Stern, 28.9.14 - Pfadfinder Jack

Transcrição

Stern, 28.9.14 - Pfadfinder Jack
WAS MACHT EIGENTLICH?
JIMMY SOMERVILLE
Mit „Smalltown Boy“ –
im Juni 1984 veröffentlicht –
hielten sich der Schotte
und seine Band Bronski
Beat zehn Wochen in den
deutschen Charts
S
chön, Sie gesund und munter zu sprechen. Sie hatten
vor Kurzem einen bösen
Unfall ...
Ich bin in London mit dem
Fahrrad gegen die Tür eines
Lasters geknallt. Drei Sekunden später, und ich hätte unter ihm gelegen.
Leben Sie noch immer in Ihrer
Wahlheimat London?
Ich lebe gerade zwischen London
und dem Seebad Brighton, wo ich
auch hinziehen werde. London
macht eine riesige Transformation
durch. Das sieht man zum Beispiel
an der veränderten Skyline – es gibt
20, 30 in den Himmel ragende Hochhaustürme. Andererseits ist die Infrastruktur total veraltet, viktorianisch halt. Es ist ein permanenter
körperlicher und mentaler Kampf.
Und das ist auf Dauer frustrierend
gewesen?
Total. Die Kommunen und Nachbarschaftsgemeinden werden einfach
weggespült. Dabei war London mal
was ganz Besonderes. Ich bin 30 Jahre in London nur mit dem Fahrrad
unterwegs gewesen, das ist bei dem
Verkehr heute kaum mehr möglich.
Sie sind mit 17 aus dem damals
eher provinziellen Glasgow in die
Musikmetropole gezogen. War es
ein Davonrennen?
Ja, absolut. Ich führte bis dahin
ein kompliziertes Leben. Als bekennender Homosexueller wurde es
in Glasgow sogar gefährlich für
mich. Ich musste mich also neu
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28.8.2014
Jimmy Somerville, 53, im Juli
in London
und Mitte der
Achtziger mit
Bronski Beat
(ganz rechts)
ZUR PERSON: Jimmy Somerville wurde 1961 in der schottischen Arbeiterstadt Glasgow
geboren. Mit 17 Jahren zog
es ihn raus aus der Enge und
Spießigkeit – in die Musikmetropole London. In den
80erJahren wurde er als
Mitglied der Bands Bronski
Beat (1983–1985) und The
Communards (1985–1988)
bekannt. Sein Markenzeichen
war der außergewöhnliche
Falsett-Gesang; in den
Texten ging es oft um die
Isolation Schwuler in ländlichen Gegenden. Somerville
ist derzeit ohne Partner. Er
will künftig in der englischen
Seestadt Brighton leben.
erfinden – und bin vor mir selbst
weggerannt. Aber das funktionierte natürlich nicht, denn wohin
du auch gehst, überall nimmst du
dich mit.
„Smalltown Boy“ avancierte zu
einer Hymne der Achtziger. Worum ging es?
Das Lied ist ein emotionaler Schrei.
Da, wo ich herkomme, wird dir morgens beim Aufwachen erzählt, was
du zu machen hast; du wirst komplett kontrolliert. Einige finden sich
damit ab. Es gibt aber auch jene, die
die Heimat verlassen, um etwas
Neues zu entdecken.
Fühlen Sie sich eigentlich heute
manchmal noch als „Smalltown
Boy“, einsam und ausgestoßen?
Mir geht es gut. Wir Menschen
unterschätzen die Kraft der Kreativität.
Im Internet war im vorigen Jahr
eine neue Version von „Smalltown
Boy“ der Renner ...
Ich ging in Berlin mit meinem Hund
bei einem Straßenmusiker vorbei,
der den Song gerade trällerte. Und
sang „spontan“ mit. Das war natürlich nur halb zufällig, denn wir
kannten uns.
In westlichen Ländern wurde in
den vergangenen Jahren die rechtliche Stellung Homosexueller verbessert.
Zum Glück haben wir bei uns Gesetze, die uns schützen. Aber man muss
ja nur nach Russland gucken, um zu
sehen, wie Leute dort wegen ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert,
gejagt und misshandelt werden.
Würden Sie sich als Aktivisten bezeichnen?
Ich bin Humanist. Als Menschen
haben wir die Verantwortung, aufmerksam zu sein und anderen zu
helfen. Es dreht sich aber immer
mehr ums individuelle als ums kollektive Wohl. Das ist traurig.
Funktioniert Ihre Falsett-Stimme
noch immer? Sie haben ja sogar
mal ein Glas mit einem besonders
hohen Ton zerbrochen.
Oh ja. Das war in der Newcastle City
Hall bei einem Soundcheck. Nun haben wir gerade ein neues Album in
Hamburg produziert. Es ist OldSchool-Disco und heißt „Homage“.
Es ist das Album, das ich immer machen wollte. Wäre ich noch einmal
15, würde ich es sofort kaufen. Ich
liebe Disco.
Interview: Martin Sonnleitner
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FOTOS: MARK CHILVERS; MIRRORPIX
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