Weibliche Sexualit\344t_lektoriert

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Weibliche Sexualit\344t_lektoriert
Komm doch mal anders
Weibliche Sexualität und Penetrationskritik
In einer Zeit, in der die Gewährleistung der Individuation höchste Tugend zu sein
scheint, gibt es doch sehr wirksame, weil zu Selbstzwängen verinnerlichte
Verhaltensregularien. In deren Sinne werden Verstöße gegen die körperliche wie
gegen die sexuelle Normierung gesellschaftlich wie von den betreffenden Individuen
selbst geächtet.
Es ist Ziel dieses Artikels, die sexuellen Normierungen zu thematisieren, sie zu
hinterfragen und deren mögliche Folgen auf die praktizierte Sexualität von Frauen
vor dem Hintergrund einer patriarchalen und auf Repressionen basierenden
Gesellschaft zu skizzieren.
Vorbemerkungen
Hierfür ist es notwendig zu pauschalisieren, um überhaupt Aussagen treffen zu
können. So werden nicht alle der von mir erwähnten Aspekte in jeder weiblichen
Biografie enthalten sein.
Es muss erwähnt werden, dass sich die vorliegende Analyse ausschließlich mit
Heterosexualität auseinandergesetzt und die beschriebenen Phänomene nicht ohne
weiteres auf lesbischen Sex zu übertragen sind.
Auch ist es schwierig, Kriterien anzulegen, die einer erfüllenden Sexualität zugrunde
liegen. So muss der Orgasmus für die Einzelne nicht unbedingt einen hohen
Stellenwert haben, so dass es schwierig wird, ihn als Ausdruck für sexuelle
Befriedigung zu interpretieren. Andererseits darf die Relevanz des Orgasmus gerade
in Bezug auf Frauen nicht verharmlost werden. Im Kontext des biologistischen
Determinismus, der wie ein Virus um sich greift, wird gerade oft behauptet, dass der
Orgasmus für Frauen von Natur aus keine überragende Rolle spielt. Diese
Überzeugung integriert sich sehr gut in die auch heute noch sehr präsente
Sichtweise von der Verschmelzung des Frauenbildes mit der Vorstellung einer sich
hingebenden und aufopfernden Mutter, die ihre Bedürfnisse schon mal hinten
anstellt. So werden viele Probleme von Frauen, auch mit ihrer Sexualität, als
biologische Tatsachen wegdiskutiert.
Die Vagina – der heilige Gral
Eines dieser großen Probleme stellt meines Erachtens der nach wie vor stark
normierende Stellenwert dar, den die Penetration und der so herbeigeführte vaginale
Orgasmus in der menschlichen Sexualität spielen – und das, obwohl schon seit den
Untersuchungen des Sexualforschers Alfred Charles Kinsey von 1953 bekannt ist,
dass der Klitoris als Lustorgan mindestens die gleiche Bedeutung wie der Vagina
zukommt, wenn nicht sogar die ausschließliche.
Entgegen der Erfahrungen einer nicht unerheblichen Anzahl von Frauen, für die die
klitorale Stimulation für den Orgasmus notwendig ist, wird immer wieder von der
Vagina als „Ort des Geschehens“, vom „unidealen Standort“ der Klitoris und vom
Geschlechtsverkehr als „üblicher“, „eigentlicher“ Sexpraktik gefaselt. Es wird uns in
freudscher Manier erklärt, dass die Frau ihre „vaginale Sensibilität erst Schritt für
Schritt entfalten“1 kann.
Der Psychologe und Journalist Rolf Degen drückt in seinem Buch Vom höchsten der
Gefühle sein Mitleid mit den Frauen aus: „Es fällt schwer, an einen gütigen Schöpfer
1 Patricia Dupin, Frédérique Hédon: Die weibliche Sexualität. BLT 2000.
zu glauben, dem…die Sinnesfreuden (der Menschen) am Herzen liegen. Da ist
zunächst der alles andere als ideale Standort der Klitoris.“2
Im Fernsehen wird uns der sexuelle Akt nahezu ausschließlich in Form des Koitus
dargeboten. Auch die Zeitschrift NEON lamentiert: „Es ist schwierig, im Internet
einfach nur normalen Sex in Missionarsstellung zu finden.“3
Alles was nicht unmittelbar mit dem Koitus zu tun hat, wird gern unter die Begriffe
„Petting“ oder „Vorspiel“ subsumiert und damit degradiert und zur Nebensache
erklärt.
„Da unten bin ich seit 1953 nicht mehr gewesen.“4
Aufgrund dieses androzentrischen Dogmas ist es nicht verwunderlich, wenn Frauen
erst durch langwieriges Experimentieren zu einer erfüllenden Sexualität gelangen,
noch dazu, da Selbstbefriedigung, wie Studien belegen5, bei jungen Mädchen längst
nicht derart in den Alltag integriert ist wie bei ihren Altersgenossen.
Dies lässt auf eine sehr kompliziertes Verhältnis der Mädchen und Frauen zu ihrem
Körper schließen. Viele von ihnen haben unter dem Eindruck des Schönheitsdiktats
gelernt, ihn zu kontrollieren und körperliche Bedürfnisse zu ignorieren. Es wird einem
Ideal hinterhergehechelt, das pathologisch und schier nicht erreichbar ist. „Ein glatter,
knabenhafter, haarloser, geruchsfreier und am besten nicht blutender, sozusagen
steriler Körper, dem dadurch Merkmale eines weiblichen, erwachsenen Körpers
genommen werden, gilt als sexy.“6 Weit über die Hälfte der jungen Frauen sind mit
ihrem Körper unzufrieden und stehen ihm feindlich gegenüber.
Aufgrund der fehlenden Masturbationserfahrungen wissen Mädchen oft wenig über
ihre sexuellen Bedürfnisse – was ihnen gefällt und was nicht. Die nicht nur unter
jungen Frauen sehr präsenten Märchenprinzphantasien, die u.a. durch die BRAVO
forciert werden, führen häufig zu einer eher passiven, abwartenden Haltung. Der
Traum-Mann wird, wenn er sie nur richtig liebt, wissen, was ihr guttut und ihr die Tore
zur sexuellen Erfüllung öffnen. Die Prinzessin macht sich abhängig von ihrem
herbeihalluzinierten, zugleich männlich-starken und einfühlsam-sensiblen Helden,
der ihr die Wege ebnet und sie in das Reich sexueller Ektase geleitet. Verständlich,
dass Jungs und Männer diese Erwartungshaltung stark unter Druck setzen kann.
Der Phallus – ein alles überstrahlender Leuchtturm
Zum pathologischen Körperverhältnis gesellt sich die mediale Ignoranz des
weiblichen Lustorgans. Mädchen wissen häufig kaum, wie ihre Klitoris aussieht, und
kennen deren Bedeutung nicht. In der Sexualaufklärung wird häufig ausschließlich
die Vagina, also das Fortpflanzungsorgan, erwähnt. Auch unter dem Begriff Scheide
kann irgendwie alles subsumiert werden und er bleibt daher sehr vage. So ist eine
Aufklärungsbroschüre von 2006 überzeugt: „Begriffe wie Scheide, Vagina,
Geschlechtsverkehr sollten ab dem Grundschulalter bekannt sein.“7 Das Lustvolle am
Sex und das weibliche Lustorgan sind anscheinend nichts, was bekannt sein sollte.
2 Rolf Degen: Vom Höchsten der Gefühle. Wie der Mensch zum Orgasmus kommt. Eichborn 2004.
3 Natasha Vargas-Cooper : Was ist guter Sex?. In: NEON April 2011.
4 Eve Ensler: Vagina-Monologe. Nautilus 2000.
5 Zum Beispiel: BRAVO-Studie 2009.
6 Anja Wilser, Dagmar Preiß: Schönheitsideale zwischen Standards und Individualitätsansprüchen.
In: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Jugendsexualität. 2006.
Hingegen orientieren sich die Begriffe, die als wichtig gelten, eher an der Vorstellung
von männlicher Sexualität und an der Fortpflanzung.
Der Phallus fungiert nach wie vor als das Symbol für Sexualität schlechthin. Er hat
einen Alleinvertreterstatus, neben dem etwas anderes kaum vorstellbar ist. So ist
auch die Auseinandersetzung mit der weiblichen Sexualität häufig sehr phallisch
geprägt. Da ist von der Klitoris als einem „Miniaturpenis“ die Rede, es scheint immer
wieder notwendig zu sein, die erigierte Klitoris mit dem erigierten Penis zu
vergleichen. Rolf Degen spricht sogar von einem „Abfallprodukt des männlichen
Prototyps“8. Beide Geschlechter verfügen gerade im Kindesalter über sehr viel mehr
Begriffe für das männliche Genital. Das Verhältnis der Mädchen zu ihrem
Geschlechtsorgan reicht von Gleichgültigkeit über „das ist häßlich“ bis hin zu „ich
habe gar nichts“ oder „ich bin (im wahrsten Sinne des Wortes) zu kurz gekommen“.
Die medialen Aufklärungsbemühungen konzentrieren sich häufig vor allem auf die
Risiken, die die Sexualität für Mädchen beinhaltet, ohne das Lustvolle zu erwähnen.
Folglich nehmen sich viele Mädchen weniger als begehrendes Subjekt wahr – die
Wahrnehmung als begehrtes, gefährdetes Objekt ist sehr viel präsenter. Für diesen
Objektstatus ist keinerlei Wissen über die eigenen Sexualorgane notwendig. „In
unserem Kulturkreis kann ein Mädchen zur Frau werden, ohne sich bewusst zu
werden, dass es ein Geschlecht besitzt.“9
Resultat dieser Sozialisation ist häufig, dass Frauen heutzutage wohl wissen, was sie
nicht wollen – aber was sie wollen, ist ihnen selbst oft unklar. Diesen
Verunsicherungen ist auch die mediale Idealisierung von multiplen Orgasmen und
dem halluzinierten G-Punkt zuträglich und kann zur Isolation der Frauen führen, die
beschämt annehmen, ihre nicht normgerecht ablaufende Sexualität sei nur ihr
Problem.
„Männer müssen machen und Frauen müssen kommen.“10
Auf der anderen Seite sind die gesellschaftlichen Erwartungen an die moderne Frau
sehr hoch. Sie soll selbstbewußt ihre Wünsche artikulieren und wissen, was sie will.
Seit der 68er-Bewegung wird von den sexuell „befreiten“ Frauen erwartet, ihre
Sexualität in vollen Zügen zu genießen – eine Erwartung, die alle Beteiligten, die
Frauen wie die Männer, unter einen hohen Leistungsdruck setzt. Die dogmatische
Ideologie lautet: Wer jung und gesund ist, hat Lust auf Sex!
Um dieser Norm zu entsprechen bedienen sich Frauen gängiger Praktiken, um ein
nicht-normgerechtes Verhalten zu vertuschen. So haben über 90% der Frauen schon
einmal einen Orgasmus vorgetäuscht – wieder ein Indiz für die Abwertung der
eigenen Befindlichkeiten. Viel wichtiger ist es, die Fassade aufrechtzuerhalten. Sie
will nicht als prüde gelten, es soll nicht so aussehen, als wüsste sie über ihren Körper
nicht Bescheid, sie will ihrem Partner die Freude machen. Der vorgetäuschte
Orgasmus dient aber auch nicht selten dazu, um zu einem rascheren Ende zu
gelangen.
Dies alles spricht für einen sehr funktionalisierten Umgang der Mädchen und Frauen
mit ihrer Sexualität. Sie sitzen beispielsweise häufig dem Trugschluss auf, aus einer
7 Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Über Sexualität reden. Zwischen Einschulung und Pubertät.
2006.
8 Rolf Degen: a.a.O.
9 Patricia Dupin, Frédérique Hédon: a. a. O.
10 Klaus Fieseler: Sexmythen. Zwischen Illusion und Realität. Schwarzkopf und Schwarzkopf 2007.
sexuellen Intimität eine emotionale Intimität heraufbeschwören zu können und so
einen Mann an sich zu binden.
Gerade die Auseinandersetzung mit ihrem „ersten Mal“ weist bei vielen Mädchen
einen sehr instrumentalisierten Charakter auf. Es besteht die Gefahr, einem Jungen
nachzugeben, um nicht als frigide zu gelten. Das „erste Mal“ ist häufig eine
Statusangelegenheit, ein Ritual, eine Pflichtübung und gehört eben zum Frauwerden
einfach dazu. Oft mündet es aufgrund der Unwissenheit über die eigenen sexuellen
Befindlichkeiten zu einem bloßen Mitmachen.
Dies alles geschieht, um einer Norm zu entsprechen und als Frau bestätigt zu
werden. So werden gerade in der Pubertät häufig Grenzverletzungen in Kauf
genommen, die später bereut werden und eine Frau ihr Leben lang nicht mehr
loslassen.
Respektlosigkeit, Diskriminierung und Gewalt
Sexualität kann also für Frauen ein sehr angstbeladenes Feld sein. Da ist natürlich
die Gefahr, ungewollt schwanger zu werden, aber auch die von Kindesbeinen an
eingeimpfte Angst, Opfer eines sexuellen Übergriffs oder gar einer Vergewaltigung zu
werden. Tatsächlich beschreibt jede 7. Frau ab dem 16. Lebensjahr, sexualisierte
Übergriffe unterschiedlichster Art.
Gerade bei jungen Frauen kann Penetration sehr schmerzhaft sein und mit einem
wenig einfühlsamen Partner als gewalttätig erlebt werden. Sprüche wie: „Er stößt
sich die Seele aus dem Leib“ kommen da nicht von ungefähr.
Schon die Art, wie manche Männer ihr sexuelles Verlangen kommunizieren, kann als
zu direkt, wenig einfühlsam und grenzüberschreitend empfunden werden und zu
großer Verunsicherung führen. Bezeichnungen für Frauen wie „spaltbares Material“,
„Fotze“, „Matratze“ etc. verstärken den Eindruck von dem eigenen Objektstatus.
Diese Verunsicherungen werden dann gerne als Lustfeindlichkeit interpretiert. So
unterstellt der Hobby-Sexualforscher P. W. Fischer sexunwilligen Frauen eine
„migränegestützte Vermeidungstaktik mit Schuldzuweisungsattacken“.11
Interpretationen solcher Art können tatsächlich zu sexuellen Verweigerungshaltungen
und zur Abspaltung der eigenen Sexualität führen.
Beispielsweise fungieren Eßstörungen nicht selten als Weg, dem eigenen sexuellen
Begehren aus dem Weg zu gehen. Es wird sich in dem Fall in die Isolation gehungert
oder gegessen und ist Ausdruck des Zerbrechens an der Diktatur des gängigen
Schönheitsideals, der sich im Kampf gegen die eigene Attraktivität, so wie es das
Ideal vorsieht, äußert.
"Der Frau bleibt kein anderer Ausweg, als an ihrer Befreiung zu arbeiten.“12
Auch wenn viele Frauen heutzutage sehr selbstbewusst ihre sexuellen
Befindlichkeiten artikulieren, ist doch manchmal die Diskrepanz zu ihrem
tatsächlichen sexuellen Verhalten groß. Hier wird ein Orgasmus vorgetäuscht, dort
ein sexueller Übergriff stillschweigend ertragen, oder dem Sex wird zugestimmt,
obwohl frau gerade gar nicht so richtig Lust hat – das alles, um nicht als prüde zu
gelten oder einen umschwärmten Mann an sich zu binden, um sich begehrt und
attraktiv zu fühlen.
11 P. W. Fischer: Fiasko Sex. Rake Verlag 2001.
12 Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Rowohlt Verlag 2000.
Es wird jedoch heutzutage Wert darauf gelegt, den Mädchen schon recht früh zu
vermitteln, „Nein“ zu sagen, wenn sie keine Lust haben und sie darin zu bestärken,
sich bei der Bestimmung des Zeitpunktes für das „erste Mal“ nicht von dem Druck der
Peer-Group oder anderen Einflüsse leiten zu lassen. Dennoch fällt es Frauen aber –
gerade auch durch ihre gegenwärtig zunehmende mediale Sexualisierung –, sich
eindeutig als Subjekt des eigenen Begehrens wahrzunehmen und nicht zu einem
großen Teil als Objekt, das gelernt hat, sich auch mal zu verweigern.
Ein unbeschwerter Umgang mit der eigenen Sexualität bedeutet, möglichst
selbstständig und verantwortungsvoll mit ihr umzugehen und nicht dem
Märchenprinzen entgegenzuträumen, der die Wege in das geheime Königreich der
sexuellen Gelüste ebnet.
Es ist maßgeblich, den eigenen Körper anzunehmen und den körperlichen
Bedürfnissen einen hohen Stellenwert einzuräumen. Das gelingt schwer, wenn
Mädchen und Frauen ständig darauf bedacht sind, ihren Körper dem
Schönheitsdiktat zu unterwerfen, und in Angst vor Diskriminierungen und
sexualisierten Übergriffen leben müssen.
Ebenso wichtig ist eine präsentere gesellschaftliche und mediale
Auseinandersetzung mit der weiblichen Lust und den weiblichen Lustorganen. Der
Phallus hat nach wie vor eine sehr viel größere Symbolkraft für die Sexualität
schlechthin. Allerdings gibt es Bestrebungen, dem etwas entgegenzusetzen, wie die
etwas esoterisch anmutenden Bilder der Künstlerin Judy California beweisen, deren
Anliegen es ist, die weiblichen Geschlechtsteile mit immer neuen Mitteln und in
immer neuen Zusammenhängen darzustellen.
Sabrina Zachanassian