder 55 Jahren noch nicht
gelernt hat, sich weiterzuentwickeln, der wird sich sehr schwer damit tun, heute
plötzlich damit anzufangen. Ursula Lehr hat einmal treffend formuliert: „Es
kommt nicht darauf an, wie alt man wird, sondern darauf, wie man alt wird“.
Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, den Alterungsprozess – von
Anfang an so zu gestalten, dass die Menschen gesund altern und ihre Lern- und
Beschäftigungsfähigkeit langfristig erhalten können. So gesehen altern Menschen ihr Leben lang. In diesem Verständnis ist die Diskussion, wo man denn
die Altersgrenze anzusetzen habe – mit 50 oder aber erst mit 55 oder gar erst mit
65 Jahren – einigermaßen skurril. Unsere derzeitige Praxis, Altersnormen und
-grenzen zum Kriterium für irgendwelche Maßnahmen zu machen, ist grundsätzlich kritisch zu hinterfragen.
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6. Unternehmenskultur als Erfolgsfaktor
Angesichts des zunehmenden Fachkräftemangels werden Unternehmen ihre
Fach- und Führungspositionen zukünftig verstärkt mit Menschen besetzen müssen, die heute noch teilweise am Rande des Arbeitsmarkts stehen, das heißt: mit
Frauen, mit Migranten und vor allem mit älteren Menschen jenseits des fünfzigsten Lebensjahrs. Die Produktivität in der Wissensökonomie hängt wesentlich
davon ab, inwieweit es einem Unternehmen gelingt, das in der eigenen Organisation und in ihrem gesellschaftlichen Umfeld verfügbare Potenzial an Wissen,
Fähigkeiten und Begabungen zu mobilisieren, einzusetzen und weiterzuentwickeln, und zwar unabhängig davon, ob die Träger dieses Wissens, männlich
oder weiblich, behindert oder nicht-behindert, deutscher Herkunft oder mit
Migrationshintergrund, alt oder jung sind. Inwieweit dies gelingt, ist im Wesenlichen eine Frage der Unternehmenskultur. Die Entwicklung einer integrativen
Unternehmenskultur der Vielfalt und Wertschätzung, in der Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter unterschiedlicher ethnischer Herkunft und unterschiedlicher
Generationen gerne und produktiv zusammenarbeiten können, wird damit zum
zentralen Erfolgsfaktor in der Wissensökonomie.
Ich möchte Ihnen im Folgenden sechs Handlungsfelder vorstellen, in denen
wir in der METRO Group konkrete Maßnahmen ergriffen haben, um insbesondere die Produktivitätsreserven der älteren Mitarbeiter besser nutzen und mobilisieren zu können:
1. Entwicklung einer Unternehmenskultur der Vielfalt und Wertschätzung
2. Konstruktive und produktive Werthaltungen zum Altern
3. Ausbau der betrieblichen Gesundheitsförderung
4. Berufliche Weiterbildung
5. Gezielte Gestaltung der Generationenbeziehungen
6. Vereinbarkeit von „Beruf und Familie“ (Work Life Balance)
7. Handlungsfelder zur Mobilisierung der älteren Mitarbeiter
in der METRO Group
7.1 Entwicklung einer Unternehmenskultur der Vielfalt und Wertschätzung
Die demographischen Trends werden unsere Kunden ebenso stark prägen wie
die Mitarbeiter an unseren mehr als 2100 Standorten in Europa. Die METRO
Group erwartet in den nächsten Jahren eine Kundschaft, die immer vielfältiger
wird. Sie stellt sich in Europa auf einen steigenden Anteil von älteren Kunden
und von ethnisch vielfältigen Kunden ein. Ein Handelsunternehmen, das eine
wachsende Zahl von älteren und ethnisch vielfältigen Kunden hat, ist dringend
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auch auf Mitarbeiter angewiesen, die diesen Gruppen angehören. Sie können
diese Kunden dann zumeist besser verstehen und kompetent beraten, bedienen
und zufriedenstellen. Grundsätzlich gilt deshalb, dass sich die Altersvielfalt und
die ethnische Vielfalt der Kunden auch in der Struktur und Zusammensetzung
der Mitarbeiterschaft der METRO Group widerspiegeln soll. So lag der Anteil
der über 50-Jährigen Mitarbeiter in der METRO Group in Deutschland im Jahre
2001 noch bei 21 %. Heute sind knapp 27 % unserer rund 130.000 Mitarbeiter in
Deutschland in der „Altersgruppe 50 plus“. Dies entspricht in etwa dem Anteil
der über 50-Jährigen am Erwerbspersonenpotenzial in Deutschland insgesamt.
Es kommt hinzu, dass „Alter“ in der METRO Group kein Einstellungshindernis
ist. So hat die METRO Group auch im Jahr 2007 konzernweit wieder rund 1.900
Mitarbeiter über 50 Jahre neu eingestellt.
Die METRO Group positioniert sich auf dem Arbeitsmarkt als „Equal Opportunities Employer“, der für alle Bewerber und Mitarbeiter gleiche berufliche
Zugangs- und Entwicklungschancen gewährleistet, und fördert systematisch ein
partnerschaftliches Verhalten ihrer Mitarbeiter am Arbeitsplatz. Eine altersausgewogene, ethnisch vielfältige und leistungsfähige Mitarbeiterschaft ist ein zentraler Erfolgsfaktor für die zukünftige Geschäftsentwicklung der METRO Group.
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7.2
Entwicklung von konstruktiven und produktiven Werthaltungen
zum „Alter“.
Basis jeder Gestaltung des Alterns ist zunächst die Entwicklung von konstruktiven und produktiven Werthaltungen zum „Alter“ als wesentlichem Bestandteil
der Wertschätzungskultur eines Unternehmens. Wir müssen uns darauf einstellen und lernen, mit einer alternden Belegschaft umzugehen. Der Alterungswelle
in den Betrieben mit den Mitteln der Frühverrentung zu begegnen, ist ebenso
aussichtslos, wie einen Tsunami durch den Bau einer Sandburg aufhalten zu
wollen. Wir haben mit dem erklärten Abschied von der Frühverrentung in der
METRO Group bereits im Jahre 2004 ein unbequemes Zeichen gesetzt, um die
Erwartungshaltung unserer Mitarbeiter zu Arbeit und Ruhestand zu verändern.
Die Zahl der neuen Altersteilzeitverträge ist seither von rund 1200 im Jahre 2004
um 83 % Prozent auf rund 200 im Jahr 2007 zurückgegangen. Dieser „Abschied von der Frühverrentung“ war sicherlich für manchen älteren Mitarbeiter
ein schmerzlicher Einschnitt in die persönliche Lebensplanung. Er war und ist
jedoch auch ein deutliches Signal zur Entwicklung einer Kultur, in der „alt sein“
nicht gleichzusetzen ist mit „schwach sein“, und in der alternde Mitarbeiter
gemäß ihren Fähigkeiten eingesetzt und wertgeschätzt werden. Die Wertschätzung, die Älteren und Ehemaligen entgegengebracht wird, ist auch ein humaner
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Horizont für die heutigen, jüngeren Beschäftigten, die mit der Perspektive des
eigenen Alterns in die Zukunft sehen.
7.3
Ausbau der betrieblichen Gesundheitsförderung
Im Durchschnitt fehlen die 45- bis 54-Jährigen heute fast 65 % mehr als die
unter 25-Jährigen. Bei den über 55-Jährigen sind es noch einmal 50% mehr als
bei den 45- bis 54-Jährigen. Dies liegt nicht unbedingt daran, dass Ältere häufiger krank werden als Junge, sondern vielmehr an der Dauer der Erkrankung. Die
Falldauer ist bei den Älteren ungefähr dreimal höher als bei den Jüngeren. Insgesamt haben deshalb die Älteren (50-plus) eine deutlich höhere Fehlzeitenquote.
Weil der Anteil der Älteren deutlich steigt, wird sich – bei unveränderten Rahmenbedingungen – die Fehlzeitenrate erhöhen. In der METRO Group haben wir
deshalb Maßnahmen der Gegensteuerung ergriffen, wie z. B. ein konsequentes
betriebliches Eingliederungsmanagement sowie die Einbeziehung aller Mitarbeiter in ein präventives betriebliches Gesundheitsmanagement.
Weniger die Fehlzeiten als vielmehr der Präsentismus sind jedoch das zentrale Problem eines aktiven Gesundheitsmanagements in der Wissensökonomie.
Dementsprechend wird die „Fehlzeitenquote“ als indirekter Leistungsindikator
in den Unternehmen zunehmend abgelöst durch die Messung des Mitarbeiterengagements. Mitarbeiterengagement ist das neue Maß für Mitarbeitergesundheit. Die Strategien, die hier greifen und Menschen gesund erhalten, basieren im
Wesentlichen auf den immateriellen Faktoren, die auch die Weiterbildungsbereitschaft und die Leistung in der Wissensökonomie bestimmen: Wertschätzung,
Lebensstil und körperliche Fitness (Ernährung, Bewegung), Unternehmenskultur, Normen und soziale Standards. Unternehmen können in der Wissensökonomie nicht dauerhaft wirtschaftlich gesund sein, wenn die Mitarbeiter nicht in
einem gesunden Klima arbeiten. Physische und psychische Gesundheit ist die
zentrale Basis für Leistungsfähigkeit und Engagement unserer Mitarbeiter. Wenn
diese Basis schwindet, dann ist die Leistungsfähigkeit der Organisation erheblich beeinträchtigt.
Die METRO Group hat sich bereits im Jahre 2004 dazu entschlossen, ein betriebliches Gesundheitsmanagement zu entwickeln, das dazu beitragen soll, die
Leistungs- und Beschäftigungsfähigkeit aller Mitarbeiter dauerhaft zu erhalten.
Mit den Leitlinien zur betrieblichen Gesundheitsförderung hat der Vorstand der
METRO AG im Jahr 2004 die konzernweite Bedeutung dieses Themas unterstrichen. Im Juni 2005 wurden Führungskräfte sämtlicher Vertriebslinien in einer
zentralen Veranstaltung unter dem Titel „Gesundheitsoffensive der METRO
Group – GO“ mit den Themen des betrieblichen Gesundheitsmanagements als
Führungsaufgabe vertraut gemacht. Auf dieser strategischen Plattform werden
gegenwärtig an ausgewählten Standorten Strukturen für ein betriebliches Ge-
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sundheitsmanagement (wie z. B. „Gesundheitszirkel“) pilotiert, die im Laufe der
nächsten Jahre in möglichst vielen Märkten und Betrieben der METRO Group
eingeführt werden sollen. Für die rund 3.200 Mitarbeiter unserer Logistikgesellschaft MGL haben wir ein vorbildliches betriebliches Gesundheitsmanagement
eingerichtet. Dies fängt bei Angeboten für eine gesunde Ernährung an, setzt sich
fort über die ergonomische Gestaltung von Arbeitsplätzen und hört nicht auf bei
Angeboten zur Stärkung der physischen und mentalen Fitness.
Sichtbarer Ausdruck des Engagements der METRO Group in Sachen „Gesundheit“ ist schließlich die Eröffnung eines „Gesundheitszentrums“, des sogenannten „Metro Activity Centers“ (MAC), für unsere mehr als 5000 Mitarbeiter am
Standort Düsseldorf zu Beginn des Jahres 2007.
Am Standort Düsseldorf haben wir damit begonnen, verstärkt auch die Themen im Bereich der psychosozialen Gesundheit anzugehen. Mit dem Hamburger Fürstenberg Institut haben wir dazu einen Beratungsvertrag abgeschlossen,
um unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am Standort bei beruflichen,
familiären und persönlichen Problemsituationen sowie psychosozialen Befindlichkeitsstörungen professionell unterstützen zu können. Führungskräfte können
sich in schwierigen Konflikt- und Führungssituationen hier ebenfalls Rat und
Unterstützung holen. Darüber hinaus möchten wir durch die Zusammenarbeit
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mit dem Fürstenberg Institut einen offensiven Umgang mit Tabuthemen wie
„Suchterkrankungen“ in unserem Unternehmen fördern.
7.4 Berufliche Weiterbildung
In der Wissensgesellschaft verändern sich Stellenbeschreibungen ebenso
schnell und dynamisch wie Qualifikationsanforderungen an die Stelleninhaber.
Was gestern noch zusammengepasst hat, hat sich heute bereits weit auseinander entwickelt. Der Einzelne benötigt deshalb regelmäßige Positionsbestimmungen und berufliche Entwicklungsgespräche. Weiterbildung braucht Perspektive.
Dazu gehört, dass Führungskräfte in der METRO Group selbstverständlich auch
mit den Mitarbeitern über ihre beruflichen Perspektiven sprechen, die das 50.
Lebensjahr überschritten haben. Solche Entwicklungsgespräche, die daraus
abzuleitenden Maßnahmen und die ständige Herausforderung durch immer
wieder neue Aufgaben sind eine Voraussetzung, um im Beruf gesund alt werden
zu können.
Grundsätzlich beziehen wir in der METRO Group unsere Mitarbeiter unabhängig von ihrem Alter in Weiterbildungsmaßnahmen ein. So hat z. B. unsere
Vertriebslinie „real“ im letzten Jahr mehr als 100 Mitarbeiter zum Fischfachverkäufer ausgebildet, die gerade von der IHK ihre Zertifikate als „Fachkraft für
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Frischfisch und Fischfeinkost im Handel“ erhalten haben. 19% der Teilnehmer
waren älter als 50 Jahre, darunter 9% älter als 55 Jahre.
Spezielle Weiterbildungsangebote für Ältere sind nur in Ausnahmefällen
sinnvoll. Dazu gehören z. B. Seminare oder Workshops zu Themen, in denen
es um einen generationsspezifischen Nachholbedarf, wie z. B. bei den neuen
IT- und Web-Technologien geht. Aber auch Menschen mit geringer beruflicher
Qualifikation, die über lange Zeiträume nicht gelernt haben, bedürfen eines
besonderen Angebots. Ein Beispiel für einen solchen Ausnahmefall in der METRO Group ist das Projekt „Fit für die Zukunft im Einzelhandel“, das die Galeria
Kaufhof für ihre älteren Mitarbeiter ohne abgeschlossene Ausbildung in einem
Handelsberuf durchführt (Basis WEGEBAU). Dieses Projekt sollte insbesondere
älteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ohne abgeschlossene Ausbildung in
einem Handelsberuf dabei helfen, sich weiter zu qualifizieren und dadurch ihre
Beschäftigungsfähigkeit nachhaltig zu erhalten. Schwerpunkt dieses Projektes
war die arbeitsplatznahe Vermittlung von Fähigkeiten in den Bereichen „Kundenmanagement“, „Neue Marken und Sortimentsstrategien“, „Systemkenntnisse“
sowie „handelsübliche Kassensysteme“. Auf Basis einer Arbeitsplatzanalyse
legte ein Coach gemeinsam mit dem Mitarbeiter die einzelnen Lernmodule fest.
Grundlage für den Lernprozess waren Freiwilligkeit der Teilnahme und Vertrauen
zwischen Coach und Mitarbeiter. Dem Transfer der erarbeiteten Inhalte in die
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Praxis kam dabei besondere Bedeutung zu. Die Teilnehmer berichteten, dass sie
durch das Projekt Sicherheit gewonnen und Lernhemmungen abgebaut haben.
Sie haben auf eine neue Art gelernt, im Beruf selbstständiger zu werden, neue
Lebens- und Arbeitsinhalte zu entdecken und kaufmännische Fähigkeiten wieder
zu trainieren. Ältere sollten nicht nur verstärkt an betrieblichen Bildungsmaßnahmen teilnehmen; sie sind vielmehr auch eine wertvolle Ressource für dieselben. Ältere
entwickeln sich bestens in der Rolle des Mentors oder Coaches für Jüngere. Sie
lernen gerade dadurch, dass sie Anderen Sachverhalte vermitteln. Erfahrungen
werden weitergegeben, wertvolles Know-how bleibt im Unternehmen und die
Älteren erfahren dadurch Anerkennung und Wertschätzung, die sie brauchen
und verdienen.
Wir müssen in den Unternehmen eine Lernkultur schaffen und in die Weiterbildung aller Beschäftigten investieren. – Und eben nicht nur in die Weiterbildung
von Hochqualifizierten! Wer auch in die Weiterbildung von Geringqualifizierten
investiert, entlastet Fachpersonal, das dann Aufgaben abgeben und seinerseits
höherwertige Arbeit übernehmen kann.
Die wirkungsvollsten Lernerfahrungen werden übrigens nicht im Seminarraum, sondern im richtigen Leben gemacht. Die mächtigsten Lernimpulse gehen
von der Übernahme neuer Aufgaben bzw. vom Wechsel der beruflichen Position
aus. Es ist daher sowohl im Interesse der Unternehmen als auch im Interesse
der Mitarbeiter, wenn sie ihre Aufgaben von Zeit zu Zeit wechseln. Wie flexibel
jemand einsetzbar ist, hängt entscheidend von seiner Fähigkeit ab, sich in neue
Aufgaben einzuarbeiten. Wer zu lange in derselben Position verharrt, verliert
schleichend an Qualifikation. Wer dagegen seine beruflichen Positionen mit
Bedacht wechselt bzw. sich neuen Aufgaben und Herausforderungen in seinem
Beruf stellt, stärkt seine Fähigkeit, Veränderungen auszuhalten und zu gestalten.
7.5 Gezielte Gestaltung der Generationenbeziehungen
Die starken Jahrgänge der Babyboomer – Generation (1945 – 1965) haben gerade begonnen, die Grenze von 60 Jahren zu überschreiten. Mit ihrem verstärkten
Ausscheiden ab dem Jahre 2010 stellt sich für die Unternehmen die zentrale Frage, wie sie den Erhalt von Know-how und Erfahrung in der Organisation sicherstellen können. Altersgemischte Teams sind die Organisationsform dafür, dass
ältere Mitarbeiter ihre beruflichen Erfahrungen rechtzeitig vor ihrem Ausscheiden an jüngere Mitarbeiter weitergeben und wertvolles Wissen im Unternehmen
verbleibt. Um den zu erwartenden „Brain Drain“ zu stoppen, müssen wir in
den Unternehmen eine Kultur der generationsübergreifenden Zusammenarbeit
entwickeln, in der Ältere ihr Wissen frühzeitig an jüngere Arbeitnehmer weitergeben. Multigenerationale Teams funktionieren dann gut, wenn jede Altersgruppe
ihre jeweiligen Stärken einsetzen kann. Es gibt dann weniger Konflikte, ein besse-
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res Arbeitsklima und ein besseres Feedback von Kunden. Die Jungen bringen
das neueste Wissen, die Älteren die Markterfahrung. Neugier, Innovation und
Ungeduld verbinden sich mit Erfahrung und Pragmatismus. Wenn dagegen
nur die jeweilige Stärke einer Altersgruppe berücksichtigt wird, sind sie weniger
erfolgreich. Ob die Gleichstellung der Generationen gelingt, hängt davon ab,
inwieweit die Unternehmenskultur älteren und jüngeren Kollegen ermöglicht, auf
gleicher Augenhöhe zusammenzuarbeiten.
Grundsätzlich ist ein phasenweiser, kontinuierlicher Übergang in die Pensionierung anzustreben, der im Idealfall nie endet (Pensionäre als Seniorberater,
Coach und Mentor). Damit wird für die Älteren eine Perspektive geschaffen, die
eine Bindung an das Unternehmen zu veränderten Rahmenbedingungen erhält.
Die Betroffenen stehen dann zwar in der zweiten Reihe, aber sie können ihre
Netzwerke und Kontakte erhalten und einen wichtigen Sinnbezug. In diesem
Zusammenhang ist die Schaffung von Alumni-Netzwerken in Unternehmen von
zentraler Bedeutung, um den Kontakt zu den (ehemaligen) Mitarbeitern nie abreißen zu lassen. In „gesunden“ Unternehmen werden Ältere selbstverständlich
zu allen Events und Veranstaltungen eingeladen, weil ihre Netzwerke zu Kunden
und ihre Berufserfahrung für das Unternehmen wichtig sind.
7.6 Vereinbarkeit von „Beruf und Familie“ (Work Life Balance)
Um den steigenden Bedarf an Fach- und Führungskräften in einem schrumpfenden Arbeitsmarkt zu decken, müssen Menschen zukünftig länger arbeiten
können, d. h. bis zum Erreichen der gesetzlichen Regelaltersgrenze. Aus dem
Bewusstsein einer zukünftig längeren Lebensarbeitszeit resultiert gerade bei der
nachrückenden Generation der Hochqualifizierten zunehmend die Einsicht, mit
den eigenen Ressourcen bewusster umzugehen. Mehr als drei Viertel der Nachwuchskräfte an deutschen Hochschulen machen die Wahl ihres Arbeitgebers
davon abhängig, ob er ihnen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ermöglicht. Mehr als ein Viertel der Erwerbstätigen hat bereits einmal den Arbeitsplatz gewechselt, weil sich berufliche und familiäre Belange nicht miteinander
in Einklang bringen ließen (Prof. Dr. Jutta Rump, FH Ludwigshafen). Gesund
im Beruf altern können Menschen nur, wenn sie Beruf und Privatleben in eine
gute Balance zueinander bringen können. Unterstützung von pflegebedürftigen
Angehörigen, Erziehung der Kinder, berufliche Auszeiten und Neuorientierungen
– dafür müssen im Beruf Räume geschaffen werden.
Neben einer flexiblen, alterns- und familiengerechten Gestaltung von Arbeitszeiten hat die METRO Group damit begonnen, ihren Mitarbeitern auch
Kinderbetreuungsmöglichkeiten anzubieten. So haben wir an unserem Standort
Düsseldorf inzwischen 2 Betriebskindergärten „Metro-Sternchen“ eröffnet, die
insgesamt 142 Kindern Platz bieten.
Der Standort Düsseldorf hat gerade einen Auditierungsprozess „Beruf und
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Familie“ durchlaufen, um zukünftig die Mitarbeiter in der Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Familie noch besser unterstützen zu können. Unternehmen,
denen dies überzeugend gelingt, werden vermutlich am Ende auch wirtschaftlich erfolgreicher sein als Unternehmen, die dieses Thema gar nicht erst auf
der Rechnung haben. – Warum? Weil sie im Zeichen eines sich verstärkenden
Wettbewerbs um hoch qualifizierte Fach- und Führungskräfte dadurch für diese
einfach attraktiver sind.
8. Schlussbemerkung
Die Entwicklung einer „demografitten“ Unternehmenskultur verlangt eine
nachhaltige Veränderung unserer gewohnten Einstellungs- und Verhaltensmuster. Um ein Unternehmen zu bewegen, sich mit einem Thema zu beschäftigen,
das auf den ersten Blick nicht viel mit dem alltäglichen, operativen Geschäft zu
tun hat und eine Langzeitperspektive von 5 bis 10 Jahren erfordert, braucht man
eine tiefe Problemdurchdringung, nachhaltige Problemlösungskonzepte und
viel Zeit. Die Empfehlung, die wir heute unseren Führungskräften in der METRO
Group geben, lautet:
„Entwickeln Sie eine Kultur, in der Sie mit Ihren Mitarbeitern, gleich welchen
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Alters, welcher ethnischen Herkunft oder welchen Geschlechts, produktiv und
wertschöpfend umgehen können! Integrieren Sie auch ältere Mitarbeiter von
Anfang an und schaffen Sie Arbeitsbedingungen, in denen alle Mitarbeiter erfolgreich und produktiv arbeiten können!“
Es können hier selbstverständlich keine Patentrezepte gegeben werden, wie
sich eine Firma am besten auf das Thema des demographischen Wandels
einstellen können. Sicherlich kann man dabei aber von anderen Unternehmen
lernen. In diesem Zusammenhang soll abschließend auf das Demographienetzwerk „ddn“ (www.demographie-netzwerk.de) verwiesen werden, das im März
2006 von 42 Unternehmen für Unternehmen gegründet wurde, inzwischen rund
180 Mitglieder hat und mit seinen Arbeitskreisen eine ausgezeichnete Möglichkeit zum Erfahrungsaustausch bietet.
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INQA-Berichte
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Anwendungssichere chemische Produkte
Beispielsammlung ›Gute Praxis‹: Fehlbelastung am Arbeitsplatz (vergriffen)
Leitfaden zur erfolgreichen Durchführung von Gesundheitsförderungsmaßnahmen im Betrieb – Schwerpunkt: Muskel-Skelett-Erkrankungen
Die Zukunft der Büroarbeit
Gesünder arbeiten in Call Centern
Handlungsleitfaden für das betriebliche Gesundheitsmanagement in Entsorgungsunternehmen
Unterweisung: Führen, Beteiligen, Erkennen und Vermindern von psychischen Belastungen
Seminarkonzeption – Betriebliche Gesundheitsförderung
Erfolgsfaktor Gesundheit – Tagungsbericht zum INQA-Personalforum am 11. November 2004
in Berlin
Gute Mitarbeiterführung – Psychische Fehlbelastung vermeiden
Qualität der Arbeit verbessern – Psychische Fehlbelastung im Betrieb vermeiden
Gesund Pflegen im Krankenhaus
Gute Arbeitsgestaltung in der Altenpflege
Gute Lösungen in der Pflege
Fit For Job – Teilprojekt ›Arbeitsmedizinische Aspekte‹
Gesund Pflegen in der Altenpflege
Lebenslanges Lernen
Mehr Ältere in Beschäftigung – Wie Finnland auf den demographischen Wandel reagiert
Was ist gute Arbeit?
Fit For Job – Abschlussbericht
Gute Arbeit im Büro?!
Mitarbeiterorientierte Unternehmenskultur – Vision oder Erfolgsstory? Frühjahrstagung 2006
Arbeitsschutz bringt Aufschwung – Merkblätter zum Arbeits- und Gesundheitsschutz in der ambulanten Pflege
Mobile Learning
Unternehmenskultur und wirtschaftlicher Erfolg
Neue Qualität des Bauens: Entwicklungen – Erfahrungen – Praxishilfen
Demographie-Werkstatt Deutschland
Was ist gute Arbeit – Arbeit im Generationenvergleich
Lernförderliche Unternehmenskulturen
Unterweisen – Lehren – Moderieren
Den Wandel gestalten!
Regionale Netzwerke Pflege
Abschlussbericht ›Arbeitsschutz in der ambulanten Pflege‹
Arbeit in der stationären Altenpflege
Gute Lösungen in der Pflege 2
Beste Arbeitgeber im Gesundheitswesen 2008
Demographie als Chance nutzen!
Arbeitsbewältigungs-Coaching®
Förderung und Erhalt intellektueller Fähigkeiten für ältere Arbeitnehmer
Ergonomisches Patientenhandling
Gute Ideen verbinden.
Zu hoher Krankenstand, alternde Belegschaften, Einführung neuer Technologien? Vor solchen und anderen Herausforderungen standen viele
Unternehmen – und haben vorbildliche Lösungen gefunden.
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