Der Kampf ums Gericht

Transcrição

Der Kampf ums Gericht
Der Kampf ums Gericht
∗
FELIX DASSER
(Publiziert in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht, 119 (2000), I, S. 253–272)
I. VORSPANN: DAS ENDE DES GRAFEN DE BRÛLECOEUR..................................... 2
II. EINLEITUNG.................................................................................................................. 2
III. DER KAMPF DER PARTEIEN..................................................................................... 4
A. Einstieg................................................................................................................ 4
B. Gründe für den Kampf ums Gericht ................................................................... 4
C. Auswahl an zuständigen Gerichten.................................................................... 8
1. Vielzahl der Gerichtsstände....................................................................... 8
2. Konsequenzen für die Beklagte................................................................. 9
a) Veränderungen des wirtschaftlichen Umfeldes ............................... 10
b) Veränderungen des rechtlichen Umfelds ......................................... 10
IV. DIE MITTEL DES KAMPFES....................................................................................... 11
A. Forum shopping .................................................................................................. 11
1. "Shopping"? Shocking! .............................................................................. 11
2. Klagen vor einem unzuständigen Gericht.................................................. 13
3. Forum shopping der Beklagten.................................................................. 13
B. Forum Running ................................................................................................... 14
C. Judgment Running.............................................................................................. 19
V. AUSBLICK .................................................................................................................... 19
A. Der Kampf ums Gericht als Realität................................................................... 19
B. Leitlinien für die Formulierung der Spielregeln.................................................... 20
1. Reduktion der Gerichtsstände ................................................................... 20
2. Vereinfachung der Zuständigkeitsregeln.................................................... 20
3. Gleichberechtigung .................................................................................... 21
4. Zeitliche Priorität......................................................................................... 21
5. Missbrauchsbekämpfung........................................................................... 21
6. Reduktion des Anreizes ............................................................................. 22
∗
PD Dr., LL.M., Rechtsanwalt (Zürich). Mit Anmerkungen versehene Antrittsvorlesung an der Universität
Zürich vom 10. Januar 2000. Der Vortragsstil wurde beibehalten.
-2-
I.
VORSPANN: DAS ENDE DES GRAFEN DE BRÛLECOEUR
In diesen Tagen vor ungefähr 270 Jahren starb Graf Jean de Brûlecoeur in der Blüte
seines Lebens. Graf Jean de Brûlecoeur war ein ebenso berüchtigter Frauenheld
wie gefürchteter Degenfechter. Einige der gehörnten Ehemänner wagten es zu ihrem
Schaden, ihn zum Duell herauszufordern. Doch mit der Zeit sprach sich seine
Geschicklichkeit mit dem Degen herum, und er konnte seinem Hobby ungestört
frönen. Eines Tages machte er den Fehler, der attraktiven Gemahlin des englischen
Gesandten, Lord Gunnington, Avancen zu machen. Lord Gunnington war ein
begeisterter Jäger und ein Meister der damals noch wenig verbreiteten Pistolen. Er
1
forderte den Grafen zum Duell – mit Pistolen. Der arme Graf hatte keine Chance.
II.
EINLEITUNG UND BEGRIFFSBESTIMMUNG
Die heutigen Duellanten heissen nicht Graf de Brûlecoeur oder Lord Gunnington,
eher ABC AG oder XYZ Corporation, und sie streiten seltener über die Ehre als über
das Geld. Auch die Waffen sind moderner geworden: Statt Pistolen mit ihren Kugeln
2
sind es die englischen Gerichte mit ihren Mareva injunctions, die holländischen mit
3
ihrem Kort Geding oder die amerikanischen Geschworenengerichte mit den berüchtigten Sammelklagen und punitive damages, dem nach oben offenen Strafschaden4
ersatz.
Gerichte als Waffen zu betrachten ist sicher gewöhnungsbedürftig. Richter lassen
auch nicht ohne weiteres als Waffen missbrauchen. Gerichte sind aber wie moderne
1
Disclaimer: Die Quellenlage ist obskur. Der Autor kann keine Verantwortung für die historische und
duellrechtliche Korrektheit der Geschichte übernehmen. Er beruft sich in jedem Fall auf den Rechtfertigungsgrund der bekannten Rechtsparömie: Se non e vero e ben trovato.
2
Vgl. PETER A. STRAUB, Englische Mareva Injunctions und Anton Piller Orders, SZIER 1992, 525-550; FRANK
GERHARD, La compétence du juge d'appui pour prononcer des mesures provisoires extraterritoriales,
SZIER 1999, 97-141, insb. 99 ff. Offiziell spricht man heute prosaischer von "freezing injunction".
3
Das Kort Geding Verfahren ermöglicht einstweilige Verfügungen, die sehr weitreichend und
einschneidend sein können. Sie sind deshalb international gefürchtet und werden in letzter Zeit zunehmend beschnitten, vgl.: WOLFGANG VON MEIBOM / JOHANN PITZ , Die europäische "Transborderrechtsprechung"
stösst an ihre Grenzen, GRUR Int. 1998, 765-771; GEOFFREY GAUCI , Why the ECJ must stop pan-European
injunctions, International Commercial Litigation, Nov. 1998, 32-34; DIETER STAUDER , Grenzüberschreitende
Verletzungsverbote im gewerblichen Rechtsschutz und das EuGVÜ, IPRax 1998, 317-322; FRANK GERHARD,
a.a.O., insb. 132 ff.
4
FELIX DASSER , Punitive damages: Vom "fremden Fötzel" zum "Miteidgenoss"?, SJZ 96, 2000, 101-111;
PETER WIDMER , Das schweizerische Unternehmen angesichts der Besonderheiten des US-amerikanischen
Verfahrensrechts wie class actions oder punitive damages, in: SCHMID / ACKERMANN, Hrsg., Wiedererlangung
widerrechtlich entzogener Vermögenswerte mit Instrumenten des Straf-, Zivil-, Vollstreckungs- und
internationalen Rechts, Europa Institut Zürich Bd. 25, Zürich 1999, 145-159.
-3-
high-tech-Waffen: Sie haben nicht immer die gewünschte Wirkung (der Schuss kann
sogar hinten hinausgehen), aber wenn sie wirken, dann manchmal durchschlagend. In
der Praxis begegnet man immer wieder und immer öfter derartigen Fällen, sei es als
Sekundant eines Lord Gunnington oder eines Grafen de Brûlecoeur. Was als kuriose
Anekdoten begonnen hat, verdichtet sich zusehends zu einem Trend, der von den
Gerichten und der Rechtswissenschaft ernst genommen werden muss.
Mit Kampf ums Gericht meine ich den Kampf darüber, welches Gericht einen bestimmten Rechtsstreit beurteilen soll. In einem weiteren Sinn wird bereits bei Vertragsverhandlungen um das Gericht gekämpft, nämlich um die Frage, welches
Gericht die Parteien für die Beurteilung allfälliger künftiger Streitigkeiten aus dem
Vertrag als zuständig erklären wollen. Daneben ist es auch ein Kampf der Interessengruppen um die richtige Gesetzgebung. Einerseits findet dieser Kampf im
Rahmen nationaler Gesetzgebung statt, wie beim neuen schweizerischen Gerichtsstandsgesetz, das derzeit in parlamentarischer Beratung ist. Die bundesrätliche
Botschaft zu diesem Gesetz zeigt die üblichen Spuren einer Einflussnahme von
5
Verbänden in der Vernehmlassung. Andererseits ist es der Kampf der Regierungsvertreter um die Durchsetzung nationaler Interessen in Staatsverträgen wie dem
6
westeuropäischen Lugano Übereinkommen oder dem geplanten weltweiten
7
Zuständigkeits- und Vollstreckungs-Übereinkommen von Den Haag. Auf das Lugano
Übereinkommen werde ich wiederholt zurückkommen. Es ist ein Parallel-Abkommen
8
zum Brüsseler Übereinkommen für die EU-Staaten und gilt auch in der Schweiz.
Alle diese Verhandlungssituationen folgen jeweils eigenen Regeln und verlaufen
meistens sehr gesittet. Das Ziel ist schliesslich eine Einigung: Der Vertrag soll
unterschrieben, das Gesetz erlassen und der Staatsvertrag verabschiedet werden
5
Vgl. z.B. den aufgrund der Vernehmlassung neu eingefügten Art. 23 über Konsumentenverträge des
E GestG (Botschaft zum Bundesgesetz über den Gerichtsstand in Zivilsachen, BBl 1999 III 2829; Art. 22 in
der definitiven Fassung). Nach der Botschaft bezweckt Art. 23 eine "materielle Verstärkung des Konsumentenschutzes" (Botschaft Ziffer 245), stellt also einen Sieg von Interessenverbänden über die
Expertenkommission dar.
6
Ein Beispiel ist der Vorbehalt, den sich die Schweiz wegen Art. 59 aBV zu Art. 5 Ziff. 1 LugÜ ausbedungen
hat. Dieser Vorbehalt ist per 31. Dezember 1999 weggefallen, hat aber über viele Jahre Schweizer Beklagte
vor Verfahren an ausländischen Erfüllungsorten bewahrt (vgl. JOLANTA KREN KOSTKIEWICZ, Vorbehalt von Art.
1a des Protokolls Nr. 1 zum Lugano-Übereinkommen – quo vadis?, SJZ 1999, 237-244; ALEXANDER R.
MARKUS, Der schweizerische Vorbehalt nach Protokoll Nr. 1 Lugano Übereinkommen: Vollstreckungs aufschub oder Vollstreckungshindernis?, ZBJV 137, 1999, 57-74).
7
Hague Conference on Private International Law, Preliminary Draft Convention on Jurisdiction and Foreign
Judgments in Civil and Commercial Matters (Stand Oktober 1999), www.hcch.net.
8
SR 0.275.11.
-4-
können. Anders steht es beim Kampf der Parteien um das Gericht im konkreten
Streitfall: Hier können die Grenzen der Rechtsordnungen ohne Rücksicht auf die
Befindlichkeit der Gegenpartei ausgetestet werden. Diesen Kampf ums Gericht im
engeren Sinn meine ich im Folgenden.
III. DER KAMPF DER PARTEIEN
A.
Einstieg
Der Kampf der Parteien kennt unterschiedliche Erscheinungsformen. Bereits klassisch ist das Forum shopping, also das berechnende Auswählen eines Gerichts unter
mehreren, die zur Verfügung stehen. In seiner reinen Form ist dieser Kampf kurz: Die
Beklagte ist besiegt, bevor sie merkt, dass der Kampf begonnen hat, ähnlich wie es
unserem Grafen de Brûlecoeur erging. Wie wir noch sehen werden, muss das aber
nicht so sein.
Eine neuere und spannendere Erscheinungsform ist der parallele Kampf vor zwei
verschiedenen Gerichten. Dieser Wettstreit kommt in zwei Hauptvarianten vor,
erstens darum, wer zuerst am Gericht ist, man spricht von "Forum running" oder "race
to the courthouse", und zweitens darum, wer zuerst ein Urteil zu seinen Gunsten in
den Händen hält und vollstrecken kann, dem sogenannten "judgment running".
Eine weitere Möglichkeit mit immer neuen Varianten ist das gegenseitige Ausspielen
von Hauptsachenrichter und Massnahmenrichter, also einerseits des Richters, der
die Streitsache selbst entscheidet, und andererseits des Richters, der nur über
gewisse vorsorgliche Massnahmen entscheidet, die aber durchaus streitentscheidend sein können.
B. Gründe für den Kampf ums Gericht
Wieso ist es denn so wichtig, an einem bestimmten Gericht zu landen und um dieses
Gericht notfalls mit allen Mitteln zu kämpfen? Die Antwort ist einfach: Es ist unter
Praktikern kein Geheimnis, dass der Ausgang eines Rechtsstreites bei internatio9
nalen Verhältnissen stark, manchmal entscheidend, vom einzelnen Gericht abhängt.
9
GITA ROTHSCHILD , How to have your cake and eat it, International Commercial Litigation, Dec. 98 / Jan. 99,
16-20; KURT SIEHR , "Forum Shopping" im internationalen Rechtsverkehr, ZfRV 1984, 124-144, 126 ff.
-5-
Für die Anwältin bedeutet aber bereits die blosse Möglichkeit, dass das Prozessergebnis vom Gerichtsstand abhängen kann, akuten Beratungsbedarf. Für die
Parteien selbst spielen zusätzlich Kostenfragen und Vertrauen in die jeweilige
Gerichtsbarkeit eine oft ausschlaggebende Rolle.
1.
Bei innerstaatlichen Verhältnissen
Bei rein innerstaatlichen Verhältnissen ist dies alles nach allgemeiner Ansicht bedeutend weniger der Fall. Wie viele juristische Verallgemeinerungen ist aber auch
diese von beschränkter Aussagekraft:
1. Es gibt auch in Binnenverhältnissen Forum shopping (die schleichende Aufweichung des Beklagtengerichtsstandes in den letzten Jahrzehnten ist nicht ganz
schuldlos daran). Dazu nur ein Beispiel: Vor einigen Jahren klagte ein Schweizer
Politiker gegen einen Zürcher Kabarettisten wegen einer politischen Satire. Der
Politiker hatte die Wahl zwischen einer Klage in Zürich oder bei sich zu Hause in
10
Locarno. Er wählte Locarno. Damit war der Kampf ums Gericht allerdings nicht
beendet. Ein erfolgreicher prozessualer Gegenschlag des Kabarettisten, ebenfalls
aus Persönlichkeitsverletzung, aber in Zürich, sorgte für den gewünschten territorialen Ausgleich und führte zur vorher undenkbaren einvernehmlichen Beerdigung der
Kriegsbeile.
2. Bereits die Abgrenzung zwischen binnenstaatlichem und internationalen Streit ist
nicht einfach: Ist es prozessrechtlich ein rein innerstaatlicher Fall, wenn ein Schweizer
einen anderen Schweizer wegen eines schweizerischen Rechtsverhältnisses einklagt? Man sollte meinen ja. Nur: Im Fall Amchem zum Beispiel gelang es einer
kanadischen Klägerin, mehrere kanadische Beklagte wegen eines rein kanadischen
Rechtsstreites in Texas auf immense Schadenersatzbeträge einzuklagen, die ihr
11
nach kanadischem Recht nicht zugestanden hätten. Auf diese Idee musste ein
Anwalt erst einmal kommen!
10
Art. 28b ZGB: Wahl der Klägerin zwischen dem Gericht am Wohnort der Beklagten oder demjenigen an
ihrem eigenen.
11
Zu diesem Fall Amchem , der auch die kanadischen Gerichte beschäftigte, vgl. MARKUS KOEHNEN ,
Reasonable Expectations and a Principled Approach to Forum Shopping, 19 Advocates' Quarterly (Ontario)
310-344 (1997), 319, 325 f. Ein weiteres Beispiel ist die (in Deutschland nicht anerkannte) Scheidung des
deutschen Max Reinhardt von seiner deutschen Ehefrau im littauischen Scheidungsparadies der
Zwischenkriegszeit, vgl. KURT SIEHR (Fn. 10), 126 Fn. 10 und 137.
-6-
2.
Bei internationalen Verhältnissen
Aber bleiben wir bei den klassischen internationalen Prozessen. Sie sind gekennzeichnet durch einige Besonderheiten, welche die Wahl des Gerichtes zur Existenzfrage erheben können:
1. Anwendbares Recht: Nicht jedes Gericht wendet dasselbe materielle Recht an
und nicht jedes grenzt materielles Recht, also insbesondere das Schuldrecht, einerseits und das Prozessrecht andererseits gleich voneinander ab. Eine Forderung
kann nach dem anwendbaren materiellen Recht verjährt sein. Einige Rechtsordnungen betrachten die Verjährung aber als Frage des Prozessrechts, also des
12
lokalen Rechts des Gerichts. Geschicktes Forum shopping kann somit buchstäblich
Wunder wirken und eine verjährte Forderung wiederbeleben.
2. Prozessuale Unterschiede: Die Prozessrechte sind generell sehr unterschiedlich. Berüchtigt ist die sogenannte pre-trial discovery vor allem des US-amerikanischen Rechts. Sie gibt beiden Parteien das Recht, von der Gegenseite sämtliche
Informationen über den Streitfall herauszuverlangen. Erst dank ihr gelangt die
Klägerin manchmal an die entscheidenden Beweisstücke für ihre Klage. Ferner kann
ein Staat mit summarischen Verfahren für eine Klägerin interessanter sein als ein
Staat, dessen Gerichte dazu neigen, Verfahren zehn Jahre lang reifen zu lassen.
Unterschiedlich sind auch die verfügbaren vorsorglichen Massnahmen. Beliebt sind
zum Beispiel die erwähnten englischen freezing orders (Mareva injunctions), mit
denen im Ergebnis das Vermögen der Schuldnerin ohne Vorwarnung weltweit
13
blockiert werden kann.
3. Die Richter: Nicht alle Richter sind gleich. Sachkunde, soziales Denken,
Formalismus, Vergleichsfreudigkeit, Beeinflussbarkeit oder schlicht Parteilichkeit
zugunsten der heimischen Partei sind ungleich verteilt. Je nach Sachverhalt und
Umständen kann sich die Klägerin beim einen Gericht bessere Chancen ausrechnen
als beim anderen. Im Bereich der Beeinflussbarkeit spielen Stimmung und Umfeld
eine grosse Rolle. Ein Beispiel: In einem Fall aus meiner Praxis klagte ein
12
So in einigen amerikanischen Gliedstaaten, vgl. SCOLES / HAY , Conflict of Laws, 2. Aufl. St. Paul 1992,
West Publ., 58 ff.
13
Formell richten sich freezing orders nur gegen die Beklagte, nicht gegen die Vermögenswerte selbst;
faktisch wirken sie aber wie ein Arrest, insbesondere wenn sie auch an Dritte, namentlich Banken (in
England), gerichtet sind, die bei Vornahme unzulässiger Auszahlungen ebenso wie die Beklagte "in
contempt of court" fallen.
-7-
einflussreiches russisches Unternehmen vor einem rein russischen Schiedsgericht
gegen eine Schweizer Gesellschaft auf einen kritisch hohen Geldbetrag. Die
russische Seite gab sich betont überheblich, bis das Schiedsgericht zu ihrer
Überraschung eine Zuständigkeit verneinte. Statt die Klage in der Schweiz neu
einzuleiten, verzichteten die Russen auf die Forderung. Kürzlich war auch in der NZZ
zu lesen, was passieren kann, wenn sich ein indonesisches Gericht souverän über
eine Schiedsklausel und den Vertrag hinwegsetzt, um einer einheimischen Partei auf
14
Biegen und Brechen Recht zu geben.
4. Kosten: Ein Prozess in den USA oder in England kommt meist um ein Vielfaches
teurer als der gleiche Prozess in der Schweiz, ausser man sei Klägerin und habe mit
dem Anwalt ein Erfolgshonorar vereinbart. Dann kostet der Prozess in den USA
15
praktisch nichts. Allein diese ungleiche Verteilung der Kostenrisiken ergibt eine
völlig andere Ausgangslage zum einen für den Entscheid, einen Prozess zu führen,
und zum anderen für Vergleichsgespräche, wenn ein Prozess einmal läuft (oder
zumindest droht).
5. Heimvorteil: Wie im Sport gilt es auch im Rechtsstreit als einfacher, auf dem
Heimplatz zu siegen als auswärts. Dies muss aber nicht der Fall sein. Im Einzelfall
kann es auch für eine Schweizer Klägerin vorteilhafter sein, in den USA gegen eine
Amerikanerin zu klagen, namentlich wenn sie mangels greifbarer Beweise auf die
Vorteile der pre-trial discovery angewiesen ist, oder wenn sie sich Chancen auf
punitive damages ausrechnet.
In der Praxis zeigt sich deshalb immer wieder, dass die Wahl des Gerichts über Sieg
oder Niederlage entscheiden kann. Als bekanntes Beispiel können die HolocaustSammelklagen gegen die Schweizer Banken herangezogen werden: Es ist zwar
keineswegs auf den ersten Blick naheliegend, dass die weltweit verstreuten
Nachkommen von europäischen Bankkunden die Schweizer Banken wegen Vorgängen, die sich in Mitteleuropa ereignet haben, ausgerechnet in New York einklagen. Aber es war für die Kläger und Klägerinnen eindeutig ein Vorteil. Auch wenn
voraussichtlich nie über die rechtliche Zulässigkeit der Klagen entschieden werden
14
15
NZZ Nr. 129 (5.6.00), S. 15.
Bei Vereinbarung einer contingency fee bezahlt die Klägerin ihren Anwalt nur im Erfolgsfall, also nicht
beim Unterliegen. Zusätzlich trägt bei amerikanischen Verfahren grundsätzlich jede Partei die eigenen
Anwaltskosten; eine Klägerin muss also nicht einmal damit rechnen, beim Unterliegen die Kosten der
siegreichen Beklagten zu tragen.
-8-
wird, haben allein die mit solchen Klagen verbundenen Risiken und Kosten zusammen mit begleitendem Druck aus Politik und Wirtschaft - den Weg zu einem
Vergleich mit vorher undenkbaren Zahlungen der Banken geebnet. Aus der Sicht der
Kläger und Klägerinnen waren diese Klagen sogar der einzige erfolgversprechende
Weg. In der Schweiz gab es gar keine ernsthafte Klagemöglichkeit. Um sich ihr
behauptetes, aber über Jahrzehnte verweigertes Recht erkämpfen zu können,
16
mussten sich die Kläger zuerst ihr Gericht erkämpfen.
C. Auswahl an zuständigen Gerichten
1.
Vielzahl der Gerichtsstände
a)
Als Faktum
Diese Unterschiede zwischen verschiedenen Gerichten bewirken noch kein Forum
shopping. Es braucht zusätzlich eine Auswahl von mindestens zwei möglichen
Gerichtsständen im Einzelfall. Ohne in die Details zu gehen, ist es eine Tatsache,
dass heute in vielen internationalen Streitfällen mehr als ein Gerichtsstand zur
Verfügung steht. Ausgenommen sind vor allem Fälle, bei denen die Parteien eine
bestimmte ausschliessliche Zuständigkeit vertraglich vereinbart haben, aber auch nur
dann, wenn diese Vereinbarung von allen relevanten Staaten tatsächlich als
verbindlich anerkannt wird (was leider keine Selbstverständlichkeit ist, wie das
17
Beispiel aus Indonesien zeigt ). Selbst dann können alternative Gerichtsstände
18
wenigstens für einstweilige Verfügungen zur Verfügung stehen.
b)
Gründe
Bereits die einzelnen nationalen Rechte sowie Staatsverträge sehen verschiedene
alternative Zuständigkeiten vor: Sitz oder Wohnsitz der Beklagten, Erfüllungsort bei
Verträgen, Handlungs- oder Erfolgsort bei unerlaubten Handlungen, Wohnsitz der
Konsumentin, usw. Hierzu ein Beispiel: Eine Pariser Zeitung beschuldigte in einem
16
Dieser Kampf findet auch auf der Ebene der Gesetzgebung statt. Kalifornien hat kürzlich ein Gesetz
erlassen, das gezielt lokale Zuständigkeit für bestimmte Holocaust-Klagen begründet, vgl. MARTIN GEBAUER
/ GÖTZ SCHULZE, Kalifornische Holocaust-Gesetze zugunsten von NS-Zwangsarbeitern und geschädigten
Versicherungsnehmern und die Urteilsanerkennung in Deutschland, IPRax 1999, 478-484.
17
18
Vorne bei Fn. 14.
Vgl. z.B. Art. 10 IPRG.
-9-
Artikel unter anderem die damals in Paris ansässige Engländerin Fiona Shevill der
Beihilfe zu kriminellen Handlungen. Diese Zeitung wird vereinzelt auch im Ausland
gelesen. Überall dort kann deshalb der Erfolg der Persönlichkeitsverletzung eintreten
und gemäss dem Brüsseler und dem Lugano Übereinkommen ein Gerichtsstand
gegeben sein. Frau Shevill klagte in England, dessen Recht für sie günstiger war.
Sie hätte wahrscheinlich auch in Hamburg, in Madrid oder in Zürich klagen können.
Ein solches Gerichtsstandsbüffet war dann dem Europäischen Gerichtshof doch zu
viel des Guten. Er bestätigte zwar, dass an jedem Erfolgsort geklagt werden könne,
nahm dem Forum shopping aber den wichtigsten Anreiz, indem er - reichlich apodiktisch - bestimmte, dass an den peripheren Erfolgsorten nur über die lokale und entsprechend marginale Schädigung und nicht über den viel interessanteren Gesamt19
schaden prozessiert werden könne. Dieser Entscheid ist übrigens für das Internet
zentral. Dort stellt sich das Problem zahlloser Erfolgsorte naturgemäss noch ver20
schärft.
Zu diesen Auswahlmöglichkeiten innerhalb einer einzigen Rechtsordnung oder
staatsvertraglichen Ordnung kommen solche zwischen verschiedenen Rechtsordnungen hinzu: Nicht alle Staaten knüpfen an dieselben Kriterien an. Notorisch ist etwa
die Grosszügigkeit, mit welcher in den USA auswärtige Gesellschaften eingeklagt
21
werden können. Viele Staaten kennen auch sogenannte exorbitante Gerichtsstände,
wie den schweizerischen Arrestgerichtsstand oder den französischen Klägergerichts22
stand.
2.
Konsequenzen für die Beklagte
Was sind die Konsequenzen für die Beklagte? Sofern ein Urteil nicht vollstreckbar
ist, kann es der Beklagten egal sein, wie viele exotische Gerichtsstände die Klägerin
ausfindig machen kann. Was kümmert mich ein Entscheid eines Gerichts in, sagen
wir, Sydney? Ich muss ja nicht unbedingt nach Australien reisen, um ein Känguruh zu
19
Fiona Shevill u.a. g. Presse Alliance SA, EuGH 7.3.1995, Rs. C-68/93, IPRax 1997, 111 ff., mit Anm.
KREUZER / KLÖTGEN , 90-96.
20
Vgl. aus der Fülle der Literatur z.B. BIRGIT BACHMANN, Der Gerichtsstand der unerlaubten Handlung im
Internet, IPRax 1998, 179-187.
21
Vgl. GARY B. BORN, International Civil Litigation in United States Courts, 3. Aufl. Den Haag 1996 Kluwer,
103 ff. (allerdings aus amerikanischer Sicht, welche die heutige Praxis als durchaus zurückhaltend
empfindet); GEORGE A. DAVIDSON , Stay out of reach – US jurisdiction over non-American companies,
International Commercial Litigation, Dec. 98 / Jan. 99, 36-42.
22
JEAN -PHILIPPE KRAFFT, "Exorbitante" Gerichtsstände im internationalen Zivilprozessrecht der Schweiz.
Insbesondere nach dem Lugano-Übereinkommen, Zürcher Diss., Entlebuch 1999 Huber Druck.
- 10 -
sehen oder australischen Wein zu kaufen. In den letzten Jahrzehnten haben sich aber
zwei Umstände radikal geändert:
a)
Veränderungen des wirtschaftlichen Umfeldes
Die vielbeschworene Globalisierung der Wirtschaft hat bewirkt, dass auch kleinere
Gesellschaften in mehreren Ländern mit Niederlassungen, Bankkonti, Warenlieferungen oder Guthaben bei Kunden exponiert sind. Immer schwerer wiegt auch der
Wettbewerbsnachteil, wenn man verschiedene Länder aus Angst vor Arresten und
anderen Vollstreckungsmassnahmen meiden muss. Es wäre zum Beispiel undenkbar, dass sich eine schweizerische Grossbank aus dem amerikanischen Markt
zurückzieht, bloss um der Vollstreckung eines als exorbitant empfundenen amerikanischen Gerichtsurteiles zu entgehen. Ein Urteil muss deshalb nicht im Sitzstaat der
Beklagten anerkennungsfähig sein, um zu wirken.
b)
Veränderungen des rechtlichen Umfelds
Parallel dazu haben sich auch die rechtlichen Rahmenbedingungen geändert. Es
wird zusehends einfacher, ausländische Urteile zu vollstrecken. Die Schweiz hat
namentlich 1989 mit dem Gesetz über das Internationale Privatrecht (IPRG) die
Anerkennung ausländischer Entscheide vereinfacht. Meilensteine im Staatsvertragsrecht sind das für alle wesentlichen Staaten geltende New Yorker Übereinkommen
23
über die Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Schiedssprüche von 1958
und die erwähnten, parallelen Übereinkommen von Brüssel 1967 und Lugano 1988.
Diese beiden Parallel-Übereinkommen haben im Bereich schuldrechtlicher Streitigkeiten weitgehend einen einheitlichen Vollstreckungsraum in Westeuropa geschaffen. Sie untersagen bewusst eine Nachprüfung der Zuständigkeit durch den Vollstrekkungsrichter. Auch wenn sich ein Gericht zu Unrecht für zuständig erklärt hat, muss
24
das Urteil in jedem anderen Vertragsstaat - mit Ausnahmen - vollstreckt werden.
Derzeit ist ein noch ambitiöseres Projekt in Vorbereitung. Die Haager Staatenkonferenz sollte nächstes Jahr über die Verabschiedung des erwähnten Entwurfes für
ein weltweites Anerkennungs- und Vollstreckungsabkommen nach dem Vorbild der
23
24
SR 0.277.12.
Vorbehalten sind namentlich Entscheide, die in Verletzung der Zuständigkeitsvorschriften für Versicherungs - oder Verbrauchersachen sowie von ausschliesslichen Zuständigkeiten ergangen sind (Art. 28
Abs. 1 LugÜ).
- 11 -
europäischen Parallel-Übereinkommen beraten. Allerdings enthält der Entwurf verschiedene Schutzbestimmungen, zum Beispiel zur Abwehr exorbitanter amerika25
nischer Urteile.
Angesichts dieser und weiterer Umstände bedeutet eine Vielzahl von Gerichtsständen eine echte Auswahl für den Kläger.
IV. DIE MITTEL DES KAMPFES
A.
Forum shopping
1.
"Shopping"? Shocking!
„Forum ... shopping“. Das tönt so freizeitkapitalistisch. Man sieht vor dem geistigen
Auge die bunten Schaufenster der Zürcher Bahnhofstrasse. Der Justitia ist dies nicht
würdig. Der Begriff "Forum shopping" tönt unfein und wird gerade von den Gerichten
auch durchaus abwertend gebraucht. Demgegenüber hat ein Teil der Lehre schon
vor über 15 Jahren festgestellt, dass am Forum shopping genau genommen nichts
Anrüchiges ist, ja, dass die berechnende Auswahl des vorteilhaftesten Gerichts eine
26
der Aufgaben eines Prozessanwaltes ist.
Nehmen wir zur Prüfung einen positiv besetzteren Begriff, zum Beispiel "Wahlrecht
der Gläubigerin". Wer ist schon gegen ein Wahlrecht der frustrierten Gläubigerin,
welche gezwungen wird, ihre Forderung auf dem mühsamen Rechtsweg
einzutreiben? Nicht das schweizerische Bundesgericht: Es hielt vor einigen Jahren
ausdrücklich fest, die Gläubigerin - und nicht etwa die Schuldnerin - habe
grundsätzlich das Recht zu entscheiden, "ob, wann und wo " sie ihre Forderung
27
einklagen wolle.
25
Vgl. Art. 32 Ziff. 2 lit. a des Preliminary Draft: "Where the debtor [...] satisfies the court addressed that [...]
grossly excessive damages have been awarded, recognition may be limited to a lesser amount." Ferner:
"Schwarze Liste" exorbitanter Zuständigkeiten, z.B. die amerikanische "minimum contacts"-Praxis für
allgemeine Zuständigkeit (Art. 20 Ziff. 2 lit. e). Allg.: vorne Fn. 8.
26
SIEHR (Fn. 10), 141; JAN KROPHOLLER , Das Unbehagen am forum shopping, in: HENRICH / VON HOFFMANN,
Hrsg., Festschrift für Karl Firsching, München 1985 C.H. Beck, 165-173, 165 f., 172. Aus der heutigen Lehre
vgl. REINHOLD GEIMER , Internationales Zivilprozessrecht, 3. Aufl. Köln 1997 Dr. Otto Schmidt Verlag, Rz. 1096.
27
4C.400/1994, 3.4.1995, E. 2a.
- 12 -
Noch besser tönt "Wahlrecht der Geschädigten". Die Bevorzugung der Geschädigten
28
durch Einräumung von Wahlrechten hat im Recht sogar Tradition. Kürzlich kritisierte
das Bundesgericht gar eine ständige und bis anhin weitgehend unbestrittene Praxis
29
zum Brüsseler und zum Lugano Übereinkommen. Gemäss dieser Praxis kann nicht
nur die Geschädigte, sondern auch die Schädigerin wahlweise am Ort der
angeblichen unerlaubten Handlung klagen. Der Grund liegt in der besonderen
Sachnähe des Richters am Handlungsort. Das Bundesgericht kritisierte diese Praxis
mit dem Hinweis, es sei nicht "unbedenklich ..., den präsumptiven Schädiger das
an sich dem Geschädigten zustehende Wahlrecht ... ausüben zu lassen." Das
Bundesgericht befürwortet also ein Recht auf Forum shopping, allerdings bloss als
einseitiges Recht der angeblichen Gläubigerin, insbesondere der Geschädigten.
Ist die potentiell Geschädigte eine Konsumentin, gilt ein einseitiges Wahlrecht umso
mehr als rechtspolitisch erwünscht. Es ist heute in der Gesetzgebung üblich, der
Konsumentin die Wahl zu lassen, ob sie am Sitz der beklagten Anbieterin oder am
eigenen Wohnsitz klagen will, während die Anbieterin ihrerseits nur am Wohnsitz der
30
Konsumentin klagen darf.
Solche Wahlmöglichkeiten können im Einzelfall zu stossenden Ergebnissen führen,
die nicht den gerechtfertigten Erwartungen der Parteien entsprechen. Das angelsächsische Recht hat ein Mittel gegen solche Missbräuche entwickelt. Gemäss der
Doktrin des Forum non conveniens kann das Gericht trotz an sich gegebener
Zuständigkeit die Durchführung des Verfahrens ablehnen, wenn es zum Schluss
kommt, ein anderes Gericht sei den Umständen entsprechend "more convenient",
31
also geeigneter und angemessener.
28
Vgl. das sog. Günstigkeitsprinzip im Internationalen Privatrecht, dazu FELIX DASSER , Unfallverhütung bei
Rechtskollisionen: Ergebnisorientierte Flexibilität im schweizerischen IPRG, in: MEIER / SIEHR , Hrsg.,
Rechtskollisionen, Festschrift für Anton Heini, Zürich 1995 Schulthess Verlag, 103-122, 107, 118. Beispiele
für Wahlrechte der Geschädigten im IPRG: Art. 135, 138, 139 IPRG.
29
30
31
BGE 125 III 349.
Art. 14 LugÜ, Art. 114 Abs. 1 IPRG, Art. 22 GestG.
Dazu JAMES J. FAWCETT, General Report, in: DERS., Hrsg., Declining Jurisdiction in Private International
Law, Oxford 1995 Clarendon Press, 1 ff., insb. 10-21; BORN (Fn. 21), 289 ff.; ANDREAS BUCHER , Droit international privé suisse, Tome I/1: Partie générale – Conflits de juridictions, Basel 1998 Helbing & Lichtenhahn,
Rz. 322 ff.
- 13 -
2.
Klagen vor einem unzuständigen Gericht
In der Theorie pflegt Forum shopping nur zwischen verschiedenen zuständigen
Gerichten stattzufinden. Allerdings kann bereits über die Frage, ob ein Gericht
wirklich zuständig ist, jahrelang gestritten werden. In der Praxis findet Forum
shopping deshalb auch vor unzuständigen Gerichten statt.
Zum Teil hofft die Klägerin einfach, das Gericht von seiner Zuständigkeit überzeugen
zu können, oder allein schon durch den Versuch dazu die Beklagte zum Einlenken zu
32
bringen. Zum Teil geht es der Klägerin auch nur darum, den Fall vom wirklich
zuständigen Gericht zumindest für einige Jahre fernzuhalten. Es gibt Staaten, deren
Gerichte für lange Prozessdauern berüchtigt sind und die sich deshalb vorzüglich für
das Parkieren von Streitfällen eignen. Meine persönliche Erfahrung zeigt, dass sich
bereits in vereinzelten europäischen Staaten allein über die Frage der Zuständigkeit
ohne grosse Anstrengung acht und mehr Jahre prozessieren lässt.
3.
Forum shopping der Beklagten
Forum shopping kann entgegen gängiger Ansicht auch durch die Beklagte betrieben
werden: Ihre Mittel sind die Einlassung beziehungsweise die Einrede der Unzuständigkeit, wenn sie ein anderes Gericht als das von der Klägerin gewählte vorzieht.
Zum Beispiel kann die Beklagte geltend machen, eine Gerichtsstandsvereinbarung,
auf die sich die Klägerin in naheliegender Weise abstützt, sei gar nicht verbindlich.
Kommt die Beklagte damit durch, hat sie erfolgreiches Forum shopping betrieben:
Die Klägerin ist gezwungen, ein anderes Forum zu suchen, meistens das von der
Beklagten gewünschte, sofern sie nicht aufgibt, wie die bereits erwähnte russische
33
Gesellschaft. Kommt die Beklagte damit nicht durch, hat sie zumindest einige Jahre
Zahlungsaufschub erwirkt, da das Hauptverfahren in der Zwischenzeit meistens ruht.
32
Viele Klagen in den USA basieren auf dem Gedanken, dass zumindest ein interessanter Vergleich für die
Klägerin auch bei fraglicher (örtlicher und sachlicher) Zuständigkeit drin liegt. Dieser Aspekt spielt auch bei
den aktuellen Klagen von Holocaust-Opfern und Nazi-Zwangsarbeitern eine gewisse Rolle, vgl. dazu
AUGUST REINISCH, NS-Verbrechen und "political questions": Können deutsche Unternehmen von
ehemaligen Zwangsarbeitern vor US-Gerichten verklagt werden? Anmerkungen zu Burger-Fischer et al. v.
Degussa und Iwanowa v. Ford Motor Company and Ford Werke A.G., IPRax 2000, 32-39, 35. Für ein
erfolgreiches Forum shopping bei an sich aussichtsloser Ausgangslage vgl. vorne bei Fn. 14.
33
Für ein Beispiel aus dem schweizerischen Binnenverhältnis vgl. auch den Entscheid des Bundesgerichts
vom 26.2.1997, Pra 1997, Nr. 164, dazu FELIX DASSER , Tücken von Gerichtsstandsklauseln, in: DONATSCH et
- 14 -
B. Forum Running
Wenn das Bild des Forum shopping eine Schwäche hat, dann jene, dass es nur eine
Partei einbezieht, die "shoppende" Klägerin. Wie soeben dargestellt, kann auch die
Beklagte in beschränktem Ausmass Forum shopping betreiben. Es kommt aber
noch etwas Entscheidendes dazu: Wie beim eingangs geschilderten Duell geht es
um zwei Parteien; es ist am Anfang noch gar nicht klar, welche Partei die Klägerrolle
übernehmen wird. Mit etwas taktischem Gespür hätte unser Graf de Brûlecoeur Lord
Gunnington zuerst zum Duell herausfordern können, um die Waffen selbst wählen zu
können. Forum shopping durch die Klägerin ist deshalb nur eine Sonderform des
Forum running, bei der die eine Partei auf den Start verzichtet, den Start verschläft
oder gar nicht starten darf. Zu diesem Starten-Dürfen einige Bemerkungen:
Forum running ist dann leicht, wenn beide Parteien einen potentiellen Klageanspruch
haben, zum Beispiel bei einer Scheidung. In einem offiziell nicht publizierten Fall
klagten beide Ehegatten praktisch gleichzeitig auf Scheidung, er im diskreten
Lausanne und sie im medienverseuchten New York. Beide hatten gute Gründe für
ihre Wahl. Namentlich scheute der Ehemann angesichts seiner zwecks
Steueroptimierung gezielt intransparenten Wohnsitz- und Vermögensverhältnisse die
34
Öffentlichkeit amerikanischer Prozesse.
Schwieriger wird es, wenn sich Gläubigerin und Schuldnerin gegenüberstehen. In
solchen Fällen kann die Schuldnerin ausser allenfalls auf Nichtigkeit des Vertrages
oder des Patentes nur auf die Feststellung klagen, dass sie der angeblichen
Gläubigerin nichts schulde. Solche sogenannten negativen Feststellungsklagen
werden nicht in allen Rechtsordnungen in gleichem Masse zugelassen, gerade auch
aus Angst vor Forum shopping durch die Schuldnerin. Sie sind jedoch in jüngster Zeit
international zunehmend populär geworden. Hatten sie noch vor wenigen Jahren
Seltenheitswert, gehören sie heute bereits zum Standardinstrumentarium bei
internationalen Streitfällen. In Europa beruht ihre Popularität vor allem darauf, dass
sie gemäss der Praxis des Europäischen Gerichtshofes eine spätere Leistungsklage
al., Hrsg., Festschrift 125 Jahre Kassationsgericht des Kantons Zürich, Zürich 2000 Schulthess Verlag,
173-181, 174 ff.
34
Das Problem für den Ehemann war, dass sich amerikanische Gerichte durch Forum running im Ausland
nicht gross beeindrucken lassen und den (öffentlichen) Prozess unter grösster Anteilnahme der Presse
und Behörden ohne Rücksicht auf das Schweizer Verfahren vorantrieben, bis der Ehemann in einen
Vergleich einwilligte.
- 15 -
35
der Gläubigerin verhindern. In Amerika spricht man salopp von "to be DJed", wenn
sich eine Gläubigerin von einer Feststellungsklage, einer Klage auf Declaratory
36
Judgment, überrumpeln lässt.
Nach traditioneller Ansicht ist eine negative Feststellungsklage durch die Schuldnerin
unzulässig, wenn die entsprechende Leistungsklage durch die Gläubigerin absehbar
ist. In einem solchen Fall könne der Schuldnerin zugemutet werden zu warten, bis die
Gläubigerin zuschlägt. Es fehle deshalb der Schuldnerin an einem Rechts37
schutzinteresse für eine Präventivklage. Diese Ansicht hat sich im Binnenverhältnis
entwickelt, wo nur selten ein Forum shopping möglich ist. Zumindest in internationalen Fällen gebietet jedoch der Grundsatz der Chancengleichheit, dass die
Schuldnerin genauso wie die Gläubigerin Forum shopping betreiben kann. Man
spricht auch von Waffengleichheit. Als Waffe der Schuldnerin meint man dabei die
negative Feststellungsklage. Für mich ist eine Klage allerdings sowenig eine Waffe
wie es eine Herausforderung zum Duell ist. Die Waffe ist wie im Duell die Pistole, der
Degen oder eben das berechnend gewählte Gericht. Die Kugel, die mit der Pistole
verschossen wird, ist dann zum Beispiel eine Mareva injunction.
In der Lehre hat das Argument der Chancengleichheit schon seit längerem Fuss
gefasst. Neuerdings hat sich auch die Erkenntnis durchgesetzt, dass das Postulat
der Chancen- oder Waffengleichheit auch die rechtspolitische Anerkennung des
"race to the courthouse", des Wettrennens zum Gerichtsgebäude, erfordert. Das
Rennen ist ja nur die zwangsläufige Folge der Chancengleichheit, wenn nur einer von
zweien seine Chance verwirklichen kann. Die derzeitigen Revisionen des Brüsseler
38
und des Lugano Übereinkommens tragen dem ausdrücklich Rechnung.
35
Gubisch Maschinenfabrik g. Palumbo, EuGH 8.12.1987, Rs. 144/86, Slg. 1987 I 4861 ff.; dazu JAN
KROPHOLLER , Europäisches Zivilprozessrecht, 6. Aufl. Heidelberg 1998 Verlag Recht und Wirtschaft, Art. 21
Rz. 7 f.; vgl. auch ANDREW HENSHAW , First to the Courtroom Door, European Counsel, July/August 1997, 1721.
36
BARRY NAGLER , "Reebok rules" for Litigation Management, International Business Lawyer, September
1999, 347-351, 349 (unter "Rule 7: Location, location, location": "It is surprising to me how many plaintiff's
counsel allow themselves to be 'DJed'.").
37
Vgl. Bundesgerichtsentscheid 4C.400/1994 (Fn. 27): "... entspricht es nicht der Funktion der negativen
Feststellungsklage, wenn der Schuldner damit aus taktischen Überlegungen versucht, den Prozess an ein
bestimmtes Gericht zu ziehen [...]. Über die örtliche Zuständigkeit zu entscheiden, ist Sache desjenigen
Gerichts, bei dem der Gläubiger seine Leistungsklage anhängig gemacht hat. Es ginge nicht an, dessen
Entscheid auf Begehren des Schuldners in einem negativen Feststellungsprozess vorzugreifen."
38
Vgl. Art. 23a rev. LugÜ und Art. 30 des Vorschlages für eine EG-Verordnung (als Ersatz für das Brüsseler
Übereinkommen) zur Regelung des Zeitpunktes der Rechtshängigkeit (vgl. ABl. C 376 E/1, 28.12.1999;
IPRax 2000, 41 ff.). Gemäss Kommentar der Kommission zu Art. 30 soll mit der Revision, welche das
- 16 -
Es ist natürlich irritierend, wenn Anwälte bildlich gesprochen keuchend in den Gerichtssaal stürmen, der Richterin eine Klageschrift aufs Pult knallen und strahlend
ausrufen "Sieg!". Andererseits, wer ein Shopping-Center auf die Wiese stellt, muss
sich nicht wundern, wenn manchmal ein Ausverkaufsgerangel ausbricht. Viele
moderne Zuständigkeitsordnungen sind nichts anderes als rechtliche ShoppingCenters, auch wenn sie nicht unbedingt als solche gedacht waren.
Allerdings kann Forum running durch negative Feststellungsklagen zu Missbräuchen
führen. Vor allem im Patentrecht ist der sogenannte "italienische (oder belgische)
Torpedo" berüchtigt: Dabei leitet ein potentieller Patentverletzer eine negative
Feststellungsklage vor einem italienischen oder belgischen Gericht ein, die sich
39
gerade in Patentsachen notorisch Zeit lassen. Dadurch kann sich ein Verletzer auf
lange Zeit einer Verurteilung entziehen.
Interessant ist zu sehen, wie die Gerichte mit dem Forum running umgehen. Hier
zeigt sich ein Auseinanderdriften zwischen der schweizerischen und der europäischen Rechtsprechung. Der Europäische Gerichtshof hat in jüngster Zeit
wiederholt klare Zeichen zugunsten der Chancengleichheit der Parteien und speziell
zugunsten des unbeschränkten Forum running durch negative Feststellungsklagen
40
gesetzt. Diese Zeichen wurden von den europäischen Gerichten so verstanden,
dass eine negative Feststellungsklage, die einer Leistungsklage gegenübersteht,
nicht an einem fehlenden Rechtsschutzinteresse nach nationalem Recht scheitern
darf, d.h. nicht daran, dass die Schuldnerin eben warten müsse, bis die Gläubigerin
ihr Forum shopping erfolgreich beendet hat. Die deutsche Gerichtspraxis hat deshalb
die Regel, wonach eine spätere Leistungsklage eine frühere Feststellungsklage
verdrängt, im europäischen Verhältnis aufgehoben, da sie im Widerspruch zum
Forum running vereinfacht, "die Waffengleichheit der Kläger ... gewährleistet" werden (Erläuterungen der
Kommission vom 4.7.1999, KOM [1999] 348). Zur Chancengleichheit unter den Parallel-Übereinkommen
vgl. auch BGH 11.12.1996, IPRax 1997, 348 E. II.2.b.
39
Vgl. MEIBOM / PITZ (Fn. 4), 769. Letztes Jahr wurde Italien vom Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte zum 65. Mal wegen exzessiver Verfahrensdauer verurteilt (LUZIUS WILDHABER , Der
vollamtliche Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nach seinem ersten Jahr, ZSR 119 [200] I, 123135, 127; im Einzelnen: MARK E. VILLIGER , Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention [EMRK],
2. Aufl. Zürich 1999 Schulthess, 296 ff.). Es wäre allerdings verfehlt, sich hier als Schweizer stolz in die
Brust zu werfen. Auch vor Schweizer Gerichten gibt es leider immer mehr "schulpflichtige" Prozesse, die
gegen den Willen zumindest einer Partei sieben und mehr Jahre vor einer Instanz hängen.
40
Gubisch/Palumbo (Fn. 36); Overseas Union Insurance Ltd. v. New Hampshire Insurance Company,
27.6.1991, Rs. C-351/89, Slg. 1991 I 3317 ff.; The Tatry/The Maciej Rataj, 6.12.1994, Rs. C-406/92, Slg.
1994 I 5439 ff., IPRax 1996, 108 ff., Anm. SCHACK, 80-83; dazu ANDREW BELL, The Negative Declaration in
Transnational Litigation, 111 The Law Quarterly Review (1995) 675-695, insb. 679.
- 17 -
zwingenden Justizgewährungsanspruch nach Art. 21 Brüsseler Übereinkommen
41
stehe.
Das schweizerische Bundesgericht dagegen hat wiederholt betont, dass es der
42
Gläubigerin zusteht, das Forum zu wählen, nicht der Schuldnerin. Dadurch wird
Forum running in den normalen Fällen verunmöglicht. Diese Praxis kulminierte
kürzlich in einem Entscheid, der hohe Wellen geworfen hat und deshalb hier erwähnt
43
werden muss. Eine englische Gesellschaft hatte gedroht, eine Bankengruppe,
bestehend aus zwei Schweizer und einer New Yorker Gesellschaft, in London einzuklagen. Kurz bevor sie ihre Drohung wahr machte, leitete die betroffene Bankengruppe vor der Friedensrichterin des Kreises Zürich 1 eine Klage auf Feststellung
ein, dass sie der englischen Gesellschaft nichts schulde.
Das Bundesgericht hatte zwei Fragen unter dem Lugano Übereinkommen zu beantworten: Erstens, ob für das Forum running der Zeitpunkt der Einleitung eines
zürcherischen Sühnverfahrens genüge – wenn nicht, wird die Beklagte allenfalls
durch die Vorladung zur Sühnverhandlung vorgewarnt und kann ihrerseits andernorts
eine überholende Klage einleiten – und zweitens, ob Forum running mittels einer
negativen Feststellungsklage überhaupt zulässig sei. Das Bundesgericht entschied
beide Fragen zuungunsten des Forum running. Dieser doppelte Schlag gegen das
44
Forum running wurde von einigen Kommentatoren gelobt, von anderen getadelt. An
41
OLG Hamm, 3.12.1993, IPRax 1995, 104 ff., 108; BGH, 11.12.1996, IPRax 1997, 348 ff. Auch der
englische Court of Appeal gab 1996 die traditionelle englische Zurückhaltung gegenüber der
Zulässigkeit von negativen Feststellungsklagen angesichts der EuGH-Rechtsprechung auf: "It is of
course the case that the English Courts look very carefully at proceedings for negative declarations
[...]. This does not, however, mean that caution in this regard can be used as a substantive ground for
declining jurisdiction under the Convention, for this would derogate from the Convention." Ein
Feststellungsinteresse sei deshalb nicht mehr erforderlich; vorbehalten blieben lediglich Missbräuche ("frivolous or vexatious cases"). Forum shopping stelle aber keinen solchen Missbrauch dar
(C.A., 2.4.1996, Boss Group Ltd. v. Boss France S.A., [1996] 4 AER 970; [1997] 1 WLR 351).
42
Vorne Fn. 27, 29. Im nicht publizierten Entscheid vom 3.4.1995 ging es wie bei den deutschen Entscheiden um die Regel, wonach die Einleitu ng einer Leistungsklage zum (nachträglichen) Wegfall des Feststellungsinteresse führt. Das Zürcher Handelsgericht und das Bundesgericht traten beide auf die negative
Feststellungsklage gegen eine belgische Gesellschaft nicht ein. In jenem Fall war das Lugano
Übereinkommen allerdings nicht anwendbar.
43
44
BGE 123 III 414, 26.9.1997.
Dafür: HANS ULRICH WALDER , Entwicklungen in Zivilprozessrecht und Schiedsgerichtsbarkeit, SJZ 95,
1999, 29-31, Fn. 14 ("hervorragend", "souverän"); Dagegen: JOLANTA KREN KOSTKIEWICZ, Spruchpraxis des
schweizerischen Bundesgerichts, ZZPInt 3, 1998, 275-318, 290; KARL SPÜHLER , Art. 21 LugÜ: Zum Beispiel
BGE 123 III 414 – und die schweizerischen Interessen?, in: FORSTMOSER et al., Hrsg., Der Einfluss des
europäischen Rechts auf die Schweiz, Festschrift Roger Zäch, Zürich 1999 Schulthess, 847-853. Einen
Mittelweg geht offenbar GION JEGHER , Mit schweizerischer negativer Feststellungsklage ins europäische
Forum Running – (Gedanken anlässlich BGE 123 III 414), ZSR 118, 1999, I, 31-49, 46, 48).
- 18 -
dieser Stelle geht es mir nicht um das Ergebnis, sondern um die Begründung. Wer
den Hintergrund kennt, dem fällt ein Widerspruch auf: Das Bundesgericht berief sich
im ersten Teil, bei der Frage der Rechtshängigkeit, auf eine ausländische
Rechtsprechung, um eine Forum-running-freundliche Schweizer Regelung aufgrund
des Vorranges des Lugano Übereinkommens gezielt aufzuheben. Im zweiten Teil,
bei der Frage des Feststellungsinteresses, ignorierte das Bundesgericht die ausländische Rechtsprechung jedoch, um eine Forum-running-feindliche Schweizer Regelung gerade nicht aufheben zu müssen. Es ist kaum ein blosses Versehen, dass sich
im sorgfältig argumentierten und auf internationale Rechtsharmonie getrimmten
Entscheid kein Hinweis darauf findet, dass es zur Frage des Feststellungsinteresses
unter dem Lugano Übereinkommen zahlreiche ausländische Entscheide gibt, welche
staatsvertraglich zu berücksichtigen gewesen wären. Diese Entscheide hatten
immerhin das Zürcher Obergericht als Vorinstanz dazu bewegt, das Forum running
45
durch eine negative Feststellungsklage zuzulassen. Mit anderen Worten: Das
Bundesgericht hätte anders entscheiden können, wollte aber nicht, ohne allerdings zu
diesem rechtspolitischen Entscheid zu stehen. Dieses Urteil ist deshalb eine
konsequente Weiterführung der bundesgerichtlichen Praxis, wonach es nur ein
Forum shopping der Gläubigerin geben darf, aber kein konkurrierendes Forum
shopping durch die Schuldnerin und damit auch kein Forum running. Das aber ist
das genaue Gegenteil der Tendenz des Europäischen Gerichtshofes und der internationalen Rechtsentwicklung. Es ist denn auch kein Zufall, dass sowohl bei der
Revision der Parallel-Übereinkommen wie auch beim Haager Konventionsprojekt
Forum running durch Einleitung des ersten Verfahrensschrittes ausdrücklich
vorgesehen ist und damit der bundesgerichtliche Entscheid diesbezüglich in abseh46
barer Zukunft obsolet werden dürfte.
Anders als das kontinentale Recht kennt das angelsächsische Recht auch bei parallelen Prozessen Mittel zur Bekämpfung von Missbräuchen. Zum einen können sie
den eigenen Prozess durch die erwähnte Forum-non-conveniens-Doktrin beenden
und so den Weg für die parallele Klage der Gegenpartei im Ausland frei machen,
45
PETER WIDMER / BENEDIKT MAURENBRECHER , What's Negative about Negative Declarations?, in: VOGT et al.,
Hrsg., The International Practice of Law, Liber Amicorum for Thomas Bär and Robert Karrer, Basel 1997
Helbing & Lichtenhahn / Kluwer, 263-284, 265, 283.
46
Vgl. ALEXANDER R. MARKUS, Revidierte Übereinkommen von Brüssel und Lugano: Zu den Hauptpunkten,
SZW 1999, 205-232, 216, insb. Fn. 96. Der Vorschlag, einer späteren Leistungsklage – wie im deutschen
und schweizerischen Recht – den Vorrang vor einer früheren negativen Feststellungsklage zu gewähren,
wurde nicht übernommen (vgl. KONSTANTINOS KERMEUS / H ANNS PRÜTTING, Die Revision des EuGVÜ – Bericht
über ein Grotius-Projekt, ZZPInt 3, 1998, 265-271, 270).
- 19 -
soweit diese als angemessener erscheint. Zum anderen können sie der Gegenpartei
verbieten, ihre ausländische Parallelklage weiter zu verfolgen. Das Mittel dazu sind
die sogenannten anti-suit injunctions. Anti-suit injunctions sind gerichtliche Verbote
für die Gegenpartei, an einem anderen Ort zu prozessieren. Sie sind im angelsächsischen Recht verbreitet, während sie auf dem Kontinent weitgehend auf Unverstän47
dnis bis erboste Ablehnung stossen.
C. Judgment Running
Nicht immer ist entscheidend, wann eine Klage rechtshängig wird. Manchmal ist es
wichtiger, dass eine Klage zuerst zu einem Urteil führt. Man spricht dann von
"judgment running". Es kommt zur Anwendung, wenn das eine Verfahren nicht
automatisch das andere ausschliesst und die Vollstreckung in einem Drittstaat
erfolgen soll, der beide Zuständigkeiten anerkennt. Im westeuropäischen Verhältnis
haben das Brüsseler und das Lugano Übereinkommen das Judgement running
weitgehend ausgerottet. Im Verhältnis zu anderen Staaten kommt es noch zuweilen
vor.
V.
AUSBLICK
A.
Der Kampf ums Gericht als Realität
1872 hielt Rudolf von Jhering einen berühmten Vortrag über den "Kampf ums
48
Recht". Seither wissen wir, dass Recht und Gerechtigkeit nicht einfach geschehen.
Das Recht muss erstritten werden, sowohl in der Gesetzgebung wie auch im
Prozess. Diese Erkenntnis ist heute ein Gemeinplatz.
Neu ist, dass diesem Kampf ums Recht ein zusätzlicher, gänzlich unabhängiger
Streit vorgelagert wird, der Kampf ums Gericht, vor dem um das eigentliche Recht
gestritten werden soll. Das Gericht ist auch nicht einfach gegeben. Es muss ebenfalls
erstritten werden. Die Bedeutung dieses Kampfes wird immer noch erheblich unterschätzt. Ich habe mit der kleinen Geschichte des Grafen de Brûlecoeur zwei
47
Das OLG Düsseldorf betrachtete eine englische anti -suit injunction als unzulässigen Angriff auf die
deutsche Souveränität, vgl. EuZW 1996, 351 ff.; Anm. MANSEL, 335-340. Allgemein vgl. HAIMO SCHACK,
Internationales Zivilverfahrensrecht, München 1991 C.H. Beck, Rz. 769 ff.; LESLEY JANE SMITH , Antisuit
Injunctions, Forum non Conveniens und International Comity, RIW 1993, 802-809; KEITH STEELE, Anti-suit
Injunctions and Forum Shopping, IBA International Litigation News, July 1998, 21-24.
48
RUDOLF VON JHERING, Der Kampf ums Recht, Neuauflage Freiburg i. Br. 1997 Wissenschaftlicher Verlag.
- 20 -
Botschaften vermitteln wollen: Erstens haben wir es mit einem Kampf um die Waffen
zu tun (der Vergleich eines Gerichts mit einer Waffe ist sicher ungewohnt, aber widerspiegelt zunehmend die Rechtswirklichkeit). Zweitens kann es fatal sein, sich von
dieser neuen Entwicklung überrumpeln zu lassen.
Dieser vorgelagerte Kampf gehört heute zum anwaltlichen Alltag, besonders in
internationalen Fällen, aber vereinzelt auch in nationalen Fällen. Er muss nicht, kann
aber das Schicksal im Hauptprozess um den materiellen Anspruch vorentscheiden.
Zumindest verzögert er den Hauptprozess, manchmal um viele Jahre, wenn er ihn
nicht sogar praktisch verhindert. Beide, Vorentscheidung und Verzögerung, sind
rechtspolitisch unerwünscht. Verhindern kann man den Kampf ums Gericht nicht. Man
kann ihn bloss zähmen.
B. Leitlinien für die Formulierung der Spielregeln
Wissenschaft, Gesetzgebung und Rechtsprechung sind gefordert, Spielregeln für den
Kampf ums Gericht aufzustellen und umzusetzen. Meines Erachtens sind dabei vor
allem folgende Leitlinien zu beachten, damit der Kampf ums Gericht möglichst selten
und, wenn schon, möglichst kurz und fair wird:
1.
Reduktion der Gerichtsstände
Je weniger Gerichtsstände zur Auswahl stehen, desto weniger Forum shopping gibt
es. Staatsverträge räumen mit zahlreichen nationalen Sonderzüglein, sogenannten
49
exorbitanten Gerichtsständen, auf. Man kann aber durchaus noch weiter gehen.
2.
Vereinfachung der Zuständigkeitsregeln
Je mehr Sachverhalte besonderen Zuständigkeitsregeln unterstehen, desto häufiger
kann jahrelang darüber gestritten werden, welche Regel im Einzelfall wirklich
50
anwendbar ist. Beispiele: Was ist ein Konsument? Oder: Hat ein Rechtsöffnungs51
verfahren eine Zwangsvollstreckung zum Gegenstand?
49
Für eine rechtsvergleichende Übersicht siehe KRAFFT (Fn. 22).
50
51
Zu den diesbezüglichen Art. 13 ff. LugÜ vgl. BGE 121 III 336 (4.8.1995); dazu DASSER (Fn. 33), 176 ff.
Vgl. die schwankende Rechtsprechung in der Schweiz zur Frage, ob Art. 16 Ziff. 5 LugÜ auf Rechtsöffnungen nach Art. 80 ff. SchKG anwendbar ist: SJZ 1998, 368 f. (Obergericht LU, 30.5.1996: Art. 16.5
- 21 -
3.
Gleichberechtigung
Soweit Forum shopping möglich ist, muss im Interesse der Chancengleichheit auch
Forum running durch die potentiell Beklagte zugelassen werden. Ausnahmen
bewirken tendentiell eine materiellrechtliche Besserstellung der bevorzugten Partei
und müssen rechtspolitisch gerechtfertigt sein. Eine generelle Bevorzugung von
Geschädigten gegenüber den Schädigern zum Beispiel wäre verfehlt: Jede kann
behaupten, sie sei Geschädigte, und sich, um einen Vergleich zu erzwingen, ein
Gericht suchen, das ihre Klage zumindest als nicht hoffnungslos erscheinen lässt,
52
etwa ein Geschworenengericht in den Südstaaten der USA.
4.
Zeitliche Priorität
Das kontinentale Konzept der zeitlichen Priorität zur Entscheidung eines Forum
running ist einfacher zu handhaben als das komplexe angelsächsische Konzept des
Forum non conveniens und deshalb vorzuziehen. Die zeitliche Priorität darf allerdings
nicht vorbehaltlos gelten.
5.
Missbrauchsbekämpfung
Sowohl Forum shopping wie Forum running sind anfällig für Missbräuche. Forum
shopping im marginalen Streubereich einer Verletzungshandlung oder Forum running
durch einen italienischen Torpedo sind Missbräuche, die in geeigneter Weise zu
bekämpfen sind. Die Mittel sollten wenn möglich ihrerseits klare Regeln sein, wie die
53
erwähnte Shevill-Praxis des Europäischen Gerichtshofes, aber juristisch besser
durchdacht und abgestützt.
Es wird immer ein Restbereich bleiben, in dem eine aufwändige Einzelfallprüfung
erforderlich ist. In diesem Sinne sieht der Haager Konventionsentwurf, ähnlich wie
anwendbar), ZR 1998 Nr. 14 (Bezirksgericht ZH, 31.7.1996: Art. 16.5 nicht anwendbar); BJM 1998, 211
(Zivilgericht BS, 9.6.1997: eher nicht anwendbar); ZWR 1998, 140 (Kantonsgericht VS, 28.10.1997: Art. 16.5
anwendbar).
52
Zumindest eine Fussnote in der Rechtsgeschichte des Forum shoppings verdient der Versuch des
bekannten Gewohnheitsklägers Josef Müller (Wohnsitz Erlenbach ZH), drei Richter und einen Gerichtssekretär des Bezirksgerichts Meilen in New York, einem seiner diversen Aufenthaltsorte, wegen angeblicher Persönlichkeitsverletzung durch ein unverblümtes Urteil einzuklagen. Der Versuch scheiterte an der
völkerrechtlichen Immunität der Beklagten (U.S. District Court, S.D. N.Y., 13.5.1983, 1983 WL 25419;
Berufung von Müller abgewiesen, 27.10.1983, vgl. Kostenentscheid 1986 WL 6013).
53
Vgl. vorne Fn. 19.
- 22 -
das schweizerische IPRG, eine Nichtbeachtung der zeitlichen Priorität vor, wenn das
54
erstbefasste Gericht trödelt.
6.
Reduktion des Anreizes
Am Wichtigsten, wenn auch am Aufwändigsten, ist die Entschärfung des Gerichts als
Waffe. Der Kampf ums Gericht erübrigt sich, wenn es gar keinen Unterschied macht,
welches Gericht den eigentlichen Streitfall entscheidet. Es gilt also, die zahlreichen
Unterschiede zwischen den Gerichten und deren Rechtsanwendung zu reduzieren –
und zwar weltweit. Die Mittel dazu sind notfalls Staatsverträge, besser aber
autonome Rechtsangleichungen vor allem im Internationalen Privatrecht, im materiellen Recht, im Prozessrecht und in der Gerichtsorganisation. Hier stehen wir erst ganz
55
am Anfang.
54
55
Art. 23 Ziff. 3 (zum Haager Entwurf vgl. vorne Fn. 8); ähnlich Art. 9 Abs. 1 IPRG.
Im Vertragsrecht ist namentlich dank den UNIDROIT Principles von 1994 ein wichtiger psychologischer
Schritt gelungen, wenn auch bloss im Bereich des "soft law" (vgl. UNIDROIT [Hrsg.], Principles of
International Commercial Contracts, Rom 1994 Unidroit). Im Prozessrecht verdient ein (langfristig
angelegtes) Projekt über "Transnational Rules of Civil Procedure" Aufmerksamkeit. Es geht auf einen
Vorschlag von Geoffrey Hazard und Michele Taruffo zurück und wird vom Am erican Law Institute und
neuerdings auch von UNIDROIT unterstützt. Der derzeitige Entwurf kann auf der Website des American Law
Institute abgerufen werden (www.ali.org/al; allg.: MICHELE TARUFFO, Drafting Rules for Transnational
Litigation, ZZPInt 2, 1997, 449-460). In eine ähnliche Richtung geht das Common-Principles-Projekt des
Committee "O" (International Litigation) der International Bar Association, Section of Business Law.

Documentos relacionados