Wissen 13 Public Sector

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Wissen 13 Public Sector
McK
www.mckinsey.de McK Wissen 13 4. Jahrgang Juni 2005 15 Euro C 59113
www.mckinsey.de McK Wissen 13 4. Jahrgang Juni 2005 15 Euro C 59113
McK
Das Magazin von McKinsey
Public Sector
„Siehe, voll Hoffnung vertraust du der Erde den goldenen Samen
und erwartest im Lenz fröhlich die keimende Saat.“*
Wissen 13 PUBLIC SECTOR
Wissen 13
Arbeitslosengeld
Nutzenmaximierung
Kundenmonitor
Dritthose
Zwangsverwaltung
Meilensteine
Strafvollzug
Wohnimmobilien
Blinddarm
Delivery Unit
Gemeinwohl
„Servus, Hansi Hinterseer“
Beamtenkinder
E-Government
Dorfschönheit
Verwaltungs-Oscar
Wasser
Privatisierungskodex
Personalvertretung
Straßenkriminalität
Public Private Partnership
Bewegte Zeiten
In der Wirtschaft würde man es Turnaround nennen, in der Politik
heißt es Reform. Beides geht nicht ohne Schmerzen, beides braucht Zeit.
Und beides geschieht in der Regel nicht freiwillig. Wer eingetretene Pfade
verlassen und neue Wege gehen soll, tut dies, weil er muss.
Am nötigen Druck mangelt es Deutschland nicht. Die Bürger beklagen den
Verlust von Fürsorge, die Wirtschaft leidet unter der Bürokratie. Und auch
der Staatsapparat selbst ächzt unter den Strukturen, die er sich geschaffen
hat in Zeiten, in denen es ums Verteilen ging. Inzwischen geht es um die
Existenz. Die Einnahmen sinken, die Bedürftigkeit wächst. Der Staat soll
immer mehr leisten und hat immer weniger Geld.
Was also tun? Wo anfangen? Das haben wir uns auch gefragt – und erst
gar nicht nach der einen Antwort gesucht. Die richtige Strategie, das funktionierende Konzept gibt es ohnehin nicht, das gilt für Behörden wie Unternehmen. Aber auch die Großorganisation, die nicht dem Kunden, sondern
dem Bürger dienen soll, kann besser und effizienter werden. Sie kann Ziele
verfolgen und den Weg dorthin professionell managen. Sie kann für Transparenz und überschaubare Strukturen sorgen. Das System von Weisung und
Obrigkeit durch Führung und Eigenverantwortung ersetzen. Und sparen,
ohne schlechter zu werden.
Und sie kann sich an einer Vielzahl von Vorbildern orientieren. In der Wirtschaft, aber auch im öffentlichen Sektor selbst. Wir haben eine Reihe von
Beispielen gefunden, die manchmal vielleicht nur ein Anfang sind, aber
zeigen, dass viel geht, wenn man will und sich bewegt.
Das Land Berlin beispielsweise hat ein Amt geschaffen, das nur eine einzige
Aufgabe hat: die Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes, deren angestammte
Funktionen es nicht mehr gibt, dort einzusetzen, wo sie gebraucht werden.
Seit Anfang 2004 steuert das Zentrale Personalüberhangmanagement die
rund 3500 Beschäftigten der neuen Behörde. Das hat dem Land im vergangenen Jahr eine Ersparnis von gut vier Millionen Euro gebracht (S. 52).
Auch von der britischen Delivery Unit könnte Deutschland lernen. Premierminister Tony Blair hat sie eingesetzt, um sicherzustellen, dass die Visionen
der Politik auch wahr werden. Überall da, wo es klemmt, greift die StabsEditorial
Text: Susanne Risch
abteilung ein. Sie sucht nach Ursachen für Probleme. Und entwickelt gemeinsam mit den Ministerien brauchbare Lösungen (S. 8). Der Landkreis
Osnabrück macht vor, wie moderne Organisation,
Effizienz und Bürgerglück zusammenpassen (S. 84);
das Bundesland Hessen wagt sich an ein Tabu und
wird bald das erste teilprivatisierte Gefängnis in
Deutschland betreiben (S. 32).
Auch die stets als Inbegriff der Bürokratie verunglimpfte Bundesagentur für Arbeit (BA) haben
wir besucht. Und in Halle eine Niederlassung
gefunden, in der die Mitarbeiter zwar auch keine
Arbeitsplätze schaffen können. Durch eine neue
Organisation können sie ihre Kunden heute aber
schneller vermitteln und besser bedienen (S. 68).
Ob das reicht, haben wir BA-Chef Frank-Jürgen
Weise gefragt, wohl wissend, dass er weder auf
die Wirtschafts- noch auf die Arbeitsmarktpolitik
Einfluss hat. Stattdessen verantwortet der einstige
Unternehmer eine Reform, die mit dem Kompromiss zu Hartz IV gegen seinen Willen extrem
erschwert wurde – und dennoch besser vorankommt, als so mancher zugeben mag (S. 60).
Die BA ist auf dem Weg zu einer wirtschaftlichen
Behörde. Weil sie eine klare Strategie verfolgt.
Sich auf ihre Kernkompetenzen konzentriert. Vorschriften durch Verantwortung ersetzt. Und weil
sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten agiert, statt
zu reagieren. Wer den Wandel treibt, hat bessere
Chancen als der Getriebene. Beim Turnaround?
Der Reform? Egal, da unterscheidet sich die Behörde nicht vom klassischen Unternehmen.
McK Wissen 13
Seiten: 2.3
Susanne Risch,
Chefredakteurin
[email protected]
* Das Zitat auf der Titelseite stammt von
Friedrich Schiller.
Inhaltsverzeichnis
McK Wissen 13
Seiten: 4.5
1
Definitionen & Zitate
Bürokratie, Verwaltung, Dienst nach Vorschrift: Alle menschlichen Einrichtungen sind unvollkommen.
Seite: 6
2
Die Lieferanten von No. 10
Ehrgeizige Ziele verfolgen viele Politiker. Der britische Premierminister Tony Blair kümmert sich auch darum, sie zu erreichen.
Seine Stabsabteilung Delivery Unit kontrolliert, ob die Realität dem Soll entspricht – und greift notfalls ein, um zu helfen.
Seite: 8
3
Berlin gewinnt
2001 machten die Vivantes-Krankenhäuser noch 153 Millionen Euro Verlust. In drei Jahren will der Berliner Klinik-Betreiber
zu den fünf führenden Krankenhausunternehmen in Deutschland zählen. Wie soll das gehen?
Seite: 16
4
Eine Frage der Qualität
Darf man Wasser privatisieren? Die Niederlande sagen Nein – als eines von zwei Ländern weltweit.
Seite: 24
5
Gefängnis mit beschränkter Haftung
Anfang kommenden Jahres nimmt in Hessen das erste teilprivatisierte Gefängnis seinen Betrieb auf. Wo sind die Grenzen der
Privatisierung? Darf die öffentliche Hand die Verwaltung einer Haftanstalt abgeben? Geht das gut? Ein Besuch im britischen Privatknast.
Seite: 32
6
Auf Schatzsuche
Der Staat besitzt drei Millionen Wohnungen – ein Vermögen. Aber nur, wenn der Besitz professionell gemanagt wird.
Seite: 40
7
Staatsweh
Paul Nolte, Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Berliner FU, über den Staat zwischen Tradition und Moderne.
Seite: 44
8
Stehen, gehen, laufen, rennen
Beamte, deren Stellen gestrichen wurden, gerieten früher aufs Abstellgleis. In Berlin arbeiten sie heute in einer eigens für sie
geschaffenen Behörde – zu ihrem eigenen Vorteil und zu dem des Landes. Bestandsaufnahme eines Modellprojektes.
Seite: 52
9
„Der Souverän hat entschieden.“
Frank-Jürgen Weise, der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, soll aus der riesigen Behörde einen Dienstleister
machen. Ein Gespräch über die wohl größte Reform einer öffentlichen Institution in der Geschichte der Bundesrepublik.
Seite: 60
10 Die neue Amtlichkeit
Wie fühlt sich der Wandel vom Arbeitsamt zur Arbeitsagentur in der Praxis an? Und wem nützt er? Ein Tag in Halle.
Seite: 68
11 Die Rätin
Inge Ragaller ist seit 25 Jahren Beamtin – und liebt ihren Beruf. Ein Porträt.
Seite: 74
12 Tausendmal probiert …
Wie können Kommunen und öffentliche Hand Arbeitsplätze schaffen? Durch individuelle Konzepte, intelligente Kooperationen
und eine konsequente Umsetzung. Eine Reise durch deutsche Cluster-Regionen.
Seite: 78
13 Osnabrück im Glück
Bürgernah und trotzdem sparsam. Die Landkreisverwaltung Osnabrück zeigt, wie das geht.
Seite: 84
14 Schöner Schein
Ein Unternehmen müsste Insolvenz anmelden. Aber was passiert mit einer Stadt, die jahrelang über ihre Verhältnisse lebt?
Die traurige Geschichte der Kurstadt Bad Münster am Stein-Ebernburg.
Seite: 90
15 Bildstrecke – Wie bitte?
Wann ist ein Flugzeug ein Militärflugzeug? Und ein Arbeitsplatz ein Bildschirmarbeitsplatz? Amüsantes aus Gesetzen und Verordnungen.
Seite: 96
16 Under Construction
Deutschland blockiert sich beim E-Government selbst. Dabei wäre der Nutzen riesig. Für Bürger, Behörden und Unternehmen.
Seite: 104
17 Der Berg ruft
Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten finanzieren sich gemeinhin durch stetig steigende Gebühren. Dass man auch mit Sparen
vorankommen kann, zeigt das Beispiel des Österreichischen Rundfunks.
Seite: 110
18 „Die Menschen wollen vom Staat abhängig sein.“
Wirtschaftsnobelpreisträger James Buchanan erklärt, warum die Staatsquote nur wachsen kann: Der Mensch will es so.
Seite: 116
19 Ein Dorf für Kinder
Kein Geld, keine Arbeit – aber eine Zukunft, die in den Händen ihrer Kinder liegt. In sie investieren die Bewohner des sibirischen
Taigadorfs Kejsess alles, was sie haben. Das ist vor allem Eigeninitiative.
Seite: 122
Köpfe
Impressum
Seite: 128
Seite: 130
Inhalt
McK Wissen 13
Begriffsklärung
Seiten: 6.7
1 Definitionen & Zitate
„Im organisatorischen Sinne ist Verwaltung die Gesamtheit der staatlichen Stellen, die im Sinne des
Gewaltenteilungsgrundsatzes nicht zur Legislative und nicht zur Judikative, sondern zur Exekutive
gehören. (...) Im materiellen Sinne ist Verwaltung diejenige Staatstätigkeit, die die Wahrnehmung von
Verwaltungsangelegenheiten zum Gegenstand hat.“
Markus Heintzen, Professor für Öffentliches Recht und Steuerrecht an der Freien Universität Berlin (Vorlesung Allgemeines Verwaltungsrecht)
„Jeder erwartet vom Staat Sparsamkeit im Allgemeinen und
Freigebigkeit im Besonderen.“
Anthony Eden (1897–1977), britischer Politiker
„Regierungstätigkeit ist Politik en gros – Verwaltungstätigkeit ist
Politik en détail.“
Richard Wiggins, amerikanischer Politologe
„Als Beamtendeutsch, auch Behördendeutsch, bezeichnet man eine umständliche, für
Mitarbeiter in Behörden typische Form, mit der deutschen Sprache umzugehen.
Kennzeichnend sind die Anhäufung von Hauptwörtern und die Substantivierung von Verben.“
Freie Enzyklopädie Wikipedia
„Der Lohn eines Amtes ist das Amt selbst.“
Lucius Annaeus Seneca (4 v. Chr. – 65 n. Chr.), römischer Philosoph und Dichter
„Alle menschlichen Einrichtungen sind unvollkommen – am allermeisten staatliche.“
Otto Fürst von Bismarck (1815–1898), erster deutscher Reichskanzler
„Eine Regierung muss sparsam sein, weil das Geld, das sie erhält, aus dem Blut und Schweiß ihres
Volkes stammt. Es ist gerecht, dass jeder Einzelne dazu beiträgt, die Ausgaben des Staates
tragen zu helfen. Aber es ist nicht gerecht, dass er die Hälfte seines jährlichen Einkommens mit dem
Staate teilen muss.“ Friedrich II. der Große (1712–1786)
„Wer sagt, dass ein Beamter kein Beschäftigungsrisiko hat? Jeden
Augenblick kann die Tür aufgehen und ein Antragsteller hereinkommen.“
Helmar Nahr, Mathematiker und Ökonom
„Das Ziel ist klar. Der öffentliche und der private Sektor müssen durch Zusammenarbeit das erreichen, was sie allein
nicht erreichen können.“ Michael Gerrard, stellvertretender Vorstandsvorsitzender von Partnerships UK
„Dass man mit Dienst nach Vorschrift die Urheber der Vorschriften lächerlich
machen kann, ist eine herrliche Pointe der Bürokratie.“
Cyril Northcote Parkinson, britischer Historiker (1909–1993)
„Verwaltungshandeln: Behörden können sowohl öffentlich-rechtlich als auch privatrechtlich
handeln. Im Zweifel wird die Behörde öffentlich-rechtlich tätig. Öffentlich-rechtlich handeln
kann die Behörde entweder durch Rechtsakt oder durch nichtregelndes Verwaltungshandeln.“
rechtswoerterbuch.de
„Bürg du für dich und deinen eignen Leib! Wir tun,
was unsers Amtes.“
Friedrich von Schiller (1759–1805), deutscher Dichter (Wilhelm Tell)
Politisches Controlling
Text / Foto: Kerstin Friemel
McK Wissen 13
Seiten: 8.9
2
Die Lieferanten von No. 10
Die britische Regierung will, dass ihre öffentliche Verwaltung Leistung bringt. Darum setzt sie ihr
konkrete Ziele. Und gründete eine Abteilung, die den Weg dahin Schritt für Schritt überprüft: Die Delivery Unit
sucht Vorzeigebeispiele und greift ein, wenn ein Ministerium sein Ziel zu verfehlen droht.
Das britische Finanzministerium ist Heimat der Delivery Unit.
Politisches Controlling
Text / Foto: Kerstin Friemel
Manchmal, sagt Michael Barber und schüttelt den Kopf, seien die
Lösungsvorschläge seiner Abteilung fast komisch. Da sei zum Beispiel die
Sache mit den fallenden Blättern in den Herbstmonaten. Die Briten hätten
es geschafft, 1830 den ersten Zug der Welt von Liverpool nach Manchester auf den Weg zu bringen. Aber jedes Jahr im Herbst seien die Züge plötzlich unpünktlich gewesen. Es dauerte 170 Jahre, bis das Problem angepackt
wurde. Barbers Team traf sich mit Bahnmanagern und erfuhr, dass matschiges Laub auf den Gleisen die Verspätungen verursachte. Das war allgemein bekannt, doch nie hatte jemand etwas unternommen. „Als ob es
den Herbst immer wieder zum ersten Mal gäbe“, sagt Barber. Neuerdings
präparieren Bahnmitarbeiter jedes Jahr die Gleise rechtzeitig mit einer
Speziallösung, und der Pünktlichkeits-Herbstknick fällt kleiner aus.
Eine gewöhnliche Geschichte aus einer ungewöhnlichen Behörde. Michael
Barber leitet die Delivery Unit – die „Liefer-Abteilung“ der britischen
Regierung, eine Stabsabteilung von Premierminister Tony Blair. Ihre Aufgabe: sicherstellen, dass vor allem jene Teile der öffentlichen Verwaltung
gute Dienste leisten, die der Bürger als besonders wichtig empfindet. Das
Gesundheitssystem etwa, aber auch die Verbrechensbekämpfung und die
Asylvergabe, der Bildungssektor und das Transportwesen. Eine Herausforderung, die die britische Regierung innovativ angeht: Alle zwei Jahre handeln Finanzministerium und Premierminister gemeinsam mit den einzelnen
Ministerien neue Vereinbarungen aus. Darin knüpft der britische Oberkämmerer seine Gelder an Zielvorgaben des jeweiligen Ministeriums.
McK Wissen 13
Seiten: 10.11
Geld gibt es gegen Leistung. Für Lippenbekenntnisse bleibt kein Platz. So
der politische Wille. Und die Mission der Delivery Unit. Sie prüft regelmäßig vor allem, ob die für die Kernaufgaben der öffentlichen Verwaltung
verantwortlichen Ministerien auf dem richtigen Weg sind, ihre Vorgaben
zu erfüllen. Sieht es nicht danach aus, greift die Unit ein. Sucht nach den
Ursachen für die Probleme. Und entwickelt gemeinsam mit den Ministerien
Lösungen. Bevor es zu spät ist.
Eine langfristige Strategie und kurzfristige Ergebnisse
Der bemerkenswerte Prozess beginnt bereits bei der Formulierung der Ziele.
Sie sollen das richtige Leben abbilden und sind erstaunlich konkret. So muss
das Gesundheitsministerium beispielsweise bis spätestens Ende Dezember
2005 sicherstellen, dass kein Kranker länger als sechs Monate auf seine
Operation wartet. Oder bis 2010, dass die Rate der unter 75-Jährigen, die
an Herzinfarkten oder anderen Herzkrankheiten sterben, um mindestens
40 Prozent gesunken ist. Unter die Ziele des Bildungsministeriums fällt
etwa, bis 2010 den Anteil der 18- bis 30-Jährigen, die eine höhere Bildung
in Angriff nehmen, auf 50 Prozent zu steigern, aber auch die Vorgabe, bis
zum selben Zeitpunkt die Schwangerschaften von Mädchen unter 18 um
die Hälfte zu reduzieren.
„So konkrete Ziele waren früher undenkbar“, sagt Michael Barber. Aber
früher war die Richtung auch nicht so deutlich vorgegeben. Die öffentliche
Verwaltung soll sich grundlegend ändern, schlank werden, wendig, schnell.
Und das auch im Reformprozess: „Moderne Politiker stecken in einem
Dilemma“, sagt Barber und schaut aus dem Fenster seines Büros mitten
im Londoner Regierungsbezirk Westminster. „Sie brauchen eine langfristige
Strategie, doch nur wenn sie auch kurzfristige Ergebnisse liefern, wird man
ihnen glauben.“
Fünf Minuten Fußweg trennen den Chef der Delivery Unit von der Downing
Street No. 10, dem Regierungssitz des britischen Premierministers. Soeben
ist Barber von dort zurückgekommen. Er und seine 35 Kollegen der Delivery Unit – ein buntes Team aus Beamten, ehemaligen Unternehmensberatern, Statistikern und Volkswirten – arbeiten als Stabsabteilung für
No. 10, sitzen aber im Finanzministerium. Fast ein Symbol für die Herausforderung der Einheit: Sie muss ständig den Ausgleich zwischen verschiedenen Interessen und Empfindlichkeiten meistern – zwischen Fach-
Dank der Arbeit der Delivery Unit
verkehren britische Züge jetzt im Herbst
pünktlicher. Michael Barber ist Chef
der Einheit. Früher lehrte er als Professor
für Pädagogik.
Ohne Daten keine Taten
Drohen wichtige Meilensteine nicht erreicht zu werden, greift die
Delivery Unit ein. Manchmal nur mit einem Hinweis,
manchmal aber auch mit dem Vorschlag, gemeinsam mit dem
Ministerium eine Lösung zu entwickeln und umzusetzen.
Michael Barber hat die öffentliche Verwaltung von mehreren Seiten kennen
gelernt. Anfangs als Lehrer, später als Gewerkschafter, dann als Professor
für Pädagogik. „Ich kenne nicht nur die Perspektive des Bürokraten, das
hilft“, sagt der 49-Jährige. 1994 rief ihn ein Mitarbeiter aus dem Blair-Team
an. Ob er Interesse habe, an einer Rede über Bildung mitzuarbeiten, die
Blair halten wolle? Barber, damals selbst in der Labour-Partei aktiv, sagte
zu. Und blieb beim Blair-Team. Drei Jahre später wählten die Briten Tony
Blair mit seinem Regierungsprogramm „Bildung, Bildung, Bildung“ erstmals zum Premierminister. Barber wurde Leiter der „Standard and Effectiveness Unit“ im Bildungsministerium. Im Auftrag der Regierung ordnete
er an, alle elfjährigen Schüler täglich eine Stunde in Schreiben und Lesen
zu unterrichten, und ergänzte diesen Pflichtunterricht ein Jahr später um
eine tägliche Stunde Rechnen. Ein Erfolg: Die Testergebnisse der Kinder
in Englisch und Mathematik verbesserten sich dramatisch. 2001 schaffte
England bei der ersten PIRLS-Studie den dritten Platz in der Rangliste der
Lesefertigsten.
Grund genug für Regierungschef Blair, nach seiner ersten Wiederwahl
im Juni 2001 zu verkünden, man habe ihm die Anweisung gegeben zu
„liefern“, „an instruction to deliver“. Er rief die Delivery Unit ins Leben
und machte Barber zu ihrem Chef. Ein Projekt als politisches Signal. An
dessen Erfolg Blair nicht zuletzt seine politische Karriere knüpfte: Sollten
sich die avisierten Verbesserungen in den Kernbereichen der öffentlichen
Verwaltung nicht einstellen, verkündete der Regierungschef im ersten Jahr
seiner zweiten Amtsperiode, werde er „die Sache ausbaden“. So weit kam
es nicht, Anfang Mai gewann Blairs Labour-Partei zum dritten Mal in Folge
die britischen Unterhauswahlen – wenn auch mit hohen Verlusten im
Vergleich zu früheren Wahlergebnissen.
Blairs Delivery Unit hat weltweit Aufsehen erregt. Während in Deutschland
ein großer Teil des politischen Reformeifers im Parteien-Gerangel verebbt,
dürfen sich die Briten zur Innovations-Avantgarde rechnen. Die Weltbank
und der Internationale Währungsfonds sind von der Arbeit der Einheit
begeistert. Etliche EU-Länder schickten bereits Delegationen, selbst der
Michael Barber kennt die Verwaltung lange und gut – seit er Chef der Delivery Unit ist,
legt er deshalb großen Wert auf Transparenz. „Nur mithilfe aktueller Daten können wir
erkennen, wann es brennt, und rechtzeitig eingreifen.“
ministerien und dem geldgebenden Finanzministerium, zwischen Theorie
und Praxis, Anspruch und Wirklichkeit und nicht zuletzt auch zwischen
zentral ausgehandelten Zielvorgaben und der Situation an der Basis.
Politisches Controlling
Text / Foto: Kerstin Friemel
russische Präsident Putin und das jordanische Königshaus ließen die Arbeit
der Stabsabteilung untersuchen. Andere Regierungen haben sogar schon
begonnen, den Briten nachzueifern, etwa die australische und die des
kanadischen Bundesstaats Ontario.
Damit übernahmen sie ein Werkzeug, das für einen tief greifenden Einschnitt in die Arbeitsweise von Behörden steht. Denn neben dem Ziel der
Unit, den Ministerien kurz- und mittelfristig bei der Erreichung ihrer Vorgaben zu helfen, will das Barber-Team langfristig vor allem die Strukturen
in den Behörden umkrempeln. „Das hat bei der Einführung von Datenerfassungs-Systemen begonnen“, sagt Barber, „und geht bis zur Änderung
der Geisteshaltung.“ Als seine Abteilung vor vier Jahren ihre Arbeit aufnahm, hatte kaum ein Ministerium fundierte Informationen über die eigene
Leistung. Alle paar Jahre gab es stichprobenartige Untersuchungen, um zu
sehen, wie die Dinge stehen. „Und wenn die Ergebnisse ewig später veröffentlicht wurden, hatte sich die Welt schon wieder komplett geändert“,
resümiert Barber. Gepflegte Datenbanken? Kaum vorhanden. Detaillierte
Analysen? Fehlanzeige. „Inzwischen wissen die meisten, dass sie nur mithilfe aktueller Daten erkennen können, wann es brennt, um dann auch
rechtzeitig einzugreifen.“
Heute setzt sich jedes Ministerium Zwischenziele und gleicht sie mit den
aktuellen Zahlen ab. Drohen wichtige Meilensteine nicht erreicht zu werden, greift die Delivery Unit ein. Manchmal nur mit dem Hinweis, dass
eine neue Ausrichtung der Politik nötig ist. Manchmal aber auch mit dem
Vorschlag, gemeinsam mit dem Ministerium eine Lösung zu entwickeln
und umzusetzen.
Als das Gesundheitsministerium etwa befürchtete, sein für März 2003
gesetztes Zwischenziel zu verfehlen, rund 90 Prozent aller Notfallpatienten innerhalb von vier Stunden durch die Notaufnahme zu schleusen, riet
Barber zu einer gemeinsamen Untersuchung. Ein Team aus Mitarbeitern
der Delivery Unit und dem Ministerium interviewte Ärzte, Pflegepersonal
und Manager in Krankenhäusern, deren Notfallstation überdurchschnittlich
kurze oder besonders lange Wartezeiten hatten. Das Ergebnis: In vielen
Krankenhäusern hatten bis dahin Patienten mit leichten Beschwerden etliche Stunden auf ihre Behandlung warten müssen, weil ständig medizinisch
wichtigere Fälle zu versorgen waren. Anders in den gut organisierten Notfallstationen. Hier kümmerte sich Pflegepersonal um verstauchte Füße,
Schnittwunden und Grippepatienten. Ärzte behandelten nur die schwer-
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Seiten: 12.13
wiegenderen Fälle. Konsequenz: Die meisten Patienten konnten nach kurzer Zeit entlassen werden, die Betten der Stationen waren nicht unnötig
blockiert. Eine einfache, aber effektvolle Organisation. Die Delivery Unit
und das Ministerium kürten sie zur Best Practice und verhalfen allen Krankenhäusern des Landes zu diesem System. Im Dezember 2004 erreichte
das Gesundheitsministerium wie geplant sein Ziel.
Konzertierte Aktion gegen Schulschwänzer
Barber beschreibt Situationen wie diese als Lernprozesse. Und betont, dass
es manchmal auch akzeptabel sei, ein Ziel nicht rechtzeitig zu erreichen,
„wenn klar ist, dass sich in der Verwaltung alles in die gewünschte Richtung bewegt“. Dennoch gilt das Verfehlen von Zielen intern als Schlappe.
Und ein Minister unter genauer Beobachtung des Premierministers möchte
Erfolge vorweisen. Tony Blair lässt sich von der Delivery Unit jeden Freitag
über den aktuellen Stand informieren. Einmal im Monat konferiert Barber
mit ihm. Alle zwei bis drei Monate organisiert die Delivery Unit Treffen
zwischen dem Regierungschef und einzelnen Kabinettsmitgliedern, um Fortschritte und Probleme beim Erreichen der Ziele zu diskutieren und gegebenenfalls Aktionspläne zu beschließen.
Im Extremfall geht es dabei um Krisenmanagement wie etwa im Jahr 2002,
als die Straßenkriminalität abrupt anstieg. Viele vermuteten einen Zusammenhang zwischen dem Anstieg der Delikte und der deutlich gestiegenen
Zahl von Mobiltelefonen, einer begehrten Diebesbeute. Die Delivery Unit
war jedoch skeptisch: Dies sollte der einzige Grund für den Anstieg sein?
Auch in New York war die Zahl der mobilen Telefone angewachsen, die
Straßenkriminalität war trotzdem zurückgegangen.
Gemeinsam mit den Ministerien analysierte die Einheit deshalb Verbrechensmuster. Ihre wichtigste Erkenntnis: Vor allem Jugendliche waren für
den Anstieg in der Statistik verantwortlich. Die Zahl bewaffneter Raubüberfälle junger Krimineller zwischen elf und fünfzehn Jahren war in den
vorausgegangenen sieben Jahren um mehr als 400 Prozent gestiegen. Ein
Teil der Jugendlichen finanzierte seinen Drogenkonsum mit Diebstählen,
viele kompensierten schulische Probleme. Um zu einer Lösung zu kommen,
mussten mehrere Ministerien einbezogen werden. Blair rief eine Sondersitzung ein. Nur wenige Wochen später begann die von der Delivery
Unit und etlichen Ministerien gemeinsam geplante und von Tony Blair
Russell Cake, Mitarbeiter der Delivery Unit,
pflegt den direkten Draht zu
den Verwaltungen, die die Zielvorgaben
umzusetzen haben.
geleitete Street-Crime-Initiative: Teams aus Polizisten und Mitarbeitern der
Schulbehörde spürten gemeinsam Kinder auf, die sich während der Schulzeit auf der Straße herumdrückten, und brachten die Schulschwänzer in den
Unterricht oder nach Hause. Im Sommer holte ein Ferien-Veranstaltungsprogramm tausende Jugendliche von der Straße. Zum neuen Schuljahr
gab es separate Angebote für notorische Unterrichtsstörer, die bislang ohne
Alternativunterricht ausgeschlossen worden waren.
Statt die Initiative weitflächig zu starten, konzentrierte man sich auf
soziale Brennpunkte. „Rund 80 Prozent aller Straßenkriminalitäts-Delikte
wurden in nur zehn von insgesamt 42 Polizeibezirken des Landes registriert“, erklärt Barber den Fokus. Sie wurden zu Schwerpunktgebieten der
Initiative. Einmal pro Woche meldeten sie ihre aktuelle Kriminalitätsstatistik. Die Delivery Unit verwandelte sie in Kurven, Stab- und Kuchendiagramme. Zwei Tage später lagen sie dem Premierminister vor, der
jeweils mit entschied, wie es weitergehen sollte. Um die Lage transparent
zu machen, wurden alle Daten auf einer internen Webseite veröffentlicht.
„So wussten die Polizeikräfte, wo sie standen“, sagt Michael Barber. „Das
spornte an.“
Nicht jede Zielvorgabe ist zielführend
Auch das Bewertungssystem hat Prinzip: So wie im Fall der Polizei werden die meisten Leistungen der Verwaltung veröffentlicht, teilweise als
interner Vergleich, teilweise für jedermann einsehbar. Barber glaubt, dass
Zielvorgaben, die gut formuliert und gemanagt werden, die Verbesserung
der Leistung beschleunigen und dazu beitragen, dass die Organisationen
vor Ort die Prioritäten dort setzen, wo es den Bürgern am wichtigsten ist.
Würden Ziele jedoch schlecht formuliert und gemanagt, könnten unerwünschte Nebenwirkungen die Leistung beeinträchtigen. Deshalb steuert
die Delivery Unit den Prozess zwar zentral, lässt in dessen Feinsteuerung
jedoch ständig die Erfahrungen der Basis einfließen. Wie haben die Zielvorgaben die Arbeit der Verwaltungen verändert? Wo gab es Probleme?
Wo gibt es Verbesserungspotenzial? „Der Kontakt zu den Verwaltungen,
die mit den Bürgern arbeiten, ist wichtig“, sagt Russell Cake, einer der
Mitarbeiter der Delivery Unit, und blättert in seinen Unterlagen. Er ist auf
dem Weg zu zwei Krankenhäusern in Birmingham. Vor dem Taxifenster
zieht die Arbeiterstadt vorbei, eine Millionen-Metropole, rund 200 Kilometer nordwestlich von London.
Das Queen Elizabeth Medical Centre in Birmingham ist besonders erfolgreich bei der
Umsetzung von finanziellen und Service-Zielen.
Politisches Controlling
Text / Foto: Kerstin Friemel
McK Wissen 13
Seiten: 14.15
Das Queen Elizabeth Medical Centre, eines der beiden vom University
Hospital Birmingham NHS Foundation Trust betriebenen Krankenhäuser,
liegt unweit der Universität. Der Trust ist eine Vorzeigeeinrichtung, die bei
der Erfüllung finanzieller und service-bezogener Ziele besonders erfolgreich
ist. Chief Operating Officer Julie Moore wartet bereits in ihrem mit schlichten Holzmöbeln ausgestatteten Büro. Vor ihrem Fenster stapfen Bauarbeiter
über eine Großbaustelle.
Eine Flut von Vorgaben
Auch innerhalb der beiden Krankenhäuser gab es für Julie Moore eine
Menge aufzubauen. Sie managt das Tagesgeschäft und damit den Alltag
von rund 6500 Mitarbeitern, die im Jahr mehr als 553 000 Patienten versorgen. „Die Zielvorgaben der Regierung hatten enorme Auswirkungen auf
unsere Arbeit“, sagt sie. Und obwohl die Leistung gesteigert wurde, führten die Ziele mitunter zu unvorhersehbaren Begleiterscheinungen. Um die
strengen Planvorgaben der Regierung zu erreichen, hätten die Verwaltungen ihre Arbeitsabläufe mitunter drastisch ändern müssen. „Da gibt es
Zielkonflikte zwischen dem, was praktisch Sinn macht und was zur Erreichung der Zielvorgaben nötig ist“, sagt Julie Moore.
In Einzelfällen sei es beispielsweise besser, Patienten nicht innerhalb von vier
Stunden durch die Notaufnahme zu schleusen, sondern ihren Zustand zu
stabilisieren, bevor sie in andere Abteilungen verlegt würden. „Einige Patienten erhalten unter Umständen nicht die optimale Versorgung, wenn wir die
Ziele erreichen, die die Versorgung verbessern sollen.“ Moore ist auch
besorgt über die Vielzahl von Zielen, die der Trust erfüllen muss. Denn nicht
nur London setzt welche – etliche nachgeordnete Behörden fügen eigene
Vorgaben hinzu. „Es sind einfach zu viele, und die sind auch noch unstrukturiert“, sagt die Krankenhaus-Managerin. „Statt alle Planziele auf einer
Web-Seite gesammelt aufzulisten, sind sie über etliche Web-Seiten verstreut.“
Allgemeine Verwirrung sei die Folge. Manchmal verbringe sie eine halbe
Stunde allein mit der Suche nach einer konkreten Vorgabe. „Es ist nicht
gerade effizient, so viel Zeit mit der Recherche im Internet zu verbringen.“
Russell Cake nickt, murmelt zustimmend und schreibt Notizen in seinen
Block. Die Kritik ist ihm nicht neu. Von der Basis kommen immer wieder
Klagen über eine allgemeine Zielschwemme. Die britischen Medien
mokieren sich seit Monaten „über Lieferziele, die wie Konfetti“ über
Um die Planvorgaben der Regierung zu erreichen,
mussten im Queen Elizabeth Medical Centre die Arbeitsabläufe
drastisch geändert werden.
„Die Richtung stimmt. Auch wenn
mir die Geschwindigkeit dieser
Reform manchmal Kopfschmerzen
bereitet.“ Julie Moore, Krankenhaus-Managerin
die öffentliche Verwaltung gestreut würden. Schuld daran, so die weit
verbreitete Meinung, seien die Zielsetzungen der Regierung und damit die
Delivery Unit.
Tatsächlich ist die Einheit des Premierministers nur für einen geringen
Teil der Vorgaben verantwortlich. So ergab eine Untersuchung des Finanzministeriums, dass die Zielsetzungen der Regierung nur einen Bruchteil
der externen Kontrollvorgaben ausmachen, mit denen sich Manager und
Pflegepersonal in Krankenhäusern oder Direktoren und Lehrer in Schulen
auseinander setzen müssen. Aber auf dem Weg von der Regierungsspitze
bis zur Basis werden die nationalen Ziele von anderen Regierungsabteilungen, lokalen politischen Einrichtungen und außenstehenden Institutionen
mit zusätzlichen Unterzielen und Kontrollen ausgeschmückt – ohne Absprache. Dazu kommen Verpflichtungen, die mit den von der Delivery Unit
überwachten Vorgaben überhaupt nichts zu tun haben. Der schlechte Beigeschmack über die Arbeit der Einheit bleibt dennoch.
Das Spiel mit der Karotte
Auch mit der Kritik, dass einige der landesweit geltenden Ziele an den
Bedürfnissen der Bürger vorbeigehen, muss sich die Unit immer wieder auseinander setzen. Für Unmut sorgten etwa die detaillierten Vorgaben zur
Verringerung der Kriminalität aus der Anfangszeit der Delivery Unit. Mit
Prozentzahlen beziffert, wurde da beispielsweise die Reduzierung der Anzahl
von Wohnungseinbrüchen und Raubüberfällen angeordnet. Die Ziele wurden zwar erfüllt, doch nicht jede Region hatte mit denselben Verbrechensarten zu kämpfen. Wo Wohnungseinbrüche kein großes Problem waren,
musste die Polizei die ohnehin niedrigen Zahlen weiter drücken. Für drängendere Probleme, die nicht im Zielkatalog aufgelistet waren, blieb dagegen
keine Zeit.
Wir haben verstanden, signalisierte inzwischen die Regierung. In ihrem
jüngsten Ziele-Katalog verallgemeinerte sie ihre Vorgabe und fordert seitdem eine Reduzierung der Kriminalität um mindestens 15 Prozent bis
2007/2008. Die lokale Ebene kann jetzt selbst entscheiden, wo sie aktiv
wird. Auch die Kritik über die Zielschwemme zeigte Wirkung: Die anfangs
mehr als 300 nationalen Vorgaben sind heute auf gut 100 geschmolzen.
Von einigen, deren Erfüllung sich als nicht realisierbar herausstellte, verabschiedete man sich ganz. Andere, inzwischen erreichte Ziele, wurden nicht
durch neue ersetzt. Stattdessen will man das Erreichte halten.
Auf dieser Plattform will die Regierung die zweite Stufe ihrer Reformen
starten. Denn Ziele und die Hilfestellung zu ihrer Erreichung, so die Erkenntnis, können nur erste Schritte sein, um die öffentliche Verwaltung
dauerhaft zu verändern. Systemanreize sollen den Fortschritt weiter vorantreiben. Und das unwiderruflich. Zwar ist das Spiel mit der Karotte nicht
ganz neu. Auch in den vergangenen vier Jahren hat die Regierung mitunter finanzielle Anreize gesetzt, um den öffentlichen Dienst zu motivieren.
Als die Krankenhäuser beispielsweise bei den Wartezeiten in der Notaufnahme erneut unter ihre Zielvorgabe fielen, stellte die Regierung kurzfristig
zusätzliche Gelder für jene Krankenhäuser in Aussicht, die die Meilensteine
wie geplant erreichten.
Künftig geht es um Langfristigkeit; Anreize sollen fest im System verankert werden. Vorreiter ist das Gesundheitswesen. Und da kommen erneut
Russell Cake und sein Besuch bei der Krankenhaus-Managerin Julie Moore
ins Spiel. Der von ihr gemanagte University Hospital Birmingham NHS
Foundation Trust nimmt seit vergangenem Sommer an einem Experiment
teil: Statt fester Budgets wie bisher erhält der Trust für jede Operation und
jede Behandlung einen vertraglich vereinbarten Satz vom Staat. Die Idee
dahinter ist klar, sagt Russell Cake: „Die Krankenhäuser werden nach Leistung bezahlt. Wer viele Patienten behandelt, verdient viel, wer den Betrieb
schlecht organisiert, kommt in finanzielle Schwierigkeiten.“ Und hat einen
Ansporn, sich zu verbessern.
Zeitgleich mit der Bezahlung pro Behandlung führt die Regierung mehr
Wahlfreiheit für die Patienten ein. Ab diesem Dezember sollen Patienten
zwischen vier oder fünf Krankenhäusern entscheiden dürfen – vorausgesetzt, sie müssen nicht notoperiert werden. Ab 2008 können Kranke
uneingeschränkt wählen. Für Julie Moore ist die leistungsabhängige Bezahlung der beste Anreiz für bessere Qualität. Zwar gebe es noch Probleme
bei der genauen Ausgestaltung. Die Operationssätze seien teilweise nicht
richtig kalkuliert. Und der Konflikt zwischen kurzen Wartezeiten und dem
Andrang bei guten Krankenhäusern sei noch ungeklärt. „Doch die Richtung stimmt“, sagt Julie Moore. „Auch wenn mir die Geschwindigkeit
dieser Reform manchmal Kopfschmerzen bereitet.“
Delivery-Unit-Chef Michael Barber kann derartige Bedenken verstehen,
„aber etwas langsamer zu tun bedeutet nicht, es besser zu machen“, meint
er. Für ihn gehört Angst vor Geschwindigkeit vielmehr zu einem großen
Reformprogramm, da hält er es mit dem Rennfahrer Mario Andretti:
„Wenn alles unter Kontrolle scheint, dann bist du nicht schnell genug.“
Britische Polizisten wissen genau,
um wie viel Prozent sie die Kriminalität
zu senken haben.
Vivantes
Text: Christian Weymayr
McK Wissen 13
Seiten: 16.17
3
Berlin gewinnt
Öffentliche Krankenhäuser profitabel machen? Das geht.
Die vor zwei Jahren noch defizitäre Vivantes GmbH in Berlin macht es vor.
Vivantes
Text / Foto: Christian Weymayr
Das soll die Zukunft sein? Leere Klinikflure, mit Plastikfolie abgedeckte Betten, verwaiste Pflegezimmer, geschlossene Stationen. In der
Berliner Humboldt-Klinik sind ganze Gebäudeteile geräumt. Doch was auf
den ersten Blick nach Pleite aussieht, markiert tatsächlich die Zukunft: Die
Menschen sind nicht seltener krank als früher – aber sie liegen nicht mehr
so lange.
Die Leerstände im Norden Berlins sind ein Symbol für die größte Umstrukturierung, die einige Berliner Krankenhäuser je erlebt haben. Ihr Ziel: aus
eigener Kraft überleben. In drei Jahren, 2008, soll die Krankenhausreform der
Hauptstadt abgeschlossen sein. Dann will die Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH, einer der größten Klinik-Betreiber in öffentlichem Besitz, zu den
fünf führenden Krankenhausunternehmen zählen. Vivantes wird in Zukunft
mehr Patienten betreuen – und mit Gewinn arbeiten.
Die Reform, die aus defizitären Kliniken profitable Wirtschaftsunternehmen
machen soll, lässt keinen Bereich innerhalb des Klinikums aus. Im Verwaltungstrakt wird sie mitgestaltet. Hier grübelt Andreas Schmitt, der stellvertretende Vivantes-Regionaldirektor Nord im Humboldt-Klinikum, über
Balken- und Kurvendiagrammen. Wie entwickeln sich Leistungen und
Kosten? Wie lange dauert es, bis die Dokumentation einer Behandlungsleistung in der Rechnungsstelle eintrudelt? Welche der Kliniken, die zum Standort gehören, sind beim Abrechnen auf Zack? Wie lassen sich auch die
anderen motivieren, abgeschlossene Fälle umgehend weiterzuleiten?
Auf Schmitts Schreibtisch steht eine kleine Pyramide aus Karton: „Unser
Ziel ist der größtmögliche Unternehmenserfolg“ steht da ganz an der
Spitze der Verhaltensregeln. Im Grunde eine Selbstverständlichkeit: Schon
bei der Eröffnung des Humboldt-Klinikums im Jahr 1985 bemühte der
damalige Regierende Bürgermeister von Berlin, Eberhard Diepgen – wohl
nichts Gutes ahnend – die Parole: „Menschlichkeit, medizinische
Spitzenleistung und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen sind keine
Gegensätze“.
Dass die finanziellen Ressourcen endlich sind und ein guter Planer damit
auskommen sollte, war im Grunde immer klar. Und doch: Die Medizin
machte große Fortschritte und gerade in den Boomzeiten der sechziger und
siebziger Jahre wuchsen die Behandlungskosten von Patienten angesichts
modernerer aber teurerer Verfahren. Auch die Ansprüche von Ärzten,
Schwestern, Labor- und Verwaltungsangestellten stiegen beständig. Besonders West-Berlin, das als Leuchtturm im sozialistischen Meer seine
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Strahlkraft nicht einbüßen sollte, wurde von der Politik üppig mit Ausstattungen und noblen Salärs befeuert. Doch spätestens mit dem Fall der
Mauer, als die Stadt ihren Sonderstatus verlor, war die gesamtdeutsche
Bevölkerung nicht mehr willens, den jetzt nutzlosen Turm weiter zu hegen.
Mit Lippenbekenntnissen zur Sparsamkeit war es nicht mehr getan.
Bündeln, neu strukturieren, sanieren
Erste Maßnahme: Bei zuletzt 80 Millionen Euro Verlust vereinigte das
Berliner Abgeordnetenhaus im Jahr 2000 seine damals noch zehn, heute
neun landeseigenen Krankenhäuser unter dem Dach der Vivantes GmbH.
Eigentümer ist Berlin. Es entstand ein Unternehmen mit rund 13 500 Mitarbeitern, das jährlich fast 200 000 Patienten, und damit jeden dritten Berliner Kranken, stationär behandelt.
Zweite Maßnahme: Vivantes gewann Wolfgang Schäfer als Geschäftsführer, der bereits das Klinikum Kassel neu aufgestellt hatte. Schäfer wollte
„Vivantes eine Vision geben“, sagt er. Und das ging nur über grundlegende
Reformen. Die Strukturen, die Kleinstaaterei aus Aufnahme, Anästhesie,
Chirurgie, Labor und allen anderen Bereichen, die über Jahrzehnte gewachsen und mehr oder weniger schlecht aufeinander abgestimmt waren,
mussten von Grund auf umgekrempelt werden.
Dritte Maßnahme: Der Senat billigte ein Sanierungskonzept, das Schäfer
anfangs mit seinem eigenen Team, später unterstützt durch McKinseyBerater entwickelte. Für anderthalb Jahre sind derzeit rund 15 Unternehmensberater in der zentralen Verwaltung und in den einzelnen Häusern
unterwegs, um mit Management und Klinik-Mitarbeitern in elf Teilprojekten viele Reformideen, die Schäfers Team bereits entwickelt hatte, umsetzbar zu machen. Ihre Herangehensweise ist dabei so simpel wie neu: Es geht
darum, die Erwartungen des Patienten einzubeziehen, seinen Weg im Krankenhaus nachzugehen und dabei ständig zu fragen, wo es hakt.
Die erste Zwischenbilanz: Vivantes ist auf einem guten Weg und hat noch
jede Menge vor. Nach einem Verlust von 70 Millionen Euro in 2003 schrieb
das Unternehmen im vergangenen Jahr erstmals seit seiner Gründung ein
positives Ergebnis von 4,9 Millionen Euro – deutlich mehr als die eigene
Prognose von 1,6 Millionen Euro Überschuss. „Wir liegen im Augenblick
im Sanierungszeitplan sogar voraus“, sagt Vivantes-Chef Schäfer. Bis 2008
soll der „gewaltige Restrukturierungsprozess“, so Finanzgeschäftsführer
Vivantes-Zentrale in Berlin
Reinickendorf (oben), Stationszimmer
im Humboldt-Klinikum
Jörg-Olaf Liebetrau, abgeschlossen sein. Dann will sich Vivantes als öffentlich geführtes Unternehmen gegen die private Konkurrenz behaupten und
aus eigener Kraft zu einem der führenden Anbieter im Gesundheitswesen
werden.
Überall sonst gibt es dafür naturgemäß zwei Möglichkeiten: die Ausgaben
senken oder die Einnahmen erhöhen, am besten beides. Zumindest was
die Einnahmen betrifft, folgt das Gesundheitswesen jedoch seinen eigenen
Regeln, insbesondere in Berlin. Innovationen wie der Carving-Ski, der
Family Van oder der digitale Fotoapparat mögen neue Kunden anlocken
und ihren Branchen Auftrieb geben – das Krankenhauswesen spürt bestenfalls demografische Langzeitbewegungen. Selbst die modernste Operationstechnik lockt keinen in die Klinik, der nicht unbedingt muss. Und mehr
Kunden durch Angebote wie Schönheits-Operationen oder Vorsorgechecks
zu gewinnen ist nur in engen Grenzen möglich.
muss das Unternehmen sein Kassenbudget um 100 Millionen Euro reduzieren. So einigte man sich mit den örtlichen Kassen, die selbst finanziell
unter Druck stehen. Fest vereinbarte, tarifliche Gehaltsaufstockungen kosten insgesamt weitere 60 Millionen Euro. Aber Lamentieren sei müßig,
meint Finanzgeschäftsführer Jörg-Olaf Liebetrau. Es nütze nichts, zu fragen,
ob die Einnahmen angemessen seien. „Man muss eben gute Medizin so
effizient machen, dass das Geld reicht.“
Wie man doch etwas für die Haben-Seite tun kann, haben Schäfer und
seine Experten in den vergangenen Monaten an unterschiedlichen Stellen
erprobt. Je früher Ärzte die erbrachten Leistungen an die Rechnungsstelle
melden, desto reibungsloser und schneller kann auch mit den Kassen
Keine weiteren öffentlichen Zuschüsse, keine Preiserhöhungen
Solange die Gelder aus dem Westen flossen, konnten die Berliner Häuser
sich ihre Löcher in der Kasse von der Stadt oder dem Land stopfen lassen.
Heute ist die Forderung nach weiteren Zuschüssen illusorisch, Berlin muss
eisern sparen. Und selbst wenn sie wollten: Wie sollten die Senatoren beispielsweise den Anwohnern im Märkischen Viertel vermitteln, dass das Geld
für die Sanierung ihres verjauchten Anlagenteichs fehlt, während sie die
benachbarten Kliniken mit Millionenbeträgen bezuschussen? Noch dazu, wenn
die private Konkurrenz ohne derartige Zuwendungen Gewinne einfährt.
Auch Preiserhöhungen als Strategie verbieten sich im Gesundheitswesen.
Die Vergütungen werden von den Kassen diktiert, und das rigider denn je.
Während in der Vergangenheit noch für die Zeit bezahlt wurde, die ein
Patient im Krankenhaus lag, regeln heute Pauschalen, wie viel die Klinik
für einen Fall, etwa einen Blinddarm, abrechnen darf. Liegt ein Patient,
weil es zum Beispiel Komplikationen gab, deutlich länger als vorgesehen,
gibt es kleine Aufschläge; liegt er kürzer, deutliche Abzüge.
Noch gelten in Berlin zwar höhere Pauschalen als in anderen Bundesländern. Ab 1. Januar 2008 sollen jedoch bundeseinheitliche Vergütungen eingeführt werden. Wenn die Vivantes-Macher also anstreben, für die Behandlung eines Falls nicht mehr auszugeben als sie dafür einnehmen, heißt das,
dass die heute kaum erreichbaren Ziele morgen schon viel weiter gesteckt
werden müssen. Vivantes kämpft mit zusätzlichen Handicaps: Bis 2006
Vivantes-Geschäftsführer Wolfgang Schäfer (links) will mit der Reform bis 2008 fertig sein. Andreas
Schmitt, stellvertretender Vivantes-Regionaldirektor Nord im Humboldt-Klinikum, hilft dabei.
Vivantes
Text / Foto: Christian Weymayr
abgerechnet werden. Ein zweites Projekt zielt darauf ab, den Service für die
niedergelassenen Ärzte zu verbessern. Schließlich entscheiden sie zumeist,
in welcher Klinik die Patienten landen. Wohlgesinnte Ärzte sorgen demnach
für Kundschaft – wenn sie informiert sind. Laminierte, DIN-A5-große
Bögen mit allen wichtigen Klinik-Telefonnummern sollen es den niedergelassenen Kollegen so bequem wie möglich machen, schnell den richtigen
Ansprechpartner in der Klinik am Hörer zu haben. Seit neuestem bietet eine
Hotline-Nummer einen ständigen Draht zum Klinikarzt.
Wo auf der Habenseite nicht viel zu holen ist, muss das Soll gedrückt
werden, damit am Ende die Balance stimmt. Und so paradox es klingt: Es
geht dabei nicht eigentlich ums Sparen, denn nicht Rationierung ist das
Ziel, sondern Rationalisierung, wie Wolfgang Schäfer betont. Also gleiche
oder bessere Qualität bei angepassten Kapazitäten und besserer Organisation. Dabei ergeben sich manche Einsparungen praktisch von selbst.
Beispiel Bettenabbau: Der Trend zur ambulanten Behandlung macht viele
Betten überflüssig. Lagen Frauen bislang für eine Gewebeentnahme aus
dem Gebärmutterhals obligatorisch zwei Tage in der Klinik, können die
meist jungen Frauen heute, wenn sie fit genug sind, das Haus nach einer
Stunde wieder verlassen.
Vor allem die Fallpauschalen zwangen zum Umdenken. So lange es sich
rechnete, musste ein Patient in jedem Krankenhaus der Republik möglichst
lange stationär betreut werden. Seit Einführung der Diagnosis Related
Groups oder DRGs für alle Bereiche der Somatik soll der Patient nicht länger bleiben als nötig – nötig für ihn und nicht für die Klinik, wohlgemerkt.
Die Folgen sind dramatisch: Lagen die Vivantes-Patienten im Jahr 2001
noch durchschnittlich zehn Tage auf Station, so reichen heute 7,8 Tage für
die Behandlung. 2010 sollen es 5,1 Tage sein. Eine deutliche Reduktion,
aber selbst gemessen an dieser kurzen Zeit sei die Situation im Ausland
immer noch besser, sagt Franziska Mecke, Direktorin für Pflege- und
Betreuungsmanagement bei Vivantes.
Je kürzer der Aufenthalt in der Klinik, desto geringer ist auch der Bettenbedarf. In Schweden beispielsweise hat sich seit der Einführung der DRGs
im Jahr 1992 die Zahl der Betten von 58 000 auf 32 000, also um 45 Prozent, reduziert. Vivantes belegte 2001 noch 6135 Betten, 2004 waren es
rund 5300 – bei sogar leicht gestiegenen Fallzahlen.
Aber wie lassen sich die Behandlungszeiten so stark verkürzen? „Jedenfalls
nicht, weil wir die Patienten blutig nach Hause schicken“, sagt Franziska
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Mecke, nach eigenem Bekunden leidenschaftliche Optimiererin von Strukturen. Es geht eleganter: Zum einen müssen die Abläufe in den verschiedenen Abteilungen aufeinander abgestimmt sein. Personelle, räumliche und
materielle Ressourcen müssen optimal genutzt werden. Während die
Schwestern früher durchaus häufiger auf Patienten trafen, die in ihrem
Zimmer seit Stunden vergebens darauf gewartet hatten, zur Operation
abgeholt zu werden, sind die Prozesse heute aufeinander abgestimmt.
Einer der Hotspots ist der Operationssaal. Dort müssen Teams verschiedener Disziplinen, von Chirurgen über Anästhesisten bis hin zu den
OP-Schwestern Hand in Hand arbeiten. Um die Prozesse erst einmal
analysieren und dann Verbesserungsvorschläge erarbeiten zu können, hat
Andrea Grebe, Vivantes-Direktorin für Medizin und Qualitätsmanagement,
Klinik-Teams mit besonders motivierten Mitarbeitern gebildet. Für Operationssaal, Radiologie, Intensivstation und Rettungsstelle ist jeweils ein
Zentralteam plus ein Team in jedem Krankenhaus verantwortlich. Jede
Zentralmannschaft, zusammengesetzt aus zwei Betriebsräten, einem Anästhesisten, einem Personalmanager und einem McKinsey-Berater trifft sich
einmal im Monat in Grebes Büro. Die Zentralteams wiederum beraten
sich mit den Mannschaften vor Ort. Jeweils zwei Häuser zur gleichen Zeit
werden auf diese Weise umstrukturiert.
Optimal ist nicht gleich ideal
Nach anfänglicher Skepsis eilt Grebe inzwischen der Ruf voraus, die
Mitarbeiter mit einzubeziehen. Viele begrüßen sogar, dass endlich etwas
passiert. Allerdings, so Grebe, müsse sie immer wieder klarstellen, dass an
den Rahmenbedingungen nicht zu rütteln ist. Es geht nicht um den idealen Prozess, sondern um den optimalen. Ideal wäre es beispielsweise, wenn
selbst im Falle eines Erdbebens genügend OP-Plätze vorhanden sind.
Optimal ist der Prozess dann, wenn man durchkalkuliert, wie oft tatsächlich ein Notfall zu versorgen und wie viel Kapazität dafür freizuhalten
gerechtfertigt ist.
Die zweite Maßnahme, die helfen soll, die Zeitvorgaben pro Fall zu erfüllen, geht mit der Prozessoptimierung Hand in Hand. Weil die beste
Organisation nichts nützt, wenn man nicht weiß, was als Nächstes kommt.
Zwar müssen 60 Prozent aller Patienten nach individuellem Muster behandelt werden, etwa Patienten aus der Psychiatrie oder Kranke, die an
Vivantes-Direktorinnen Franziska Mecke
(oben) und Andrea Grebe beziehen
die Mitarbeiter bei der Umstrukturierung
der Abläufe mit ein.
vielen Gebrechen gleichzeitig leiden. Die anderen 40 Prozent aller Vivantes-Patienten lassen sich jedoch zukünftig nach einheitlichen Schemata
behandeln. Denn wie ein Leistenbruch oder selbst ein Brusttumor zu
behandeln oder was bei einem Verdacht auf Herzinfarkt zu tun ist, lässt
sich relativ gut festschreiben.
Das passiert ohnehin, und zwar in den Empfehlungen der jeweiligen
medizinischen Fachgesellschaften. Folgt ein Arzt diesen Leitlinien, die
ständig an die neuesten internationalen Erkenntnisse angepasst werden,
kann er sicher sein, seinen Patienten bestmöglich zu behandeln. Um die
Berücksichtigung dieser Empfehlungen jedoch zu automatisieren, gossen
Unternehmensberater und Klinikmanager die Leitlinien in so genannte
medizinische Pfade. Als Checkliste zeichnen sie heute den Weg des Patienten vor. Verantwortlich für die Checkliste sind die 183 Stationspflegeleiterinnen, die früheren Oberschwestern, die in jeweils zehntägigen Kursen auf
ihre neue Aufgabe vorbereitet wurden.
Mehr Voraussicht durch medizinische Pfade – auch für Patienten
Von den rund 40 verschiedenen Pfaden von Vivantes sind bereits 28 im
Einsatz. Bei einem Leistenbruch etwa sieht die Stationsleiterin auf einen
Blick, dass sich der Patient am zweiten Tag nach der Operation bereits
selbstständig versorgen können sollte und am dritten Tag, wenn er jünger
als 56 und seine Wunde nicht entzündet ist, das Haus verlassen darf. Aus
anderen Pfaden kann sie ablesen, dass ein Termin in der Röntgenabteilung
gebucht und der Transport dorthin organisiert werden muss. Auf diese
Weise können die Abteilungen wesentlich effektiver arbeiten.
Auch der Patient profitiert von den medizinischen Pfaden – sie machen ihn
zum Kunden auf Augenhöhe. Im Klinikalltag bedeutet die Prozessoptimierung beispielsweise: keine grotesk frühen Weckzeiten mehr, um in den
dicht gedrängten Vormittagsstunden einen Platz im Labor oder der Röntgenabteilung zu ergattern, kein endloses Warten auf die Chefarzt-Visite.
Auch die heikle Frage nach dem Entlassungstermin, früher eher abhängig
von der Bettenauslastung als vom Genesungsfortschritt und daher nur
kurzfristig beantwortbar, wird nun schon bei der Aufnahme gestellt.
Sobald die Diagnose feststeht, kann der Patient seiner Familie und seinem
Arbeitgeber Bescheid geben, wann sie ihn zurückerwarten dürfen.
Die Transparenz und Planbarkeit sind keine Nettigkeiten am Rande. Eine
Umfrage des Hamburger Picker Instituts ergab, dass Patienten die
„Koordination der einzelnen Versorgungsleistungen“ sowie die „Kontinuität beim Wechsel der Versorgungssektoren“ als wesentliche Qualitätskategorien betrachten. Hier liegen bislang auch die größten Defizite: Die
Vorbereitung auf die Entlassung nennen die Befragten als das häufigste
Problem.
Straffer in der Organisation sein heißt bei Vivantes heute auch, nach Möglichkeiten zu suchen, Dienstleistungen zu bündeln, sich zu spezialisieren.
Nicht jede Klinik muss auf alle Eventualitäten vorbereitet sein – bei immer
größerem Fachwissen in den einzelnen Disziplinen ohnehin ein Ding der
Unmöglichkeit. Die Strategie für Vivantes lautet deshalb: Nur die Grundversorgung wird in jeder Klinik angeboten, Spezialdisziplinen werden in einzelnen Häusern gebündelt. Es gibt ein Brustzentrum und zwei Zentren für
Endoprothetik, eine Altersklinik sowie weitere Spezialeinrichtungen. Insgesamt sind es mehr als 120 medizinische Kliniken.
Auch die Nacht- und Notdienste lassen sich rationeller organisieren – ohne
Abstriche an die bestmögliche Versorgung. Das zu später Stunde gemachte
Computertomogramm beispielsweise muss nicht vor Ort ausgewertet
werden. Eine dicke Leitung wird in Zukunft die Daten des HumboldtKlinikums an ein benachbartes Krankenhaus schicken, so dass ein Experte
in Bereitschaft für zwei Häuser ausreicht. Zudem müssen alte Überzeugungen weichen. Während kleine Stationen mit ihrem vermeintlich hohen
Kuschelfaktor lange als vorbildlich galten, fragt die Klinikleitung heute zu
Recht danach, ob ein Nachtdienst in der Pflege eigentlich ausgelastet ist.
„Eine Station mit 15 Betten ist nicht tragbar“, weiß Franziska Mecke, die
vor ihrem Wirtschaftsstudium als gelernte Krankenschwester den Stationsalltag hautnah miterlebt hat. Erst Stationen mit mindestens 30 Betten
gelten als rentabel.
Spezialisierung geht auch einher mit Zentralisierung. Vor einigen Jahren
musste noch jedes selbstständig arbeitende Krankenhaus seine eigene
Infrastruktur aufbauen: eigenes Zentrallabor, eigene Notfallaufnahme,
eigene Verwaltung, eigene Küche mit eigenem Einkauf – eine wahre Fundgrube für Prozessoptimierer.
Finanzgeschäftsführer Jörg-Olaf Liebetrau
Beispiel Labor: „Es ist nicht einzusehen“, sagt Wolfgang Schäfer, „dass sagt: „Man muss eben gute Medizin
jede Klinik in ihrem Labor dieselben Verfahren anbietet.“ Bald werden die so effizient machen, dass das Geld reicht.“
aufwändigen Analysen an ein großes zentrales Labor geschickt, vor Ort
werden nur noch halb so große Notfall-Labors unterhalten.
Beispiel Verwaltung: Früher hatte jede Klinik ihre eigene Buchhaltung. „Ich
brauche nur eine“, sagt Finanzgeschäftsführer Jörg-Olaf Liebetrau. Auch
Vivantes
Text / Foto: Christian Weymayr
die Lizenzen für die SAP-Software lassen sich so von neun auf eine reduzieren. Für den jetzt zentralen Einkauf in Händen der Vivantes-Tochter
ChronoMedic bedeutet das: Von 3300 Lieferanten sind noch 1600 übrig
geblieben, die dafür größere Mengen liefern. Diese „Sortimentsoptimierung“
lässt größere Rabatte zu. Der Preis für einen Herzschrittmacher sank in den
vergangenen zwei Jahren von 1400 auf 1100 Euro.
Beispiel Küche: In seine Versorgungsstellen müsste Vivantes in den
nächsten Jahren rund 70 Millionen Euro investieren. Grund genug, über
Alternativen nachzudenken. Service-Geschäftsführer Harry Düngel setzt
jetzt auf das Sous-Vide-System, das, wie so viele der Optimierungsmaßnahmen, letztlich auch dem Patienten zugute kommt. Das neue Verfahren
wird die traditionelle Zubereitung des Essens in den Küchen ablösen.
Stattdessen wird die Verteilung der Speisen an die Patienten und Mitarbeiter
in den Kliniken und Pflegeeinrichtungen des Unternehmens auf vier neue
Verteilzentren konzentriert. Dazu werden etwa 27 Millionen Euro investiert,
statt den 70 Millionen, die langfristig für die Sanierung der bisherigen
Küchenbetriebe erforderlich wären. In Zukunft kauft eine Zentralstelle im
Vakuumbehälter schonend vorgegarte, schockgekühlte Essenskomponenten
in großen Mengen ein. In den Verteilstationen kommen sie bei wenigen
Plusgraden portionsgerecht auf die Teller, die ein Lieferservice dann an die
einzelnen Stationen in den neun Kliniken austeilt. Erst dort wird das Essen
erhitzt. Das heißt für den Patienten: Statt lauwarm und verkocht bekommt
er seine Mahlzeit heiß und frisch auf den Tisch. Ein weiterer Vorteil der
Zentralisierung: tägliche Auswahl unter 50 frei wählbaren Menükomponenten, die für Abwechslung sorgen und Sonderwünsche und Spezialdiäten
problemlos ermöglichen. Eine Computerüberwachung sorgt dafür, dass
jeder Patient auch wirklich das bekommt, was er bestellt hat.
Mehr Optimierung, flachere Hierarchien, weniger Personal
All die Sanierungsmaßnahmen wie Bettenanpassung, Prozessoptimierung,
Zentralisierung und Spezialisierung bedeuten zwangsläufig, dass auch
weniger Personal nötig ist. Von 2000 bis 2004 sank die Zahl der Vollzeitkräfte unter den Ärzten, Pflegern und anderen Beschäftigten in den Vivantes-Krankenhäusern von 13 499 auf 10 581. Auch im Management wurden
Positionen gestrichen, im Pflegedienst etwa fielen zwei komplette Hierarchieebenen weg. In den nächsten Jahren wird die Zahl der Mitarbeiter
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Stationen und Daten
1999
Die Stadt Berlin ist Träger von zehn über das Stadtgebiet verteilten Krankenhäusern.
Zusammen betreiben die Häuser 7038 Betten und erwirtschaften bei einem Umsatz von
921 Millionen Euro einen Verlust von 29 Millionen Euro. 14 603 Vollkräfte versorgen
183 579 Patienten. Ein Patient liegt im Schnitt 11,3 Tage.
2000
Der Berliner Senat überführt die zehn Krankenhäuser in die Vivantes GmbH. Dadurch
entsteht eine der größten Klinikgruppen in Deutschland.
Umsatz: 913 Millionen Euro; Verlust: 80 Millionen Euro; Betten: 6634; Vollkräfte:
13 499; Patienten: 186 680; Verweildauer: 10,8 Tage.
2001
Hauptgeschäftsführer Wolfgang Schäfer, Jörg-Olaf Liebetrau, Geschäftsführer Finanzen
und Controlling, und Ernst-Otto Kock, Geschäftsführer Personal und Soziales,
nehmen ihre Arbeit auf. Der Aufsichtsrat billigt das von der neuen Geschäftsführung
vorgelegte Umstrukturierungs-Konzept. Die zehn Kliniken werden in die Regionen
Süd, Nord und Mitte zusammengefasst. Die Bereiche Versorgung, Finanzen, Personal
und Krankenhausmanagement werden zentralisiert. Ein Fünf-Jahres-Plan sieht bereits
kleine Gewinne im Jahr 2003 vor.
Geschäftsführung und Betriebrat beschließen, bis 2006 keine betriebsbedingten
Kündigungen zuzulassen. Bei der Gründung von Tochtergesellschaften, die
Dienstleistungen für Vivantes erbringen, bleiben die dorthin wechselnden Mitarbeiter bei
Vivantes.
Mit den Krankenkassen wird eine Reduzierung des Budgets um 20 Millionen Euro
jährlich bis 2006 vereinbart, was zwar weitere Belastungen von 100 Millionen Euro, aber
auch langfristig finanzielle Sicherheit mit sich bringt.
Umsatz: 795 Millionen Euro; Verlust: 153 Millionen Euro; Betten: 6135; Vollkräfte:
12 443; Patienten: 180 854; Verweildauer: zehn Tage.
2002
Erste Erfolge der Reorganisation werden deutlich: Einsparungen beim Einkauf werden
erzielt, Leitlinien für die rationelle Behandlung erarbeitet und Kompetenzzentren
etabliert. Der Aufsichtsrat spricht sich dafür aus, das Unternehmen in seiner Größe zu
erhalten. Langfristig wird ein Verkauf jedoch nicht ausgeschlossen.
auf der Grundlage von Strukturabbau und Prozessoptimierung weiter sinken. Wird das zu schaffen sein, wo Ärzte und Pflegepersonal doch schon
heute keine geringe Arbeitsbelastung haben? „Gute Medizin geht nicht
unbedingt einher mit vielen Medizinern“, meint Wolfgang Schäfer. Allerdings räumt er ein: „Wir fordern Ärzten schon viel ab.“
Diesbezüglich ist Vivantes keineswegs Vorreiter. Während 2003 in privat
geführten Kliniken ein Arzt 146 Fälle versorgte, musste sich der Kollege
in den Häusern der öffentlichen Hand nur um 83 kümmern. Wird eine
Stelle gestrichen, muss der Mitarbeiter nicht gehen. Er kann mit einer
Abfindung das Haus verlassen oder in andere Bereiche wechseln. Derzeit
gibt es einen Pool von knapp 100 Mitarbeitern, die verfügbar sind.
Auch die technischen Angestellten bleiben unter dem Dach von Vivantes.
Ein Großteil der Dienstleistungen der nicht medizinischen Bereiche übernehmen nun Vivantes-Töchter. Um Sauberkeit und die Anlagen kümmert
sich etwa VivaClean. Wo nötig, so Service-Direktor Harry Düngel, holt sich
das Unternehmen externes Know-how dazu – und damit oft auch die in der
Wirtschaft straffere Arbeitsmoral. Das war nötig, meint Düngel, denn Schlendrian kann sich Vivantes nicht mehr leisten.
Eine Befragung ergibt, dass 93 Prozent der Patienten die Vivantes-Kliniken
weiterempfehlen würden, damit liegt Vivantes 20 Prozent über dem Bundesdurchschnitt.
Die Zahl der Vivantes-Krankenhäuser sinkt nach einer Zusammenlegung auf neun.
Der Aufsichtsrat billigt einen neuen Strategieplan. Bis 2010 soll die Bettenzahl
auf 4200 reduziert werden. Mit Neuinvestitionen von 270 Millionen Euro wird gerechnet,
die zu 78 Prozent aus Fördermitteln des Landes und zu 32 Prozent selbst erbracht
werden sollen.
Umsatz: 805 Millionen Euro; Verlust: 19 Millionen Euro; Betten: 6073; Vollkräfte:
11 581; Patienten: 180 329; Verweildauer: 9,4 Tage.
2003
Die Mitte 2002 gegründete Tochterfirma ChronoMedic, die unter anderem den gesamten
Einkauf abwickelt, agiert jetzt selbstständig. Die Geschäftsführung hat bislang
180 Millionen Euro Kosten abgebaut. Dennoch wird das ursprüngliche Sanierungsziel,
bereits 2003 Gewinne zu erwirtschaften, nicht erreicht.
Umsatz: 771 Millionen Euro; Verlust: 70 Millionen Euro; Betten: 5414; Vollkräfte:
10 860; Patienten: 177 739; Verweildauer: 8,9 Tage.
2004
Bundesweit werden Fallpauschalen (DRGs) eingeführt. Mit Unterstützung von McKinsey
erarbeitet die Geschäftsführung ein Sanierungsprogramm bis 2008, das der
Aufsichtsrat bestätigt. Es sieht unter anderem kürzere Verweildauern der Patienten durch
verbesserte Behandlungsabläufe, eine höhere Auslastung der Vivantes-Häuser
und eine bessere Ausnutzung von OP-Sälen, Laboren und Intensivstationen vor. Zehn
Projektgruppen mit insgesamt 150 Mitarbeitern sollen Maßnahmen zur
Umsetzung des Konzeptes erarbeiten. Der Senat wandelt das Gesellschafterdarlehen von
230 Millionen Euro in Eigenkapital um, womit eine solide Finanzgrundlage
geschaffen wird. Zinsforderungen in Höhe von 5,3 Millionen Euro entfallen. Zudem
verzichten alle Mitarbeiter bis 2008 auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld, das spart
weitere 32 Millionen Euro ein.
Umsatz: 746 Millionen Euro; Gewinn: 4,9 Millionen Euro; Betten: rund 5300; Vollkräfte:
10 581; Patienten: 185 903; Verweildauer: 8,3 Tage.
Wichtige Klinik-Telefonnummern auf einen Blick, damit Ärzte
schnell richtige Ansprechpartner am Hörer haben.
2005
Ein Team von 15 McKinsey-Beratern unterstützt die Geschäftsführung für anderthalb
Jahre bei der Umsetzung des Sanierungsplanes. Weitere Kliniken werden umstrukturiert.
Plan: Umsatz: 730 Millionen Euro; Gewinn: vier Millionen Euro; Betten: weniger als
5000; Vollkräfte: 10 590; Patienten: 187 247; Verweildauer: 7,8 Tage.
Text: Florian Sievers
Foto: DZH
McK Wissen 13
Seiten: 24.25
© Fotoarchiv Duinwaterbedrijf Zuid-Holland
Privatisierung I: Wasser-Industrie
Holländische Dünenlandschaft. Der
natürliche Wasserfilter macht aus Flusswasser
gutes Trinkwasser.
Eine Frage der Qualität
Während die Welt heftig das Für und Wider debattiert, trafen die Niederlande eine einsame Entscheidung. Sie haben
per Gesetz verboten, dass sich Privatunternehmen an ihrer Trinkwasser-Industrie beteiligen dürfen. Eine
Privatisierung, befürchtet die Regierung, treibt die Wasserpreise in die Höhe und die Wasserqualität in den Keller.
Irgendwann mitten im Idyll tritt Marijke Poppelier kurz auf die
Bremse. „Das“, sagt sie und deutet nach rechts aus dem Auto, „sind
meine Kollegen.“ Ringsum zieht sich das Dünenfeld Meijendel zum
Horizont. Und direkt neben der Straße grasen dort Schafe, Pferde und
Rinder im Sonnenlicht. Malerisch. Findet auch Poppelier. Sie ist gern hier
draußen, in den Dünen nahe dem holländischen Städtchen Scheveningen,
und zeigt Besuchern eine der drei Produktionsstätten ihres Arbeitgebers.
Denn der beschäftigt dort – neben rund 500 Menschen – auch 35 Fjordpferde, 32 Galloway-Rinder, 52 Heideschafe sowie seit Frühlingsbeginn
zusätzlich noch 40 Lämmer. Die tierischen Kollegen kümmern sich
darum, dass das Gras in den Dünenfeldern kurz bleibt. Umweltverträglich und ressourcenschonend.
Poppeliers Arbeitgeber ist der Duinwaterbedrijf Zuid-Holland (DZH). Das
Trinkwasser-Unternehmen nutzt die Dünen zwischen den holländischen
Küstenorten Monster und Katwijk, um Flusswasser in trinkbares Leitungswasser zu verwandeln. Dafür transportiert DZH zunächst Wasser aus
dem Fluss Maas durch zwei fast mannshohe Pipelines in das 80 Kilometer entfernte Dünengebiet an der Nordseeküste. Dort versickert das
Nass zwei Monate lang im Sand, bis es in rund
60 Meter Tiefe angekommen ist. Danach pumpen die DZH-Ingenieure das Wasser wieder
nach oben, entfernen Kalk, Eisen und Mangan –
und fertig ist ein besonders mild schmeckendes
Trinkwasser für rund 1,2 Millionen Holländer.
„Das alles geschieht vollkommen ohne Chemikalien“, erklärt Piet Jonker, Managing Director
des DZH. „Die Dünen sind unser natürlicher
Wasserfilter.“
Geschlossen für ein Gesetz gegen die
Privatisierung
Jonkers Unternehmen ist einer von drei niederländischen Anbietern, die auf diese Weise Trinkwasser produzieren. Ihre Methode ist einzigartig auf der Welt.
Wasser-Märkte: Die Wahl zwischen drei Übeln
Das Einführen von Wettbewerb bei der Trinkwasser-Versorgung ist
nicht einfach. Denn anders als etwa bei Strom oder Gas lässt
sich das Wasser unterschiedlicher Anbieter mit unterschiedlicher
Qualität nicht einfach in einem Rohr mischen. Zudem sind
große Mengen nur schlecht über weite Strecken zu transportieren,
Wasser ist immer eine regionale Ressource. Meist lohnt es sich
auch nur für einen Anbieter, ein Versorgungsnetz inklusive
Anlagen zur Wasseraufbereitung, Pumpstationen, Speicherbecken,
Kanälen und Leitungen zu errichten und zu betreiben. Denn das
ist nicht nur extrem teuer, in der Regel gibt für ein zweites
Netzwerk auch schlicht keinen Platz. Wasser ist also immer mit
einem lokalen Monopol verbunden. „Wir können nur zwischen drei
Übeln wählen“, lautet deshalb das Fazit, das der Nobelpreisträger
Milton Friedman bei der Betrachtung der Wasser-Märkte zog:
„ein privates, unreguliertes Monopol, ein privates Monopol, das
vom Staat reguliert wird, und ein öffentliches Monopol.“
Privatisierung I: Wasser-Industrie
Text: Florian Sievers Foto: T. Futh (laif) / DZH / Florian Sievers
Poppelier, ihr Chef Jonker sowie die Schafe, Rinder und Ponys in den
Dünen arbeiten im Auftrag von 27 Gemeinden, darunter der niederländische Regierungssitz Den Haag. Rein rechtlich ist der Wasserversorger DZH
zwar eine Aktiengesellschaft, die Anteilsscheine gehören jedoch den Kommunen der Region. Und das soll nach dem Willen der Niederländer – trotz
der weltweiten Debatten um die Privatisierung öffentlicher Unternehmen –
auch so bleiben. Am 9. Dezember 2003 haben fast alle Parteien in der
Tweede Kamer, der wichtigsten Kammer des nationalen Parlaments, ein
neues Gesetz angenommen. Es verbietet explizit die Beteiligung privater
Investoren und kleiner Unternehmen an der Trinkwasser-Versorgung von
Haushalten. Am 7. September des vergangenen Jahres stimmte auch die
andere Parlamentskammer, die Eerste Kamer, dem Gesetz zu. Seitdem ist
das Verbot in Kraft.
Mit ihrer strikten Antiprivatisierungs-Regelung stehen die Niederlande
ziemlich allein da. Zwar gehört die Trinkwasser-Industrie in der Europäischen Union noch überwiegend der öffentlichen Hand. Aber Großbritannien hat den Sektor bereits komplett privatisiert, in Frankreich können
Privatanbieter über Ausschreibungen langfristige Konzessionen erwerben.
In Deutschland ist die Privatwirtschaft über Public Private Partnerships
bislang an rund einem Drittel der gesamten Wasserproduktion beteiligt –
mit steigender Tendenz. Die Kommunen, die für den Sektor zuständig sind,
dürfen selbst über weitere Partnerschaften mit Privatinvestoren entscheiden, dabei sind sie allerdings verpflichtet, die Aufsicht über den Sektor zu
behalten. Ein Gesetz wie das der Niederländer, das jede Privatisierung
verbietet, findet sich weltweit nur noch in Uruguay.
Die Debatte um das Öl dieses Jahrhunderts
Die Niederländer stellen damit unmissverständlich klar, auf welcher Seite
sie in der Debatte stehen, die zurzeit rund um den Globus über die Privatisierung der Wasser-Industrie geführt wird. „Trinkwasser“, fasst Anthony
Muller, McKinsey-Experte für Wasserwirtschaft, die Diskussionen zusammen, „ist ein emotional extrem aufgeladenes Thema.“ Die Flüssigkeit
polarisiert, weil sie ein Zwitter ist: unentbehrliche Lebensgrundlage eines
jeden Menschen und zugleich eine Handelsware, deren Produktion und
Vertrieb nun einmal Geld kosten. Entsprechend dieser Doppelnatur stehen
sich in der Debatte zwei Lager unversöhnlich gegenüber.
McK Wissen 13
Seiten: 26.27
Auf der einen Seite sind dies Menschen wie der
Weltbank-Wasserspezialist John Briscoe, der rückhaltlos für eine Privatisierung der Versorger und
sogar für eine völlige Abschaffung aller Regulationen eintritt. „Nur über den freien Markt“,
argumentieren Briscoe und seine Mitstreiter,
„können Wasserversorger das dringend benötigte
Kapital aufbringen und effizient genug werden,
um jeden Menschen mit frischem Trinkwasser zu
versorgen.“ Natürlich haben die PrivatisierungsBefürworter auch im Hinterkopf, dass sich mit
Trinkwasser Geld verdienen lässt. Die Weltbank
schätzt den globalen Wassermarkt auf ein Volumen von 800 Milliarden Euro jährlich.
Kein Wunder, dass das US-Magazin Fortune
Wasser das Öl des 21. Jahrhunderts nannte.
Momentan konkurrieren um diesen Zukunftsmarkt vor allem drei Großunternehmen: die französische Suez-Gruppe, daneben Veolia Water
Systems, die Wassersparte des ebenfalls französischen Vivendi-Konzerns, und die deutsche RWE,
die seit dem Kauf des britischen Versorgers
Thames Water auf Platz drei liegt. Vor allem in
Entwicklungs- und Schwellenländern, in denen
klamme Regierungen dazu neigen, ihre Versorgungseinrichtungen zu verkaufen, um an Kapital
zu gelangen, kämpfen die Anbieter mit harten
Bandagen.
Der Wasserversorger DZH setzt auf
moderne Produktionsstätten und Schafe
– sie halten das Dünengras kurz.
Wasser – Konsumgut oder Menschenrecht?
Auf der anderen Seite der Diskussion um die
Trinkwasser-Privatisierung stehen zahllose Bürgerinitiativen, Globalisierungskritiker und DritteWelt-Aktionsgruppen. Aus ihrer Sicht ist Wasser
mehr als nur ein Konsumgut. Letztlich sogar ein
Menschenrecht. Darum dürfe es niemand als
An der Aktiengesellschaft DZH,
die Piet Jonker als Managing
Director leitet, dürfen nur
staatliche Unternehmen und
Körperschaften Anteile halten.
Eigentum betrachten und Kapital daraus schlagen. Die Privatisierungsgegner befürchten, dass profitorientierte Unternehmen vor allem auf kurzfristige Renditen schielen – und darüber nachhaltigen Ressourcenschutz,
sozialverträgliche Preise sowie eine bestmögliche Qualität des Grundnahrungsmittels vergessen. Deshalb sollen sich ihrer Meinung nach staatliche
Einrichtungen als Teil der Daseinsvorsorge darum kümmern, dass jeder
Bürger immer gutes Trinkwasser zu akzeptablen Preisen erhält.
Prinzipiell lässt sich die Trinkwasserversorgung durchaus privatisieren, da
sind sich die Experten einig. Allerdings muss dieser Prozess auch professionell gemanagt werden – vom Unternehmer sowieso, vor allem aber von
der Regierung. „Die Frage, ob privatisierte oder öffentliche Wasserunternehmen kosteneffizienter oder umweltfreundlicher sind, konnte in der
Fachwelt bislang nicht abschließend geklärt werden“, meint Professor
Georg Meran, Vizepräsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin und Experte für Wasserwirtschaft. Es gebe zwar
empirische Untersuchungen – aber mit den unterschiedlichsten Ergebnissen. „Man weiß einfach nicht, ob solche Dinge nach einer Privatisierung
besser funktionieren als vorher“, sagt Meran. Die Entscheidung dafür oder
dagegen hänge deshalb in der Regel von der Kassenlage eines Staats ab –
und von politisch-ideologischen Erwägungen.
Zu viel Wasser und zu viel Dünger
Die niederländische Regierung hat das Thema Trinkwasser ganz oben auf
ihre Prioritätenliste gesetzt. Im Gegensatz zu den heiß umkämpften Schwellen- und Entwicklungsländern haben die Niederlande allerdings eher zu viel
Wasser als zu wenig. So münden auf ihrem Territorium die großen Flüsse
Rhein, Maas und Schelde ins Meer. Und fast ein Drittel des 16 Millionen
Einwohner-Landes – das am dichtesten besiedelte Europas – liegt unter
dem Meeresspiegel. Ohne zahlreiche Dämme und Deiche, Kanäle und
Pumpstationen würden vor allem die Ballungsgebiete im Norden und
Westen mit den Großstädten Amsterdam, Den Haag und Rotterdam überflutet. „Unser Kampf“, sagt der ehemalige niederländische Umweltminister
Jan Pronk, „war eigentlich immer eher gegen das Wasser als dafür.“
Doch auch die Niederlande haben ein Wasserproblem: Die Niederländer
nutzen knapp 30 Prozent ihrer Landesfläche für die Landwirtschaft, vor
allem für den Anbau von Blumen und Zwiebeln. Das verunreinigt den
Wasserkreislauf mit Dünger, Pestiziden und anderen Chemikalien.
Zudem leiden die Wasservorräte im Boden und
in Gewässern unter der niedrigen geografischen
Lage des Landes: Große Mengen davon sind durch
eindringendes Meerwasser versalzen.
Die niederländischen Produzenten müssen das
Grund-, Fluss- oder Seewasser des Landes darum
besonders sorgfältig bearbeiten, um es trinkbar
zu machen. Bis 1920 übernahmen das in dem
damals neu entstandenen Sektor noch junge
private Unternehmen. Sie engagierten sich jedoch
vor allem in den dicht besiedelten Regionen
des Landes, wo sich die hohen Investitionen in
Wasserleitungen und -kanäle auch rechneten.
Also übernahm der Staat die Kontrolle über den
Sektor und sorgte bis 1970 für eine komplette
Versorgung bis hin zu den abgelegensten Bauernhöfen. Heute sind lokale Wasserbehörden
für die Abwasser-Aufbereitung zuständig, die
Abwasserkanäle werden von den Gemeinden
betrieben.
Die Trinkwasser-Versorgung liegt momentan in
den Händen von 15 Anbietern, die pro Jahr rund
eine Milliarde Kubikmeter produzieren und damit
knapp 1,5 Milliarden Euro umsetzen. Die Branche steckt mitten in einem Konzentrationsprozess:
1938 gab es noch 229 Anbieter, in den Siebzigern
immerhin noch 109. In fünf Jahren, besagen Prognosen, werden es nur noch sechs oder vielleicht
sogar nur noch drei Anbieter sein.
Auch die Beschäftigtenzahl sinkt. Zurzeit arbeiten gut 5400 Menschen in der niederländischen
Trinkwasserindustrie – 1993 waren es noch 8000,
also fast anderthalb mal so viele.
Wie der Den Haager Wasserversorger DZH sind
auch fast alle der anderen 14 aktiven Unternehmen als Aktiengesellschaften organisiert. Ihre
Anteilsscheine gehören – je nach Unternehmen
in unterschiedlicher Zusammensetzung – den
Arjen Frentz, Chef der Abteilung Wasser &
Wirtschaft beim Branchenverband VEWIN (oben).
Ger Ardon hat als Leiter der Wasserabteilung
des Umeltministeriums VROM an
dem Antiprivatisierungsgesetz gearbeitet.
Privatisierung I: Wasser-Industrie
Text: Florian Sievers
Foto: McKinsey & Company
jeweiligen Kommunen und den zwölf Provinzen des Landes. Der öffentliche Sektor arbeitet also mit einer Mischkonstruktion aus privatwirtschaftlicher Rechtsform und öffentlichen Eigentümern.
„Dank dieser Konstruktion können die Unternehmen autonom agieren
und wichtige Entscheidungen ohne eine vorige politische Debatte treffen“,
erklärt Ger Ardon das Konstrukt. „Wir haben sie so vor der direkten
Diskussion in der Politik geschützt.“ Ardon war bis vor 18 Jahren bei der
Vereinigung der Niederländischen Wasserwerke (Vereniging van Waterbedrijven in Nederland – VEWIN) für Bedarfsplanungen zuständig. Heute
sitzt er als Leiter der Wasserabteilung des niederländischen Umweltministeriums VROM in dessen Neubau in der Den Haager Innenstadt. Dort hat
Ardon mit seiner Abteilung auch seit Mitte der neunziger Jahre an dem
neuen Antiprivatisierungs-Gesetz gearbeitet.
McK Wissen 13
Seiten: 28.29
Anthony Muller, Experte für
Wasserwirtschaft bei McKinsey, hält
die Debatte für zu emotional –
und liefert deshalb sachliche Argumente.
Nur der Staat darf Anteile halten
Damals war auch in den Niederlanden eine Diskussion um die Privatisierung von staatlichen Versorgungsunternehmen entbrannt. Dabei hatte
sich die Regierung jedoch vor allem auf die Anbieter von Gas und Elektrizität konzentriert und den Wassersektor explizit ausgenommen. Trinkwasser, so die Überlegung damals wie heute, ist zu wichtig, um es den
Kräften des freien Marktes zu überlassen. 2000 stellte der damalige sozialdemokratische Umweltminister Jan Pronk erstmals ein Positionspapier
vor, in dem es darum ging, dass Besitzanteile der öffentlichen Wasserversorger nicht in privater Hand landen dürften. Ein Jahr später kursierte
bereits der erste Gesetzentwurf. Danach verschwand das Vorhaben
jedoch vorerst in den Aktenschränken der Bürokratie, weil die Regierung
von Premierminister Wim Kok 2002 zurücktreten musste und durch die
konservative Regierung, angeführt von Jan Peter Balkenende, ersetzt
wurde. Die neue Spitze behielt den Kurs jedoch bei, und Ger Ardon
konnte miterleben, wie das Parlament das von ihm ausgearbeitete Gesetz
rund ein Jahr später billigte.
Ardons Gesetzes-Konstruktion zufolge dürfen die Anteilseigner der Trinkwasser-Versorger ihre Aktien nur an Körperschaften oder Unternehmen
verkaufen, die ebenfalls zu hundert Prozent dem niederländischen Staat
gehören. Zugleich garantiert der Staat den Versorgern, dass sie die
Einzigen sind, die in ihrer jeweiligen Region Trinkwasser an Haushalte
Pro und contra Wasser-Privatisierung
Darf der Staat die Versorgung seiner Bürger mit Trinkwasser
privaten Unternehmen überlassen? Die Befürworter
argumentieren: Nur über den freien Markt kann der Sektor
Kapital und Effizienz erreichen, die nötig sind, um
alle Menschen mit frischem Wasser zu versorgen – vor
allem in Entwicklungs- und Schwellenländern.
Die Gegner postulieren, dass Wasser mehr ist als eine
Ware – die alternativlose Lebensgrundlage für
jeden Menschen. Ihre Befürchtung: Profitorientierte
Unternehmen vernachlässigen nachhaltigen
Ressourcenschutz, sozialverträgliche Preise sowie eine
bestmögliche Qualität des Grundnahrungsmittels.
und Kleinunternehmen verkaufen dürfen. Mit ihrer Regelung will die niederländische Regierung vor allem die durchsetzungsschwachen Kleinabnehmer vor steigenden Preisen und schlechter Wasserqualität schützen. Der
Markt für Großkunden bleibt dagegen offen für private Wettbewerber.
„Wir glauben, dass Wasserversorgung mehr beinhaltet als nur das Versorgen mit Wasser“, begründet Ardon das Gesetz. „Denn dazu gehört auch
ein Verantwortungsgefühl gegenüber der Gesellschaft und ein schonender
Umgang mit den natürlichen Ressourcen.“ So fürchte die Regierung, eine
Privatisierung würde auf Kosten der sehr guten Qualität ihres Trinkwassers gehen. Ardon führt dabei das Beispiel England und Wales an. Dort
hat Margaret Thatcher 1989 das gesamte Wassersystem an Privatinvestoren verkauft. In der Folge habe sich, so Ardon, die Wasserqualität verschlechtert, und die Wasserpreise seien gestiegen. Ardons Chef, UmweltStaatssekretär Pieter van Geel, ergänzt: „Auch wenn Effizienz wichtig ist
– wir dürfen und wollen bei der Qualität und der Verfügbarkeit von Wasser keine Kompromisse machen zu Gunsten von Kostenersparnis.“
Die EU-Kommission ist für Wasser-Privatisierung
Ardon und van Geel gehen davon aus, dass ihr Gesetz keine Probleme mit
dem geltenden EU-Recht bekommt. Die Europäische Kommission hätte
zwar am liebsten eine weitgehende Privatisierung der Wasserindustrie in
allen Mitgliedsländern. In einer Rahmenrichtlinie verlangt sie aber zunächst
nur, dass Trinkwasser-Preise bis spätestens 2010 die Kosten für Produktion, Transport und Umweltschäden wiedergeben und dass die Anbieter
kostendeckend arbeiten – also ohne jede Subvention.
Die niederländische Trinkwasser-Industrie kommt schon heute ohne Staatszuschüsse aus. Kein Wunder: Ihre Preise gehören, zusammen mit denen in
Deutschland, Dänemark und Großbritannien, zu den höchsten in Europa.
Dafür liefern die Niederländer aber auch beste Qualität – das Trinkwasser
in Süditalien oder in Teilen Spaniens ist zwar preiswerter, allerdings oft nicht
wirklich trinkbar.
Und dennoch: Ist die Sorge nicht berechtigt, dass die Trinkwasser-Unternehmen auf Dauer nicht nur kostendeckend, sondern profitabel arbeiten
wollen? Dass sie durch Preissteigerungen, billigere Produktionsmethoden
und um den Preis der besten Qualität sogar Gewinne einzufahren versuchen?
Das könnte ihnen keine Konkurrenz vereiteln, schließlich garantiert
ihnen der niederländische Staat regionale Monopole. Aber auch hier hat
Wer hat Recht?
Beide, meint McKinsey-Experte Anthony Muller. Es stimme
schon, sagt er, Wasser sei ein besonderes Gut.
Und ja, es gebe genügend Beispiele für eine misslungene
Privatisierung. Allerdings spräche das nicht
gegen die Idee, sondern für eine dringend notwendige
Professionalisierung. Vor allem auf Seiten der
Regierung. Ein Monopol aus der Hand zu geben, bedeute
eben nicht, Verantwortung und Kontrolle abzugeben.
Die Entscheidung erfordere vielmehr den Aufbau neuer
Skills innerhalb der Behörden, um den sensiblen
Prozess in der Praxis zu steuern. Eine erfolgreiche
Privatisierung erfordere geeignete rechtliche Regulierungsund Rahmenbedingungen, saubere Verträge und
ein professionelles Management. „Verträge mit privaten
Anbietern sind immer nur so gut, wie sie von Seiten
des Regulierers gemanagt werden“, meint Muller. Prinzipiell
sei die Trinkwasser-Versorgung für Privatisierungen
durchaus geeignet, so der Experte. Ob Verkäufer, Käufer
und Kunden hinterher damit zufrieden sind, liege an
der Gestaltung – und an der Konsequenz, mit der ein Staat
sein Ziel verfolge. Die Entscheidung pro oder contra
hänge letztlich von der Kassenlage des jeweiligen Staates
ab – und davon, welchen Sektoren er zur Not mit
Subventionen unter die Arme greife. In jedem Fall aber
gilt: „Wer mit einer Privatisierung einfach nur klamme
Kassen auffüllen will, wird scheitern.“
Privatisierung I: Wasser-Industrie
Text / Foto: Florian Sievers
die Regierung vorgesorgt. Damit genau das nicht passiert, müssen die Versorger künftig regelmäßig in Benchmarks gegeneinander antreten. Dabei
vergleichen sie Kosten und Effizienz, Service und Kundenzufriedenheit,
Umweltverträglichkeit und Wasserqualität miteinander. Die Ergebnisse sollen in einer Rangliste veröffentlicht werden. Solche Vergleiche erstellen die
Unternehmen unter Aufsicht des Wassererzeuger-Verbands VEWIN zwar
schon seit 1997. Bislang ist die Teilnahme an den Tests jedoch freiwillig.
Ende des Jahres soll sich das ändern.
Das Benchmarking habe zwei Ziele, erklärt Arjen Frentz, Chef der Abteilung Wasser & Wirtschaft bei VEWIN. Es solle die Öffentlichkeit über die
Industrie informieren. Zudem sollten Anteilseigner und Kunden der Firmen
erfahren, wie ihre Unternehmen im Vergleich dastehen. Wettbewerb ist der
beste Garant für Qualität, glauben die Planer. Und wenn das nicht funktioniere, heißt es im Umweltministerium, könnte man auch StandardWerte festsetzen, die dann eben alle Unternehmen erreichen müssten.
McK Wissen 13
Seiten: 30.31
Die VEWIN – Die Vereinigung der
Niederländischen Wasserwerke zeigt Flagge
gegen die Wasser-Privatisierung.
Warum etwas ändern, wenn es keine Probleme gibt?
Das ist bislang nur eine Theorie – die staatlichen Trinkwasserversorger in
den Niederlanden arbeiten vergleichsweise gut. Ihre Leitungen und Kanäle
sind derart gut in Schuss, dass die Unternehmen durch Lecks und Löcher
weniger als sechs Prozent ihres Wassers verlieren – in anderen europäischen
Ländern sind es oft zwölf Prozent und mehr. Zudem, so eine VEWINStudie, sind die Anbieter in den vergangenen vier Jahren sogar um neun
Prozent effizienter geworden. „In vielen Ländern funktioniert die Trinkwasserversorgung unzuverlässig, mit schlechtem Service und nur geringen
Investitionen“, sagt Pieter Huisman vom Lehrstuhl für Wassermanagement
an der Technischen Universität Delft. „Um das zu verbessern, wird oft
Liberalisierung und Privatisierung propagiert.“ Die niederländische Trinkwasser-Industrie dagegen funktioniere bestens. „Und wenn es kein Problem
gibt“, fragt Arjen Frentz vom Branchenverband VEWIN und lächelt sanft,
„warum sollte man dann etwas ändern?“
Produktionsstätten des Wasserversorgers DHZ – das
Unternehmen arbeitet im Auftrag von 27 Gemeinden, darunter
der niederländische Regierungssitz Den Haag.
Privatisierung II: Strafvollzug
Text / Foto: Kerstin Friemel
McK Wissen 13
Seiten: 32.33
5
Gefängnis mit
beschränkter Haftung
Gedränge in den Zellen, kaputte Alarmknöpfe, Ausbruch-Skandale – angesichts leerer öffentlicher
Kassen steckt auch der Strafvollzug in der Krise. Warum nicht privatisieren?, fragen sich
deshalb immer mehr deutsche Landesregierungen. Aber lassen sich Haftanstalten tatsächlich
ganz oder in Teilen privat betreiben? Ein Besuch beim britischen Gefängnisbetreiber Serco.
Privatisierung II: Strafvollzug
Text / Foto: Kerstin Friemel
„Viel besser“ gefällt es Paul Pitts im
privaten Knast. Zweimal saß er in einem
staatlichen Gefängnis, bevor er
nach Doncaster kam (Foto Seite 33).
Gefängnisdirektor Rod MacFarquhar (unten
links) setzt auf Effizienz. Mit Kameras
überwachte, ausgeleuchtete Gänge
verbinden die Gefängnisgebäude – und
helfen, Personal zu sparen.
McK Wissen 13
Seiten: 34.35
Wer Direktor Rod MacFarquhar besucht, bekommt binnen weniger
Minuten einen Eindruck vom Erfolgsrezept seines Arbeitgebers. Am Eingang des Gefängnisses im nordenglischen Doncaster fordern wohl gelaunte
Damen („Hello darling, how are you?“) die Besucher auf, einen Fingerabdruck zu hinterlassen, kontrollieren den Personalausweis und machen
vor einer blauen Wand ein Foto für den Tages-Passierschein. Kaugummis
müssen in den Mülleimer, Mobiltelefone bleiben in der Rezeption. An der
Wand hängt ein Foto vom Gefängnismitarbeiter des Monats, im Wartezimmer flimmert der „Tagesgedanke des Direktors“ über den Bildschirm.
Heute denkt er: „Der Zeitpunkt ist immer richtig, um etwas Richtiges
zu tun.“
In seinem Büro spricht Rod MacFarquhar über Zahlen: 260 Wärter arbeiten im Schichtdienst, das Gefängnis hat 770 Zellen und 1050 Häftlinge.
„Sie sind in drei Gebäuden untergebracht“, sagt er und zeigt auf einen
Grundriss des Gefängnisgeländes: Lange Gänge verbinden die drei Teile
miteinander, führen weiter zur Krankenstation und in die Großküche.
Ein geschlossenes System. „Das macht die Begleitung der Gefangenen in
den Gängen überflüssig“, sagt der Direktor und lädt den Gast zum Rundgang ein.
Das Labyrinth beginnt hinter zwei dicht aufeinander folgenden schweren Metalltüren: Die weiß
gestrichenen schmalen Verbindungsgänge sind
kühl, die Wände unverputzt, an der Decke leuchten grelle Neonröhren. Ab und zu eilen Gefängnismitarbeiter durch die kargen Flure, in dunkler
Hose, weißem Hemd und Krawatte. Auch Häftlinge schlendern vorbei, allein oder in kleinen
Gruppen. Sie werden von 200 Kameras überwacht. „Das spart Personal und ist viel effizienter,“ sagt MacFarquhar.
Das Wort Effizienz benutzt er gern und oft. Je
effizienter er sein Gefängnis leitet, desto mehr
verdient er. Bis zu zehn Prozent kann sein variabler Bonus am Jahresgehalt ausmachen. Das ist
gut für ihn und für seinen Arbeitgeber, die Premier Custodial Group Ltd. Rod MacFarquhar hat
mehr als 30 Jahre in staatlichen Gefängnissen
gearbeitet, bevor er vor einigen Jahren zu Premier
wechselte. Heute ist er froh, den „restriktiven
staatlichen Dienst“ hinter sich gelassen zu haben.
Er verwaltet ein kleineres Jahresgesamtbudget
und erreicht doch mehr, wie er sagt, „weil ich
entscheiden kann, wofür ich das Geld ausgebe“.
Flexibler sei er auch bei der Bezahlung und dem
Einsatz des Personals im Schichtdienst.
Premier ist ein Tochterunternehmen der britischen
Serco Group. Der an der Börse gelistete Konzern
macht 90 Prozent seines Geschäftes mit Aufgaben, die er vom Staat übernommen hat. Neben
Gefängnissen betreibt Serco auch Krankenhäuser, Schulen, Eisenbahnlinien und Einrichtungen
der Armee. Das ist in Großbritannien seit Jahren
gängige Praxis. Und ein lukratives Geschäft: Im
vergangenen Jahr machte Serco mit seinen rund
40 000 Mitarbeitern 1,6 Milliarden Pfund Umsatz
(gut 2,35 Milliarden Euro) und erzielte einen
Vorsteuergewinn von 82,67 Millionen Euro, 8,6 Prozent mehr als im
Vorjahr. Auch in den USA mischt die Privatwirtschaft seit langem bei der
Erfüllung traditioneller öffentlicher Aufgaben mit: Firmen wie Edison, Victory Schools und Chancellor Beacon Academies haben Management und
Unterricht an vielen staatlichen Schulen übernommen. Sie versprechen –
bislang allerdings erfolglos – Gewinne zu machen und gleichzeitig zu schaffen, was mehr als 15 Jahre öffentlicher Schulreform in den Vereinigten
Staaten nicht erreicht haben: amerikanische Kinder besser auszubilden.
Gefängniskonzerne wie Geo Group, Wackenhut Corporation oder Cornell Companies sind bereits so etabliert, dass in einigen US-Bundesstaaten
jedes zweite Gefängnis privat betrieben wird. Kanada und Australien vertrauen ebenfalls auf die billigeren Knastbetreiber.
Der Staat zahlt den Unternehmen einen festen Betrag pro Häftling und Tag.
Bleiben die Privaten mit ihren Kosten darunter, können sie die Differenz
als Gewinn verbuchen. Dabei helfen ihnen eine schlanke Verwaltung und
Größenvorteile. Durch die zentrale Leitung mehrerer Gefängnisse lassen
sich die Verwaltungskosten reduzieren und bessere Preise beim Einkauf von
Materialien aushandeln.
Wo liegen die Grenzen der Privatisierung?
Paul Pitts in seiner Zelle (oben). Er darf
als „Buddy Volunteer“ seinen Mithäftlingen
Tipps für die Zeit nach der Haft geben.
Draht nach draußen: öffentliche Telefone
Nach Meinung unabhängiger Experten wie etwa des Briten Stephen Nathan,
Autor des Newsletters „Prison Privatisation Report International“, sparen
die Privaten jedoch auch bei der Betreuung der Inhaftierten. „Unternehmen
setzten auf mehr Technik und weniger Personal, das meist schlecht bezahlt
und schlecht ausgebildet ist“, so Nathan. Gegner halten den menschlichen
Kontakt zwischen qualifizierten Gefängnismitarbeitern und Häftlingen für
unersetzbar. Seit Jahren wird deshalb eine hitzige Debatte geführt, in der
Nathan zu dem Schluss gekommen ist: „Gefängnisse sind nicht mit der
Müllabfuhr zu vergleichen. Nicht alles lässt sich privatisieren.“
Die Fragen stellen sich tatsächlich: Was kann der Staat abgeben, was nicht?
Wo sollte die Grenze zwischen Effizienz und Profitmaximierung gezogen
werden? Wo schadet das Streben der Unternehmen nach Eigennutz dem
Gemeinwohl? Oder sind derartige Bedenken unbegründet, weil der Staat
den Firmen die übertragenen Aufgaben auch wieder entziehen kann und
damit Leistungsdruck auf den Privaten lastet?
Auch hier zu Lande wird heftig diskutiert. Denn immer mehr deutsche
Politiker liebäugeln mit der Option, Projekte in Partnerschaft mit der
Privatindustrie zu schmieden (siehe Seite 39).
Angesichts leerer Länderkassen schwindet die
langjährige Skepsis – und einstige Tabus wie etwa
der private Betrieb von Gefängnissen werden
Realität.
Ab Anfang 2006 wird Serco das erste teilprivatisierte Gefängnis Deutschlands mit betreiben, das
derzeit im hessischen Hünfeld gebaut wird. Im
vergangenen November unterschrieb der britische Konzern einen Fünf-Jahres-Vertrag mit dem
Land Hessen.
Eine Revolution – auch wenn ihre praktische
Umsetzung noch lange nicht an den ausländischen Standard reicht. Zwar hatte Hessens Justizminister Christean Wagner vor, das Gefängnis im
hessischen Hünfeld mit 500 Haftplätzen komplett
privat betreiben zu lassen. In der nach Polizeirecht geführten Abschiebehaft ist der Einsatz von
externen Sicherheitskräften auch bereits Usus.
Eine Rechtsprüfung ergab jedoch, dass der deutsche Staat, anders als in Großbritannien, die
Leitung einer Justizvollzugsanstalt nicht abgeben
darf. Hoheitliche Aufgaben – und dazu zählen
insbesondere jene, die mit Zwang gegenüber dem
Bürger verbunden sind – dürfen grundsätzlich
nur Beamte übernehmen.
Also einigte man sich auf einen Kompromiss.
Serco-Mitarbeiter dürfen unter anderem das
Essen kochen, den Garten pflegen, die Häftlinge
beim Drogenentzug oder bei Eheproblemen beraten, sich um ihre Fort- und Weiterbildung kümmern und ihnen Jobs im Gefängnis besorgen. Für
diese Aufgaben wird Serco rund 40 Prozent des
Personals in Hünfeld stellen. Zu deutlich niedrigeren Preisen als der Staat für Beamten zu zahlen hätte: Hessen rechnet mit Einsparungen von
660 000 Euro pro Jahr, das entspricht rund 15
Prozent.
Privatisierung II: Strafvollzug
Text: Kerstin Friemel Foto: Serco, Hess. Ministerium der Jusitz
Während Politiker frohlocken, steigt die Skepsis derer, die bereits mit der
Teilprivatisierung von Gefängnissen die Linie zwischen Aufgaben des
Staates und den Tätigkeitsfeldern der Privatwirtschaft überschritten sehen.
Zwar soll der Sicherheitsbereich in der neuen Justizvollzugsanstalt ( JVA)
nahezu vollständig in staatlicher Hand bleiben – Serco-Mitarbeiter werden
die Beamten allerdings bei der Verwaltung und bei Routine-Wachdiensten
wie der Monitorüberwachung oder der Begleitung der Gefangenen innerhalb der Anstalt unterstützen. Das ist Grund genug für Misstrauen: „Wer
mit Gefangenen zu tun hat, wenig verdient und keinen sicheren Arbeitsplatz hat, ist wesentlich anfälliger für Einflussnahme von innerhalb und
außerhalb der Anstalt“, kritisiert etwa Andreas Jürgens, rechtspolitischer
Sprecher der hessischen Landtagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen.
Überfüllte Gefängnisse und leere Kassen: Ausweg Privatisierung
Torsten Kunze, der das Projekt Hünfeld im hessischen Justizministerium
von Beginn an begleitet hat, kennt die Vorbehalte. Aber er kennt auch die
Realität in staatlichen Gefängnissen. Als sich die hessische Landesregierung
1999 entschloss, mit Privaten zusammenzuarbeiten, fehlten im Land etwa
1200 Haftplätze. „Viele Zellen waren mehrfach belegt“, sagt Kunze und
fügt nach kurzer Pause hinzu: „Im Hinblick auf die Sicherheit der Anstalten
ein nicht ganz ungefährliches Unterfangen.“
Der Jurist hat gelernt, sich vorsichtig auszudrücken. In ruhigem Redefluss
arbeitet er sich durch die prekäre Finanzlage des Landes Ende der neunziger Jahre und die Vorteile einer Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft
beim Bau und Betrieb der Justizvollzugsanstalt. Weil nicht das Land, sondern ein privater Generalunternehmer die Gefängnismauern hochzieht,
liegen die Kosten in Hünfeld bei 100 000 Euro pro Haftplatz. Bei der
unter staatlicher Ägide gebauten JVA Weiterstadt, die das Land Hessen 1997
in Betrieb nahm, kostete ein Haftplatz noch 250 000 Euro. Dauerten
Planung und Bau in Weiterstadt über zehn Jahre, werden es in Hünfeld
voraussichtlich vier sein. „Ordentliche Unterschiede“, findet Kunze.
Fest steht, dass der rein staatliche Betrieb von Gefängnissen kein Garant
für ideale Verhältnisse ist. Die meisten deutschen Bundesländer beklagen
überfüllte Gefängnisse und schlechte Haftbedingungen. Nach fünf Ausbrüchen aus der Hamburger Haftanstalt Billwerder innerhalb von fünf
Monaten sprach selbst Justizsenator Roger Kusch vom „Schweizer-
McK Wissen 13
Seiten: 36.37
Käse-Knast“. In Saarbrücken legte jüngst ein
Häftling vor Gericht erfolgreich Beschwerde
gegen menschenunwürdige Inhaftierung ein –
wegen Überfüllung hausten er und ein Mitgefangener auf acht Quadratmetern. Auch andere
Bundesländer beklagen die Umstände. In Bayern
gab es im März 2005 für 13 108 Gefangene
11 756 Haftplätze.
Derartige Zustände sind nicht hinnehmbar, diesbezüglich herrscht Konsens. Aber welcher Weg ist
richtig, um sie zu beseitigen? Mit der Reform
ihrer eigenen Systeme tun sich die Länder schwer.
Und so wagt nicht nur Hessen den Schritt in Richtung Privatisierung. Sachsen-Anhalt und Baden-
Noch im Bau – die Justizvollzugsanstalt
in Hünfeld soll Mitte November
mit 50 Gefangenen den Probebetrieb
aufnehmen. Die Vollbelegung ist für
Ende Januar 2006 geplant.
Württemberg planen bereits, beim Bau neuer Justizvollzugsanstalten mit
Privaten zusammenzuarbeiten. Nordrhein-Westfalen will noch in diesem
Jahr den Bau und Betrieb eines Gefängnisses in Ratingen ausschreiben. Und
alle beobachten genau, was in Hessen passiert. Dort wird Justizminister
Wagner nicht müde zu versichern: „Der Staat behält in Hünfeld das Kommando.“ Tatsächlich gibt das Land dem privaten Betreiber einen detaillierten Rahmen vor. Anzahl und Nährwertangebot der Mahlzeiten sind ebenso definiert wie die Häufigkeit der Arzt-Sprechstunden oder die nötige
Qualifikation der Serco-Mitarbeiter.
Dass sich trotzdem einiges erst in der Praxis einspielen wird, bestreitet auch
der hessische Oberstaatsanwalt Torsten Kunze nicht. Vor allem im Sicherheitsbereich. Befürchten die Kritiker nicht zu Recht, dass es im Gefängnisalltag zu Problemen zwischen öffentlich und privat kommen kann? „Nein“,
meint Kunze. Routine-Wachdienste wie die Monitorüberwachung oder die
Begleitung der Gefangenen innerhalb der Anstalt seien Bereiche, in denen
Gefangene selten aggressiv sind. Was aber, wenn es doch zu Schwierigkeiten kommt? Sind die Serco-Mitarbeiter darauf vorbereitet? Ja, sagt
Kunze, sie bekommen Sicherheitsschulungen und „sie können sich selbst
verteidigen“. Körperliche Gewalt aber dürften selbst in Krisensituationen
nur Beamte anwenden.
Für Wolfgang Schröder, den Bundesvorsitzenden des Bundes der Strafvollzugsbediensteten (BSBD) ein Risiko: „In gefährlichen Situationen ist der
Vollzugsbeamte allein auf weiter Flur.“ Zwar dürfe ein privat Angestellter
Nothilfe leisten, doch was genau darunter falle, sei unklar. Wer trotzdem
eingreife, so glaubt Schröder, „ist durch einen Crash-Kurs von wenigen
Wochen nicht ausreichend auf solche Situationen vorbereitet.“ Die Ausbildung eines Justizvollzugsbeamten dauert immerhin zwei Jahre.
Das ist lange, verglichen mit der Ausbildung von Wärtern in privat betriebenen Gefängnissen im Ausland. Und es erklärt die Skepsis derer, die sich
eine vollständige Privatisierung nicht vorstellen mögen.
Beim Privatbetreiber Premier im britischen Doncaster lernen die Wärter
ihren Job beispielsweise in acht Wochen, wie Gefängnisdirektor Rod MacFarquhar ungerührt erzählt: sechs Wochen Theorie, eine Woche Verhaltenstraining für Krawallsituationen, eine Woche Begleitung eines dienstälteren
Kollegen. „Das reicht“, findet MacFarquhar. Und das, obwohl fast keiner
seiner Angestellten zuvor in einem Gefängnis gearbeitet hat.
Neu ist für die meisten auch das harte Personal-Regiment des Anstaltsleiters. Bezweifelt MacFarquhar beispielsweise, dass krank gemeldete Mit-
arbeiter arbeitsunfähig sind, schickt er Kollegen
zu Kontrollbesuchen. Wer nicht zu Hause angetroffen wird und keinen triftigen Grund für seine
Abwesenheit hat, riskiert, dass ihm mit sofortiger Wirkung das Krankengeld gestrichen wird.
Aus Sicht des Direktors zahlt sich das Misstrauen
aus: „Unser Krankenstand liegt weit unter dem
in staatlichen Gefängnissen“, sagt MacFarquhar
sichtlich zufrieden.
Weniger Gehalt, mehr Arbeit, viel Lob
Zu diesem Ergebnis kam auch das Independent
Monitoring Board (IMB), das kürzlich die nationalen Zahlen veröffentlichte. Die unabhängige
Regulierungsbehörde dokumentierte auch, dass
britische Wärter in privaten Gefängnissen im
Durchschnitt weniger verdienen als Beamte. Je
nach Aufgabe und Dienstgrad liegt die Gehaltsdifferenz bei 18 bis 48 Prozent. Erst im oberen
Management dreht sich das Verhältnis um. Zudem müssen private Angestellte länger arbeiten
und haben weniger Urlaub.
In dem von MacFarquhar gemanagten Gefängnis
in Doncaster liegt das Einstiegsgehalt eines Wärters bei 15 250 Pfund, das entspricht rund 22 270
Euro im Jahr – gut 4000 Euro weniger als im
staatlichen Dienst. Das Durchschnittsalter der
Belegschaft liegt bei Ende 20, die MitarbeiterFluktuation ist mit elf Prozent im Vergleich zum
öffentlichen Sektor hoch. Was also kann der
Anstaltsdirektor seinen Mitarbeitern bieten, was
sie nicht in einem staatlichen Gefängnis finden?
„Lob und gutes Arbeitsklima.“
Das sind relativ schwache Beweggründe, wie es
scheint. Neil Goodwin, leitender Wärter in Doncaster, ist klein und schmächtig und arbeitet
schon seit ein paar Jahren für Premier. Ganz
Im November 2004 unterschreiben
Hessens Justizminister Christean Wagner
(oben rechts) und Serco-Geschäftsführer
Klaus Tiemann den Fünf-Jahres-Vertrag.
Oberstaatsanwalt Torsten Kunze hat das
Projekt Hünfeld von Anfang an begleitet.
Privatisierung II: Strafvollzug
Text / Foto: Kerstin Friemel
gern, wie er sagt. Doch in der Region bestünde auch nicht viel Auswahl.
Früher habe es etliche Jobs im Bergbau gegeben, doch das sei vorbei. „Heute muss man froh sein, überhaupt etwas zu haben“, sagt Goodwin, um das
Thema abzuschließen, während er die Tür zum Aufenthaltsraum der
Gefangenen aufschließt.
In der Mitte des großen Raums steht ein Billardtisch. Gelangweilt fläzen
sich einige Männer auf weißen Plastikstühlen. Aus dem Gemeinschaftsbad
hört man lautes Gegröle. Einige Gefangene warten, dass eines der drei
Münztelefone frei wird. Die meisten tragen Trainingshosen und MuskelShirts. Paul Pitts, einer der Häftlinge, wird übermorgen entlassen. „Mit
meiner Freundin essen gehen“, sagt er auf die Frage, was er als Erstes
vorhat. Dreimal habe er schon eingesessen. „Wegen Autodiebstahl und so.“
Zweimal war der 28-Jährige in einem staatlichen Gefängnis, bevor er nach
Doncaster kam. Aber hier gefällt es ihm zweifellos „viel besser“. Im staatlichen Gefängnis habe er die meiste Zeit in seiner winzigen Zelle verbracht,
im Privatknast seien die Gefangenen mindestens elf Stunden am Tag draußen. Und wer sich gut verhalte, bekäme mit Glück einen Job, wie er als
„Buddy Volunteer“. Ein paar Stunden am Tag gibt er seinen Mitgefangenen Tipps für die Zeit nach der Haft.
Eine Ausnahme: Anspruchsvollere Jobs sind auch in privaten Gefängnissen
Mangelware. In Doncaster putzen Häftlinge Aufenthaltsräume oder helfen
in der Küche. Im größten Arbeitsraum sitzt eine Hand voll Männer vor
Computern. Einige studieren Lernprogramme. In einer Ecke hocken sieben Gefangene um einen niedrigen Tisch und verpacken schweigend Teebeutel in Plastiktüten, gegenüber hantieren zwei an einer Druckmaschine.
In einer separaten kleinen Werkstatt schrauben fünf junge Männer an
Motoren. Die Warteliste für den Kurs ist lang. Für 366 der 1120 Gefangenen gibt es in Doncaster Jobs. Irgendeinen. Der Rest habe die Chance,
sich fortzubilden, heißt es. De facto vertrödeln die meisten jedoch den Tag
und hängen mit Knast-Freunden ab. „Hier lassen einen die Wächter auch
mal in Ruhe“, sagt ein Gefangener und grinst.
Für den unabhängigen Experten Stephen Nathan liegt genau darin die
Gefahr: „Je mehr Zeit Häftlinge unbeschäftigt zusammen verbringen,
desto geringer ist die Chance ihrer Wiedereingliederung und desto höher
das Gewaltpotenzial im Gefängnis.“ Das Problem gibt es in jeder Haftanstalt. Aber in privaten Gefängnissen hält Nathan es für größer, weil es
zu wenig Personal gebe, und das sei auch noch schlecht ausgebildet.
McK Wissen 13
Seiten: 38.39
„Da haben die erfahrenen Gefangenen die unerfahrenen Wärter voll im Griff.“
Dass der Effizienzgedanke die Sicherheit in Gefängnissen beeinträchtigen kann, scheinen auch
Probleme mit Gewalt und überforderten Mitarbeitern zu belegen, die es in den von Premier
betriebenen Gefängnissen in der Vergangenheit
immer wieder gab.
Gewalt und gefälschte Dokumente
In der schottischen Haftanstalt Kilmarnock etwa,
die Premier betreibt, filmte kürzlich ein BBCReporter heimlich ungefilterten Knast-Alltag.
Einzelne Wärter mussten sich gleichzeitig um bis
zu 80 Gefangene kümmern. Es gab keine regelmäßigen Kontrollgänge, obwohl in Kilmarnock
immer wieder Gefangene Selbstmord begangen
hatten. Drogen- und Alkoholmissbrauch wurden
toleriert. Wärter fälschten Papiere und dokumentierten Kontrollgänge, die niemals stattgefunden
hatten. Und Kollegen, die von den Verstößen
wussten, schwiegen. Schon aus Eigeninteresse:
Premier kann von der staatlichen Aufsichtsbehörde mit Strafgeldern belegt werden, wenn es in
den Haftanstalten zu Verstößen wie Körperverletzungen, Drogenschmuggel oder Sicherheitsmängeln kommt. Weil das Gehalt der Mitarbeiter an
den wirtschaftlichen Erfolg des Gefängnisses
gekoppelt ist, unterbleibt in der Regel die Meldung von Missständen.
Klaus Tiemann, Geschäftsführer des deutschen
Serco-Ablegers, muss eine derartige Berichterstattung in Deutschland kaum fürchten. „Manchmal
bin ich froh, dass wir in Hünfeld nicht für den
Sicherheitsbereich verantwortlich sind“, meint er.
Großbritannien und Deutschland seien nicht
Direktor Rod MacFarquhar beim Rundgang
durch sein Gefängnis in Doncaster
zu vergleichen, „noch nicht“. Der 54-Jährige sitzt in seinem schlichten Bonner Büro und vermeidet angesichts des Vertrags mit dem Land Hessen
jeden Hauch eines auftrumpfenden Tonfalls. Ist ganz Diplomat. Bleibt
bescheiden. Und signalisiert mit jeder Faser Verständnis. „Deutschland tut
sich schwer, öffentliche Aufgaben an Private zu übertragen.“
Hünfelds Erfolg wäre ein erster Schritt – zu mehr Pragmatismus
Tiemann setzt dennoch darauf, dass Hünfeld der Startschuss ist, auf den
er so lange gewartet hat. Zwar nimmt die Firma mit ihren rund 1000 Mitarbeitern dem Staat schon seit einigen Jahren Arbeiten ab. In den Gebäuden
hinter Tiemanns Büro bilden Serco-Mitarbeiter beispielsweise IT-Fachleute
für die Bundeswehr aus, in Monheim am Rhein wird das Unternehmen bald
Schulgebäude und Sporthallen betreiben. „Doch nirgendwo geht die Einbeziehung der Privaten so weit wie in Hünfeld“, sagt Tiemann.
Mitte November soll der Probebetrieb mit 50 Gefangenen beginnen. So
sieht es der Vertrag vor. Die Vollbelegung ist für Ende Januar geplant. Zwei
Drittel der Mitarbeiter hat die Firma bereits ausgewählt. Und bezahlt sie
mit „marktüblichen Gehältern, wie es der Vertrag mit Hessen vorschreibt“,
sagt Tiemann. Lohn-Dumping gäbe es nicht. Kann Tiemann das Einstiegsgehalt beziffern? „Nein, das will ich nicht.“ Genauso wenig mag er sagen,
wie viele Verträge er bereits mit Werkstattbetrieben unterschrieben hat.
Serco ist vertraglich verpflichtet, 349 Gefangene sinnvoll zu beschäftigen,
in Werkstattbetrieben oder in der Küche, in einer Ausbildung oder einer
Therapie. Das entspricht rund 70 Prozent aller Häftlinge. Weit mehr als in
staatlichen Gefängnissen üblich ist. Immerhin, so die Begründung des Landes Hessen, sei Serco eine Firma, die sich bei der Akquisition leichter tue.
Tiemann sagt: „Auch wir stoßen hier in eine neue Welt vor. Ich würde gern
mal von anderen Justizvollzugsanstalten wissen, wie die das machen.“
Kann er sich vorstellen, Gefängnisse in Zukunft komplett zu betreiben?
„Als Staatsbürger“, sagt Tiemann, hätte er wahrscheinlich auch ein „Grundsatzproblem, wenn ein Privater für die Überwachung und die Sicherheit
von Gefängnissen voll verantwortlich ist.“ Als Manager könne er sich die
Übertragung hoheitlicher Aufgaben auf Private mittelfristig „sehr wohl vorstellen“. Doch jetzt solle man erst einmal ein paar Erfahrungen sammeln.
Danach gelte es, gemeinsam pragmatisch auf die jetzt gültigen Rechtsgutachten zu schauen, sagt Tiemann. „Ich könnte mir vorstellen, dass man
dann zu modifizierten Analysen kommt.“
Privatisierung und Public Private Partnership (PPP)
Bund, Länder und Gemeinden knausern angesichts leerer Kassen seit Jahren mit
Investitionen. Allein 2004 gingen diese Ausgaben bei den Kommunen, die
zwei Drittel aller öffentlichen Investitionen bestreiten, um acht Prozent zurück.
Stattdessen streben immer mehr Kommunen, aber auch Bund und Länder
Allianzen mit der Privatwirtschaft an, so genannte Public Private Partnerships
(PPP): Geplant, gebaut, betrieben und finanziert werden die Projekte von
Privat, allerdings im Auftrag des Staates. Der Staat wird Kunde – und
ist das finanzielle Risiko los. Das wirtschaftlichste Unternehmen bekommt
den Zuschlag – und danach nur so viel Geld wie vereinbart. Kosten
der Bau oder der Betrieb mehr als erwartet, muss nicht der Staat, sondern die
Firma die Verluste wettmachen. Verzögert sich die Inbetriebnahme
oder kann der Private die vereinbarten Standards nicht einhalten, muss er
Strafe zahlen.
Wie teuer ein Geschäft im Auftrag des Staates werden kann, erfährt seit
September 2003 der Betreiber des privat gebauten Warnowtunnels in Rostock.
Autofahrer, die einen kilometerlangen Umweg und mögliche Staus vermeiden
wollen, müssen für die Fahrt zwischen zwei und 15 Euro bezahlen. Weil
jedoch weniger Autofahrer den Tunnel nutzen, als in der Kalkulation unterstellt,
ist er ein erhebliches Verlustgeschäft.
Dennoch steuert die Bundesregierung PPP-Projekte an, um den Neu- und Ausbau
von Autobahnen und Bundesstraßen voranzutreiben. Allein fünf AutobahnProjekte, die das Bundesverkehrsministerium als vorrangig einstuft, sollen den
Unternehmen noch in diesem Jahr ein Auftragsvolumen von rund einer
Milliarde Euro bescheren. Länder spekulieren auf die kostengünstigere
Bereitstellung von Gefängnissen, Kommunen wollen mit Hilfe von Privaten vor
allem Schulen, Rathäuser und andere Verwaltungsgebäude in Schuss bringen.
Die Europäische Investitionsbank, die seit Jahren PPP-Projekte in
Großbritannien, Portugal, Spanien, Griechenland und Dänemark mit Krediten
unterstützt, rechnet mit Einsparungen von zehn bis 20 Prozent – wenn private
Unternehmen die Leistungen über den ganzen „Lebenszyklus“ einer
Investition hinweg übernehmen, also für die Dauer von 20, 25 oder 30 Jahren.
Immobilien-Management
McK Wissen 13
Seiten: 40.41
6
Auf Schatzsuche
Rund drei Millionen Wohnungen in Deutschland gehören der öffentlichen Hand. Ein Schatz – besonders jetzt,
wo die Konjunktur für Wohnimmobilien angesprungen ist. Leider nur theoretisch.
In der Praxis gehen den öffentlichen Kassen durch Missmanagement pro Jahr bis zu drei Milliarden Euro verloren.
Höchste Zeit für neue Konzepte.
Seit der Mensch sesshaft ist, hat es eine besondere Bewandtnis mit
seiner Behausung. Sie steht nicht nur für Schutz vor Witterung und
Unwägbarkeiten, sondern auch für Identität, Wünsche, Status. Sie ist
essenziell. Zahlen belegen das: 44 Prozent ihres Privatvermögens haben die
Deutschen in Immobilien angelegt – aber nur 16 Prozent beispielsweise in
Aktien und Pensionsrückstellungen.
Obwohl das Dach über dem Kopf ein knappes Gut ist, kann es deshalb
nicht wie eine gewöhnliche Ware gehandelt werden. Hier zu Lande noch
weniger als anderswo. Denn nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs sahen öffentliche Hand und Unternehmen im Wohnungsbau eine
soziale Aufgabe von höchster Priorität. Heute besitzen Kommunen, Bund
und Länder rund drei Millionen Wohnungen. Sie sollen die Grundversorgung der Bevölkerung mit erschwinglichem Wohnraum sicherstellen. Eine
riesige Aufgabe.
Doch die wird schlecht gemanagt. „Die öffentlichen Wohnungsunternehmen sind ein Sanierungsfall“, heißt es in einer Studie von McKinsey &
Company. Während die erfolgreichsten privaten Unternehmen im Jahr
2002 durchschnittlich 5,7 Prozent Rendite aus ihrem Wohnungsbesitz
erwirtschafteten, waren es bei den kommunalen gerade einmal 2,6 Prozent,
errechneten Peter Sander und Stefan Krausch, die Autoren der Studie. Viel
zu wenig, angesichts tiefroter Haushalte und einschneidender Kürzungen
gesellschaftlich wichtiger Budgets, etwa bei Erziehung und Bildung.
Wohnimmobilien sind das neue Objekt der Begierde
Bis zu drei Milliarden Euro zusätzlich könnten die Kommunen jährlich
gewinnen, den Ertrag aus ihrem Besitz mehr als verdoppeln, würden sie
ihre Liegenschaften professioneller bewirtschaften, glauben die Unternehmensberater. Schon mit einem aktiven Management der Mieten – der
flexiblen Anpassung der Mieten an das Marktniveau und einer effizienten
Verfolgung von Mietrückständen – ließe sich rund eine Milliarde Euro
mehr einspielen.
Deutlich mehr könnte bei den Kosten eingespart werden: Allein eine marktgerechte Instandhaltungsstrategie und optimierte Beschaffungskosten (etwa
durch gepoolte Handwerkerleistungen) brächten mehr als eine Milliarde
Euro. Bessere Verwaltung, also straffere Prozesse und sinkende Personalkosten wären für rund 300 Millionen gut, etwa 200 Millionen Mehrertrag
wäre durch professionelle Verwaltung der Leerstände und schnellere
Neuvermietung zu erwarten, noch mal mindestens
100 Millionen gewännen die Unternehmen mit
einem optimierten Einkauf von Material. „Das
sind eigentlich zwingende Maßnahmen, bei der
gegenwärtigen finanziellen Notlage der Gemein- Bevorzugte Anlage
den“, sagt Peter Sander, Partner bei McKinsey Am liebsten investieren Deutsche ihre Ersparnisse in Immobilien.
in Frankfurt.
Und aus Beratersicht doch nur der erste von drei Privates Anlagevermögen, Deutschland 2002 (in Prozent)
Schritten. Sander und Krausch empfehlen, dass 100 Prozent = zirka 8,4 Billionen Euro
die Gemeinden anschließend auch einzelne Wohnungen an Mieter oder Investoren verkaufen sollten. Danach gelte es, die Immobilien-Portfolios zu
segmentieren und die besten Teile gezielt auf den
Langlebige
Markt zu bringen. Durch einen solchen TeilverGebrauchsgüter
kauf könnte noch mehr Geld in die Kassen der
Kommunen kommen, weit über die drei Milliarden
Immobilien*
12
Euro hinaus, die sich durch Verbesserung der
laufenden Bewirtschaftung erzielen ließen.
Versicherungen
Die Zeit ist reif – nicht nur, weil das Geld an
12
anderer Stelle fehlt. Anders als in der Vergangenheit sind Wohnungen neuerdings auch bei
44
Immobilien-Investoren begehrt. Vor allem die
Fonds wenden sich vom Büro- und Gewerbe16
markt ab und den Wohnimmobilien zu.
Bis vor einigen Jahren interessierten sie sich fast
Bargeld,
ausschließlich für Gewerbeimmobilien, weil sich
Sichteinlagen
16
in diesem Markt ansehnliche Renditen erwirtschaften ließen. Neue Konzernzentralen und Konsumtempel formten deshalb die modernen StadtWertpapiere,
landschaften, in Berlin-Mitte, Frankfurts City oder
Pensionsrückstellungen
am Hamburger Hafen. Wo nicht gebaut werden
konnte, wurde umgenutzt. Doch mittlerweile hat
sich der Trend gedreht. Hunderttausende Quadratmeter Büroraum finden keine Mieter mehr. In
Schätzung Bulwien
manchen Innenstädten sind halbe Straßenzüge *Quelle:
Bulwien, Bundesbank, McKinsey
ausgeschrieben. Büroraum stellte sich als stark
zyklisches Geschäft heraus. Stiegen die Mieten
vor wenigen Jahren an besonders attraktiven
Immobilien-Management
Standorten noch mit Raten von bis zu 30 Prozent jährlich, so sinken sie
heute teilweise dramatisch. Mit ihnen fallen die Erträge – während sie bei
Wohnimmobilien steigen.
Für Investoren war der Wohnmarkt lange wenig interessant. Jetzt erkennen
institutionelle Anleger in Wohnimmobilien das neue Objekt der Begierde.
Großinvestoren wie die angloamerikanischen Fondsgesellschaften Cerberus,
Fortress, Lone Star, Apellas und Terra Firma gehen neuerdings in Deutschland auf Einkaufstour. Allein im vergangenen Jahr, so schätzen Marktanalytiker, investierten internationale Fondsgesellschaften rund drei Milliarden
Euro in deutsche Wohnimmobilien. So kaufte ein US-Konsortium von
Cerberus Capital Management und Whitehall Funds vom Land Berlin die
Gemeinnützige Siedlungs- und Wohnbaugesellschaft GSW mit gut 65 000
Wohnungen – und schaut sich in Berlin nach weiteren Immobilien-Portfolios um. Der Immobilienfonds der US-Bank Morgan Stanley übernahm
im Bündnis mit der nordrhein-westfälischen Corpus Immobilien Gruppe
die 48 000 Wohnungen der ThyssenKrupp Wohnimmobilien GmbH. Und
im Mai dieses Jahres kaufte die Deutsche Annington, eine Tochter der
britischen Private-Equity-Gesellschaft Terra Firma Capital Partners, für
sieben Milliarden Euro die E.ON-Immobilientochter Viterra, der mehr als
150 000 Wohnungen gehören.
Neubau ist nicht mehr Aufgabe der Kommunen
Die Investitionen versprechen gute Geschäfte. Zwar beträgt die durchschnittliche Rendite von Wohnimmobilien in Deutschland magere 4,2 Prozent – während sie in Großbritannien bei 9,7 Prozent, in Frankreich bei
8,6 und in Spanien bei 8,3 Prozent liegt. Doch die Rahmenbedingungen
sind günstig. Mieteinkommen generieren stabile Cashflows, die Zinskosten
sind niedrig – also können Investitionen billig fremdfinanziert werden. Und
trotz rückläufigem Bevölkerungswachstum wird die Nachfrage in den kommenden 15 Jahren steigen. Schätzungsweise zwei Millionen neue Haushalte
werden bis 2020 ein Zuhause suchen.
Zwar stehen in den neuen Bundesländern 1,2 Millionen Wohnungen dauerhaft leer, meldete vergangenes Jahr der Bundesverband deutscher Wohnungsunternehmen und forderte stärkere Abriss-Zuschüsse für den Stadtumbau Ost. Doch in den Ballungsräumen München, Hamburg, Stuttgart,
Frankfurt am Main und Düsseldorf/Köln ist der Markt angespannt.
McK Wissen 13
Seiten: 42.43
Getrieben wird der neue Boom nicht etwa vom
Luxus-Segment. Auch die Fonds legen sich zunehmend Portfolios mit Wohnungen von eher
bescheidener Ausstattung zu.
Angesichts der Prognosen wundert es nicht, dass
die Studie der McKinsey-Berater auf ein geteiltes
Echo stieß und bis heute kontrovers diskutiert
wird. Bei vielen Lokalpolitikern fand sie durchaus Zuspruch und weckte den Wunsch nach
einer schlüssigen Strategie für das Management
der Immobilien. Widerspruch hingegen gab es
erwartungsgemäß bei den Wohnungsunternehmen der öffentlichen Hand. Lutz Freitag beispielsweise, Präsident des Bundesverbandes deutscher
Wohnungsunternehmen, stellte das schlechte
Management in Abrede. Nicht 2,6 Prozent Rendite erwirtschafteten die 740 öffentlichen Unternehmen seines Verbandes, sondern 4,8 Prozent
im Westen und immerhin vier Prozent im Osten.
Die Differenz zu den McKinsey-Zahlen erklärt
sich aus der Datenbasis. Die Kommunalen rechneten mit Ertrag im Verhältnis zum Buchwert,
McKinsey stellte, marktorientierter, den Verkehrswert in Rechnung. „Wir haben private und öffentliche Unternehmen nach genau den gleichen
Kriterien verglichen und die Zahlen auch 2005
überprüft“, sagt Sander. „Die Rendite-Differenz
hat sich erneut bestätigt.“
Bedeutender scheint ihm der Einwand von
Heinz-Werner Götz, dem Direktor des Verbandes
bayerischer Wohnungsunternehmen. Es sei Aufgabe der öffentlichen Hand, argumentiert Götz,
einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen
preiswerte Wohnungen anzubieten. Investoren
aber suchten sich ihre Mieter eher bei den Kaufkräftigen. „Die soziale Rendite für die Kommunen bleibt in der Studie außen vor“, sagt Götz.
„Traditionell ist das soziale Argument ein wichtiges und richtiges, nur ist
die Epoche des Wiederaufbaus zu Ende“, hält Sander dagegen. „Wir haben
heute eine Sättigung mit Wohnraum.“ Der Wohnungsneubau sei nicht
mehr Aufgabe der Kommunen, eine direkte Unterstützung der Bedürftigen
wirtschaftlich und sozial effektiver.
Zum Komplettverkauf ganzer Portfolios an attraktiven Standorten raten die
McKinsey-Experten ohnehin nur, falls andere Strategien versagen. Oft sei ein
sozialverträglicher Einzelverkauf attraktiver – nach dem Beispiel der Berliner GSW etwa, die bereits 1996 begonnen hat, Teile ihres Portfolios den Mietern und anderen privaten Interessenten anzubieten. 4500 Wohnungen in
Spandau und Wedding sind auf dem Markt. Dabei gelte laut GSW ein strenger „Privatisierungskodex“, der den Mietern umfangreiche Rechte einräume.
Wohnungen als Verlustbringer
Angesichts niedriger Zinsen ist der Erwerb ihrer Wohnung für viele
Mieter zurzeit eine verlockende Lösung, auch mit Blick auf die Altersvorsorge. Es profitieren aber auch die Investoren, wenn Teile ihres Bestands
in private Hände wechseln. Wohngegenden mit privatisierten Wohnungen
„sind besser gemischt, in der Zusammensetzung stabiler, mithin weniger
Fluktuationen ausgesetzt, und die Wohnungen werden pfleglicher behandelt“, sagt Sander. Kurzum: „Sie sind ein besseres Lebensumfeld.“ Damit
steigt die Zufriedenheit der Mieter – und die erzielbare Miete.
Genau diese Entwicklung fürchten Mieter wie Kommunen. Zu Unrecht –
die Verteuerungen werden maßvoll ausfallen. „Wir reden hier über Wohnungen zum Mietpreis von um die fünf Euro pro Quadratmeter und über
eine Erhöhung um rund 50 Cent“, sagt Peter Sander. Bei Immobilien mit
eher niedrigem Standard kommen Luxussanierung oder Mietspekulation
ohnehin kaum in Frage – die Wohnungen fänden keine Klientel. Zudem
schreiben viele Gemeinden, etwa in Berlin, beim Verkauf in der Regel
soziale Klauseln in die Verträge.
So bleiben am Ende wenig gute Argumente für einen Widerstand von
Kommunen. Stattdessen steigt der Druck: Nach einer Stichprobe bei
30 Prozent des öffentlichen Wohnungsbestandes können die Eigentümer
oft nicht einmal die Kapitalkosten operativ einspielen. Von Rendite kann
erst recht keine Rede sein – die Kommunen sind dabei, sich weiter zu verschulden. Höchste Zeit, die versteckten Schätze endlich zu heben.
Viel Spielraum für Verbesserungen
Ein professionelleres Management könnte den öffentlichen Kassen bis zu drei Milliarden Euro Mehreinnahmen pro Jahr bringen.
Etwa ein Drittel der institutionell bewirtschafteten
Wohnungen in Deutschland befinden sich in kommunaler Hand …
Anzahl der Wohnungen in Millionen (geschätzt)
… der finanzielle Erfolg ist jedoch gering.
Bewirtschaftungsrendite in Prozent
Private
Unternehmen
4,4
5,7
Bestes Viertel der
Unternehmen
6,6
9,6
~ 3,1
3,0
Institutionell
bewirtschaftete
Wohnungen
Private
Unternehmen
Kommunen*
* Inkl. Bestände von Bund und Ländern (ca. 0,4 Mio.)
Quelle: Unternehmensangaben, DID/DIX, HSH Nordbank, GdW, McKinsey
Kommunen*
2,6
Renditelücke von
bis zu drei Milliarden
Euro gegenüber
den besten privaten
Unternehmen
Essay
Text: Paul Nolte
McK Wissen 13
Seiten: 44.45
7 Staatsweh
Warum wir auf den alten Staat nicht verzichten wollen und ihn dennoch neu denken müssen.
Ein Essay von Paul Nolte, Professor für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin.
I.
Ist der Staat mit seinem Latein am Ende? Wenn man auf die Schlagzeilen der vergangenen
Monate blickt und die Stimmung im Lande betrachtet, könnte man dieser Meinung durchaus sein. Die
Zielstrebigkeit der politischen Planung scheint den staatlichen Organen ebenso abhanden gekommen
zu sein wie die Fähigkeit, Entscheidungen rational und effizient zu treffen und dann auch zielstrebig
und konsequent zu implementieren. Während sich all dies stattdessen in Widersprüchen und Blockaden verheddert, sinkt das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die staatlichen Institutionen, in ihre
Seriosität und Erneuerungsfähigkeit. Was kann der Staat überhaupt noch steuern, auf welche Aufgaben darf er nicht verzichten, und wovon sollte er sich besser trennen?
Doch zeigt sich, andererseits, sehr schnell eine eigentümliche Diskrepanz zwischen der Einsicht in die
verringerte Steuerungsfähigkeit des Staates und den keineswegs verminderten Erwartungen, die dem
Staat als Agentur der Bereitstellung von Leistungen für den Bürger, als public services provider,
entgegengebracht werden – und kaum irgendwo ist diese Diskrepanz so weit wie in Deutschland. Überhaupt und im Allgemeinen kann man sich relativ leicht darauf einigen, dass die Effizienz und Gerechtigkeit staatlicher Leistungen nüchterner Prüfung bedürfen, ja vielleicht sogar darauf, dass das Zeitalter
des all-zuständigen Staates seinem Ende entgegengeht. Doch im nächsten Moment geht ein heller Aufschrei durch das Land bei der Vorstellung, einige Brücken und Tunnel würden privatisiert und künftig
eine Nutzungsgebühr erfordern. Und wieder eine Stunde später bucht man sich einen Billigflug in den
Süden und entrichtet genau jene Gebühr für die Inanspruchnahme einer Infrastrukturleistung, die vorhin noch den Untergang des Abendlandes heraufbeschwor, mindestens aber als unverschämte Abzocke
und Baustein der perfiden Ökonomisierung aller Lebensbereiche galt.
Die Bürger sind anscheinend so rätselhafte Wesen wie der Staat, über den sie klagen und nach dem sie
doch immer wieder rufen. Neuerdings ertönt dieser Ruf sogar wieder lauter, denn irgendjemand
scheint ja die Verantwortung tragen zu müssen angesichts eines verschärften internationalen Wettbewerbs, angesichts enger werdender fiskalischer und sozialpolitischer Handlungsspielräume, angesichts
der ökonomischen Strukturkrise. Sogar neue Felder, neue Aufgabengebiete staatlicher Intervention
werden erschlossen, wo es um lange vernachlässigte gesellschaftliche Defizite geht: von der Bildung bis
zur Kinderbetreuung, von der richtigen Ernährung und Lebensweise bis zum Konsumentenschutz.
Denn Staatsverachtung hin, Klagen über die Bürokratie her. Funktioniert er nicht immer noch leidlich
gut, unser Staat? Verlässlich und regelmäßig, überwiegend frei von Korruption, berechenbar auch in
seinen kleineren Schwächen?
Diese Feststellung muss man sogar ganz ohne Ironie treffen: Ein leidlich funktionierender Staat, eine
leistungsfähige öffentliche Verwaltung – das sind fragile Errungenschaften, von denen nicht wenige
Menschen rund um den Globus angesichts der Auflösung öffentlicher Ordnung, angesichts von failing
states nur träumen können. Der moderne Staat, so hätte es der große Soziologe Niklas Luhmann
gesagt, ist eine evolutionäre Unwahrscheinlichkeit ersten Ranges.
In dieser Situation haben wir uns in den vergangenen Jahrzehnten recht bequem eingerichtet – seit die
großen Utopien über die Zukunft des Staates nicht Realität geworden oder an der Realität gescheitert
sind. Die eine Seite markiert die Utopie vom Verschwinden, vom Absterben des Staates, wie sie auf der
Linie von Marx und Engels bis zu Lenin, oder auf der von Frühsozialismus und Anarchismus, verfolgt
worden ist. Wenn überhaupt, dann sollte Staatlichkeit sich auf bloße Verwaltung von Dingen reduzieren und den Charakter der Herrschaft über Personen ablegen. Aber dabei hat die Herrschaft nur einen
Funktioniert er nicht immer noch leidlich gut, unser Staat?
Verlässlich und regelmäßig, überwiegend frei von
Korruption, berechenbar in seinen kleineren Schwächen?
Formwandel erlebt, und die Verwaltung ist hypertrophiert. Die andere Seite bezeichnet die Anti-Utopie von der unaufhörlich ausgreifenden, am Ende alle individuellen Freiheitsspielräume erstickenden
Staatsmacht – vom Staat als Orwellschem „Big Brother“. Auch wenn es in der jüngeren Geschichte der
Bundesrepublik manche paranoide Vorstellungen gab, die uns unmittelbar in solche Zustände eintreten sahen – etwa im Zusammenhang mit der letzten Volkszählung der achtziger Jahre –, ist dieses
Extrem doch ebenso wenig eingetreten wie sein Gegenteil. Und genau daher rührt auch unser ambivalentes Unbehagen gegenüber der Macht von Staat und Verwaltung. Die großen Hoffnungen und
schlimmen Befürchtungen haben sich erledigt, der Staat ist stattdessen in einen schwer definierbaren
Zwischenraum eingetreten, ist weder Fisch noch Fleisch.
Essay
Text: Paul Nolte
McK Wissen 13
II.
Die Geschichte des vergangenen Jahrhunderts ist, aus der Vogelperspektive und im Zeitraffer gesehen,
eine Geschichte der Emanzipation des Individuums, der persönlichen Freiheitsgewinne gewesen. Und
viele dieser Freiheiten sind nicht dem Staat, nicht der Obrigkeit, nicht einer allmächtigen Verwaltung
abgerungen worden, sondern haben sich in eigentümlicher Symbiose mit einem expandierenden Staat
entfaltet. Das gilt im kontinentalen Europa, und zumal in Deutschland, noch mehr als anderswo. Zwar
hat der Staat seinen Bürgern in den Übergängen von Obrigkeitsstaat, Monarchie und Diktatur zur
Demokratie immer auch etwas zurückgegeben. Aber davon blieb der Ausbau staatlicher Regulierung,
staatlicher Institutionen, staatlicher Kompetenzen in immer mehr Teilbereichen des Lebens unberührt.
Aus bloßen Untertanen wurden Bürger, aber eben auch Staats-Bürger mit Wahlrecht und Partizipationschancen – und zugleich Steuerbürger, die dem Staat finanziell immer stärker verpflichtet wurden.
Die Enttäuschungen über das Versagen des Staates,
über Versprechen, die nicht mehr eingelöst werden
können, sind nur die Kehrseite der eigenen, überzogenen
Erwartungen von einst.
Die Gegenleistung des Staates bestand und besteht in der Bereitstellung von kollektiven Gütern wie
Sicherheit (physische wie soziale) oder Bildung oder Infrastruktur und in staatlich gewährten Freiheitschancen der Bürger.
Aber die Symbiose von Freiheit und Staatlichkeit reichte noch weiter und in ganz andere Bereiche
hinein: nicht zuletzt auch in die Ökonomie, in Prosperität und Massenwohlstand des 20. Jahrhunderts.
Ganz besonders nach 1945 erhöhte die Kombination von Massenwohlstand und Wohlfahrtsstaat
Seiten: 46.47
die Glaubwürdigkeit von Demokratie und offener Gesellschaft; das Wirtschaftswunder bildete die
Legitimationsgrundlage, wie Politikwissenschaftler sagen, des neuen Staates. Die Konsum- und Überflussgesellschaft des 20. Jahrhunderts ist nicht jenseits des Staates, nicht losgelöst von staatlichen
Leistungen erfolgreich geworden, nicht in der klaren Abgrenzung der bürgerlichen Autonomie des
Wirtschaftens vom Staat. Sondern sie florierte im Zusammenspiel mit dem Staat, ja sogar mit massiver staatlicher Unterstützung. Dazu zählte nicht nur der sozialstaatliche Ausbau, sondern auch der
Versuch einer staatlichen Ordnung der Wirtschaft – in einem weiten Spektrum, das von der Setzung
von Rahmenbedingungen bis zu direkter Intervention und Unternehmertätigkeit des Staates reichte. Hier
zieht sich in der Bundesrepublik eine Linie vom Ordoliberalismus der frühen Begründer der sozialen
Marktwirtschaft bis zum Keynesianismus seit den sechziger und siebziger Jahren. Denn dessen Instrumente wie das deficit spending, die Forcierung von Staatsausgaben auf Kredit in Zeiten der Krise,
verfolgten nie bloß ökonomische Ziele. Im Vordergrund stand vielmehr das Bemühen, die Handlungsfähigkeit des Staates gegenüber seinen Bürgern zu unterstreichen und diese Bürger auch in schlechteren
Zeiten durch staatliche Wohltaten bei Laune zu halten.
Und in einer weiteren, dritten Dimension sind individuelle Freiheitsspielräume und staatliche Durchdringung eine enge Verbindung eingegangen – wenn auch, wie inzwischen deutlich wird, auf eine
durchaus trügerische Weise. Denn die staatliche (oder doch: kollektivierte, quasi-staatliche) Absicherung
von Lebensrisiken ermöglichte erst jene beispiellose Individualisierung der Gesellschaft, die ebenso wie
Demokratisierung und Massenkonsum zum Erkennungszeichen der Epoche geworden ist. Häufig
gewährleistet der Staat mit seinen sozialen Leistungen diese Individualität materiell und ganz konkret:
Menschen können in Notlagen ein eigenes Leben führen, statt sich in Abhängigkeit von anderen
begeben zu müssen. (Paradoxerweise wird dann aber, Stichwort Hartz IV, die Abhängigkeit vom Staat
beklagt!) Generationelle Abhängigkeit, etwa in der Beziehung von Eltern und Kindern, hat den Charakter notwendig lebenslanger Verpflichtung ein Stück weit verloren. Trennungen von Paaren, von
Eltern sind einfacher geworden, nicht nur wegen eines veränderten Scheidungsrechts, sondern auch weil
der Staat in vielfältiger und komplizierter Weise für die finanziellen Konsequenzen solcher Entscheidungen mit eintritt, sie auffängt und abfedert.
Man muss diese Mechanismen verstehen, um erahnen zu können, warum wir uns mit der Wertschätzung der Freiheit – vielleicht auch: dem Risiko der Freiheit – außerhalb staatlicher Absicherung schwer
tun, in Deutschland schwerer als anderswo. Aber eine nüchterne Analyse dieser Mechanismen zeigt auch,
dass sie das staatliche Handeln häufig an die Grenze seiner Leistungsfähigkeit und manchmal darüber
hinaus geführt haben. Die Enttäuschungen über das Versagen des Staates, über Versprechen, die nicht
mehr eingelöst werden können, sind dann nur die Kehrseite der eigenen, überzogenen Erwartungen
von einst. Angesichts dieser Lage nach „mehr Staat“ zu rufen, führt nur tiefer in einen Teufelskreis
hinein.
III.
Die Sehnsucht nach der klaren, ordnenden und dabei stets sozial gerechten Hand des Staates – nach
der visible hand außerhalb der diffusen Unsichtbarkeit von Marktmechanismen! – produziert noch aus
anderen Gründen immer mehr Enttäuschungen. Dabei soll von den Enttäuschungen des politischen
Systems im engeren Sinne hier gar nicht die Rede sein, von Regierung und Parlamenten. Im alltäglichen
Handeln des Staates, in der Tätigkeit der öffentlichen Verwaltung gegenüber dem Bürger, sammelt sich
genügend Stoff an für lange Geschichten über gestörte Effizienz und wachsende Defizite in der Fähigkeit, kollektive Güter und public services bereitstellen zu können. Die geläufige Bezeichnung für diese
prekäre Schnittstelle lautet: Bürokratieproblem. Und entsprechend zahlreich sind die Klagen über
Inflexibilität, lange Entscheidungswege, über das nicht aufhören wollende Wuchern einer staatlichen
Verwaltung, die einen immer größeren Teil ihrer Kapazität darauf zu verwenden scheint, sich selbst in
Betrieb zu halten. Entsprechend populär, aber auch populistisch sind die politischen Vorschläge zum
Bürokratieabbau. Denn erneut liegt das Problem tiefer, und erneut sollten wir so ehrlich sein einzugestehen, dass hier nicht einfach dunkle Mächte walten, über deren Herkunft wir nichts wissen. Wie im
Falle der Konsumgesellschaft und des Sozialstaates haben sich die Bürger nämlich auch die Bürokratisierung und die Lähmung von öffentlichem Handeln zu einem guten Teil selbst eingehandelt.
Bürokratische Verfahrensweisen entstehen immer da, wo der Staat auf komplexer werdende Ansprüche seiner Bürger reagiert oder sich gegen solche Ansprüche versichern muss. Ein klassisches Beispiel
dafür sind Planungs- und Entscheidungsverfahren in der öffentlichen Verwaltung, die inzwischen
häufig, wenn es sich auch nur um ein halbwegs komplexes Vorhaben handelt, Zeiträume in Anspruch
nehmen, bei denen am Markt agierende Unternehmen längst Insolvenz anmelden müssten.
Auch dies ist in ganz besonderer, in geradezu extremer Weise ein deutsches Problem geworden. Die
Planung einer Straße oder einer Industrieansiedlung nimmt bis zum ersten Spatenstich nicht Monate,
sondern Jahre in Anspruch, bei einer größeren Bahntrasse oder einem Flughafen muss man in Jahrzehnten
rechnen, in denen kilometerweise Akten produziert werden. Mit der Schläfrigkeit irgendwelcher Beamter
hat das rein gar nichts zu tun. Es ist vielmehr die Folge institutioneller Mechanismen, die die Rechte
von Bürgern im Staat und gegen den Staat immer mehr aufgewertet und an Verwaltung und Justiz
verwiesen haben, statt sie im originär politischen Raum zu bearbeiten.
Dieser Mechanismus kann auf eine lange und stolze deutsche, zumal preußische Tradition verweisen,
wo man schon vor mehr als hundert Jahren wissen wollte, dass Freiheit und Sicherheit des Bürgers sich
eher in der Verwaltungsgerichtsbarkeit als in Parlament und Regierung manifestieren. Gerichte, Ämter
und Behörden sind mit viel gutem Willen zu Agenturen der bürgerlichen Selbstbehauptung gegen den
modernen Staat geworden, nicht selten auch zu Agenturen der Bearbeitung von Sankt-Florians-Interessen. Das aber wirkt nicht nur auf die Handlungsfähigkeit des Staates zurück, sondern auch auf die
Innovationsfähigkeit einer Gesellschaft. Und nicht zuletzt, wiederum paradox: Die Folgen der Sicherung individueller Bürgerinteressen tragen am Ende doch zur Enttäuschung der Bürger über staatliches
Handeln bei, statt sie zufrieden zu stellen. So arbeitet sich die Glaubwürdigkeitskrise des Staates gegenüber den Bürgern in eine Abwärtsspirale und verbindet sich mit einer Vertrauenskrise der Eliten, die
angeblich immer mehr „machen, was sie wollen“, obwohl die Handlungsspielräume dafür offensichtlich immer enger werden.
Natürlich ist das nicht die ganze Wahrheit, aber ein wichtiger Aspekt, weil er auf paradigmatische Weise
zeigt: Die Leistungen und Fehlsteuerungen des Staates und seiner Verwaltung sind nichts, was den
Bürgern fremd, äußerlich, gar feindlich gegenübersteht – sie sind mehr, als wir es häufig wahrhaben
wollen, ein Korrelat der bürgerlichen Gesellschaft und damit der privaten Erwartungen und Interessenlagen. Das gilt auch für die wachsenden Schwierigkeiten, zu definieren, was überhaupt „des Staates“ sei; anders ausgedrückt: wo die Grenzen des öffentlichen Sektors verlaufen sollen, in welcher Form
kollektive Güter bereitgestellt werden können und wie sich die Grenze zwischen öffentlich und privat,
auch: zwischen Staat und Markt, dabei verschiebt. Der Erwartung einer, wie es scheint, immer noch
überwiegenden Mehrheit von Bürgern an die möglichst umfassende staatliche Bereitstellung kollektiver
Güter steht eine eingeschränkte Zahlungsbereitschaft der Bürger gegenüber.
Man kann es auch so sagen: Die Bereitstellung von Leistungen durch den Staat, seien es Bildung,
Gesundheit oder Mobilität, wird weithin mit ihrer Kostenfreiheit gleichgesetzt. Dabei geht es häufig nur
darum, ein Abrechnungssystem, das der Steuern, durch ein anderes – etwa das von Gebühren – zu
ersetzen oder, realistischer, zu ergänzen. (Ein drittes Abrechnungssystem öffentlicher Leistungen ist,
das muss zumindest erwähnt werden, natürlich das der Kreditaufnahme, man kann auch sagen: der
prolongierten Zinszahlung.) Eine Kommerzialisierung von öffentlichen Gütern ist damit gar nicht
notwendig verbunden, auch nicht die Einführung von Wettbewerb oder eine Privatisierung im strikten
Sinne – das wäre erst ein nächster Schritt. Immer noch richten sich die Erwartungen der Bürger auf jene
stabilen Trennwände zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, zwischen Staat und Markt, die durch das
Verhalten der Bürger selbst porös werden. Wir sollten deshalb diese neuen Überlappungszonen lieber
kreativ erkunden – durchaus im Bewusstsein für den Wert öffentlicher Güter – statt sie mit (schein-)heiligem Zorn weit von uns zu weisen.
Essay
Text: Paul Nolte
McK Wissen 13
IV.
Früher waren wir einmal stolz darauf: Beim Aufstieg der öffentlichen Verwaltung, des Berufsbeamtentums, der bürokratischen Organisation an der Schnittstelle von Politik und Gesellschaft hat das
kontinentale West- und Mitteleuropa historisch eine führende, eine modellbildende Rolle gespielt. Wo
andere Regeln galten, etwa im angelsächsischen Modell der Verwaltung durch Rechtsprechung, auch
unter Heranziehung von Laien, da herrschte vermeintlich Rückständigkeit, und es schien nur eine
Frage der Zeit, bis sich überall das deutsche Bürokratiemodell durchsetzte. In mancher Hinsicht ist
diese Prognose durchaus zutreffend geworden, wie man an der Expansion und Professionalisierung des
US-amerikanischen öffentlichen Dienstes im 20. Jahrhundert ablesen kann. Aber eine völlige Angleichung ist keineswegs eingetreten, und schon deshalb ist es immer noch nützlich, in Deutschland
gelegentlich vom hohen Ross der Bürokratie herabzusteigen.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel war besonders erfolgreich damit, der Verwaltung durch Beamte zugleich
höhere philosophische Weihen zuteil werden zu lassen. Er entwarf zu Beginn des 19. Jahrhunderts das
Bild von der Bürokratie als dem „allgemeinen Stand“, also derjenigen Gesellschaftsklasse, die aufgrund
ihrer Objektivität und Neutralität in besonderer Weise dazu berufen war, als Sachwalterin und Durchsetzungskraft des Gemeinwohls zu fungieren – eines Gemeinwohls, das praktischerweise auch gleich
von ebendiesem Stand definiert wurde und das damit über den Ständen der bürgerlichen Gesellschaft
schwebte: also über den partikularen und egoistischen Interessen von Markt und Kommerz. Das war
die einflussreiche deutsche Antwort auf die Versuche des Revolutionszeitalters, das alte Ideal des
homogenen common good als bloß empirisches Produkt vorhandener Interessen zu verstehen oder es
gleich ganz aufzugeben. Mit manchen Resten dieser Vision schlagen wir uns bis heute herum, und dazu
zählt auch jene besondere Spannung zwischen dem gesellschaftlichen Gesamtinteresse (gleich „gut“) und
ökonomischen Interessen (gleich „böse“), die im deutschen Diskurs immer wieder ihre Rolle spielt.
Seiten: 48.49
Im Laufe der vergangenen 150 Jahre ist die Staatsverwaltung immer wieder zum Vorbild der effizienten Verwaltung und der Steuerung komplexer Systeme geworden – sogar in den Unternehmen. Als sich
im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in den Großunternehmen eigene Verwaltungsstäbe ausdifferenzierten und rasch wuchsen, hießen die dort tätigen Angestellten nicht zufällig oft „Privat-Beamte“. Und
als in den Unternehmen längst niemand mehr daran glaubte, die öffentliche Verwaltung zum Maßstab
eigener Personalorganisation und Problembearbeitung nehmen zu können, sollte wenigstens die
Gesellschaft nach Maßgabe des Staates geformt werden: Jene kühnen Vorstellungen von politischer
Planung und gesellschaftlicher Steuerung durch Administration, die in den sechziger und siebziger
Jahren des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichten, waren so etwas wie die letzte Konsequenz aus
der Hegelschen Sicht einer Verwaltungs-Avantgarde. Die öffentliche Verwaltung als höchste Ingenieursbehörde des Projektes Gesellschaft – das war damals eine übrigens gleichermaßen rechte wie linke
Utopie, an die aber schon bald (Mitte, Ende der siebziger Jahre liegt der Bruchpunkt) niemand mehr
glauben mochte. Seitdem fehlt der öffentlichen Verwaltung, so könnte man sagen, das mission statement, das sich die Unternehmen bald darauf selbstbewusst auf ihre Fahnen schrieben.
Mit einem Abstieg, mit einem Verfall, mit einer geschwächten Moral der Bürokratie und ihrer Beamten hat das höchstens nachrangig zu tun. Der Büroschlaf, das eher geruhsame Tempo, das Beharrungsvermögen nach dem Motto „Das war schon immer so – da könnte ja jeder kommen“, all das sind
schon viel früher Klischees der Beamtenwelt gewesen. In manchen Bereichen, wo die Arbeitswelt als
Schonraum eingerichtet wurde, wo Laufbahn und Anciennitätsprinzip über der Leistung standen, mag
die Mentalität des öffentlichen Dienstes in den vergangenen Jahrzehnten zusätzlich korrumpiert worden sein. Aber die Verwahrlosung der öffentlichen Verwaltung, wo es sie gibt, ist zumeist ein Spiegelbild jämmerlich verwahrloster äußerer Bedingungen. So fühlt man sich beim Betreten zahlloser Ämter
beliebiger deutscher Großstädte spontan in die Mitte der siebziger Jahre zurückversetzt und schaudert
bei der Vorstellung eines Unternehmens am Markt, das seine Mitarbeiter so vorsintflutlich und damit
auch ineffizient arbeiten ließe. Der Innovations- und Investitionsstau in der öffentlichen Verwaltung ist
in letzter Zeit wohl eher noch gewachsen, weil sich die Auszehrung materieller Ressourcen, die allgemeine Vernachlässigung öffentlicher Infrastruktur, überschneidet mit dem rasanten Technologiewandel
in Information und Kommunikation, der mit der Verwaltung Hase und Igel spielt. Auch kollidieren
klassische Prinzipien der Bürokratie wie Fachkompetenz, Regelgebundenheit und Verfahrensorientierung zunehmend mit den neuen Formen der flexiblen Organisation und Anwendung von Wissen, mit
der Bedeutung eines kreativen Chaos, das sich auf solche Regeln nicht zurückführen lässt.
Dennoch gibt es keinen Anlass zur Legendenbildung über die so wunderbar funktionierende Staatsverwaltung von einst. Sie trat dem Bürger oft feindselig gegenüber, als eine gänzlich unzivile Autorität,
als eine Obrigkeit, gegenüber der er duckenden Respekt zu bekunden hatte. Manchmal war sie nicht
nur dem Stile nach der verlängerte Arm militärischer Befehlsgewalt. Und wer heute über ein man-
gelndes Ethos der öffentlichen Verwaltung klagt, der sollte die definitive Bruchstelle des traditionellen
bürokratischen Geistes in Deutschland nicht vergessen. Sie wird markiert durch die Rolle staatlichadministrativer Eliten als demokratiefeindliche Kräfte in der Weimarer Republik und durch die pervertierte Übersteigerung dieses Ethos in der radikalen Weltanschauungsbürokratie des Nationalsozialismus. Kein Wunder, dass die Bundesrepublik, aber auf ihre Weise auch die DDR, auf dieses Trauma
mit dem Konzept einer entschärften, ethisch anspruchslosen Verwaltung reagierte, die sich selbst gegenüber unsicher, vielleicht sogar selbstironisch geworden war. Als die 68er ihren Marsch durch die Institutionen antraten und den öffentlichen Dienst für sich eroberten, erledigten sie nur noch die Reste
dieser Arbeit und perfektionierten das Ergebnis.
ohnehin durch outsourcing geschrumpftes Tätigkeitsfeld nach den Regeln einer Behauptung am Markt
bestellt. Ebenso wenig wird die Infusion eines neuen, diesmal weltumspannenden Ethos, unter so
schönen Bezeichnungen wie good governance die Probleme einer heterogener werdenden Staatlichkeit
lösen und sicher nicht jenseits des Marktes. Welchen Vertrag erwarten die Bürger überhaupt von
„ihrem“ Staat, und unter welchen Bedingungen sind sie bereit, einen öffentlichen Sektor mit Loyalität
und materiellen Zuwendungen zu unterstützen? Kann die Bürgergesellschaft staatliche Leistungen substituieren und kollektive Güter neu definieren, oder verschieben sich die Grenzen zwischen öffentlichem
und privatem Raum so, dass nur ein innerster Bereich unbedingter Staatlichkeit übrig bleibt – etwa mit
der Gewährung physischer Sicherheit, des viel zitierten „Monopols legitimer Gewaltsamkeit“ –, während die anderen Funktionen individualisiert oder an Wettbewerbsmärkten bereitgestellt werden können? Vieles ist jedenfalls komplizierter, als Gemeinplätze innerhalb der Debatte es wahrhaben wollen.
The floor is open for discussion.
V.
Seit geraumer Zeit schon erleben wir einen Staat, der sich und seinen Verwaltungsapparat permanent
verschlanken will. Über die selbst verordnete Diät hinaus geht es zugleich um einen Organisations- und
Mentalitätswandel: um den Weg zu einer Verwaltung als Service- und Dienstleistungsagentur für den
Bürger. Die Rathäuser und Ämter werden zu Bürgerserviceagenturen, neuerdings auch die Arbeitsämter zu Arbeitsagenturen. All das ist löblich, aber die Probleme des Staates reichen tiefer als bis zu der
Frage, ob mit dem Etikettenwechsel auch ein Wandel der Realität verbunden ist. Den Bürger als Kunden zu begreifen und zu behandeln statt als lästigen Bittsteller führt gewiss nicht in die falsche Richtung, aber doch nicht weit genug. Was ist, wenn der Bürger seine Rolle als „Kunde“ gar nicht spielen
möchte; was ist, wenn sich die auch in dem neuen Modell suggerierte Einheit eines „Anbieters Staat“
mehr und mehr auflöst?
Wir stehen erst ganz am Anfang einer tief greifenden Veränderung. Sie wird den Staat und seine
Verwaltung nicht abschaffen und auch nicht einfach in ein Unternehmen verwandeln, das sein
Paul Nolte ist Professor für Neuere Geschichte und
Zeitgeschichte an der Freien Universität Berlin.
Der 42-Jährige lehrte und forschte zuvor in Bielefeld
und Göttingen, an der Harvard University in den
USA und bis Mitte dieses Jahres an der International
University Bremen.
Als kritischer Begleiter des Zeitgeschehens ist er
auch publizistisch bekannt geworden.
Personal-Management
Text: Elisabeth Gründler
8
Stehen,
gehen,
laufen,
rennen
McK Wissen 13
Seiten: 52.53
Mit dem ZeP, dem Zentralen Personalüberhangmanagement, schuf das Land Berlin Anfang 2004
ein innovatives Instrument zum Umgang mit Personal im öffentlichen Dienst – gegen
erhebliche politische Widerstände. Eine erste Bestandsaufnahme gut ein Jahr nach der Gründung.
PROLOG: EINE STADT IM STAATSDIENST
Wer nach den Anfängen dieser Geschichte sucht, findet ein ganzes Knäuel
loser Enden. Eines davon führt zurück in das Jahr 1988. Wolfgang Suhrmann,
Diplomingenieur und selbstständiger EDV-Spezialist, entwirft ein Projekt zur
Rationalisierung des Bestellsystems der Schulen bei der Landesbildstelle. Die
Schulverwaltung ist begeistert, das Budget für einen Auftrag hat sie nicht. Sie
hat aber eine Planstelle. So wird Wolfgang Suhrmann Angestellter im öffentlichen Dienst in West-Berlin.
Beispiele wie diese ließen sich endlos aneinander reihen. Ende der achtziger
Jahre arbeiten in Berlin rund 175 000 Personen im unmittelbaren Landesdienst. 1991, nach der Wiedervereinigung, sind es fast 300 000 – die Bediensteten aus Ost und West waren zusammengelegt worden. Anders ausgedrückt:
Von den dreieinhalb Millionen Berlinern ist Anfang der neunziger Jahre etwa
jeder Elfte im öffentlichen Dienst des Landes tätig – Mitarbeiter von Krankenhäusern, Universitäten, Stiftungen und Bundesbehörden nicht eingerechnet.
Berlin hat ein Problem.
1.
VOM StPG ZUM ZeP
ZeP steht für „Zentrales Personalüberhangmanagement“ und ist
ein Novum, nicht nur in Berlin, sondern bundesweit. Das Land Berlin schuf
sich eine eigene Behörde, um sein Personal rational, effektiv und transparent
zu managen. Am 1. Januar 2004 nahm das ZeP seine Arbeit auf.
Der Weg dorthin war steinig, denn der Senat musste zunächst einmal eine
gesetzliche Grundlage schaffen. Es wurde erbittert gerungen, die Kampflinien verliefen quer durch die Fraktionen. Den Befürwortern des Gesetzes
ging es darum, ein modernes Steuerungsinstrument für die Bewältigung
des Personalüberhangs zu schaffen. Die Gegner, allen voran die Gewerkschaft Ver.di, sahen darin einen Verfassungsbruch, kritisierten den Abbau
von Personalvertretungsrechten und die Verletzung der Grundsätze des
Berufsbeamtentums. Sie kündigten Massenklagen und den Gang vor das
Bundesverwaltungsgericht an. Bislang vergeblich. Im November 2003 verabschiedete das Berliner Abgeordnetenhaus das neue Stellenpool-Gesetz,
StPG. Der Weg zum ZeP war geebnet.
2.
HAUPTSTADT IN NOT
Wie hatte es überhaupt so weit kommen können?, mag sich
mancher heute fragen. „Haushaltsnotstand“, lautete im November 2002
die knappe Antwort des rot-roten Berliner Senats, und das Problem war
– zumindest in Teilen – hausgemacht.
Im Gründungsfieber der frühen neunziger Jahre hatten Regionalpolitiker
und Landesbanker von einer permanenten Wertsteigerung der Berliner
Immobilien geträumt. Im Januar 2005 bezifferte Berlins Finanzsenator
Personal-Management
Thilo Sarrazin vor Grundstücksfachleuten die Altlasten, die er bei seinem
Amtsantritt im Januar 2002 vorgefunden hatte: Acht Milliarden Euro allein
aus dem sozialen Wohnungsbau und drei bis sechs Milliarden Euro aus der
Berliner Bankenkrise waren seine beiden größten Posten.
Daneben ächzte die Stadt unter Schulden aus grauer Vorzeit – und hatte
aufgrund ihrer traditionellen Sonderrolle ein Mentalitätsproblem. Zu Zeiten des Kalten Krieges hatte Berlin sich in einer privilegierten Lage befunden. Die „Hauptstadt der DDR“ sollte den Glanz des real existierenden
Sozialismus ausstrahlen, während das eingemauerte West-Berlin die Überlegenheit des Kapitalismus darzustellen hatte. Die Berliner Regierenden in
Ost und West mussten sich nie Sorgen um die Finanzierung ihrer Haushalte machen. Was im Osten „Hauptstadtversorgung“ hieß und erhebliche
Teile der wirtschaftlichen Ressourcen nach Berlin-Ost zog, waren im
Westen die so genannten „Zitterprämien“ – Lohn- und Gehaltszulagen, die
gezahlt wurden, um die Bevölkerung in der eingemauerten Stadt zu halten –, sowie direkte Subventionen aus dem Bundeshaushalt. Keine Bonner
Regierung hätte es sich leisten können, das Schaufenster des Westens
darben zu lassen.
So füllte der öffentliche Dienst als größter Arbeitgeber teilweise die Lücken, die die in den fünfziger und sechziger Jahren nach und nach aus der
isolierten Stadt abgewanderte Industrie gerissen hatte. An den stetigen
Geldfluss hatten sich Landesregierung und Verwaltung mehr als 40 Jahre
lang gewöhnt. Umso härter traf es sie, als Anfang der neunziger Jahre alle
Subventionen rigoros gestrichen wurden.
Unter der Last von insgesamt 35 Milliarden Euro Schulden sei eine solide
Haushaltspolitik auf Dauer nicht möglich, fand das Land Berlin und forderte deshalb eine Entschuldung durch den Bund. Die Klage beim Verfassungsgericht läuft. Ohne ein glaubwürdiges Konzept zur Haushaltssanierung hat Berlin jedoch wenig Aussichten, den Prozess zu gewinnen.
3.
McK Wissen 13
Text: Elisabeth Gründler
MEHR LEISTUNG MIT WENIGER MITARBEITERN
Die Regierung bemüht sich. Seit 1990 hat sich der öffentliche
Dienst in Berlin von rund 65 000 Mitarbeitern getrennt – über natürliche
Fluktuation, Altersteilzeit oder Vertragsauflösungen mit Prämienzahlung
– das entspricht knapp einem Drittel seines Personals. Wer bleiben
Seiten: 54.55
durfte, musste sich einschränken. In den vergangenen Jahren wurden die
Bezüge der Landesbediensteten um bis zu zwölf Prozent gekürzt. Doch
noch immer gibt das Land Berlin rund sieben Milliarden Euro jährlich für
Gehälter und Pensionen aus, jeden dritten Euro des gesamten Haushalts.
Der Personalabbau muss also weitergehen. Vor allem aber muss er besser
organisiert werden.
Bis 2003 sah der Prozess des allmählichen dezentralen Personalabbaus in
Berlin ungefähr so aus: Die Dienststellenleiter waren gehalten, Planstellen
zu identifizieren, die nicht ganz so dringend benötigt wurden. Diese Stellen wurden als „k.w.“ gekennzeichnet, als „künftig wegfallend“. Für die
betroffenen Mitarbeiter änderte sich einstweilen wenig, sie machten ihre
bisherige Arbeit weiter. Und deshalb gab es für ihre Dienststelle auch keinen Anreiz, die Arbeitsprozesse zu überprüfen und zu reorganisieren.
Genau das aber ist für den Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin die vordringliche Aufgabe. Sarrazin will mehr als sparen, er will eine schlanke,
effektive und bürgerfreundliche Verwaltung. „Bürgerinnen und Bürger müssen merken, dass sich Wege und Wartezeiten verkürzen und dass sich der
Service verbessert“, meint er. „Mit einem ,k.w.‘-Vermerk auf dem Papier,
hat sich noch nichts verändert.“
Am 1. Januar 2004 sorgte Sarrazin deshalb für Bewegung: Mit Inkrafttreten
des Stellenpool-Gesetzes erhielt das ZeP die Zuständigkeit für die Mitarbeiter, deren Position als „k.w.“ klassifiziert war.
4.
DEN ÜBERBLICK GEWINNEN
Bis 2003 war die Personalverantwortung im Land Berlin ausschließlich dezentral organisiert, in 48 einzelnen Dienststellen. Das war
sinnvoll, solange der bessere Überblick vor Ort auch zu einer besseren
Organisation des Personaleinsatzes führte. Seit 1990 führte der einstige
Vorteil kontinuierlich ins Chaos. Wie viele Mitarbeiter mit „k.w.“-Vermerk
gab es eigentlich im Land? Wer waren sie? Was konnten sie? Wo waren
sie nur beschäftigt – und wo wurden sie vielleicht dringend gebraucht?
Weil die Dienststellen nicht miteinander kommunizierten und die Daten
nirgends zentral erfasst wurden, ließ sich der Personaleinsatz unmöglich
steuern. Die Folge: An vielen Stellen fehlte Personal, das an anderer Stelle
überflüssig war.
ZeP IN ZAHLEN
Versetzungen ins ZeP
3394 bis zum 1. April 2005
Vermittlungen
74 aus dem öffentlichen Dienst
ausgeschiedene Überhangkräfte (z. B.
Prämie, Kündigung, Altersteilzeit)
158 Versetzungen auf verwaltungsinterne
Stellen
285 laufende Abordnungen mit dem Ziel
der Versetzung auf verwaltungsinterne
Stellen
44 Einsätze außerhalb der Verwaltung
159 Abordnungen gegen
Personalkostenerstattung
872 Vermittlungen in vom ZeP bewilligte
verwaltungsinterne Übergangseinsätze
1400 Rück-Abordnungen in die
Herkunftsdienststelle, davon etwa
45 Prozent mit neuem Aufgabengebiet
Das ZeP bildete den Ausweg aus dem Gestrüpp der dezentralen Verantwortungen. Wichtigstes Element darin: der Aufbau einer zentralen Datenbank.
Sie sollte in der neuen Behörde Transparenz für die Entscheider schaffen –
und Chancen für die Mitarbeiter mit „k.w.“-Vermerk. Denn wie sollten sie
sich auf frei gewordene, ausfinanzierte Stellen bewerben, wenn sie keine
Möglichkeit hatten, an die Informationen zu gelangen? Wolfgang Suhrmann zum Beispiel brauchte nur drei Tage, um sich nach der Zuordnung
zum ZeP seinen Traumjob aus dem Pool zu fischen: Seit dem 1. Dezember
2004 arbeitet der 62-Jährige in der Senatsverwaltung für Finanzen als Controller des privatwirtschaftlich als GmbH organisierten Gebäudemanagements des Landes Berlin. Genau das Arbeitsgebiet, auf dem er schon lange
aktiv werden wollte und für das er genau der richtige Mann ist.
5.
REIN IN DEN POOL, RAUS AUS DEM POOL
In Berlin haben sich die Tarifparteien im öffentlichen Dienst geeinigt: Einkommensabstriche gegen Arbeitsplatzgarantie bis Ende 2008. So
lange wird es keine betriebsbedingten Kündigungen geben, aber auch prinzipiell keine Neueinstellungen, außer in sehr speziellen, klar umgrenzten
Bereichen wie Schule oder Polizei. Wo immer sonst eine neue Stelle geschaffen wird, soll sie aus dem Stellenpool des ZeP besetzt werden.
„Wir haben gut ausgebildetes, qualifiziertes Personal und bringen es in die
richtigen Aufgaben“, erklärt Peter Buschmann, Direktor des ZeP. 3300
Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes umfasst der Pool heute – Beamte,
Angestellte und Arbeiter, die Bandbreite reicht vom Amtsleiter bis zur
Reinigungskraft. Sie werden von insgesamt 82 Mitarbeitern betreut, die
selbst aus dem Personalüberhang-Pool stammen. 20 von ihnen arbeiten als
Vermittler und sind jeweils für 150 Kollegen verantwortlich, die ihnen nach
Qualifikation und Status zugeordnet sind. Für die sollen sie neue Aufgaben
akquirieren, sie – falls nötig – qualifizieren und anschließend in die neue
Funktion einführen.
Anders als in den vergleichbaren Beschäftigungsgesellschaften der Deutschen Bahn oder der Deutschen Telekom sitzt beim Zep niemand untätig
zu Hause. Bei voller Bezahlung zum Nichtstun administriert zu werden ist
nicht nur den Betroffenen kaum zuzumuten, es lässt sich auch politisch
nicht vermitteln.
Im ZeP ist Flexibilität gefragt. Findet sich für einen Mitarbeiter der Behörde
nicht sofort eine neue Aufgabe, kann er bis auf weiteres in seine bis-
herige Dienststelle „rückabgeordnet“ werden. Umgekehrt muss jeder aber
auch damit rechnen, dass ihn das ZeP zu Übergangseinsätzen bei einer
anderen Dienststelle innerhalb der Berliner Verwaltung beordert, für die
Dauer von Wochen oder Monaten.
6.
DÜRFEN DIE DAS?
Kann der Staat einen Beamten zu einer Dienststelle versetzen,
deren einzige Aufgabe es ist, ihm eine neue Aufgabe zu verschaffen? Bisher
hatte keine staatliche Instanz es je versucht. Zwar gehört die Versetzung
innerhalb des Apparats durchaus zur gängigen Praxis, aber nur, wenn in
der neuen Funktion konkrete Aufgaben warten. Die neue Berliner Behörde
bedeutet einen radikalen Bruch mit der bisherigen Tradition.
Entsprechend heftig waren die Reaktionen der Personalvertretungen, als
Finanzsenator Sarrazin in der zweiten Hälfte des Jahres 2002 seinen Plan
vorlegte. Auch der Protest hatte inzwischen Tradition. Schon früher hatten
Berliner Regierungsvertreter ähnliche Pläne verfolgt – und waren stets am
anhaltenden Widerstand aus allen politischen Lagern gescheitert.
Von den betroffenen Mitarbeitern war naturgemäß keine Unterstützung zu
erwarten. „Personalüberhang“ – wer möchte schon dazu gehören? Der
Verlust des Arbeitsplatzes, auch wenn er wie im öffentlichen Dienst nicht
mit sofortigen Einkommenseinbußen einhergeht, ist bedrohlich. Schreckensvisionen über hoch qualifizierte Beamte, die zum Streichen staatlicher
Gebäude abgeordnet würden, heizten die Stimmung an. „Beamte als Anstreicher? Ver.di sauer“, titelte die Berliner Zeitung.
„Es war ein Paradigmenwechsel“, sagt Andreas Rudat, der die Idee von
Anfang an begleitete und heute als stellvertretender Direktor des ZeP und
Verantwortlicher für Controlling und Steuerung die Geschicke der jungen
Behörde mit lenkt. Als der Berliner Personal- und Verwaltungsfachmann
im November 2002 die Leitung des ZeP-Aufbaustabs übernahm, stand er
vor einer schwierigen Aufgabe: Er sollte eine Behörde aufbauen, für die es
bundesweit kein Vorbild gab und für die erst einmal die gesetzlichen Grundlagen geschaffen werden mussten.
Entsprechend akribisch wurde die Ausarbeitung des Gesetzestextes vorbereitet. Um spätere Klagegründe schon im Vorfeld auszuräumen, prüfte
der Aufbaustab kritisch alle verfassungs- und dienstrechtlichen Fragen und
holte zudem vorsorglich ein Rechtsgutachten ein. Die parlamentarische
Beratung sollte sich dennoch über ein Jahr hinziehen. Dann endlich, im
Sonderprojekte
125 Überhangkräfte in Ordnungsämter
vermittelt
280 Überhangkräfte in Job-Center
(Hartz IV) entsandt
Qualifizierungsmaßnahmen und
Spezialberatungen
302 Schulungen und Kurse mit insgesamt
1175 Teilnehmern
Geschätzte Personalkosteneinsparung
4 Millionen Euro vom 1.1. bis zum
31.12.2004
Personal-Management
Text: Elisabeth Gründler
Foto: Noshe
McK Wissen 13
Seiten: 56.57
Juni 2004, das Urteil der Verwaltungsrichter: Das Land Berlin hat mit dem
Stellenpool-Gesetz eine „abschließende Sonderregelung geschaffen“, die für
die Versetzungen ins ZeP eine Zustimmung des Hauptpersonalrates entbehrlich macht. Die Mitwirkungsrechte der Personalvertretung, so die Berliner Richter, seien durch die Mitsprache der Personalvertretungen der abgebenden Behörde ausreichend gesichert. Inzwischen haben Gesetz und
Verfahrensregeln erste Feuertaufen bestanden: Sie hielten jeder richterlichen Überprüfung stand. Fast alle Prozesse, die gegen die Versetzungen
ins ZeP angestrengt wurden, hat das Land Berlin bisher gewonnen. Die
Richter erklärten die „Rechtsfortentwicklung“, die das StPG dienstrechtlich leistet, für verwaltungs- und verfassungsrechtlich legal.
7.
AUFBAUEN UND ARGUMENTIEREN
Die juristische Anerkennung war wichtig – und unterstreicht die
Philosophie, auf der die neue Behörde gründet. Warum kommen so viele
Verwaltungsreformen, die wir in Deutschland anstreben, über kurz oder
lang zum Stillstand?, fragt McKinsey-Partner Markus Klimmer, der das
Berliner Projekt betreute. Weil die Behörden oft nicht wissen, wohin mit
ihrem Personal. Alle klassischen Instrumente wie Altersteilzeit, Vorruhestand oder Abfindungen sind schnell ausgeschöpft, die Menschen sind
aber da – und der Reformprozess gerät ins Stocken. Warum stattdessen
die Qualifikationen nicht nutzen? Zum Wohle der Mitarbeiter und der
Behörden? Und warum nicht Aufgaben suchen, die bislang unerledigt blieben und die für den Betroffenen eine sinnvolle Beschäftigung bedeuten?
Warum nicht weiterbilden, wenn für eine spezifische Aufgabe das Interesse
da ist, die Qualifikation aber noch fehlt? „Ein Stellenpool, der nur als
Kostensenkungsinstrument gedacht ist, muss ohnehin scheitern“, meint
Klimmer. Das ZeP sei mehr und deshalb auch nicht mit den mancherorts
üblichen Stellenbörsen im Intranet zu verwechseln. „Das ZeP ist ein aktives
Instrument der Personalentwicklung.“
McKinsey & Company hatte den Aufbaustab bei der Planung der neuen
Behörde beraten und unterstützt. Die Aufgabe war komplex: Während
das Gesetz im Parlament noch heftig debattiert wurde, musste das mögliche Ergebnis schon so weit vorbereitet werden, dass das ZeP mit dem
Inkrafttreten des Gesetzes seine Arbeit würde aufnehmen können. Es galt,
Abläufe und Verfahrensweisen zu beschreiben und zu definieren, For-
Es war ein mühsamer Weg dorthin, aber heute kann sich Berlins
Finanzsenator Thilo Sarrazin freuen, dass das Land Berlin mit der Schaffung des
ZeP beim Management von Personalüberhang „neue Standards gesetzt“ hat.
mulare vorzubereiten und das künftige Personal auszuwählen. Und das auf
einer Basis, die überaus schwammig war.
„Wir haben nächtelang Papiere für die politischen Entscheider geschrieben“,
erinnert sich Andreas Rudat an die Pionierphase. Für jede Eventualität mussten Argumentationslinien entwickelt werden, die nicht nur dem Kreuzfeuer
der parlamentarischen Auseinandersetzung standhalten sollten, sondern
auch den hitzigen Diskussionen innerhalb der Fraktionen. Zudem musste
der Rat der Bezirksbürgermeister überzeugt werden, der laut Berliner Verfassung am Gesetzgebungsverfahren beteiligt ist. Und der das Gesetz ebenfalls ablehnte.
Parallel zu all dem wurde die Datenbank entwickelt, ohne die das ZeP seine
wichtigste Funktion, Transparenz ins Überhangmanagement zu bringen,
nicht hätte erfüllen können. Darauf, dass das Herzstück der geplanten
Behörde termingerecht fertig wurde, ist Rudat besonders stolz. Wie auch
auf die Tatsache, dass der Aufbaustab mit dieser Leistung gleich Sinn und
Zweck des ZeP nachdrücklich beweisen konnte: Das Team, das die Datenbank schuf, war ausschließlich mit „Überhangkräften“ aus dem Stellenpool
besetzt. Die Spargrundsätze der Berliner Landesverwaltung galten auch für
die Pioniere.
Natürlich war die zentrale Datenbank nicht nur ein technisches, sondern
vor allem ein politisches Problem. Skeptiker sahen die Schutzrechte der
Angestellten des öffentlichen Dienstes bedroht, so wurde die politische
Diskussion auch zu einer juristischen. Am Ende konnte der Aufbaustab die
Bedenken des obersten Berliner Datenschützers Punkt für Punkt ausräumen. Keine Einwände, lautete das Fazit der abschließenden Prüfung. Also:
grünes Licht fürs ZeP.
8.
ZeP IN AKTION
Die Arbeit der neuen Behörde ist für die Berliner im Alltag
schon erkennbar. So wurden zum Beispiel ehemalige Dienstkräfte den neu
geschaffenen Ordnungsämtern zugeordnet und sorgen als „Kiezstreife“ in
Uniform für Ordnung im Stadtteil. Das ZeP hat die Auswahl der 300
neuen Ordnungshüter und ihre Qualifizierung an der Polizeischule organisiert und verantwortet: 140 kamen aus dem Stellenpool und wechselten
auf diese Weise in künftig ausfinanzierte Stellen. Zudem verfügte Finanzsenator Sarrazin, dass Überhangkräfte auf höheren Besoldungsstufen ohne
Einkommenseinbußen in die Kiezstreife wechseln können. 160 Mitar-
beiter wechselten danach von Nicht-k.w.-Stellen in die neue Aufgabe – die
Lücken, die sie in ihren alten Funktionen hinterließen, werden nach und
nach mit ZeP-Mitarbeitern geschlossen.
Auch bei der Europawahl 2004 halfen die Beschäftigten der neuen Behörde.
Zur Vorbereitung und Durchführung wurden 300 Bedienstete in einen
befristeten Einsatz geschickt. Durch ihre Arbeit sparte das Land Berlin
1,4 Millionen Euro, die es sonst für die Honorare der Wahlhelfer hätte aufwenden müssen. Für Vorbereitungen auf Hartz IV wechselten in der zweiten Jahreshälfte weitere 280 Überhangkräfte zum befristeten Einsatz in die
Bezirke. Neue Aufgaben entstehen zurzeit auch in den neu gegründeten
Arbeitsgemeinschaften von Arbeitsagentur und Bezirksämtern, die künftig
die Ansprechpartner der Langzeitarbeitslosen sein werden.
Andere ZeP-Mitarbeiter werden quasi ausgeliehen – das ist allerdings nur
mit Einwilligung der Betroffenen möglich. So arbeiten derzeit beispielsweise
zehn Mitarbeiter des höheren Dienstes beim Bundeswirtschaftministerium
an Koordinierungsaufgaben im Rahmen von Hartz IV. Aus dem Ministerium erhält ZeP-Direktor Peter Buschmann ausgesprochen positive Rückmeldung über diesen Einsatz. „Gerade ältere Mitarbeiter zeigen sich sehr
flexibel und engagiert, wenn es um neue Aufgaben geht“, sagt er.
9.
DAS GELD MUSS FLIESSEN
Das ZeP ist gesetzlich verpflichtet, eine Effizienzrendite zu erzielen, auf Deutsch: seine Leistungen in Euro und Cent zu messen. Die Effizienzrendite errechnet sich aus Ausgabenverminderung und Einnahmensteigerung und lag im ersten Jahr bei vier Millionen Euro; 2005 soll sie
weiter steigen. Das Ziel will die Behörde nicht nur durch den flexiblen
Einsatz des Personals erreichen, sondern auch durch ihre spezifischen Aufgaben. So hat das ZeP jetzt etwa Mitarbeiter des höheren Dienstes in die
Bezirke entsandt, damit sie dort für örtliche Projekte Anträge auf EUMittel stellen – eine Aufgabe, für die es vor Ort sonst kein Personal gäbe.
Fließen über diesen Weg künftig EU-Mittel projektgebunden nach Berlin,
darf sich das ZeP einen Teil der Mittel gutschreiben.
10.
EIN NEUER STANDARD
Dass noch nicht alles rund läuft in der neuen Behörde, räumt
Andreas Rudat freimütig ein. Wenn tausende von „k.w.“-Personalakten
auf einmal geliefert werden, kann es schon eine
Weile dauern, bis ZeP-Mitarbeiter sie gesichtet
und geordnet haben. Auch die sorgfältige Eingabe in die zentrale Datenbank braucht ihre Zeit.
Und mitunter muss eine Weile diskutiert und
verhandelt werden, bis der beste Einsatzort für
einen Mitarbeiter der neuen Behörde gefunden
und akzeptiert ist. Doch der Chef-Controller ist
sicher: „Das Jahr 2004 war davon geprägt, das
ZeP an die Tür zu lehnen und ihm das Stehen
beizubringen. 2005 läuft es schon, in 2006 wird
es rennen.“
Finanzsenator Thilo Sarrazin ist mit den ersten
Ergebnissen der neuen Lösung jedenfalls mehr
als zufrieden. „Mit dem ZeP haben wir nicht
nur ein Instrument zur effektiven Reorganisation
der Verwaltung und einen funktionierenden,
internen Arbeitsmarkt geschaffen. Wir können
die Überhang-Mitarbeiter auch produktiv und
kostensenkend einsetzen. Im Management von
Personalüberhang hat Berlin damit aus einer
Rückstandsposition neue Standards gesetzt.“
Interview Frank-Jürgen Weise
Text: Andreas Molitor, Susanne Risch
Foto: Huber (laif)
McK Wissen 13
Seiten: 60.61
„Der Souverän hat
entschieden.“
Frank-Jürgen Weise hat eine der kompliziertesten Aufgaben übernommen, die der Staat zu vergeben hatte. Und
eine der undankbarsten. Der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit soll aus der riesigen Behörde
einen flotten Dienstleistungskonzern machen – die wohl größte Reform einer öffentlichen Institution in der
Geschichte der Bundesrepublik. Ein Gespräch über große Ziele, kleine Schritte, Management und Menschenwürde.
9
Einen schwierigeren Job hätte sich kaum jemand ausdenken können:
Als Frank-Jürgen Weise im Februar vergangenen Jahres als Vorstandsvorsitzender die Aufgabe übernahm, die Bundesagentur für Arbeit (BA) zu modernisieren, sagten die meisten Insider sein Scheitern voraus. Eine derart
große Behörde, gefangen in einer Tradition aus Bürokratie und in weiten
Teilen fremdbestimmt, sei nicht reformierbar, hieß es. Schon gar nicht von
einem, der nicht aus der Verwaltung kommt.
Der ehemalige Berufsoffizier und spätere Unternehmer Weise, Chef von gut
90 000 Mitarbeitern und damit zuständig für rund fünf Millionen Menschen
ohne Arbeit, steht bis heute vor einem Dilemma: Die Bundesagentur muss
agieren wie ein Konzern, besser wirtschaften als in der Vergangenheit und
sich reformieren – dabei aber dem Gemeinwohl dienen und Behörde bleiben. Der Wandel einer Organisation verlangt Durchsetzungsmacht für Strategien, Konsequenz und auch unbequeme Entscheidungen – die Befugnisse
des Mannes an der Spitze aber sind begrenzt. Zudem wird der Vorstand
in der Öffentlichkeit am Stand der Arbeitslosigkeit gemessen, dabei kann
die Bundesagentur selbst zum Abbau der Job-Misere nur wenig beitragen.
Frank-Jürgen Weise schließt weder Tarifverträge, noch macht er Wirtschaftspolitik oder schafft Arbeitsplätze.
Tatsächlich würde der 53-Jährige, zuvor Manager bei der FAG Kugelfischer und den Braunschweiger Hüttenwerken sowie Mitgründer des
Logistik-Unternehmens Microlog Logistics AG, wohl lieber im Hintergrund wirken und die Reform im Inneren der Organisation vorantreiben.
Stattdessen fiel dem Mann, den Beobachter als zurückhaltend, höflich und
sehr kontrolliert charakterisieren, durch den Rücktritt seines Vorgängers
Florian Gerster über Nacht die Aufgabe zu, das schlechte Image der früheren Bundesanstalt für Arbeit in der Öffentlichkeit zu drehen. Weise muss
in schwieriger Zeit das Vertrauen der Politik zurückgewinnen, schnell
Ergebnisse präsentieren, die Mitarbeiter auf den Reformweg bringen, mit
der Organisation besser und gleichzeitig billiger werden – und nebenbei
auch noch die Zusammenlegung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe zum
Arbeitslosengeld II managen. Ein Knochenjob. Der komplizierteste, den die
Regierung in jüngster Vergangenheit zu vergeben hatte.
Herr Weise, Sie kannten die Bundesagentur schon, bevor Sie ihr Chef
wurden. Und dennoch: War Ihnen damals klar, was da auf Sie zukommen
würde?
Ich möchte es so sagen: Wären mir beim Amtsantritt alle Facetten bekannt
gewesen, hätte ich vielleicht noch einen Tag nachgedacht.
Und sich dann dagegen entschieden?
Ich hätte länger nachgedacht, vor allem wegen der öffentlichen Aufmerksamkeit, die diese Position mit sich bringt. Meine Idee war es, hinter meinem Vorgänger Herrn Gerster, der die BA nach draußen vertreten sollte,
als Personal- und Finanzvorstand die Organisation leistungsfähig zu machen.
Diese zusätzliche öffentliche Aufgabe bedeutet neue Anforderungen für
mich in einem Feld, in dem ich mich bis dahin nicht bewegt hatte.
Wie beurteilen Sie sich da selbst?
Was mir innerhalb der Organisation sehr gut gelingt: das Vertrauen der
Führungskräfte zu gewinnen. Ich kann mit großer Freude und Begeisterung, zur Not aber auch mit Konsequenz und Härte die notwendigen
Dinge umsetzen. Was ich besser machen muss: die Idee und die Bedeutung der Reform noch bewusster machen, damit wir unsere Arbeit bis
zum Abschluss des Umbaus fortsetzen können. Danach kann die Politik
Bilanz ziehen. Ich bin sicher, die Bilanz wird positiv ausfallen.
Tatsächlich? Im Moment beklagt Deutschland die höchste Arbeitslosigkeit
in der Geschichte der Bundesrepublik …
Das ist schlimm, und das muss sich ändern. Aber die Bundesagentur kann
keine Arbeitsplätze schaffen, das muss in erster Linie die Wirtschaft tun,
die Politik setzt die Rahmenbedingungen. Unsere Aufgabe ist es, unsere
Kunden zu betreuen – Arbeitslose, die Arbeit suchen, und Arbeitgeber,
Interview Frank-Jürgen Weise
Text: Andreas Molitor, Susanne Risch
die Stellen besetzen wollen. Wir wollen beraten, qualifizieren, vermitteln,
helfen. Unser Service soll freundlich, schnell, kompetent, effizient und
effektiv sein.
Und wie ist er tatsächlich?
Wir sind auf einem guten Weg. Noch nicht immer und überall, aber dort,
wo wir die Agenturen schon umgestellt haben, sind die Fortschritte deutlich spürbar.
Geht das konkreter?
In den neuen Agenturen sind die Ergebnisse am ehesten sichtbar. Dort sind
die Wartezeiten der Kunden um mehr als 40 Prozent gesunken. Und wir
haben deutlich mehr Zeit für intensive Gespräche: im Schnitt 46 Prozent
mehr, um genau zu sein. Aufgrund schlankerer Prozesse, einer neuen Führungsstruktur und einer verbesserten Technologie sind wir zudem produktiver im Bearbeiten von Anträgen, konkret: um 15 Prozent besser.
Damit stieg auch die Kundenzufriedenheit messbar an, bei Arbeitslosen und
Unternehmen.
Zudem haben wir im Geschäftsjahr 2004 rund 2,5 Milliarden Euro weniger
ausgegeben als vorgesehen – obwohl die Zahl der Arbeitslosen gestiegen
ist. Gleichzeitig wurden die operativen Voraussetzungen für die pünktliche
Auszahlung des Arbeitslosengeldes II geschaffen, also Daten für Millionen
von Empfängern eingegeben und aktualisiert.
Würden Sie als Unternehmer heute über die örtliche Arbeitsagentur Personal suchen?
Ich habe das früher als Unternehmer nicht getan, weil ich offen gesagt nicht
wusste, was die Arbeitsagentur leisten kann. Heute weiß ich das – vorausgesetzt, der Arbeitgeber hat einen guten Ansprechpartner in der Agentur,
der ihm handverlesene Kandidaten vorstellt. Wenn er dem Unternehmer
in kürzester Zeit Mitarbeiter präsentiert, die wirklich passen, steigt die
Kundenzufriedenheit, es entsteht Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der
Agentur. Und in Zukunft wird uns dieser Arbeitgeber ganz sicher seine
offenen Stellen nennen.
Foto: Huber (laif)
McK Wissen 13
Seiten: 62.63
Worauf darf der Arbeitnehmer angesichts der BA-Reform hoffen?
Zunächst einmal auf einen freundlichen Service. Der Kunde, der in unsere
Agentur kommt, wird an der Empfangstheke begrüßt und nach seinen
Wünschen gefragt. Ich nenne diesen Punkt bewusst zuerst, weil er viel von
dem beschreibt, was danach kommt. Wir haben jetzt eine Eingangszone,
in der – nach den ersten Praxistests – 80 Prozent aller Anliegen beim
ersten Besuch erledigt werden. So dass jeder, der wirklich intensive Beratung und ein persönliches Gespräch braucht, auf einen Mitarbeiter trifft,
der Zeit hat und gut vorbereitet ist. Dadurch verstehen wir die Arbeitsuchenden besser und können sie gezielter in die wenigen, aber immerhin
vorhandenen offenen Stellen vermitteln.
Was verändert sich noch? Oder anders gefragt: An welchen Vorbildern
orientieren Sie sich bei Ihrer Reform?
Den Kern unserer Idee repräsentiert das Job-Center in Großbritannien. In
der Feinarbeit, im Controlling und im Steuerungssystem leisten die Österreicher sehr gute Arbeit. Was die politischen Voraussetzungen betrifft, die
es einer Arbeitsvermittlung erlaubt, effizient zu handeln, ist Dänemark
Vorreiter. Ich habe mir alle diese Beispiele angesehen und vor allem auch
meine Mitarbeiter hingeschickt.
Weshalb haben Sie die Reform eigentlich angeschoben? Was musste aus
Ihrer Sicht am dringendsten reformiert werden?
Als ich den Vorstandsvorsitz übernommen habe, waren wir schon auf dem
Weg. Und ich halte es für völlig normal, dass ich mich – bildlich gesprochen – auf die Schultern meiner Vorgänger stelle und auf deren Berufsund Lebensleistung aufbaue. Hier gab es jede Menge gute Vorarbeit.
Was wir vor allem weiterentwickelt haben: Transparenz. Für mich war
die Klarheit über Zahlungsströme und über die Leistungen, die dahinter
stehen, der Anfang der gesamten Reform, weil ich davon ausgehe, dass
Menschen, wenn sie die richtigen Informationen haben, auch Verantwortung übernehmen wollen. Wir hatten früher einen Apparat, der ein Geldvolumen von 50 Milliarden Euro bewegte – aber wenig Überblick über den
Einsatz der Mittel und über die Ergebnisse unserer Arbeit. Das war für
„Wir hatten früher
einen Apparat, der ein
Geldvolumen von
50 Milliarden Euro
bewegte – aber wenig
Überblick über den
Einsatz der Mittel und
über die Ergebnisse
unserer Arbeit.“
mich unvorstellbar. Heute können wir uns diesbezüglich selbst mit den fortschrittlichsten Unternehmen messen. Ich würde sogar sagen: In puncto
Transparenz sind wir in Europa das Vorbild. Jede Agentur misst sich heute
in einer Gruppe mit vergleichbaren Agenturen; sie erfährt monatlich
genau, was sie erreicht hat und mit welchem Mitteleinsatz, und zwar bis
hinunter auf die Ebene der Teams. Die Mitarbeiter sehen also, wo sie
erfolgreich waren und wo nicht. Und sie können von denen lernen, die
besser waren.
Wollen sie das denn? Und können sie es überhaupt? In einem System, das
traditionell auf Weisung und Obrigkeit beruhte, sorgt Transparenz vermutlich vor allem für Verwirrung. Wie soll ein Mensch, der sein Berufsleben
lang wenig entscheiden durfte, heute auf Basis neuer Informationen anders
handeln und Verantwortung übernehmen?
Zu meiner Überraschung klappt das besser, als ich dachte. Die wirklich
guten Leute haben zugegriffen und versuchen das, was sie die ganze Zeit
vielleicht unzufrieden ertragen haben, endlich zu ändern. Für sie sind Aufgabe, Verantwortung und Kompetenz deckungsgleich. Ein Beispiel: Die
Agenturen planen für ihren jeweils lokalen Arbeitsmarkt die Programme,
die sie im kommenden Jahr für die besten halten, und auch, wie viel Geld
sie dafür brauchen. Das wird mit uns abgestimmt, aber dann setzen sie das
in eigener Verantwortung um. Auf Basis dieser Freiheit kommen viele aus
ihrer Deckung.
Aber es wird auch viele andere geben. Menschen tun sich mit Veränderungen schwer. Für den Beamten einer Behörde muss der Sprung zum
modernen Dienstleister besonders mühsam sein. Es wird viele geben, die
ängstlich verharren oder den Fortschritt blockieren.
Zunächst einmal glaube ich, dass es keinen Sinn hat, sich auf die schlechten Beispiele zu konzentrieren, sondern man sollte die guten wahrnehmen.
Wir müssen Menschen loben, sie ermuntern und befähigen, das zieht die
ganze Organisation nach vorn. Und wenn dann Einzelne wirklich bremsen,
ist das eine Frage der Führung. Wenn jemand ein Team mit 20 Leuten leitet, ist er dafür verantwortlich, dass alle 20 mitziehen. Hat ein Mitarbeiter
im Team ein Problem, kann man ihm helfen. Wer sich auf Dauer allerdings
nicht helfen lässt, gehört nicht zu uns.
Frank-Jürgen Weise hat in schwieriger Zeit die Reform
der Bundesagentur für Arbeit angestoßen – in
zwei Jahren, meint er, kann die Politik Bilanz ziehen.
Interview Frank-Jürgen Weise
Text: Andreas Molitor, Susanne Risch
McK Wissen 13
Seiten: 64.65
So weit zur Managementtheorie.
In der Praxis haben wir unsere Reform aus gutem Grund in der Zentrale
begonnen. Und erst einmal geschaut, welche Menschen sich eigentlich für
welche Aufgaben eignen. Wir fanden zu viele Spezialisten für Sachthemen,
die – begründet durch die Beförderungsstruktur im öffentlichen Dienst –
auch Vorgesetzte waren. Das haben wir sehr konsequent geändert. Die
Zentrale in Nürnberg kommt heute mit 400 Mitarbeitern aus, davor
waren es 1200. Wir haben diejenigen an die Spitze gesetzt, die ihre Mitarbeiter ermuntern, Verantwortung wahrzunehmen, wenn sie dazu fähig
sind. Die typischen Spezialisten haben heute ihre Sach- und Spezialaufgaben, aber keine Führungskompetenzen mehr. So ähnlich haben wir auch
unsere zehn Regionaldirektionen konsequent umgebaut und verbessert.
Haben Sie denn überhaupt kompetente Führungskräfte im Haus? Ein System, das auf Regeln, Weisungen und Vorschriften baut, produziert Vorgesetzte, aber keine Manager mit Führungsqualitäten.
Sie haben Recht, wir haben eindeutig zu wenig Führungskapazität und zu
wenig Führungskompetenz in unserem neuen System, das Menschen
braucht, die mit viel Entscheidungsfreiheit führen. Wir füllen die Lücken
jetzt langsam auf, indem wir die Mitarbeiter umfassend schulen. Inzwischen
ist es uns auch gelungen, den einen oder anderen von außen zu holen, was
sehr schwer war wegen der Gehaltsgrenzen.
Daneben haben wir aber auch zu viel juristisches Denken. Verstehen Sie
mich nicht falsch: Ich schätze Juristen, sie sind unverzichtbar, auch bei der
BA. Aber ein Jurist denkt angesichts eines Kunden zuerst einmal über dessen mögliche Ansprüche nach. Ich will, dass er überlegt: Wie können wir
diesen Menschen ganz schnell wieder in Arbeit bringen? Wir müssen die
Prioritäten verschieben.
Brauchen Sie dann nicht noch sehr viel mehr neue Mitarbeiter aus der
Wirtschaft?
Wir haben schon eine ganz gute Mischung aus erfahrenen Praktikern. Das
sind natürlich Menschen, die sich mit Absicht für eine Behördenlaufbahn
entschieden haben. Sie haben ein gewisses Sicherheitsbedürfnis, was
ihren Werdegang betrifft, sie wollen einschätzbare Strukturen. Aber sie
haben auch eine starke Pflichtorientierung. Und das ist eine gute Basis. Bei
uns leisten viele tüchtige Leute für oft wenig Geld gute Arbeit. Ihre Motivation ist nicht selten stärker als die in einem Unternehmen, wo zu oft Geld
die entscheidende Triebkraft ist.
Wie definieren die Menschen, die Sie beschreiben, ihren Erfolg – jetzt, wo
sich die Ziele ihrer Arbeit verändert haben?
Das ist eine gute Frage. Wir sind leider in einem Geschäft tätig, in dem ein
Großteil des Erfolges oder Misserfolges gar nicht von uns beeinflussbar ist.
Wir werden an der Zahl der Arbeitslosen gemessen, auch wenn Steuer-,
Finanz- und Wirtschaftspolitik die Rahmenbedingungen für die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt liefern. Diesen Zustand können wir aber nicht
ändern. An der Frage, wie sich Arbeitslosigkeit entwickelt, werden wir
sicher auch in Zukunft gemessen.
Unsere Mitarbeiter messen ihren Erfolg daran, wie schnell und wie nachhaltig sie jemanden, der keine Arbeit hat, in den Arbeitsmarkt integrieren.
Mit dem Thema Sozialgesetzbuch II kam ein Zwischenziel dazu, die Arbeitsmarktfähigkeit. Das heißt: Verliere ich einen Menschen völlig, weil er sich
auf eine 30 Jahre andauernde Arbeitslosenkarriere einstellt – oder schaffe
ich es, ihn arbeitsmarktfähig zu halten?
Sind das nicht sehr bescheidene Ziele für eine so gewaltige Reform?
Es sind realistische Ziele. Ich verstehe Manager wie Peter Hartz, der es
innerhalb eines Konzerns gewohnt ist, Meilensteine zu setzen, Denkhürden zu überspringen. Deshalb hat er zu Recht gesagt: Lasst uns nicht klein
rangehen, lasst uns das große Bild im Auge haben. Wir dürfen diese
Vision aber nicht mit dem machbaren Ziel verwechseln.
Ich will tun, was möglich ist. Ich will unseren Beitrag definieren, denn der
hat Bedeutung für die gesamte Gesellschaft. Erlauben wir, dass ein junger
Mensch seinen ersten Kontakt mit dem Arbeitsmarkt über Arbeitslosigkeit
hat? Wie gehen wir mit den älteren Menschen ohne Arbeit um? Unsere
Vermittler bemühen sich natürlich, Ältere oder Langzeitarbeitslose wieder
in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Doch erst kürzlich hat mir auch jemand
gesagt: „Herr Weise, mir ist doch klar, dass Sie mir in meinem Alter
wohl keinen Job mehr anbieten können. Aber die Tatsache, dass ich in dieser Agentur jetzt freundlich und mit Respekt behandelt werde, gibt mir ein
Stück meiner Würde zurück.“ Ist das schon ein Erfolg? Ich finde, ja.
Die Politik setzt den falschen Rahmen, die BA erntet die Kritik. Der Spiegel hat für diese Situation kürzlich einen netten Vergleich gewählt: Das sei
so, als ob die Deutsche Bahn, weil sie ein Problem mit der Pünktlichkeit
ihrer Züge hat, alle Bahnhöfe neu anstreichen lässt, freundliche Würstchenverkäufer auf den Bahnsteigen postiert und auch sonst dafür sorgt, dass
alles proper aussieht. Die Züge sind damit keine Sekunde pünktlicher.
„Unsere Leute arbeiten
intensiv und gut.
Aber sie haben am Tag
vielleicht acht Menschen
geholfen, und am
nächsten Tag kommen
zwölf neue, denen sie
helfen müssen.“
Ich glaube, der Beitrag der BA ist nicht gering. Ich möchte, dass die Menschen bei uns gut betreut werden. Ich möchte die Möglichkeiten, die das
System bietet, vollständig ausschöpfen, und ich will keine Verschwendung
dulden. Bleiben Sie ruhig in dem Bild: Den größten Einfluss auf die Pünktlichkeit der Züge haben – neben der Wirtschaft – sicher die Steuer-, Wirtschafts- und Finanzpolitik. Aber Sie können sich darauf verlassen, dass ich
für den guten Service sorge. Und dazu gehören nicht nur freundliche, sondern auch kompetente Mitarbeiter, die informieren und beraten, die wissen, wie der Kunde zum Ziel kommt, und die ihn bei Bedarf auch auf der
Strecke begleiten.
Die Presse muss uns kritisch verfolgen. Wenn es schon so große beitragsund steuerfinanzierte Organisationen gibt, finde ich es als Staatsbürger gut,
dass sie auch kritisch begleitet werden. Ich habe mich inzwischen daran
gewöhnt, dass durchaus mal eine Ungerechtigkeit, eine Überzeichnung
oder eine falsche Darstellung vorkommt. Im Großen und Ganzen wird
recht fair über uns berichtet. Zudem haben die wirklich Verantwortlichen
in der Politik Respekt vor unserer Arbeit. Und wenn dann mal ein Landrat
glaubt, er müsse öffentlich über die BA schimpfen, nehme ich das hin.
Es hat nicht nur ein Landrat öffentlich geschimpft, die BA steht unter
Dauerbeschuss. Momentan müssen Sie sich im Wettbewerb mit Optionskommunen beweisen, auch die Zusammenlegung von Sozialhilfe und
Arbeitslosengeld mitten im Reformprozess wurde Ihnen vermutlich gegen
Ihren Willen zugemutet. Für das Ergebnis dieser Arbeitsgemeinschaften
sind Sie verantwortlich, haben aber kein Weisungsrecht. Und trotzdem
wird Ihnen angelastet, dass da noch nicht zusammengewachsen ist, was
bislang nicht zusammengehörte.
Der Souverän hat entschieden. Ich habe im Vorfeld gesagt, ich wünsche
mir klare Verhältnisse. Und ja, ich hätte mir hier eine andere Organisation
und andere Lösungen gewünscht. Nun ist das Ergebnis ein politischer
Kompromiss, und wir müssen das managen. Das ist schwierig.
Ist das für einen, der gestalten will, nicht ungeheuer frustrierend?
Nein, mein Spielraum ist groß. Auch bei fünf Millionen Arbeitslosen gibt
es viel Dynamik auf dem Arbeitsmarkt. Allein im vergangenen Jahr sind
3,4 Millionen Arbeitslose wieder in den Arbeitsmarkt integriert worden –
und daran waren die Agenturen für Arbeit maßgeblich beteiligt. Und meine
Mitarbeiter begegnen ja auch nicht einer anonymen Zahl von fünf Millionen Arbeitslosen. Sie treffen auf einzelne Menschen, denen sie vielleicht
keinen Job verschaffen können – aber wenigstens eine gute Betreuung,
vielleicht eine bessere Qualifikation und damit auch Selbstbewusstsein.
Mit diesem Erfolg gehen wir abends wieder nach Hause.
Und am nächsten Morgen müssen Sie – stellvertretend für den Bundesfinanzminister Hans Eichel oder den SPD-Parteivorsitzenden Franz Müntefering – vielleicht schon wieder den Kopf hinhalten und der Presse eine
neue Horrorzahl verkünden.
Wo würden Sie die Organisation auf einer Skala von 1 bis 10 heute sehen?
Wie weit ist die BA im Reformprozess?
Wenn ich die gefühlte Temperatur der Organisation messen würde, stünden wir vielleicht zwischen 3 und 4. Es gibt viele Dinge, die sehr nach
unten ziehen; der politische Kompromiss beim Arbeitslosengeld II, der
hohe Zustrom an Arbeitslosen, bedingt durch die Wirtschaftslage. Unsere
Leute arbeiten intensiv und gut, aber sie haben am Tag vielleicht acht Menschen geholfen, und am nächsten Tag kommen zwölf neue, denen sie
helfen müssen. Angesichts dieser schwierigen Rahmenbedingungen stehen
wir objektiv eher bei 6 oder 7. Was wir installiert haben, wird richtig gut.
Und ich habe Vertrauen, dass sich das auch in Ergebnissen auswirkt.
Sie meinen, die Differenz zwischen 3 bis 4 und 6 bis 7 ist ein Kommunikationsproblem?
Interview Frank-Jürgen Weise
Text: Andreas Molitor, Susanne Risch
Es ist zum Teil ein Kommunikationsproblem, das sage ich durchaus selbstkritisch. Ich will diese Organisation wieder leistungsfähig machen. Ich war
aber nie Arbeitsmarktpolitiker. Deshalb habe ich vor allem den Prozess
beschrieben, wie ich etwas verbessern will. Das hat viele Mitarbeiter verunsichert. Sie haben sich gefragt: Was sind wir denn nun – ein betriebswirtschaftlich geführtes Unternehmen oder eine sozialstaatliche Einrichtung?
Das Missverständnis lässt sich leicht auflösen. Auch eine sozialstaatliche
Einrichtung muss nach bestimmten betriebswirtschaftlichen Kriterien arbeiten:
Ziele, Zielerreichung, sparsamer Einsatz von Ressourcen, Transparenz.
Verschwimmt da nicht langsam die Grenze zwischen Behörde und Unternehmen? Soll sich die BA vielleicht sogar in ein Unternehmen verwandeln?
Das glaube ich, ehrlich gesagt, nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass
die BA privat organisiert wird. Was wir tun, ist im Kern eine staatliche Aufgabe, und das soll auch so bleiben. Wir können uns aber bei staatlichen
Aufgaben durchaus an einigen Leistungsmaßstäben der Privatwirtschaft
orientieren. Also etwa Wettbewerb, Schnelligkeit, Wirkung, Effizienz.
Wie viel Zeit planen Sie dafür? Große Organisationen sind träge.
Wir haben den Mitarbeitern eine Menge zugemutet. Wir waren und sind
sehr schnell. Nach dem ersten Schock und der Verunsicherung angesichts
der neuen Orientierung müssen die Menschen erst einmal Zeit haben,
Arbeitsweisen zu üben und Können aufzubauen. Wenn man die Bahn und
die Post anschaut, sieht man, das dauert noch einmal zwei oder drei Jahre.
So dass die erste Phase der Reform nach fünf Jahren abgeschlossen ist.
Wir haben 2003 mit Konzepten begonnen und dabei genau analysiert, wie
es andere europäische Arbeitsmarktverwaltungen machen. 2004 wollten
wir diese Konzepte umsetzen. Dann kam jedoch das ganze Gesetzgebungsverfahren für das SGB II, und wir mussten zunächst einmal abwarten, wie
es gestaltet werden würde, und dann das System anpassen. In 2005 wird
umgesetzt. Wir haben jetzt 70 von 180 Agenturen umgestellt. Sie müssen
sich das einmal vorstellen: Das entspricht mittelständischen Betrieben mit
300 bis 1000 Mitarbeitern. Und da wird buchstäblich alles verändert – die
Infrastruktur, die gesamte Betriebs-Software und die Arbeitsabläufe. Wer
bisher hinter verschlossenen Türen saß, während die Gänge draußen
McK Wissen 13
Seiten: 66.67
voller Arbeitsloser waren, steht heute an einer Eingangstheke und begrüßt
die Kunden. Und vor allem: Jeder Vermittler trägt jetzt die Verantwortung
für Auswahl, Kosten und Wirkung der von ihm eingesetzten Instrumente.
Das ist kompliziert.
Und es wird nicht leichter dadurch, dass auch die Kunden völlig verunsichert und perspektivlos sind. Neue Gesetze, neue Regeln, neue Ängste.
Wie soll das funktionieren?
Wir haben in den neuen Agenturen kürzlich unsere Kunden befragt. Insgesamt sind sie schon jetzt wesentlich zufriedener. Es gibt eine kleine
Gruppe, die ist deutlich unzufriedener als vorher – das sind diejenigen, die
wir jetzt konsequenter sanktionieren. Der Rest spürt bereits die positive
Entwicklung. Ich denke, die ersten sichtbaren Ergebnisse einer kundenfreundlichen, schnellen, effektiven Einrichtung in der Fläche wird nach
Abschluss der geplanten fünf Jahre da sein.
Bis dahin muss es uns auch gelingen, der Politik die Leistungsfähigkeit der
BA deutlich zu machen. Denn sie trifft nun einmal die für den Arbeitsmarkt
relevanten Entscheidungen. Die Politik ist völlig frei zu entscheiden, aber
sie sollte die Erfahrungen der Praxis mit einbeziehen.
Im vergangenen Jahr hat Ihnen die Politik das Leben eher schwer gemacht.
Wir erfahren durchaus Unterstützung. Vor allem Bundesarbeitsminister
Wolfgang Clement ist ein verlässlicher und konstruktiver Gesprächspartner. Er will die Dinge immer klar und ungeschönt auf dem Tisch haben.
Zudem habe ich alle Partei- und Fraktionsvorsitzenden besucht, ihnen
erklärt, was wir tun und wofür wir stehen. Und ich habe keinen getroffen,
der gesagt hat, diese Richtung ist völlig falsch.
Wird für die Belegschaft in absehbarer Zeit wieder Ruhe einkehren?
Ich möchte einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess initiieren, denn
derart radikale Reformen kosten enorm viel Kraft und sind sehr riskant.
Ich möchte die Lebendigkeit in der Organisation, die Kreativität und auch
die Freude an Veränderungen wieder wecken und erhalten. Und uns so aufstellen, dass das gelingt. Das wird noch einmal eine große Aufgabe sein.
„Die Politik ist völlig frei
zu entscheiden,
aber sie sollte die
Erfahrungen der
Praxis mit einbeziehen.“
Arbeitsagentur Halle
Text / Foto: Andreas Molitor
McK Wissen 13
Seiten: 68.69
10
Die neue Amtlichkeit
Arbeitsagenturen können keine neuen Jobs schaffen. Ein verbessertes Management der Stellen-Lücke kann
aber mehr geeignete Jobsucher zu den richtigen freien Arbeitsplätzen führen – und damit die Situation
für Arbeitnehmer und Arbeitgeber leichter machen. Ein Besuch bei der Arbeitsagentur in Halle, einer von drei
Modellagenturen des Landes.
Neues Logo, neue Philosophie und eine
neue Organisation: die Arbeitsagentur Halle
*Name von der Redaktion geändert
Was erwartet ein Besucher von der Arbeitsagentur einer ostdeutschen Stadt, in der fast jeder
Vierte ohne Job ist? Verqualmte Flure im trüben
Neonlicht, in denen frustrierte Arbeitslose auf
Plastikstühlen sitzen, Aschenbecher mit Kippen
füllen und darauf harren, dass ein mürrischer Vermittler ihnen sagt, was sie ohnehin längst wissen:
dass keine Arbeit in Sicht ist für sie. Nicht heute
und nicht morgen.
Tatsächlich gibt es in Halle keine Stuhlreihen mit
Wartenden mehr. Hier und da hallen Schritte über
die langen Gänge. Am Empfang wird der Gast
freundlich begrüßt, nach seinem Anliegen gefragt
und gleich an die richtige Stelle im Haus geschickt. Niemand steht gelangweilt herum. Die
Arbeitslosen, die sich daran gewöhnen müssen,
„Kunden“ genannt zu werden, verschwinden
eilends in Gängen, Fahrstühlen und Büros. Alles
scheint in Bewegung.
In Zimmer 1305, Neubautrakt, erster Stock, sitzt
Arbeitsvermittler Holger Bock und wartet auf
Thomas Kaiser*. Dessen Arbeitsleben mit sämtlichen Stationen und Qualifikationen der vergangenen 35 Jahre liegt wie ein aufgeschlagenes Buch
vor ihm. Letzter Stand der Dinge: Der 51-jährige
Maschinenbauingenieur war arbeitslos, dann einen
Monat beschäftigt und ist seit wenigen Tagen
wieder arbeitslos. Holger Bock wird gleich mit
ihm darüber reden, dass seine Chancen in der
Region zurzeit ganz gut sind, dass er sich deshalb bei allen Firmen seiner
Branche im Tagespendelbereich, also im Umkreis von 200 Kilometern
bewerben muss, dass er sein Glück darüber hinaus auch bei Zeitarbeitsfirmen probieren und, für den Fall, dass alles nichts nutzt, seine
Suche in spätestens drei Monaten auch auf das gesamte Bundesgebiet ausdehnen muss. Thomas Kaiser will alles versuchen und verabredet sich mit
seinem Vermittler in sechs Wochen zum nächsten Gespräch.
54 000 Menschen ohne Arbeit – 1000 offene Stellen
Im Büro von Holger Bock, hinreichend geschmückt durch einen Ficus
Benjamini und Van Goghs „Sternennacht“, hat die große Reform der deutschen Arbeitsverwaltung bereits stattgefunden. Spürbar und sehr konkret.
Halle ist eine von drei Modell-Arbeitsagenturen, in denen gut 300 Mitarbeiter schon heute so arbeiten wie demnächst im ganzen Land: freundlicher, schneller, kundennäher, effizienter, erfolgreicher.
Die Region in Ostdeutschland hat es besonders hart getroffen. Die Arbeitslosenquote in Halle und Umgebung liegt bei 22 Prozent; 54 000 Menschen ohne Arbeit stehen 1000 offenen Stellen gegenüber. Die knapp
100 Hallenser Arbeitsvermittler wissen zwar genau wie ihr Chef FrankJürgen Weise in Nürnberg, dass sie an diesem Missverhältnis nicht viel
ändern werden. Sie und ihre Kollegen können keine Jobs aus dem Boden
stampfen. Aber sie tragen dafür Sorge, dass die vorhandenen Stellen schnell
und passgenau besetzt werden. Und das können die Vermittler in Halle
jetzt professioneller und schneller – zum eigenen Wohl, vor allem aber
zum Wohl von Arbeitsuchenden und Arbeitgebern.
Rund anderthalb Jahre ist es jetzt her, seit der Prozess begann, der aus
dem örtlichen Arbeitsamt in Halle eine moderne Arbeitsagentur machen
sollte. Dort sind Prozesse in Gang gesetzt worden, die offensichtlich
Arbeitsagentur Halle
Text / Foto: Andreas Molitor
McK Wissen 13
Seiten: 70.71
unumkehrbar sind, und die mittel- und langfristig zu deutlichen Leistungssteigerungen führen
sollen.
Einige Verbesserungen lassen sich schon jetzt in
Zahlen ausdrücken. Die durchschnittliche Wartezeit etwa hat sich um mehr als zwei Drittel reduziert. 82,5 Prozent der Kunden sind heute innerhalb von zehn Minuten an der Reihe, weil nicht
mehr jeder Arbeitslose kommt, wann und zu
wem er will. Nur wer vorher einen Termin vereinbart hat, darf zum Spezialisten, also beispielsweise zu seinem Arbeitsvermittler. Holger Bock
hat deshalb jetzt mehr Zeit für „seine“ Arbeitslosen, im Schnitt 45 Minuten für das erste Vermittlungsgespräch. „Früher gab es einfach den
Druck der vollen Flure“, sagt Sabine Edner, die
Vorsitzende der Geschäftsführung der Hallenser
Arbeitsagentur. „Da konnte sich der Vermittler
für einen Kunden selten mehr als fünf bis sieben
Minuten nehmen.“ Damals wusste Bock, dass noch
15 Leute vor seinem Büro warten. Aber wer das
war und was der Einzelne von ihm wollte, erfuhr
er erst, wenn er vor ihm saß.
Erstmals eine Chance auf Beratung
Seit die Ziele klar und Standard-Anfragen besser kanalisiert sind,
kann sich der Vermittler in der Modellagentur im Schnitt
45 Minuten Zeit für das Gespräch mit seinem Kunden nehmen.
Die Termine helfen den Vermittlern, die Regie über
ihre Tätigkeit zurückzuerobern. „Vor der Reform
war unsere Arbeit weitgehend fremdgesteuert“,
sagt Teamleiterin Doreen Siegel, „der Kunde entschied, wann er mit seinem Vermittler sprechen
wollte, und nahm dafür zwei Stunden Wartezeit in
Kauf. Und der Vermittler hatte keine Chance, sich
vorzubereiten.“ Darunter litt die Motivation – und
zwangsläufig auch die Qualität der Beratung. Vor
allem das wichtige Erstgespräch nach der Arbeitslosmeldung verkam häufig zur reinen Daten-
aufnahme im Schnelldurchgang, wie beim Arzt, der einen schwer kranken
Patienten heilen soll, aber keine Zeit hat für die Anamnese.
Heute bekommt jeder neu gemeldete Arbeitslose binnen zehn Tagen seinen
ersten Termin. Vorausgesetzt, er hat zuvor innerhalb von fünf Tagen einen
sechsseitigen Fragebogen ausgefüllt und abgegeben, sein „Arbeitspaket“.
Fehlt diese Grundlage, verfällt der Anspruch auf ein schnelles Gespräch.
Mit ihr hat der Jobsuchende erstmals die Chance auf eine qualifizierte
Beratung. Die Arbeitsagentur fragt im Vorfeld alles ab, was der Vermittler
wissen muss: Was hat der Kunde bislang gemacht? Wo war er beschäftigt,
mit welcher Qualifikation? Wie sieht seine familiäre Situation aus? Ist er
mobil? Und hat er sich schon um neue Aufgaben bemüht? Wie oft hat er
sich beworben? Wo? Mit welchem Ergebnis? Anhand der Informationen
kann sich der Vermittler auf das Erstgespräch vorbereiten. Eine Zeitersparnis, für Dienstleister und Kunden.
Auch eine Entschlackung der Aufgaben des Vermittlers trägt zu mehr Freiraum und besserer Arbeit bei. Einfache Sachbearbeiter-Tätigkeiten übernehmen in Halle die Kollegen in der Eingangszone. Sie übertragen beispielsweise die handschriftlich ausgefüllten Formulare ins Computersystem
– der Berater kann sich auf seine eigentliche Aufgabe konzentrieren. „Wenn
Sie vor anderthalb Jahren hier bei mir gesessen hätten, wäre unser Gespräch
schon mindestens dreimal vom Telefon unterbrochen worden“, sagt Teamleiterin Doreen Siegel. „Es gibt immer einen Kunden, der irgendeine Frage
hat.“ Auch für Standard-Auskünfte ist jetzt „die Eingangszone“ zuständig
oder das neu geschaffene telefonische Service-Center. Seit es die beiden
neuen Bereiche gibt, ist die Agentur besser erreichbar, und weil formale
Fragen seitdem schnell beantwortet werden, wuchs die Zufriedenheit der
Anrufer.
Das Kunden-Feedback zur neuen Organisation fällt eindeutig positiv aus.
80 Prozent der Arbeitsuchenden sind heute mit ihrer Agentur zufrieden,
bei der letzten Befragung waren es 59 Prozent. Agenturleiterin Edner
erklärt die positive Wahrnehmung am Beispiel der Abteilung für Leistungsgewährung. Dort sitzen die Spezialisten, die berechnen, welche Unterstützung der einzelne Arbeitslose erhält. „Früher gab der Kunde bei uns
einen Antrag ab und musste dann vier bis sechs Wochen auf Auskunft
warten. Heute bekommt jeder einen Termin zur Abgabe seines Leistungsantrages. Da kann er dann all seine Fragen klären: Bekomme ich Arbeitslosengeld oder nicht? Wenn ja, wie viel? Und ab wann?“ Aber auch die
Arbeitsvermittlung ist ein
Dienstleistungsjob. Auch wer
ihn gut macht, kann besser
werden – wenn er den Kunden
nach seinen Wünschen fragt.
Agentur profitiert von der Umstrukturierung:
Allein in der Leistungsabteilung schätzt man den
Effizienzgewinn auf zehn bis 15 Prozent – zudem
können Mitarbeiter, die durch die Aufbauorganisation im Bereich der Leistungsgewährung nicht
mehr gebraucht werden, innerhalb des Hauses
mit anderen Aufgaben betraut werden.
Dass die Agentur-Mitarbeiter im Osten des Landes relativ umbruchserfahren sind, dürfte das
Reformtempo in Halle noch beschleunigt haben.
Eine Laufbahn- und Behördenkultur wie im
Westen, über Jahrzehnte eingeübt, fehlt in den
ostdeutschen Agenturen ohnehin. Aber auch
sonst sind die Hallenser an Change Management
gewöhnt, mit Traditionsdebatten halten sie sich
nicht lange auf.
Ein Teil der Mannschaft stammt aus ehemals
volkseigenen Industriebetrieben, die längst nicht
mehr existieren, andere wurden aus früheren
DDR-Behörden rekrutiert. Alle verrichten ihren
Dienst seit Jahren unter dauernd neuen Vorzeichen – und offenbar mit ungewöhnlich hohem
Engagement. Aus Sicht der McKinsey-Berater,
die den Reformprozess der Bundesagentur für
Arbeit (BA) seit Monaten vor Ort begleiten, hat
die Behörde einen Vorteil: „Unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass sich die Mitarbeiter
der BA in besonderem Maße mit ihrer Aufgabe
identifizieren“, sagt Timo Meynhardt. Und noch
eine Beobachtung sei ihm wichtig. Die Zusammenarbeit im Team, meint der Berater, sei eine
echte Stärke der Bundesagentur.
„Herr Meuter*, bitte!“ Holger Bocks nächster
Kunde tritt ein. Wieder hat der Vermittler alles
Wesentliche vor sich: Bauingenieur, zuletzt als
Geschäftsführer tätig, 60 Jahre alt, PC-Kenntnisse
nach eigenen Angaben „durchschnittlich“. Als er
sich vergangene Woche arbeitslos meldete,
bekam er gleich einen Termin. Es sieht so aus, als dränge es Meuter nicht
danach, schnell wieder in Arbeit zu kommen. Zum Punkt „berufliche
Kenntnisse“ im Fragebogen hat er keine Angaben gemacht. Vielleicht hat
er auch nur wenig Hoffnung. Die Baubranche ist am Boden. Er ist zu alt.
Was soll Holger Bock da sagen? Meuter wird vermutlich nie mehr finden,
wonach fast alle suchen: einen anständig bezahlten Vollzeitjob.
Armin Meuter gehört zu jenen Arbeitslosen über 58, denen aufgrund
ihres Alters das im ersten Jahr gezahlte Arbeitslosengeld I ohne weitere
Auflagen gewährt wird. Während jeder andere unentwegt nachweisen
muss, dass er sich um einen Job bemüht, muss Meuter nur erklären, dass
er Paragraf 428 SGB III in Anspruch nehmen möchte – was bedeutet, dass
er kein Interesse mehr an einer Beschäftigung hat und stattdessen Arbeitslosengeld unter erleichterten Bedingungen erhält, bis er in die ungeminderte Rente gehen kann. „Wir nehmen ihn dann aus der Vermittlung
heraus“, erklärt Holger Bock, „er bezieht bis zum frühest möglichen Rentenbeginn ohne Abzüge Arbeitslosengeld und bekommt von uns keine
Stellenangebote mehr.“ Und wenn er das nicht will? „Dann muss er sich
weiter bewerben. Oder zum Beispiel über Mini-Jobs seine Arbeitsfähigkeit
erhalten, die er aber mit hoher Wahrscheinlichkeit nie mehr in einem
dauerhaften Arbeitsverhältnis unter Beweis stellen kann.“
Dienstleistung nach einheitlichen Standards
Dass die Arbeitsagentur Kandidaten wie Armin Meuter ausgliedert, gehört
zur offiziellen Strategie der Nürnberger Zentrale. Die Kunden werden neuerdings nach ihrer Vermittlungswahrscheinlichkeit kategorisiert, einer internen „Produktvergabelogik“ folgend, kann ihnen dann die adäquate Betreuung zuteil werden. Das Ziel: Die Vermittler sollen Zeit und Geld zuerst
und vorrangig in jene Kunden investieren, die mit höherer Wahrscheinlichkeit in Arbeit zu bringen sind. Sie packt die helfende Hand der Vermittlung dann so früh wie möglich und mit festem Griff an. Fester, als ihnen
manchmal lieb ist. Weigert sich der Arbeitslose beispielsweise, Bewerbungen zu verschicken, zumutbare Jobs anzunehmen oder zu pendeln, kann
der Vermittler sein Arbeitslosengeld kürzen. In Halle ist die Zahl der
Arbeitslosen, die unmittelbar nach dem ersten Vermittlungsgespräch auf
Jobsuche gehen, von 64 auf 85 Prozent gestiegen.
Die einstige „Black-Box-Vermittlung“ entwickelte sich für die Unternehmensberater zum Dreh- und Angelpunkt. „Bisher arbeitete die BA nicht
Arbeitsagentur Halle
Text / Foto: Andreas Molitor
Früher hat der Arbeitslose entschieden, wann er was mit
seinem Vermittler klärt – in der neuen Organisation steuert
Arbeitsvermittler Holger Bock das Beratungsgespräch.
McK Wissen 13
Seiten: 72.73
mit bundesweit einheitlichen, klar strukturierten
Dienstleistungsstandards“, sagt Timo Meynhardt.
„Folglich war das Ergebnis eines Gesprächs mal
eine Qualifizierung, mal eine Umschulung, mal
eine Vermittlung. Aber man wusste nur wenig
darüber, was der Vermittler denkt und nach welchen Kriterien er vorgeht.“ Künftig sollen die
Vermittler ihre Dienstleistung in allen 180 Arbeitsagenturen des Landes nach demselben Kriteriengerüst anbieten. Neben eindeutigen Empfehlungen
sind darin Ziele bei Vermittlungszahlen, Kosten
und Zeitaufwand aufgelistet.
Die Differenzierung der Arbeitslosen berührt
zunächst jene Bewerber, die sich ohne weiteres
selbst eine Stelle suchen können. Menschen wie
Thomas Kaiser. Nach der neuen Klassifizierung
gilt er als „Marktkunde“, für den Vermittler der
angenehmste Arbeitslose. Seine Aussichten
Sabine Edner, die Vorsitzende der Geschäftsführung,
lässt sich und die Leistungen der Agentur jetzt messen.
sind gut, er ist mobil, besitzt alle nötigen Qualifikationen, das Alter spielt
in seinem Beruf keine allzu große Rolle. Für Marktkunden sucht ein Vermittler nicht intensiv nach Stellen. Sie müssen sich selbst kümmern. Der
BA-Mitarbeiter gibt ihnen lediglich Ratschläge und Anweisungen, was sie
bis zum nächsten Gespräch zu tun haben.
Agenturleiterin Sabine Edner will, dass der Vermittler möglichst schon
beim ersten Gespräch differenziert: Kann ich den Kunden ohne arbeitsmarktpolitische Instrumente wie Weiterbildung oder Umschulung auf dem
ersten Arbeitsmarkt unterbringen? Oder gehört er zu den chronischen Problemkunden? Wenn der Vermittler für seinen Kunden kaum eine Chance
sieht, im ersten Jahr der Arbeitslosigkeit eine neue Stelle zu finden – sei
es, weil er keinen Führerschein besitzt, nicht mobil ist oder zu alt –, wird
er ihm auch keine kostenintensive Qualifizierung empfehlen. In solchen
Fällen kann die Arbeitsagentur kurzfristig nicht helfen.
Der gesellschaftliche Wertestreit zwischen dem Gebot der Sozialstaatlichkeit und dem der betriebswirtschaftlichen Effizienz wird nun am Schreibtisch des Vermittlers ausgetragen. Das erfordert von Holger Bock und
seinen Kollegen viel Fingerspitzengefühl. Bock kann die Argumente seiner
Kunden gut nachvollziehen – den Konflikt lösen kann er nicht: „Die kommen und fragen, ‚wieso habe ich 20 Jahre lang eingezahlt, wenn ich jetzt
nicht mal eine Umschulung erwarten kann‘?
Zügige Vermittlung – überschaubare Kosten
Individuell zu beraten, gleichzeitig aber die Möglichkeiten der Unterstützung nach einheitlichen Kriterien abzuwägen, bedeutet eine Gratwanderung und ist nicht die einzige neue Aufgabe, die Holger Bock und seine
Kollegen heute bewältigen müssen. Aber es gibt auch neue Werkzeuge als
Hilfestellung. Moderne Computerprogramme etwa erleichtern den Agentur-Mitarbeitern das Vorsortieren ihrer Kunden. Ein ampelähnliches Signal verschafft einen schnellen Überblick über die Vermittlungschancen:
Gibt es beispielsweise für Herrn Kaiser im Stadtgebiet von Halle keinen
passenden Job als Maschinenbauer, steht das Signal auf Rot. Klickt der
Vermittler auf „Region“, wechselt das Signal womöglich auf Gelb. Im Umland ist also zumindest hier und da eine Stelle frei. Bei der bundesweiten
Suche leuchtet es grün: Gute Chancen für Thomas Kaiser – allerdings nur,
wenn er mobil ist.
Zufriedene Kunden, reibungslose Arbeitsabläufe und ein freundliches
Lächeln am Empfang sind wichtige, aber letztlich eher Sub-Ziele der größten Behördenreform in der bundesdeutschen Geschichte. Im Kern geht es
um wirtschaftliches Arbeiten: Priorität hat die zügige Vermittlung arbeitsloser Menschen in vorhandene Jobs. Genauso wichtig ist aber, was diese
Vermittlung kosten darf. Auch darin sieht Sabine Edner „einen klaren Paradigmenwechsel“. Früher sei die Agentur vor Ort allein daran gemessen
worden, in welchem Umfang sie die Arbeitslosen aktivierte. „Ob das dazu
führte, dass der Mensch dauerhaft in den ersten Arbeitsmarkt integriert
wurde, war nicht so wichtig“, sagt Edner. „Jetzt geht es um die Anzahl der
Integrationen, die wir mit einem begrenzten Budget erreichen müssen. An
beiden Faktoren muss sich eine Agentur künftig messen lassen.“
Alle Vermittlungsergebnisse von Arbeitsagenturen, die in Größe und Kundenstruktur vergleichbar sind, kommen auf den Prüfstand. So wie nun
Erfolge sichtbar werden, müssen Teams, deren Arbeitsergebnisse deutlich
abfallen, die Ursachen hierfür analysieren und Abweichungen begründen.
Die Geschäftsführung der jeweiligen Agentur fasst nach, schon aus eigenem Interesse, denn auch sie muss sich beweisen. Bei dauerhaft schlechter Leistung ist es in der modernen Arbeitsagentur durchaus denkbar, dass
auch die Führungsmannschaft gewechselt wird.
Passgenaue Kandidaten – zufriedene Arbeitgeber
Mit der Reform ist auch der zweite wichtige Kundenkreis der Agentur spürbar in den Fokus gerückt: die Arbeitgeber. Anders als beispielsweise in
Dänemark, wo die „Arbejdsformidlingen“ – so heißt dort das Arbeitsamt
– direkten Zugriff auf etwa 95 Prozent aller freien Stellen im Land hat, gingen die guten Jobs hier zu Lande bislang meist unter der Hand weg oder
über den Stellenmarkt der großen Zeitungen. Daran waren die Agenturen
nicht ganz unschuldig. „Wir haben die Arbeitgeber manchmal mit Vermittlungsvorschlägen geradezu bombardiert“, sagt Jacqueline Müller, eine der
„arbeitgeberorientierten“ Vermittlerinnen in der Hallenser Agentur. „Darunter waren auch etliche, die nicht zum Stellenprofil gepasst haben.“
Jetzt herrscht ein anderes Prinzip. Müller und ihre Kollegen besuchen die
örtlichen Arbeitgeber regelmäßig persönlich, die vielversprechenden zuerst.
Auch hier wird sortiert, und zwar danach, wie viele Leute die Unternehmen
in der Vergangenheit eingestellt haben. Sieht Müller ein Stellenangebot in
der Zeitung, das der Agentur nicht gemeldet wurde, ruft sie an: „Besteht
Bedarf an unserer Dienstleistung?“ Manchmal trifft
sie auf Ablehnung, weil die Arbeitsamts-Offerten
früher zu oft nicht zum gesuchten Profil passten.
Manchmal bekommt sie einen Termin. Dann
nimmt sie die sorgfältig sortierten, in Frage kommenden Bewerberprofile gleich mit.
Dank einer software-gestützten Matching-Strategie konnte die Passgenauigkeit verbessert werden. Die Firmen erhalten jetzt weniger, dafür aber
geeignete Vorschläge. In nur noch 41 Prozent der
Fälle präsentiert die Agentur mehr als fünf Bewerber. Bei einer früheren Stichprobe waren es noch
mehr als 60 Prozent. Die Software vergleicht das
Anforderungsprofil des Arbeitgebers mit den
Daten aus dem Bewerber-Pool. Selbst die Relevanz gewünschter Qualifikationen wird dabei
berücksichtigt. „Wenn einem Firmenchef etwa
Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit besonders wichtig sind“, erklärt Vermittlerin Müller, „dann sehe
ich das jetzt sofort und weiß, dass ich ihm einen
Bewerber, der gern mal zu spät zum Vorstellungstermin erscheint, gar nicht erst schicken muss,
ganz egal, wie gut der sonst ist.“
Am Vortag konnte sie ein Top-Stellenangebot
akquirieren: Gesucht wird ein Stahlbauer. DauerArbeitsverhältnis, Vollzeit, Leistungsprämie –
Dinge, die für die Region alles andere als selbstverständlich sind. Jacqueline Müller klickt am PC
auf „Bewerbersuche“. Es erscheint ein passgenauer Kandidat aus dem Kundenpool: Max Juris*
aus Halle, arbeitslos gemeldet seit 13.12.2004.
Den geforderten Schweißerpass hat er, ebenso
alle anderen Qualifikationen. Auch ein Pkw ist
vorhanden, das ist nicht unwichtig, von Halle
bis zur Arbeitsstelle nach Gutenberg sind es 20
Kilometer. „Da muss ich erst mal gar nicht
weitersuchen“, sagt Müller. Sie wird Herrn Juris
gleich anrufen.
Priorität hat die zügige Vermittlung
arbeitsloser Menschen in
vorhandene Jobs. Genauso wichtig
ist aber, was diese Vermittlung
kosten darf.
Porträt Inge Ragaller
Text / Foto: Ralf Grauel
McK Wissen 13
11
Die Rätin
Beamte sind wie Menschen in anderen Berufen auch.
Es gibt eifrige, weniger eifrige und übereifrige.
Und es gibt welche, die ihren Job lieben.
Seiten: 74.75
Das Treppenhaus ist nichts Besonderes. Der Blick nach hinten, in
den Innenhof, rutscht an einer glatten, nichts sagenden Fassade ab. Vorne
raus, zur Maximilianstraße, gab es prächtige neugotische Giebel und Arkaden, wie sich das für die Münchner Maximilianstraße gehört – und für die
Regierung von Oberbayern. Hier drinnen aber haben sie beim Wiederaufbau deutlich erkennbar gespart, wie in fast allen deutschen Ämtern. In diesem kargen Aufgang windet sich eine Treppe drei Stockwerke nach oben,
das Geländer ist aus dünnen Metallstäben, der Handlauf in Plastik eingefasst. Ab dem ersten Stock sind farbige Bindfäden an diese Stäbe
gespannt, ziehen sich durch die Etagen, überkreuzen sich im zweiten und
spannen sich im dritten Stock wieder auseinander, rundherum um das
Geländer, was an eine Sanduhr erinnert, nur eben eine aus, tja, Bindfäden.
„Das war ein Vorschlag von einem unserer Mitarbeiter. Er hat ihn auch selbst
umgesetzt“, sagt Inge Ragaller, „die Struktur repräsentiert unsere Arbeit.“
Die Oberregierungsrätin zeigt auf die Fadenskulptur, auf den Knoten des
Fadenbündels, die Stelle, die bei einer Sanduhr den Lauf der Dinge kontrolliert, sprich verlangsamt, ein Ort, der von Organisationsexperten auch
als Bottleneck oder Flaschenhals bezeichnet wird, und sagt: „Bündelung!
Das ist die klassische Funktion einer Mittelbehörde. Wir vermitteln zwischen den verschiedenen bayerischen Ministerien und den lokalen Behörden, Gemeinden, Städten und Ämtern.“ Dabei strahlt sie.
Die Regierung von Oberbayern, so heißt diese Mittelbehörde, von der Inge
Ragaller spricht, ist nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, die Regierung Bayerns, sie ist die Verwaltung eines Regierungsbezirkes, wie es davon insgesamt 22 in Deutschland gibt. Der von der Fläche her größte gleicht
einem Dreieck, mit München in der Mitte. Garmisch-Partenkirchen im Südwesten, das Berchtesgadener Land im Südosten und Eichstätt im Norden
begrenzen das Gebiet. Ein Drittel aller Bayern wohnt hier, etwas mehr als
vier Millionen Menschen. Wie alle Bezirksregierungen ist auch diese hier
eine klassische Mittelbehörde, das heißt, von hier aus wird die Tätigkeit von
Kreisverwaltungen, Fachbehörden und Gebietskörperschaften beratend
begleitet und soweit nötig koordiniert und kontrolliert, vom Straßenbau bis
zur Wasserwirtschaft. Inhaltlich kommt in so einer Mittelbehörde alles
zusammen, was man gemeinhin als „Leben“ bezeichnet.
Zwei Stunden später, in ihrem Büro, geht es noch einmal um das Treppenhaus. Inge Ragaller erzählt, wann sie das Gebäude zum ersten Mal
betrat. 1984 war das, da war sie noch Inspektorin im Münchner Polizeipräsidium. „Nein, nein“, die 54-Jährige lacht, „ich war Sachbearbeiterin im
Innendienst, in der Personalabteilung. Bei der Polizei heißen Sie ja automatisch Inspektor. Im Polizeivollzugsdienst wären Sie ein Kommissar,
vorausgesetzt, Sie befinden sich im gehobenen Dienst. Sonst wären Sie
Wachmeister oder Hauptwachtmeister; die befinden sich im mittleren
Dienst. Aber egal“, sie lacht wieder, winkt ab, „ich interessiere mich wirklich nicht für diese Titel“, und erzählt weiter von damals.
Die Behörde – ein Gefühl von Zuhause
„Kommen’s doch zu uns“, hatte der Kollege aus der Personalstelle der
Regierung von Oberbayern gesagt. „Er wollte wieder zurück aufs Landratsamt nach Bad Tölz“, sagt Ragaller. Also schaute sie mal vorbei, ging in
dieses riesige rostbraune Gebäude, das Treppenhaus hoch, und plötzlich
wurde ihr ganz anders. „Wie ich da rauf bin, dachte ich, ich bin Zuhause“,
sagt sie langsam. Dann neigt Inge Ragaller den Kopf, macht eine Pause und
fragt: „Haben Sie das auch schon mal erlebt in Ihrem Beruf?“
Beamte sind Dienstleister der Allgemeinheit. Die meisten Bürger kommen
mit den Staatsdienern nur dann in Kontakt, wenn sie eine dieser staatlichen
Dienstleistungen abrufen. Da gibt es schöne und weniger schöne Geschichten. Wie das so ist, in einem Dienstleistungs-Schwellenland. Beamte, Ämter
und Behörden hat es in den vergangenen Jahren genauso durchgeschüttelt,
wie den Rest des Landes auch. Bund, Länder, Gemeinden und Behörden
– alle bekennen sich zum Bürokratieabbau wie zu einem Glaubensbekenntnis für den Fortschritt. Wer nicht verschlankt, ist nicht modern. Das sorgt
für Verunsicherung bei den Beamten.
Überdurchschnittliche Pensionen und Sozialleistungen, automatische Aufstiege, krisensichere Arbeitsplätze, Unkündbarkeit: Ausgerechnet jene
Errungenschaften, die den Staatsdiener gegen Machtmissbrauch und
Korruption panzern sollten, kommen seitdem auf den Prüfstand. 1,7 Millionen Beamte gibt es in Deutschland. Und wenn es nach den Plänen so mancher Experten geht, dann haben wir es mit einer aussterbenden Spezies zu
tun. In der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei beispielsweise liegt eine
Studie des Hamburger Staatsrechtlers Hans Peter Bull, nach der ganz
normale Arbeitsverträge die Lebensanstellung ersetzen können. Die
Am Arbeitsplatz
der Oberregierungsrätin
Inge Ragaller geht’s
ums Bündeln: im Job wie
bei der Fadenskulptur im
Treppenhaus.
Porträt Inge Ragaller
Text / Foto: Ralf Grauel
Umsetzung wird gerade geprüft. Seit 1990 ist die Zahl der Beschäftigten
im öffentlichen Dienst um 1,1 Millionen gesunken. Von den heute 4,8 Millionen Staatsbediensteten sind nur noch rund ein Drittel Beamte, der Rest
sind Angestellte und Arbeiter.
Ihre Arbeit in den Behörden hat sich längst vom Klischee entfernt. Zwar
bilden die Schienen mittlerer, gehobener und höherer Dienst (die früher
unterste Stufe, der einfache Dienst, kommt kaum mehr vor) die Starrheit
des deutschen Schul- und Ausbildungssystems ab, doch gibt es immer mehr
Querverbindungen zwischen den Karrieregleisen. Bezahlung soll zunehmend
an Leistung gekoppelt werden; an die Stelle der öffentlich geführten Pensionskassen sollen privatwirtschaftliche Lösungen treten.
Parallel zum Abbau der einst Neid erregenden Benefits schraubt der staatliche Arbeitgeber die Ansprüche hoch. Gehälter werden eingefroren, Regelarbeitszeiten erhöht – nicht nach zähen Verhandlungen, sondern schnell
und sauber per Gesetz. Die meisten Beamten arbeiten schon jetzt deutlich
mehr als 40 Stunden, in Bayern gilt für sie offiziell eine 42-Stunden-Woche.
Wer streikt, macht sich strafbar. Übermäßiger Alkoholkonsum, Übergewicht,
auffälliges oder gar aggressives Verhalten in der Öffentlichkeit: Das alles
sind Kündigungsgründe für Beamte. Haben sich die alten Wohltaten zum
Korsett entwickelt? Wie fühlt sich dieser Apparat von innen an? Oder
anders gefragt: Macht das überhaupt noch Spaß, Beamter zu sein?
Inge Ragaller lächelt. Und sie ist aufmerksam, bemerkenswert aufmerksam.
Zweimal wurde das Gespräch jetzt schon unterbrochen, einmal brachte
eine Kollegin Kaffee und Kekse, dann kam jemand und reichte eine Umlaufmappe herein. Beide Male gab es höfliche, helle Wortwechsel. Inge Ragaller
hat diese explizite Wachheit und Zuwendung, die Menschen zu Eigen ist,
die andere Menschen ganz offensichtlich mögen. Seit 25 Jahren, die Ausbildung mitgerechnet, ist sie Beamtin. Die meiste Zeit hat sie im inneren
Dienst verbracht. Inge Ragaller war Personal-Sachbearbeiterin bei der
Münchner Polizei, für die Regierung von Oberbayern hat sie mehr als
tausend junge Beamte für den gehobenen Dienst eingestellt und deren
Ausbildung begleitet. Nun ist die Oberregierungsrätin Personalchefin für
die Angestellten der Regierung.
Man kann also sagen, Inge Ragaller hat sie alle gesehen, und ja, die Zeiten
sind härter geworden. „Allein im vergangenen Jahr gab es so viele Blindbewerbungen wie noch nie. Plötzlich sitzen hier völlig überqualifizierte
Leute und behaupten, es sei schon immer ihr Traum gewesen, für den
McK Wissen 13
Seiten: 76.77
öffentlichen Dienst zu arbeiten“, sagt sie und schaut dabei besorgt. Das
war nicht einmal ihr Traum, damals, als sie sich für die gehobene Beamtenlaufbahn bewarb und einfach mal so den Einstiegstest machte. Dass sich
jemand wegen der guten Sozialleistungen oder der Unkündbarkeit bewirbt,
das hat sie früher nie erlebt, „an so etwas denken Sie doch nicht, wenn Sie
jung sind“. Sie wollte „etwas Juristisches machen. Ich dachte, das schaust
du dir mal an, studieren kannst du später immer noch. Die Beamtenlaufbahn war mir wurst, ganz ehrlich“.
Die Bewerber, die später in ihrem Büro saßen, konnte sie fast immer in drei
Gruppen einteilen. „Es gab welche, die wollten, welche, die sollten, und welche, die mussten.“ Letztere hat sie zur Seite genommen. „Viele Beamtenkinder waren das, wo man merkte, die Eltern machen Druck. Die haben
sich schon in der Ausbildung gesträubt. Die steigen später alle wieder aus.“
Nicht todernst war es, sondern toll,
lebhaft und beeindruckend
Beamtenausbildung geht so: Die höheren Dienste (also Regierungspräsidenten, -direktoren und -räte) rekrutieren sich aus Studienabgängern. Die
mittleren und gehobenen Anwärter werden an Verwaltungsschulen und an
Fachhochschulen ausgebildet und dazu parallel zwei oder drei Jahre lang
durch alle bürokratischen Erscheinungsformen geschleust. „Ausländeramt,
Sozialamt, Bauamt, Personalstelle: Sie machen alles mal mit.“ Zum Abschluss gibt es eine Prüfung. „Und die ist wichtig! Die hängt Ihnen lange
hinterher“, sagt die Personalleiterin.
Natürlich hatte auch sie nicht das beste Bild von Beamten. „Ich dachte,
die seien alle todernst, aufs Gesetz bedacht und trocken. Das Interessante
war: Das waren die wenigsten.“ Das Team im Bauamt war toll, die KfzZulassungsstelle herrlich lebhaft, das Sozialamt war beeindruckend, nur der
Rechnungsprüfer, „ein hagerer, ernster, sehr korrekter, schüchterner Mann.
Der war doch sehr trocken“, sagt Inge Ragaller und blickt auf, „aber, mei,
was sollte der auch mit so einem jungen Mädchen anfangen?“
Wie schafft man es zwischen all den Verordnungen, Dienstwegen und Anweisungen, nicht zu einem dieser Beamten zu werden, der man selbst nie
sein möchte? „Ganz einfach: indem man genau das einfach nicht ist“, sagt
Inge Ragaller versöhnlich, „es sind ja nicht die Beamten, die so kompliziert
sind, sondern die Gesetze, mit denen sie zu tun haben.“
20 Jahre lang hat Inge
Ragaller schon Leute in den
Staatsdienst geholt – und
dabei erlebt, wie sich die
Zeiten und mit ihnen
die Beamten änderten.
Nach der Ausbildung kam sie zum Sozialamt, betreute als Inspektorin zur
Anstellung (so heißt die Probezeit) den Buchstabenbereich E bis K. „Da
hab’ ich das Flattern bekommen“, erzählt sie, wie plötzlich erwachsen werden war das: Menschen, die so arm oder krank waren, dass sie nicht einmal mehr aufs Amt kommen konnten. Krankheiten, von denen sie vorher
nie gehört hatte. „Ich hatte bis dahin immer eine große Schnauze, aber da
habe ich ganz kleine Brötchen gebacken. Ich wusste doch als 22-Jährige nicht,
was Multiple Sklerose ist.“ Aber sie musste die Entscheidungen treffen.
„Einer war dabei“, erzählt Inge Ragaller, „der hatte ein Gespür für Wahrheit. Der war menschlich, hatte ein Herz und war auch mal in der Lage, zu
bremsen und Grenzen zu setzen.“ Wenn es schwere Fälle gab, junge schwer
kranke Leute, die keine Mittel hatten; wenn sie das Gefühl hatte, sie
müsse helfen, „dann bin ich zu ihm gegangen, und da hat er mir Rückendeckung gegeben“, sagt sie und: „Mein Gott, an den habe ich schon lange
nicht mehr gedacht.“ Sie steht auf, geht hinter ihren Schreibtisch und kramt
nach einem Zeitungsausriss. „Der Bezirk Oberbayern nimmt Abschied von
seinem Mitarbeiter Verwaltungsoberamtsrat Volkmar Rahnert“ steht auf
der Todesanzeige. „Vor drei oder vier Jahren ist er gestorben“, sagt sie,
„mein erster Chef. Der war lange Jahre mein Vorbild.“
Inge Ragaller demnächst in diesem Organigramm erscheinen und einen
Sachbereich leiten, aber „höherer Dienst heißt erst mal mehr Geld“.
Zwanzig Jahre hat Inge Ragaller junge Menschen und Quereinsteiger in
den Staatsdienst geholt. Es gibt kaum eine Behörde der Allgemeinen
Inneren Staatsverwaltung in Bayern, in der nicht jemand sitzt, den sie eingestellt hat. Sie würde nie von ihren Schäfchen reden, das wäre anmaßend,
aber ihr Ton hat Wärme und Wahrhaftigkeit. Sie war lange Jahre Frauenbeauftragte, sie hat das Leitbild der Regierung von Oberbayern mit entwickelt, „was für ein Schmarr’n, dachte ich zuerst, aber dann setzen Sie
sich mit Ihren Kollegen und mit der Arbeit auseinander. Das Selbstverständliche wird wieder bewusst“. Sie hat Reformen miterlebt, sie hat modernisiert, es gibt Mitarbeiterbeurteilungen und Führungsdialoge, wo sogar auf
Sachbearbeiter-Ebene mit einem Moderator Konflikte geklärt werden. Es
gibt Fortbildungen für Soft Skills, soziale Kompetenz und Mitarbeiterschulungen. Es menschelt im Amt. Aber unterm Strich bleibt die Feststellung: „So eine harte Zeit wie heute habe ich noch nicht erlebt.“
„Wenn wir ausschreiben und freie Stellen haben, gibt es viel zu viele Bewerbungen.“ Früher hat sie Info-Stände im Arbeitsamt aufgebaut, um Bewerber
anzusprechen. Früher hat sie in einem Jahr 120 Anwärter für den mittleren
und gehobenen Dienst eingestellt. Heute vielleicht 20. Bei jeder NeubeVom harten Sozialamt
setzung muss sie nun zuerst auf den internen Job-Pool zurückgreifen, denn
zur Lebensaufgabe in der Personalstelle
seit Mitte der Neunziger wird in Bayern konstant umgebaut und abgebaut.
Inge Ragaller reibt mit Daumen und Zeigefinger imaginäre Geldscheine:
Das Sozialamt war eine Nummer zu hart. „Ich habe dort meine Grenzen „Das Ziel ist immer: Es soll billiger und schneller werden, nicht ganz so
gespürt. Das hat mich zu sehr berührt.“ Sie wechselte zwei Jahre später ins kompliziert, und das mit weniger Personal.“ Ämter können nicht einfach
Münchner Polizeipräsidium, das damals gerade verstaatlicht wurde, also ihre Geschäftsfelder erweitern. Bei Kündigungsschutz und konsequentem
dem Land unterstellt. Eine turbulente Zeit, die meisten Verwaltungsein- Stellenabbau würde das die sichere Überalterung bedeuten. „Das kann in
heiten wurden neu geschaffen, sie kam in die Personalstelle, kümmerte den nächsten Jahren tatsächlich ein Problem werden“, sagt die Oberregiesich um Anwärter, aber auch um die Polizeisportmittel, „plötzlich hat das rungsrätin und dabei nickt sie langsam.
richtig Spaß gemacht“. Organisieren, vermitteln, verwalten, motivieren, Am Ende des Gespräches sagt Inge Ragaller, die sich nun sehr viel mit
entscheiden, da hat sie sich für ihren Beruf entschieden, 1975 war das: „Ich Angestelltentarifverträgen, Ver.di, Arbeitsgerichten und dergleichen herumdachte, das machst du jetzt so gut, wie du es kannst.“
schlägt, noch etwas. „Beamte sind pflegeleichter. Nicht weil die kuschen,
Hinter ihrem Schreibtisch hängt ein Organigramm, es ähnelt im Aufbau dem nein. Sie können Beamte einfach überall einsetzen. Schauen Sie, jeder
eines Ministeriums mit seinen verschiedenen Ressorts und Staatssekretären, Beamte hat ja eine ähnlich breit gestreute Ausbildung durchlaufen. Auf
ganz klar, „eine Mittelbehörde muss ja immer das Ministerium spiegeln“. diese Art sind ihre Berufe alle miteinander verwandt.“
Ihr Name taucht in keinem der Kästchen auf. Sie ist „Aufstiegsbeamtin“, Das ist ein wenig so, als wären alle Beamte auf derselben Schule gewesen,
vor fünf Jahren hat sie eine Prüfung abgelegt und ist in den höheren Dienst denkt man später, beim Abstieg durch das Treppenhaus. Und Inge Ragaller
gesprungen, seitdem ist sie Oberregierungsrätin. Theoretisch könnte
war zwar nicht ihre Schulleiterin, aber sie war wohl ziemlich nah dran.
Sitz der Regierung von
Oberbayern mit
feiner Adresse in München:
außen prächtig,
innen bescheiden.
Wirtschaftsentwicklung
Text: Sophie Büning
Zeichnung: Martina Wember
McK Wissen 13
Seiten: 78.79
Tausendmal
probiert …
… tausendmal ist nichts passiert, wenn Kommunen
und öffentliche Hand versuchten, ihren
Regionen zu Wachstum und Wohlstand zu verhelfen.
Dabei ist regionale Wirtschaftsentwicklung
nicht nur möglich, sie ist im Zweifel sogar der
einzige Weg, der in Zeiten wie diesen neue
Arbeitsplätze schafft. Vorausgesetzt, es werden die
richtigen Konzepte gemacht.
Eine Reise durch deutsche Cluster-Regionen.
12
1.
FORDERN, FÖRDERN, PLANEN UND ENTWICKELN.
Warum klassische Regionalentwicklung noch kein Cluster schafft.
Die „Clusterei“, wie es einige Akteure mittlerweile gern nennen, ist bereits
seit 1990 en vogue. Damals hatte Harvard-Professor Michael Porter die
These formuliert, dass Innovationen als ultimative Wettbewerbsvorteile vor
allem dann entstehen, wenn die konkurrierenden Akteure einer Industrie
am selben Ort versammelt sind. Je enger die Wettbewerber zusammenrücken, desto größer die daraus entstehende Kraft. Und je größer die Kraft,
desto besser, meinte Porter.
Was einfach klang, bedeutete damals wie heute eine Revolution. Konsequent zu Ende gedacht, geht es bei einem Cluster nicht mehr nur um den
Erfolg des einzelnen Unternehmens, es geht um den Erfolg einer Region,
die prosperiert, weil es den einzelnen Akteuren nützt. Unternehmen in
modernen Industrien können konkurrieren – und dennoch vom Austausch
miteinander profitieren. Sie können gemeinsam forschen und entwickeln
– und doch individuelle Antworten auf einzelne Fragestellungen finden.
Sie können jeweils nach den besten Mitarbeitern suchen – und zusammen
dafür sorgen, dass der Nachwuchs die hohen Anforderungen einer modernen Industrie erfüllt. Sie können aus dem egoistischen Ziel, die Wege zu
ihren Lieferanten zu verkürzen, gemeinsame Sache machen: Für einen Auftraggeber zieht so leicht kein Zulieferer in eine Region, für ein Bündel an
Aufträgen dagegen schon. Die Wettbewerber dürfen gern ihr eigenes Wachstum zum Ziel haben – und als Gruppe dennoch den Erfolg der Region:
Ein attraktiver Standort lockt neue, junge Unternehmer und damit auch
potenziell neue Kunden, neue Partner, neues Wissen und neue Ideen.
Kurzum: Die Unternehmer in einem Cluster können ihre individuelle
Marktposition stärken, weil sie von der Attraktivität einer Region als Wirtschafts- und Lebensraum profitieren.
Die klassische Regionalentwicklung greift deshalb zu kurz. Wer aus einer
Region ein Cluster machen will, braucht Analysen, Konzepte und finanzielle Mittel; er braucht Hochschulen, Flughäfen, Bahnhöfe und Autobahnen, Gewerbegebiete und Stadtentwicklung. Er braucht Visionen und den
politischen Willen, die Unterstützung aller Parteien und wirtschaftlichen
Kräfte. Er braucht Gestaltungsmacht. Hoffnung. Mut. Er muss neue Wege
gehen und Fehler machen dürfen. Er braucht eine hohe Frustrationstoleranz und nicht wenig Überzeugungskraft. Er braucht quantifizierbare
Ziele. Vor allem aber braucht er Zeit. Die nächste Wahl, die nächste Hauptversammlung, der nächste Haushaltsplan einer Stadt reichen nicht als Frist
für das Verkünden guter Nachrichten. Wer ein Cluster baut, verknüpft Tradition und Moderne. Und arbeitet an der Zukunft einer gesamten Region.
2.
ALLE PLANEN, NICHTS GEHT.
Weshalb es nicht reicht, das Beste zu wollen.
Ob es symptomatisch für Deutschland ist, weiß Peter Kraljic nicht so
genau. Es sei zumindest symptomatisch für jede deutsche Region, die sich
aufmacht, ein Cluster-Projekt anzuschieben.
Der 65-Jährige, der als Director bei McKinsey bis zu seinem Ruhestand vor
drei Jahren die unterschiedlichsten Gegenden der Welt bei ihren Wachstumsplänen unterstützte, erinnert sich mit Unbehagen an die Zeit vor sieben Jahren, als es in Wolfsburg losgehen sollte mit jener Vision, die aus der
gebeutelten Stadt so etwas wie eine blühende Landschaft machen sollte.
Der Vorstand der Volkswagen AG, vertreten durch Arbeitsdirektor Peter
Hartz, hatte der Stadt 1998, zum sechzigsten Geburtstag, ein ungewöhnliches Geschenk gemacht: Der größte und mehr oder weniger einzige
Arbeitgeber der Region wollte dafür sorgen, die Arbeitslosigkeit in Wolfsburg um die Hälfte zu reduzieren. Innerhalb von gut fünf Jahren sollten
zehntausend neue Jobs entstehen. Ein Automobil-Cluster, McKinseyBerater Kraljic sollte helfen, es zu bauen.
„Wir hatten schon Pläne, Zahlen und ein sehr klares Konzept“, erinnert er
sich. Und erzählt dann von jener Sitzung, die er bis heute nicht vergisst,
weil er zu einer auch für ihn bis dahin ungewöhnlichen Taktik gegriffen
hatte. Aus Verzweiflung über die politische Kleinkrämerei, die er hier zu
Lande so oft beobachtet, wenn es um die Schaffung von Arbeitsplätzen
geht. Und auch, weil er die endlosen Debatten müde war, damals.
„Es waren alle Fraktionen vertreten, klar. Rote, Gelbe, Grüne, Schwarze,
alle hatten sie ihre Vertreter geschickt. Und alle begannen, kaum dass ich
das Konzept vorgestellt hatte, mit den Erklärungen darüber, warum es
nicht klappen könnte. Es ging nur um Zweifel, Kritik und mögliche Stolpersteine, jeder zog in eine andere Richtung. Nach einer Weile habe ich sie
unterbrochen und nicht als Vertreter von McKinsey ums Wort gebeten,
sondern als ‚Gastarbeiter Peter Kraljic‘.“
Er sei im Kommunismus aufgewachsen, erklärte
er der Runde. „In Jugoslawien. Da hatten wir eine
Diktatur und keine Demokratie. Aber ich habe
den Eindruck, dass Sie Ihre Demokratie missbrauchen. Ich verstehe demokratische Entscheidungswege, aber hier geht es nicht darum, welche Partei Recht hat. Hier geht es um Arbeitsplätze.
Nicht für Sie und nicht für Ihre Kinder, sondern
für Ihre Enkelkinder. Die Fraktion, die das nicht
unterstützt, sollte jetzt aufstehen und den Raum
verlassen. Denn ich brauche hier nur eine Fraktion. Und die heißt Fraktion Wolfsburg.“
Es sei gespenstisch gewesen, sagt Kraljic. Sehr
still. „Und dann fingen alle an zu klatschen. Eine
halbe Stunde später wurde das Konzept einstimmig verabschiedet.“
3.
STÄRKEN STÄRKEN.
Wieso Cluster nicht gleich Cluster ist.
So unterschiedlich die Regionen, so unterschiedlich sind auch die Lösungen, die dauerhaft zu
Wachstum führen. Jede Gegend hat andere Wurzeln, andere industrielle Schwerpunkte, andere
Branchen-Konstellationen, andere Zwänge – und
auch ihre individuellen Optionen. Es gibt nicht
das eine Modell, ein Cluster aufzubauen. Aber
es gibt zu Beginn die immer gleichen wichtigen
Fragen: Was sind die Stärken der Region? Worauf
können wir aufbauen? Haben wir in Bezug auf
Unternehmen und Wissen eine kritische Masse,
die wir entwickeln können?
Beispiel Wolfsburg
Die Stärke der Stadt war gleichzeitig ihre Schwäche: Wolfsburg war Automobilindustrie – und
Wirtschaftsentwicklung
Text: Sophie Büning
ohne Automobilindustrie war Wolfsburg wenig. Eine Monokultur. Zentriert
auf den einzigen großen Arbeitgeber der Region, die Volkswagen AG. Stärken zu stärken bedeutete hier den Ausbau der Region zu einem Zentrum
für Mobilität. Konkret: Zulieferer ansiedeln, neue Betriebe anlocken und
entwickeln, eine mittelständische Industriekultur aufbauen, Forschung und
Entwicklung vorantreiben, Know-how bündeln. Und der Stadt ein neues
Gesicht geben.
Seit 1997 wurden in Wolfsburg 263 Unternehmen gegründet, 101 Volkswagen-Lieferanten und -Zulieferer haben sich angesiedelt, insgesamt hat
der Standort 7941 neue Arbeitsplätze geschaffen – ein Plus von gut zehn
Prozent verglichen mit damals. Die Autostadt lockt jedes Jahr rund eine
Million Besucher in die Stadt, das neue Science Center oder die Wasserskianlage sollen weitere Gäste anziehen. Spätestens in vier Monaten wird
die neue Autouniversität ihren regelmäßigen Lehrbetrieb aufnehmen – zunächst nur für Konzernmitarbeiter, ab 2010 wird sie Studenten aus aller
Welt offen stehen.
Der Campus ist fast fertig gebaut, die ersten Studiengänge sind geplant,
die „Studenten“ für das kommende Semester haben sich bereits eingeschrieben. In zehn Jahren will die Region um Wolfsburg der europäische
Standort für alles rund um das Thema Mobilität sein – dazu zählen Innovationen der Automobiltechnologie genauso wie neue Produkte aus dem
Gesundheitsbereich, die das Leben bequemer und die Menschen mobiler
machen sollen. Die Arbeitslosigkeit ist seit 1997 von 17,2 auf 8,2 Prozent
in 2004 gesunken.
Beispiel Dortmund
In Dortmund gab es keinen erkennbaren Kern, stattdessen vor allem Reste.
Die Reste einer einst florierenden Brauerei-Industrie, Reste von ehemals
führenden Logistikunternehmen und Reste von Kohle und Stahl, den
beiden Gütern, die das Ruhrgebiet jahrzehntelang reich gemacht hatten.
Insgesamt 90 000 Arbeitsplätze waren seit den fünfziger Jahren, den Hochzeiten der Region, verloren gegangen. „Alles, was prägend war, war weggebrochen“, erinnert sich Heinrich Kahmeyer, der ehemalige Personalchef
von ThyssenKrupp. Ende der neunziger Jahre drohte der größte Arbeitgeber der Region seine beiden letzten Hochöfen zu schließen. Die Entscheidung würde weitere 4000 Arbeitsplätze kosten.
McK Wissen 13
Seiten: 80.81
Aber die Region hatte auch Wissen. Neben den Hochschulen in Bochum,
Duisburg und Essen bildete vor allem die Universität Dortmund mit dem
deutschlandweit größten IT-Fachbereich jedes Jahr gut 2000 Studenten aus.
Das war ein Anfang, eine Basis, auf der man aufbauen konnte.
Wie zuvor in Wolfsburg suchte McKinsey Antworten auf die drei wichtigsten Fragen: Was kann man tun, um die vorhandenen Unternehmen vor
Ort zu halten und wachsen zu lassen? Wie und in welchen Segmenten kann
man neue Unternehmen gründen? Und vor allem: Wie kann man sie in
der Region ansiedeln? Erfolgreiche Unternehmensgründungen beispielsweise im Bereich der Biotechnologie, das lehrt die Erfahrung, sorgen nach
etwa fünf Jahren ihrer Existenz für 10 bis 20 Arbeitsplätze. Nach zehn
Jahren beschäftigen diese Unternehmen im Schnitt 20 bis 50 Mitarbeiter.
Jochen Overlack, Regionalentwicklungsexperte bei McKinsey sagt: „Wenn
Sie jedes Jahr für 10 oder 20 derartiger Gründungen sorgen, können Sie
sich ausrechnen, wie viele neue Arbeitsplätze Sie in zehn Jahren haben.“
Mit einer Vielzahl von einzelnen Maßnahmen und Projekten ist die Region
um Dortmund deshalb dabei, ein Technologie-Cluster um die Bereiche IT,
Logistik und Mikrosystemtechnik aufzubauen. Was das in der Praxis bedeutet und warum eine solche Idee nur funktioniert, wenn alle Beteiligten sich
dem gemeinsamen Ziel verpflichtet fühlen, soll der neue Studiengang
Informatik verdeutlichen:
Dortmund hatte Anfang des neuen Jahrtausends gut ausgebildete Informatiker, aber es waren zu wenige für den geplanten Sektor, und ihre Ausbildung währte zu lang. Neun Jahre dauerte das Studium im Schnitt – endlos für eine Branche, die sich unentwegt wandelt. Um den neuen und
alten Unternehmen in der Region schneller zu gut ausgebildeten Mitarbeitern zu verhelfen, haben Universität, Fachhochschule, örtliche Industrie- und Handelskammer und die zentrale Steuereinheit der Region, das
Dortmund-Project, deshalb zum ersten Mal in ihrer Geschichte kooperiert
– und gemeinsam mit den Unternehmen vor Ort einen Modellstudiengang konzipiert, der innerhalb von zwei Jahren junge Fachinformatiker,
IT-Professionals, ausbildet. Das Studium ist staatlich anerkannt, als Grundstudium für all jene, die sich in der Wissenschaft weiterentwickeln wollen – oder als Einstieg in die Praxis. Die Planung dauerte drei Monate, im
Jahr 2000 starteten die ersten 120 Studenten, zeitgleich mit ihrem
Abschluss hatten 85 Absolventen einen festen Arbeitsvertrag in Unternehmen der Region.
4.
ALLE ZIEHEN MIT – ABER WOHIN?
Warum es ohne Steuereinheit nicht geht.
Weil das beste Konzept nichts taugt, wenn die
Umsetzung schlecht gemanagt wird, kommt der
Organisation der Prozesse eine zentrale Bedeutung zu. „Eine Region, die ein Cluster werden
will, braucht die geballte Kraft aller Beteiligten“,
sagt Peter Kraljic. „Sie brauchen ein Gremium,
das die verschiedenen Parteien vertritt, konkret:
eine klare Führung.“
In Dortmund übernimmt diese Rolle eine Einheit, die der Stadt gehört und dem Bürgermeister
unterstellt ist: Das Dortmund-Project ist ein Team
von rund 30 Leuten, deren Aufgabe es ist, sämtliche Projekte der Region – vom BusinessplanWettbewerb bis zur Anlage eines künstlichen
Sees – zu initiieren, zu begleiten und in Bezug auf
Zeit und Kosten zu steuern.
Wolfsburg hat für dieses Aufgabenspektrum
ein unabhängiges Unternehmen gegründet, das
jeweils zur Hälfte der Stadt und der Volkswagen
AG gehört. Die Wolfsburg AG residiert in einem
eigenen Gebäude, auf dem so genannten Innovationscampus, inmitten junger, mit ihrer Hilfe
gegründeter Unternehmen. Rund 200 Mitarbeiter
sind inzwischen in der AG beschäftigt, die von
zwei Aufsichtsräten, Volkswagen-Personalvorstand Peter Hartz und Oberbürgermeister Rolf
Schnellecke, kontrolliert wird.
Die Region Hannover, die sich auch aufgemacht
hat, ein Cluster zu werden, hat sich für die operative Verantwortung wieder eine andere Organisationseinheit gegeben. Dort wurde im April
2003 die Hannoverimpuls GmbH gegründet,
eine rein öffentliche Institution, die zu 50 Prozent
der niedersächsischen Landeshauptstadt und
zu 50 Prozent der Region gehört. Die Public-Public-Partnership ist der
spezifischen Situation geschuldet: Als sich die damalige Wirtschaftsministerin Susanne Knorre Anfang 2002 daranmachte, ein Cluster-Projekt anzuschieben, fand sie in der örtlichen Industrie zunächst keine Verbündeten.
Inzwischen ziehen die mittelständischen Unternehmen rund um Hannover
mit, allen voran Vertreter aus den Sektoren Maschinenbau, Lasertechnik und
Automobilindustrie.
Die Region um Braunschweig, wo die Bereiche Kunststofftechnik, Maschinenbau, Mikroproduktion und Verkehrssicherungstechnik gestärkt werden
sollen, hat als Schaltstelle für den Wandel aufgrund ihrer spezifischen
Situation eine höchst komplizierte Form wählen müssen. Formal ist die Projekt Region Braunschweig GmbH, die im Februar 2005 gegründet wurde,
eine Public-Private-Partnership, tatsächlich wird der Public-Teil aus drei
Städten und fünf Landkreisen gebildet. Zu den Gesellschaftern zählen Braunschweig, Salzgitter, Wolfsburg, Gifhorn, Goslar, Helmstedt, Peine und
Wolfenbüttel. Von Unternehmensseite sind der Volkswagen-Konzern, die
Öffentliche Versicherung Braunschweig, die Salzgitter AG, der Arbeitgeberverband Region Braunschweig e.V. sowie die IG Metall beteiligt.
Eine Mammutaufgabe für Dirk Warnecke. Der Geschäftsführer der GmbH
soll mit seinen 20 Mitarbeitern nicht nur diverse Projekte vorantreiben. Mit
einem Jahresbudget von 2,5 Millionen Euro (für die nächsten fünf Jahre)
soll er bis 2015 außerdem rund 12 000 neue Jobs schaffen und muss dabei
– wie jeder Leiter in einer Cluster-Projektorganisation – auch stets die jeweiligen Interessen der heterogenen Gesellschafterstruktur ausbalancieren.
Da gilt es nicht nur, die Vielzahl von Einzelprojekten im Detail zu steuern,
die Finanzen zu verwalten, neue Gelder einzuwerben, die Planziele ständig
mit der Realität abzugleichen und jede einzelne Maßnahme in einem quantitativen Raster zu bewerten und gegebenenfalls zu korrigieren. Viel schwieriger ist der unkonkrete Bereich, der diffuse, in dem es menschelt, weil so
ein Cluster, wie Peter Kraljic sagt, „ja nun einmal lebt – mit der Wirtschaft,
mit dem Wirtschaftsraum, mit der Entwicklung eines Sektors“. Und mit
den Hoffnungen, Eitelkeiten, Zweifeln, politischen Überzeugungen, alten
Feindbildern und neuen Ängsten der Menschen in einer Region.
Auch damit müssen die Steuerungsteams in der Praxis ständig umgehen:
In einer Region, die den Sprung in die Moderne schaffen will, fühlen sich
viele als Verlierer. Der ehemalige Arbeiter im Automobilwerk, der einstige
Kohlekumpel, der Ex-Stahlgießer, der Handwerker, die Friseurin – was
haben sie von der schönen neuen Welt, in der Arbeitsplätze für Logistik,
Verfahrenstechnik, Mikrosystemtechnik oder IT entstehen?
„Sie müssen den Menschen die Ziele immer wieder erklären“, sagt Udo
Mager, der Projektleiter in Dortmund, „sie in ihre Welt übersetzen. Ihnen
klar machen, dass jeder einzelne Schritt auch der lokalen Wirtschaft nutzt,
weil es Querverbindungen geben wird, neue Produkte und neue Lösungen
– und am Ende auch ein anderes Lebensgefühl, für jeden in der Region.“
6.
UND ES GEHT DOCH.
Wie aus alten Strukturen neue Partner wachsen können.
70 bis 80 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland verdienen ihr Geld
im Mittelstand. Grund genug für die Player in einer Region, auch in diesem Segment für den Abbau alter Barrieren und neue Lösungen zu sorgen. Kim, die Kooperation Initiative Maschinenbau zeigt, wie das gelingen
Wo zusammenwachsen soll, was bislang nicht zusammengehörte, ist Sen- kann.
sibilität gefragt, Ausdauer, Konfliktfähigkeit, Optimismus und Überzeu- In Braunschweig haben sich vor fünf Jahren zwölf Unternehmen zusamgungskraft. Mit dem Geschick der operativen Steuerzentralen steht und fällt mengetan, um sich gegenseitig zu unterstützen – der Verband der Metallletztlich das gesamte Projekt. „Die Person an der Spitze muss in alle denk- industrien und die IG Metall förderten die Idee mit einem in Deutschland
baren Richtungen agieren“, sagt Cluster-Experte Thomas Heuser, „und das bislang einzigartigen Tarifvertrag. Kim-Mitglieder dürfen Fachkräfte je nach
Bedarf untereinander ausleihen und können so flexibel auf die jeweilige
jeden Tag und auf zahllosen Hochzeiten gleichzeitig.“
Ob Dortmund-Project, Wolfsburg AG, Hannoverimpuls oder Projekt Auftragslage reagieren. Das hat den Stellenabbau bei allen Mitgliedern
Region – die Aufgaben der Teams an der Spitze sind mehr oder weniger gestoppt. Jochen Overlack schwärmt noch heute von dem Projekt: „Die
gemeinsame Planung und Zusammenarbeit von Unternehmen, die
identisch. Und sie sind höchst kompliziert.
5.
ZWISCHEN ALLEN STÜHLEN.
Was es bedeutet, eine Region zu motivieren.
„Die Person an der Spitze
muss in alle denkbaren
Richtungen agieren – und
das jeden Tag und
auf zahllosen Hochzeiten
Thomas Heuser
gleichzeitig.“
Wirtschaftsentwicklung
Text: Sophie Büning
Zeichnung: Martina Wember
keine gemeinsame Kapitalbasis haben, war etwas Neues und ganz Fantastisches“, meint der Berater. „Und sie war vor allem der Flexibilität der IG
Metall zu verdanken.“
Inzwischen hat sich das Projekt noch deutlich ausgedehnt. Heute tauschen
die Kim-Mitgliedsfirmen nicht nur Mitarbeiter untereinander aus, sondern
auch Wissen. Sie forschen und entwickeln gemeinsam, zudem organisieren sie miteinander den Einkauf, die Entsorgung und die Ausbildung des
Nachwuchses. Neun weitere Maschinenbau-Betriebe der Region haben
die Idee inzwischen aufgenommen und eine zweite Kim gegründet, und
auch rund um den Forschungsflughafen Braunschweig haben sich 13 kleine
und mittlere Unternehmen zusammengetan, um gegenseitig von ihrem
Know-how zu profitieren. Die Kim für die Luftfahrt wird von der Projekt
Region Braunschweig GmbH unterstützt. Zum Wohle der Region und der
Unternehmen.
McK Wissen 13
Seiten: 82.83
Regionen, in denen die klassischen Industrien am Aussterben sind? Und
wo, wenn nicht in Clustern, sind in jüngster Vergangenheit überhaupt
Arbeitsplätze geschaffen worden in Deutschland? In einer Zeit, in der landesweit Jobs ab- und nicht aufgebaut werden, hat die Region Dortmund
eine Grundlage für Wachstum geschaffen, das auf neue Technologien
und Zukunftsbranchen baut. Und diese Branchen, meint Heuser, folgen
anderen Regeln.
Die seit Projektbeginn rund 200 neu gegründeten Unternehmen bräuchten
gut fünf Jahre Entwicklungszeit, bis sie mit ihren Innovationen wirklich
wachsen und eine nennenswerte Zahl von Mitarbeitern einstellen könnten,
meint er. Der Multiplikationseffekt mache sich in diesen Industrien stets
später bemerkbar. Und ja, sagt Heuser, vielleicht seien die Pläne von damals
auch ein wenig zu optimistisch gewesen. „Alle waren seinerzeit betrunken
von der New Economy. Die Dortmund-Planer vielleicht auch. Aber ist das
Ziel deshalb schon falsch?“
Das Ziel war richtig. Und es darf nicht vage bleiben, denn sonst bewegt
WAS IST ERFOLG?
sich nichts. Ohne die konkrete Definition dessen, was eine Region erreichen
Weshalb Zahlen so wichtig – und so unwichtig sind.
will, meint Jochen Overlack, erreicht sie nichts. „Es ist nicht so wichtig,
ob am Ende der Strecke 50 000 oder 70 000 neue Stellen geschaffen sind.
Die Region um Dortmund hatte sich ehrgeizige Ziele gesetzt. Zwischen Wichtig ist der Turnaround, und dafür steht Dortmund. Die Menschen
2000 und 2010 sollten rund 70 000 neue Arbeitsplätze entstehen, mehr als müssen genau wissen, wohin sie wollen. Sie müssen alle Kräfte dafür
ein Drittel der vorhandenen Stellen in Dortmund; 34 000 allein im IT- und mobilisieren, Mittel bereitstellen und stets auf aktuelle Entwicklungen reaE-Commerce-Sektor. Die Unternehmen im kalifornischen Silicon Valley gieren. Dazu brauchen sie quantifizierbare Ziele, denn nur daraus können
hatten seinerzeit binnen fünf Jahren ein durchschnittliches Wachstum von sie konkrete Maßnahmen ableiten und immer wieder überprüfen, ob sie
2,7 Prozent jährlich erzielt – warum sollten Unternehmen im Ruhrgebiet von ihrem Ziel abweichen und gegebenenfalls gegensteuern.“
nicht etwas Ähnliches schaffen?
Im März 2005 wurde Halbzeitbilanz gezogen. 9000 neue Arbeitsplätze im
IT-Bereich hat die Region Dortmund geschaffen – 12 000 waren für die
UNTERNEHMER FÖRDERN.
Hälfte der Strecke geplant. Und die Arbeitslosigkeit ist wieder gestiegen: Warum Businessplan-Wettbewerbe so wichtig sind.
von 13,7 Prozent in 2000 auf heute 18,5 Prozent. 65 108 Menschen ohne
Beschäftigung meldet die örtliche Agentur für Arbeit im März 2005. Gründer und junge Unternehmer braucht das Land, darin sind sich Politik
Na bitte, meinten einige Kritiker, Ziel verfehlt. Die ganze Idee: viel Lärm und Wirtschaft einig. Die Frage ist nur: welche Gründer, welche Unterum nichts. Und haben sie nicht Recht?
nehmer? Der Student, der sich mit einem Gewerbeschein aufmacht, einen
„Nein, das haben sie nicht“, meint Thomas Heuser, Vorstandsvorsitzen- Uni-Schreibservice anzubieten, ist es eher nicht, der eine Region auf Dauer
der der Dr. Heuser AG, die mit der Evaluation des Dortmund-Projektes voranbringen kann. Das können vor allem Unternehmer an den Schnittbetraut ist. Stattdessen fragt er zurück: Wie viele neue Arbeitsplätze sind stellen zwischen neuen und alten Industrien. Und genau die muss sich jede
denn im selben Zeitraum anderswo geschaffen worden, noch dazu in
Region gezielt suchen.
7.
8.
„Das Gros unserer Arbeitsplätze haben wir heute
in Industrien mit einem sehr hohen Reifegrad“,
erklärt McKinsey-Experte Jochen Overlack den
Zusammenhang. „Der Automobilbau beispielsweise wird in den kommenden Jahren wenig
Beschäftigungszuwachs haben, Banken bauen
eher ab als auf, das Gesundheitswesen steht
unter enormem finanziellem Druck. Was wir brauchen, sind neue Technologien, Biotechnologie
oder Lasertechnologie etwa, von denen wir heute
schon wissen, dass ihre Anwendungen sich in
den kommenden zehn, fünfzehn Jahren auch in
den klassischen Industrien durchsetzen werden.
Es gibt eine Reihe von Branchen, die erst ganz am
Anfang eines 40-jährigen volkswirtschaftlichen
Entwicklungszyklus stehen. Junge Unternehmen
in diesen Bereichen beschäftigen heute vielleicht
nur 40 Mitarbeiter – in zehn Jahren können es
aber schon 4000 oder 40 000 sein. Das sind die
Unternehmen, die wir meinen.“
Um sie zu finden, meint der Berater, sind Gründerwettbewerbe notwendig. Aber nicht irgendwelche. Wer neue Branchen und Industrien zu
einem Cluster aufbauen will, braucht Auswahlverfahren, die exakt auf die Ziele und Bedürfnisse
der Region zugeschnitten sind. Denn nur sie
garantieren Gründer und Unternehmens-Projekte, von denen am Ende alle Beteiligten vor Ort
profitieren.
Die Wolfsburg AG hat durch ihre vier Wettbewerbe in den vergangenen Jahren 263 Unternehmer identifiziert und gefördert, die sich inzwischen
in und um Wolfsburg herum niedergelassen haben.
Ihre Geschäftsideen unterstützen die vier Schwerpunkte – Mobilität, IT, Tourismus und Gesundheit –, die aus der Region ein prosperierendes
Cluster machen sollen.
Dortmund braucht für sein geplantes Wachstum vor allem junge Unternehmer aus dem Bereich Mikrosystemtechnologie (MST) – und hat deshalb
einen europaweit einzigartigen Wettbewerb aufgelegt. In den zwölf Businessplan-Runden, die das Team des Dortmund-Projects seit 2001 bereits organisiert hat, wurde auch Nachwuchs für Logistik und Informationstechnologie rekrutiert. Insgesamt haben die Wettbewerbe bis heute zu rund 200
Gründungen geführt – gut 100 der jungen Unternehmer haben sich in der
Stadt angesiedelt.
Eine spezielle Konstruktion hat dafür gesorgt: Das Preisgeld – 7500 bis
50 000 Euro – wird den Siegern der verschiedenen Kategorien nur dann
in voller Höhe ausgezahlt, wenn sie sich in der Region niederlassen. Wer
sich gegen den Standort entscheidet, muss auf die Hälfte der Prämie verzichten. Und auf ein Netzwerk von gut 600 ehrenamtlichen Experten, die
den jungen Unternehmern auch über die Wettkampfzeit hinaus mit Rat und
Tat zur Seite stehen.
Ingo Kloppenburg ist einer der Gründer, die sich für einen Firmensitz in
Dortmund entschieden haben. Als er vor zwei Jahren bei Start2grow
gewann, durfte er sich über 7500 Euro Startkapital und einen Gutschein
im Wert von 50 000 Euro freuen, den er als Mieter der MST-Factory einlösen darf. In dem neu gebauten Gebäudekomplex auf dem ehemaligen
Stahlgelände Phoenix West können sich der 38-jährige Diplomingenieur
und seine vier Mitarbeiter nicht nur mit jungen Kollegen beraten und austauschen, sondern auch dringend benötigte Maschinen anmieten, deren
Anschaffung sich noch keiner der Gründer allein leisten könnte.
Kloppenburgs Unternehmen, die MMS-Micro Machining Service GmbH,
stellt sehr kleine Bohrer her. 30 Mikrometer misst ihr kleinster – damit
könnten sogar mindestens zwei Löcher nebeneinander in ein Haar gebohrt
werden. „Das ist der kleinste auf dem Markt“, sagt Kloppenburg. Und es
ist erst der Anfang. Wenn sein prämierter Businessplan aufgeht, wird sich
die MMS-Belegschaft schon binnen zwei Jahren verdoppeln. Und MMS
ist nur ein Beispiel von vielen.
„Es gibt eine Reihe von Branchen, die erst ganz am Anfang
eines 40-jährigen volkswirtschaftlichen Entwicklungszyklus
stehen. Junge Unternehmen in diesen Bereichen
beschäftigen heute vielleicht nur 40 Mitarbeiter – in zehn
Jahren können es aber schon 4000 oder 40 000 sein. Das
sind die Unternehmen, die wir meinen.“ Jochen Overlack
Musterlandkreis
Text / Foto: Stefan Scheytt
McK Wissen 13
Osnabrück
im Glück
Seiten: 84.85
Bürgernah und trotzdem sparsam:
Die Landkreisverwaltung Osnabrück gilt bundesweit als vorbildlich.
Ein Besuch.
Glücklich in Osnabrück? Ausgerechnet in und um Osnabrück herum
sollen die glücklichsten Deutschen leben. Das jedenfalls haben der Stern,
McKinsey & Company, das ZDF und AOL herausgefunden, als sie vor
zwei Jahren 450 000 Deutschen den Puls fühlten. In diesem Jahr landete
die Region erneut im Spitzenfeld, auf Platz sieben von 42, und war damit
immerhin noch die glücklichste Gegend Norddeutschlands. Die Ursachen
dafür, frohlockten Stadt und Landkreis in einer Anzeigenserie, lägen nicht
nur in der „gesunden Luft, die täglich aus dem nahen Teutoburger Wald
herüberweht“, sondern auch bei den „vielen gesunden Unternehmen, die
hier zu Hause sind und uns zu einem der stärksten Wirtschaftsstandorte
Deutschlands gemacht haben“. Gut möglich aber auch, dass die Landkreisverwaltung selbst einen Anteil an der Glücksproduktion in Osnabrück
hat. Denn sie gilt bundesweit als außergewöhnlich bürgernah, reform- und
experimentierfreudig. Und obwohl sie sich ihre Bürgernähe mitunter
einiges kosten lässt, ist sie durch mehr Wirtschaftlichkeit an anderer Stelle
insgesamt auch sparsamer als viele andere öffentliche Verwaltungen.
Landkreis vor Ort: nahe an den Wünschen der Bürger
Um davon einen Eindruck zu bekommen, muss man das Kreishaus in
Osnabrück zunächst links liegen lassen und fast 30 Kilometer hinausfahren ins Rathaus der Kreisgemeinde Bad Essen. Dort sitzt die Verwaltungsfachangestellte Bettina Gottschalk in einem modernen Großraumbüro, vor
sich zwei Stempel als Symbol einer bürgernahen Verwaltung. Den Stempel
ihres Vorgesetzten, des Bürgermeisters, benutzt sie, wenn beispielweise
ein Bad Essener kommt, der einen neuen Personalausweis beantragt. Will
der Kunde auch sein neues Auto anmelden, stellt Bettina Gottschalk die
Dokumente und das Kennzeichen im Auftrag des Landrats aus und greift
dazu zum zweiten Stempel. Vor drei Jahren hätte sie den Kunden noch
vertrösten müssen: „Für die Zulassung müssen Sie Donnerstag noch mal
kommen, da ist immer der Kfz-Kollege vom Landkreis hier.“ Und ganz
früher hätte sie gesagt: „Für Kfz-Angelegenheiten müssen Sie nach
Osnabrück fahren.“ Heute springt Bettina Gottschalk zwischen vielen hoheitlichen Aufgaben hin
und her.
Dienstleistungen wieder zurück in die Rathäuser
der Kreisgemeinden und -städte zu verlegen heißt
in Osnabrück „Landkreis vor Ort“. Als das Projekt vor vier Jahren begann, sprachen Kritiker
vom „Verkauf von Landkreisinteressen“ oder verwiesen auf die Kosten der „unnötig aufgeblähten
Bürokratie“. Und das nicht zu Unrecht: „Landkreis vor Ort“ widerspricht eindeutig dem Trend
zur Kosten sparenden Zentralisierung. Das Projekt belastet den Kreishaushalt mit rund 50 000
Euro im Jahr, die vor allem in die anteilige Bezahlung von Gemeindeangestellten wie Bettina Gottschalk fließen. Aber: In einem Landkreis, der fast
so groß ist wie das Saarland, kann eine Verwaltung vielleicht keine Glücksgefühle, aber Zufriedenheit hervorrufen, wenn sie den Bürgern mit
der Zulassung ihres Autos, dem Beantragen des
Erziehungsgeldes, dem Ausstellen des Jagd- oder
Führerscheins und vielen anderen Dienstleistungen etliche Kilometer entgegenkommt. Die Osnabrücker Kreisverwaltung hat ausgerechnet, dass
sie der Landbevölkerung dadurch fast 1,3 Millionen Fahrkilometer oder eine halbe Million Euro
im Jahr erspart.
Auch sonst weiß man im Kreishaus sehr genau,
was die Bürger schätzen und wünschen. In
Deutschland gibt es wohl keine zweite Kreisverwaltung, die die Menschen ihres Einzugsbereichs
schon so lange und so regelmäßig durch ein
13
Musterlandkreis
Text / Foto: Stefan Scheytt
Marktforschungsinstitut befragen lässt. In den vergangenen drei Jahren
führten die Interviewer fast 4000 Telefongespräche, der Osnabrücker
„Kundenmonitor“ erfasst nahezu alle Verwaltungsbereiche und Kundengruppen: Ausländer und Bafög-Bezieher, Empfänger von Strafzetteln und
Jagdscheinbesitzer, Eltern von Erstklässlern, Kleingärtner und Autofahrer,
demnächst auch unterhaltspflichtige Väter. In den Ämtern weiß deshalb
jeder sehr genau, wie die Menschen über die Gebühren und die Freundlichkeit des Personals denken, was sie von den Öffnungszeiten halten, wie
sie die Qualität und das Tempo der Beratung beurteilen und ob sie das
Amtsdeutsch der Briefe verstehen oder nicht.
30 000 Euro kostet der Kundenmonitor jährlich, dazu addieren sich die
internen Personalkosten für die Mitarbeiter, die alle drei Monate sämtliche
Daten in Balkendiagramme und Excel-Tabellen verwandeln. Und dann
miteinander vergleichen, die Verwaltungsbereiche untereinander und die
gesamte Landkreisverwaltung mit anderen Landkreisverwaltungen. Verglichen werden die Wartezeit in der Kfz-Zulassungsstelle, die Zahl der
Widersprüche in Bußgeldverfahren und die Fallzahlen pro Sachbearbeiter.
Der Kreis hat sich auch schon mit einer Bank gemessen (und schnitt
schlechter ab) und mit einer Krankenkasse (nur wenig schlechter). Es geht
ständig darum nachzusteuern, also besser zu werden.
Als die befragten Bürger der Ausländerbehörde zu schlechte Noten gaben,
folgte prompt eine Schulung für die Mitarbeiter, zudem wurde ein Integrationsbeauftragter eingestellt. Nach Unmut bei interviewten Auto-Kunden
öffnet die Kfz-Zulassungsstelle inzwischen auch samstags. Als der Kundenmonitor schlechte Werte bei der telefonischen Erreichbarkeit lieferte, richteten die IT-Experten einen Rückruf-Service auf der Website ein: „Teilen
Sie uns kurz mit, worum es geht“, bitten sie dort die Kunden und fragen:
„Wann soll der Rückruf erfolgen?“
Servicegarantien und neue Dienste für mehr Glück – und Effizienz
Das ständige Hineinhorchen in den Kunden und das Nachsteuern scheinen
die Kreativität im Kreishaus anzuregen. In Osnabrück bekommt der verwaltete Bürger zeitliche „Servicegarantien“ auf viele Leistungen, vom amtsärztlichen Gutachten bis zur Gaststätten-Konzessionierung. Oder er kann
sich auf der Website ein Wunschkennzeichen für sein Auto reservieren, was
auch die Kfz-Sachbearbeiter freut. Pro Monat erledigen heute mehrere
McK Wissen 13
Seiten: 86.87
hundert Autofahrer am Computer, wozu sie früher angerufen hätten. Rund 1000 Osnabrücker
Schüler, Eltern und Lehrer bekommen auf Wunsch
eine SMS, wenn im Winter die Busse wegen
Glatteis nicht fahren. Es gibt ein „Büro für Selbsthilfe und Ehrenamt“ und das Projekt „Wir AG“,
das Schülerfirmen voranbringt. Auf der Website
(www.lkos.de) ist ein virtuelles Fundbüro eingerichtet, das – wieder unter dem Stichwort „Landkreis vor Ort“ – 18 Rathäuser im großen Osnabrücker Land abdeckt.
Geld für Experimente – Misserfolg erlaubt
Manche dieser Ideen kosten viel Geld, andere
entlasten die Verwaltung. Manche erweisen sich
wegen zu geringer Nachfrage als unwirtschaftlich, andere schlafen ein, wie der Jugendkreistag
oder die Internet-Chats, die früher einmal regen
Zulauf hatten.
„Hier herrscht Trial and Error, der Geist des Probierens. Wenn’s nicht klappt, wird es wieder eingestampft.“ Das sagt Kai Brauer, Projektleiter
Online, der auf der Website des Landkreises schon
viel ausprobiert und dafür etliche Preise bekommen hat. Brauers Büro ist die gesamte Verwaltung
im Kleinen: Die Zahl der Mitarbeiter wurde von
drei auf zwei reduziert, und Brauer entwickelt aus
der Not eine Tugend. Seit kurzem ist der neue
Internet-Auftritt online, dank einer Public Private
Partnership mit einem regionalen Provider bietet
er trotz verkleinerter Mannschaft im Kreishaus
neuerdings Inhalte: Job-, Immobilien-, Pendlerund Autobörsen, dazu Kleinanzeigen und einen
Veranstaltungskalender, es fehlt nur noch die
Partnerbörse. Dass dabei die Grenzen des Landkreises Osnabrück weit überschritten werden
und, wie manche mäkelten, Werbung für Konkurrenzkreise und -städte
gemacht werde, stört die Nutzer kaum. Brauer sagt: „Den Bürger interessieren doch unsere Verwaltungsgrenzen nicht.“
Begonnen hat der bürgernahe Reformprozess der Osnabrücker Kreisverwaltung Anfang der neunziger Jahre. Angeregt durch die Beispiele niederländischer Kommunen, näherte sich die Verwaltungsspitze Schritt für
Schritt dem heute praktizierten „Steuerungskreislauf“. 1996 und 2002
erhielt der Kreis dafür den Preis der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, eine Art Verwaltungs-Oscar. In Unternehmen ist
eine zielorientierte, strategische Steuerung heute nicht mehr aufregend; für
eine Landkreisverwaltung war sie Mitte der neunziger Jahre ein Paradigmenwechsel. Dort hatte man bis dahin nur Übung in der „Bewirtschaftung von
Haushaltstiteln“, kannte den Verbrauch von „Ressourcen“, aber keine eigenen Produkte und Leistungen. Und hatte noch nie ausdrücklich Ziele
formuliert und sich schon gar nicht auf Kennzahlenvergleiche mit anderen
Verwaltungen eingelassen.
Da grenzte es an eine Revolution, dass die Akteure plötzlich „Leitbilder“
entwerfen sollten, die später in „mittelfristige Entwicklungsziele“ und
„Handlungsschwerpunkte“ mündeten und – ganz zum Schluss – in „Kontrakte“: Vereinbarungen, die in Menge und Qualität festhalten, was die
einzelnen Fachdienste zum „Produkthaushalt“ beitragen können; etwa, in
welcher Zeit ein Bauantrag genehmigt werden soll und was die Genehmigung höchstens kosten darf; wie viele Kilometer Radweg das Straßenbauamt im nächsten Jahr asphaltieren muss oder wie viele Arbeitslose die landkreiseigene Arbeitsagentur vermitteln will.
Mehr Rechenschaft, mehr Verantwortung, mehr Kreativität
Vorstände und Referatsleiter müssen heute in Quartalsberichten Rechenschaft über ihre Zielerreichung ablegen, und das in einer klaren Bildersprache. Schwarze, waagerecht verlaufende Pfeile stehen für die „planmäßige
Entwicklung“; rote, abwärts zeigende Pfeile für „negative Entwicklungen“.
„Auf diese Pfeile stürzen sich Presse und Opposition am liebsten“, sagt
Horst Hüsemann, Referatsleiter für Controlling und Finanzen, dennoch
mache die Arbeit heute eindeutig mehr Spaß: „Früher haben die Abteilungen oft Inseldiskussionen geführt, heute ist man vernetzter und hat viel
stärker den Eindruck, etwas gestalten zu können. Das Geld wird nach strategischen Überlegungen kanalisiert. Wir haben mehr Verantwortung,
aber auch mehr Raum für Kreativität.“ Über die
Jahre ist im Kreishaus das Bewusstsein entstanden, dass man ein Lenkrad in der Hand hält und
Steuern richtig Spaß machen kann.
In dem Backsteinbau am Rande von Osnabrück
sitzen deshalb Menschen wie Klaus Wagner,
Leiter des Fachdienstes Ordnung. Fachdienst – so
heißen jetzt die ehemaligen Ämter, während die
Dezernenten in Vorstände umbenannt wurden.
Klaus Wagner ist Chef von hundert Mitarbeitern,
die sich um Ordnung bemühen: Bei Schankerlaubnissen und Jagdscheinen, im Ausländerwesen, im Straßenverkehr oder beim Brand- und
Katastrophenschutz. Das Schildchen mit seinem
vollen Namen trägt Wagner am Revers, auf seinem Tischkalender steht „Alles in Ordnung“;
der 56-Jährige redet so laut und bestimmend,
dass es nicht wundert, als er erzählt, er stamme
aus einer Polizistenfamilie und sei ein „bekennender Ordnungstyp“.
Andererseits trägt der beamtete Ordnungstyp,
seit 39 Jahren im öffentlichen Dienst, Jeans und
Nickelbrille, hat den obersten Hemdknopf geöffnet und sagt, er sehe gar nicht ein, warum er alle
Fahrschulen im Landkreis jedes Jahr prüfen solle,
wie es die Fahrerlaubnisverordnung verlangt,
„und die hat Gesetzescharakter“. Wagner nutzt
seinen Ermessensspielraum und lässt stattdessen
nur noch „anlassbezogen“ prüfen, wenn also auffällig viele Fahrschüler durch die Prüfung beim
TÜV rauschen, wenn sich Fahrschüler über eine
bestimmte Schule beschweren oder die Konkurrenz entsprechende Tipps gegeben hat. Wagner:
„Wir fahren seit Jahren gut mit dieser Praxis und
ersparen uns so eine Menge Aufwand. Ich nehme
das mal auf meine Kappe.“
In anderen Bereichen gilt ebenfalls Bürokratieabbau – zur Freude beider Seiten: Jagdscheine
Hinter der Durchschnittsarchitektur des Kreishauses
Osnabrück aus den achtziger Jahren verbirgt sich eine gar
nicht durchschnittliche öffentliche Verwaltung,
die schon zweimal den „Verwaltungs-Oscar“ erhielt.
Für Online-Redakteur Kai Brauer gilt bei der Gestaltung
der Landkreis-Website das Prinzip Trial and Error.
Für seine Website www.lkos.de hat der Landkreis
Osnabrück schon etliche Preise bekommen.
Musterlandkreis
Text / Foto: Stefan Scheytt
müssen nur noch alle drei Jahre statt jährlich verlängert werden, Gleiches
soll bald auch bei Genehmigungen für Straßenumzüge gelten.
Mit der Unterstützung der Landwirte wurde der Kreis jetzt zum Kleinkläranlagen-Modell Niedersachsens erklärt: Statt wie bislang dreimal im
Jahr müssen Bauern in Zukunft nur noch einmal jährlich zertifizierte
Klärtechniker zur Grundwasserkontrolle auf ihre Grundstücke lassen. Bei
vorbildlichen Betrieben reicht sogar eine Prüfung der Jauchegrube alle zwei
Jahre, nur wer die Grenzwerte nicht einhält, wird wieder so intensiv wie
früher kontrolliert.
Verwaltungs-Populismus? Bürgerfreundliches Kosten-Nutzen-Denken,
findet Reinhold Kassing, Erster Kreisrat und Vorstand I, verantwortlich für
Service, Gesundheit, Finanzen, strategische Steuerung und Kreisentwicklung. Intern gilt der Wahlbeamte (CDU) als ruheloser Antreiber, der mit
immer neuen Ideen Staub aufwirbelt. Kassing schätzt „Küchenzurufqualität“ und meint damit, dass man auch über Verwaltungsvorgänge so verständlich reden können sollte wie in der heimischen Küche über Privates.
Es ärgert ihn, wenn „die Leute unsere Bescheide nicht verstehen“. Also
schickte Kassing vor kurzem fünf Auszubildende auf ein Seminar über
moderne Korrespondenz und ließ sie anschließend die ausgehende Post im
Kreishaus prüfen. Was sie herausfanden, stellten sie als Tipp-Sammlung ins
Intranet: Verwenden Sie Verben statt Substantive; benutzen Sie keine Blähwörter wie Problemstellung, Zukunftsprognose, mündliches Gespräch …;
vermeiden Sie Schachtelsätze; setzen Sie Paragrafenketten an das Satzende,
schreiben Sie: „Wir übernehmen die Kosten für einen Kindergartenplatz in
der Blumengasse gemäß §…“ anstatt „Hiermit gewähren wir Ihnen gemäß
§ 100 Abs. 1 Nr. 1 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) Eingliederungshilfe
nach §§ 39, 40 Abs. 1 Nr. 8 und § 43 Abs. 1 BSHG in Verbindung mit
§ 55 Abs. 2 Nr. 2 des Neunten Sozialhilfegesetzbuches (SGB IX) im Kindergarten in der Blumengasse.“
Solche Beispiele lassen sich im Osnabrücker Kreishaus viele finden – vom
Azubi-Projekt bis zum neuen intranetgestützten Vorschlagswesen. In der
Summe stehen sie nicht nur für eine innovative, sondern auch für eine
Verwaltung, die – gerade deshalb? – einen äußerst erfolgreichen Sparkurs
fährt. 2004 wählte das Bundesinnenministerium Osnabrück als Teil-
McK Wissen 13
Seiten: 88.89
nehmer der Europäischen Qualitätskonferenz für
öffentliche Verwaltungen in Rotterdam aus – als
eine von drei deutschen Vorzeige-Verwaltungen.
Vorzeigbar ist neben dem Genannten, dass die
Schulden des Landkreises seit 1984 von 274 auf
90 Millionen gesunken sind; dass die Pro-KopfVerschuldung mit 250 Euro pro Einwohner fast
nur noch ein Viertel des Wertes von 1984 beträgt
und den Landesdurchschnitt von 341 Euro weit
unterbietet und dass die Personalausgaben pro
Einwohner mit 110 Euro so niedrig sind wie
nirgendwo sonst in Niedersachsen.
Alte Aufgaben neu organisieren
Wer sich die Arbeit von Jürgen Schwietert
anschaut, versteht, wie das gelang. Es ist Mittagspause, und der Abteilungsleiter sitzt in der
Kreishaus-Kantine, auf dem Speiseplan steht
„Hähnchenbrustfilet à la Heidi Klum“. Seit der
Kantinen-Pächter gewechselt hat, sind die Menübeschreibungen ausgefallener und das Essen
angeblich besser. Seither zahlt der Landkreis auch
keine Zuschüsse mehr, dafür darf der Pächter
jetzt externe Gäste bewirten.
Jürgen Schwietert führt seit wenigen Wochen den
Regiebetrieb 9 und ist damit verantwortlich für
die Pflege von 640 Kilometern Kreisstraße und
291 Kilometer Radweg, an denen 25 000 Bäume
stehen. In seinen Kreisstraßenmeistereien arbeiten
rund 30 Mitarbeiter, vor fünf Jahren waren es
noch doppelt so viele. Die Leistung der Abteilung
hat darunter nicht gelitten: Erstens sitzen auf
den Mähfahrzeugen heute nicht mehr zwei
Christian Niehaves wollte eigentlich Manager in der
Wirtschaft werden. Heute ist er Geschäftsführer der
kreiseigenen Abfalltochter – aus Überzeugung.
Angela Wollmer leitet die Abfall-Hotline, die an sieben Tagen
in der Woche von 7 bis 20 Uhr erreichbar ist.
Männer – einer, der fährt, und einer, der mäht, sondern einer, der fährt
und mäht, „moderne Maschinen mit ihren Sensoren weichen den Leitpfosten automatisch aus“, sagt Schwietert. Zweitens ist seit wenigen Jahren Schichtdienst von 6 bis 22 Uhr möglich, wenn im Frühjahr das Grün
am Straßenrand besonders stark wuchert. So spart sich Osnabrück zudem
eine Anfahrt des schweren Geräts zum Mähort, im zweitgrößten Landkreis
des Bundeslandes dauert die leicht 45 Minuten und mehr. In Zukunft will
Schwietert Jahreszeitkonten einführen, die sich im Frühjahr und Sommer
prall füllen können und im Herbst und Winter wieder schrumpfen.
Drittens schickt er Fremdfirmen jetzt immer öfter in Begleitung seiner
eigenen Mitarbeiter los. So muss er nicht erst die zu schneidenden Bäume
zählen lassen, dann eine Ausschreibung formulieren und nach der Arbeit
kontrollieren, wie viele Bäume und wie gut sie tatsächlich geschnitten wurden – die eigenen Leute waren ja immer dabei. „Ich mache also nur noch
eine reine Preisanfrage nach dem Stundensatz“, sagt Schwietert. Eine öffentliche Ausschreibung kostet 2000 Euro, eine beschränkte Ausschreibung
1000, die freihändige Vergabe 200.
Digitaldruck, online Materialbestellung – sparen ohne Schmerzen
Es gibt noch viele andere Beispiele, die zeigen, dass Osnabrück spart, ohne
schlechter zu arbeiten. Statt der hauseigenen Druckerei liefert heute täglich eine Digitaldruckerei aus Osnabrück mit Zeitgarantie per Boten Formulare oder Broschüren ins Kreishaus, und das in besserer Qualität und
größerer Vielfalt als früher. Die Kollegen in der Verwaltung sind geschult,
wie sie beim neuen web-basierten Auftragsmanagement am Computer ihre
Order selbst direkt in der Druckerei platzieren. Um knapp 60 000 Euro wird
der Kreishaushalt jährlich durch die stillgelegte Druckerei entlastet, es sind
vor allem eingesparte Personalkosten.
Auch das Service-Center neben der Kantine hat gerade dichtgemacht. Hier
holten sich die Mitarbeiter bislang, was sie an Büromaterial brauchten:
Sie trugen Faxkartuschen, Klebestifte, Umschläge und Papier in eine Liste
ein, dazu Stückzahl, Name, Datum, Einzelpreis. Ein Sachbearbeiter reichte
ihnen die Ware aus den Regalen hinter sich und übertrug die Listen in
seinen Computer, damit er wusste, wann er nachbestellen musste.
Auf diese Weise orderten die Mitarbeiter früher Waren für etwa 150 000
Euro pro Jahr. Heute bestellen sie im Intranet direkt bei den Lieferanten.
Die Rahmenverträge sind bereits abgeschlossen. Der Einkauf wird so
um neun Prozent billiger, geringere Prozess- und
Personalkosten noch nicht mitgerechnet.
Trotz aller Erfolge wird der Spardruck aber auch
in Osnabrück nicht sinken. 2004 musste der
Landrat eine Haushaltssperre verhängen – zehn
Prozent bei den allgemeinen Ausgaben, zwanzig
Prozent bei den Investitionen. Die finanzielle Lage
sei, wie es in einem Strategiepapier hieß, „mehr
als Besorgnis erregend“, höchste Priorität: „die
Zahlungsunfähigkeit verhindern“. Finanzvorstand
Kassing will am Konsolidierungskurs „eisern festhalten“ und damit am Ziel, auch 2005 im Kreis
wieder 30 Stellen einzusparen. 30 von 730. Vor
zehn Jahren waren im Landkreis noch 950 Mitarbeiter beschäftigt.
Und doch werden im Kreis – vor allem dank der
zielorientierten Steuerung – nicht einfach pauschal
Budgets zusammengestrichen. Jüngstes Beispiel
ist das Gesundheitswesen. Zwar haben Stadt und
Kreis Osnabrück zum Jahresanfang ihre Gesundheitsämter zu einer Behörde fusioniert, was beide
Kommunalhaushalte um rund 400 000 Euro jährlich entlastet; gleichzeitig investiert der Landkreis
gut 150 000 Euro in den wachsenden Markt
der Gesundheitsbranche – etwa in ein Entwicklungskonzept für die Kreiskurorte oder in ein
„Institut für Gesundheit und Bildung Osnabrück“, das die Akteure – darunter Kliniken,
Kurverwaltungen, ein Herz- und ein Diabeteszentrum – näher zusammenführen soll.
Reformer wie in der freien Wirtschaft
Initiativen wie diese sind ganz nach dem Geschmack von Christian Niehaves, Geschäftsführer
der kreiseigenen Abfallwirtschaftstochter AWIGO.
Auf seinem Schreibtisch liegt der Quartalsbericht
des Kundenmonitors, der die gesamte Land-
kreisverwaltung mit der Mülltochter vergleicht, und überall hat AWIGO
bessere Werte. Niehaves hat offenbar viel richtig gemacht. Vor allem
natürlich bei den Gebühren, die seit seinem Antritt vor sechs Jahren zweimal gesenkt wurden, unter anderem weil Niehaves zuvor die Preise seiner
Dienstleister gedrückt hatte. Auch beim Service denkt er zuerst an seine
Kunden: Er lässt sie zwischen gelbem Sack und gelber Tonne wählen und
erinnert sie auf Wunsch per E-Mail an die aktuelle Müllabfuhr. Zum Jahresanfang hat Niehaves die alte Praxis beendet, nach der die 94 000 Haushalte im Landkreis ihren Gebührenbescheid von einer der 22 Stadt- oder
Gemeindeverwaltung bekamen. Hatten die Bürger Fragen dazu, riefen sie
im Rathaus an; kam das Müllauto nicht, waren die zwei beauftragten
Entsorgungsfirmen ihre Ansprechpartner – sofern man telefonisch zu
ihnen durchdrang.
Jetzt ist alles bei der AWIGO zentralisiert: Mitarbeiter verschicken alle
Gebührenbescheide, das spart pro Jahr 160 000 Euro; das Service-Center
ist von morgens sieben bis 20 Uhr besetzt, an sieben Tagen in der Woche.
Dass er in einer Verwaltung so viel ändern könnte, hätte Niehaves nie
erwartet. „Ich komme aus einer Selbstständigen-Familie und habe früher
über Verwaltungen eigentlich nur geschimpft. Als BWL-Student hatte ich
später dann natürlich den Traum, einmal irgendwo Top-Manager zu werden, aber nicht Leiter eines kommunalen Regiebetriebs.“
Es kam dann anders. Niehaves ging in die Entsorgungswirtschaft, bis ihn
ein Personalberater auf Osnabrück ansprach. „Ich habe mich darauf vor
allem wegen des Beraters eingelassen, nicht wegen des Jobs bei AWIGO.“
Beim ersten Gespräch mit der Verwaltungsspitze wendete sich das Blatt.
Niehaves wurde gefragt, wie er über das Thema Bestechung und Bestechlichkeit denke, und antwortete, bei einer zweistelligen Millionensumme
könnte er wohl schon schwach werden. Er bekam das Jobangebot. Und
war sicher: „Die sind hier anders drauf. Den Job machst du.“
Zwangsverwaltung
Text / Foto: Helge Bendl
McK Wissen 13
Seiten: 90.91
Schöner Schein
Bad Münster am Stein-Ebernburg hat jahrzehntelang über
seine Verhältnisse gelebt und auf bessere Zeiten
gehofft. Jetzt sind die Schulden der Kurstadt so hoch,
dass Zins und Tilgung die Einnahmen übersteigen.
Ein Unternehmen hätte schon lange Insolvenz anmelden
müssen. Was wird aus einer Stadt, die bankrott ist?
14
Idyllisch, aber pleite:
Bad Münster am Stein-Ebernburg
Zwangsverwaltung
Text / Foto: Helge Bendl
Abends ist es am schönsten. Wenn die Sonne den Felsen Rheingrafenstein beleuchtet, der über der Nahe aufragt. Wenn das radonhaltige Wasser plätschert, das hier seit Ende des 19. Jahrhunderts die Gäste anlockt.
Wenn alles so friedlich und geordnet und natürlich aussieht im gepflegten
Kurgarten.
Stadtbürgermeister Michael Fries ist dennoch nicht glücklich. Die Stiefmütterchen im Park sind die Spende eines Floristen. Die Holzpergola um die
Ecke ist einsturzgefährdet und muss deshalb vermutlich abgerissen werden.
Der Bauhof muss, wenn er eines Tages ein neues Auto benötigt, mit einem
Gebrauchtwagen vorlieb nehmen. Immerhin sieht der Haushalt des Jahres
2005 auch „Investitionen“ vor. Zum Beispiel den Erwerb einer Tischtennisplatte. Die Stadt hat kein Geld mehr.
Dies ist die Geschichte einer Gemeinde, die lange Jahre dachte, sie habe
von allem Guten ein Stück abbekommen: Ruhe. Ordnung. Stabilität. Eine
idyllische Landschaft. Mildes Klima. Guten Wein. Vor allem aber: eine bei
allerlei Leiden Linderung bringende Heilquelle. Und treue Kurgäste, die den
Weg in den versteckten Ort im Nahetal von allein fanden oder kamen, weil
die Krankenkassen sie als Patienten schickten. So ließ es sich lange gut
leben in Bad Münster am Stein-Ebernburg.
Aber dies ist auch die Geschichte einer Gemeinde, die die Zeichen der Zeit
nicht rechtzeitig erkannte. Die es versäumt hat, Reformen in Angriff zu
nehmen. Und deren gewählte Vertreter nicht ahnten, welche Konsequenzen ihr Zögern haben würde. Es ist die Geschichte einer Gemeinde, die
viel zu lange auf das Prinzip Hoffnung setzte, statt aktiv zu werden, als die
treuen Gäste plötzlich untreu wurden und das kleine Städtchen nicht mehr
so zahlreich besuchten.
Seit den siebziger Jahren nur noch Verluste
Heute ist Bad Münster am Stein-Ebernburg nicht mehr strahlendes Sinnbild einer Kurtradition, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, sondern
ein Beispiel für kommunale Misswirtschaft: Drei Jahre lang wurde der Ort
zwangsverwaltet. Sowohl der Bürgermeister als auch der Gemeinderat
hatten keinerlei Möglichkeit mehr, auf die Geschicke der Stadt Einfluss zu
nehmen – ein Vorgang, den es in der Geschichte der Bundesrepublik so
konsequent noch nie gegeben hat. Wäre Bad Münster ein Unternehmen,
hätte es Insolvenz angemeldet oder wäre verkauft worden. Beides ist
McK Wissen 13
Seiten: 92.93
für Städte in der Gemeindeordnung nicht vorgesehen. Bad Münster am Stein-Ebernburg existiert
also weiter, auch wenn die Kassen leer sind.
Kämmerer Peter Butzbach verwaltet das Elend.
Die Schulden, das verraten seine sorgsam archivierten Statistiken, haben sich in den vergangenen
20 Jahren fast verdoppelt. Schon die langfristigen Darlehen liegen mit 6,8 Millionen Euro
deutlich höher als im Landesschnitt: Im Mittel
haben Städte mit 3000 bis 5000 Einwohnern
406 Euro Schulden pro Kopf, in Bad Münster
am Stein-Ebernburg sind es 1783 Euro. Die Dramatik der Lage erschließt sich aber erst, wenn
zinsfreie Darlehen und Kassenkredite hinzuaddiert
werden: Die tatsächlichen Verbindlichkeiten
belaufen sich auf 30 Millionen Euro – das sind
rein rechnerisch 7500 Euro für jeden der knapp
4000 Einwohner.
Der Schuldige an der Misere ist leicht zu identifizieren: Es ist der in Eigenregie geführte Kurbetrieb
der Stadt. Seit den siebziger Jahren macht er Verluste. Zunächst noch in vergleichsweise überschaubarer Höhe, mal waren es 300 000 Mark,
mal 700 000 Mark im Jahr. Als Ende der achtziger
Jahre immer weniger Kurgäste kamen, spitzte sich
die Lage zu. Die Zahl der Übernachtungen sank
kontinuierlich, von rund 500 000 im Jahr 1987
auf etwa 290 000 im vergangenen Jahr. Die Sparmaßnahmen im Gesundheitsbereich verschlimmerten die Situation zusätzlich, Kranken- und
Rentenkassen genehmigten weniger und immer
kürzere Kuren. In den achtziger Jahren wurden in
Deutschland rund 800 000 Kuren pro Jahr absolviert, 2004 noch 160 000. Und das Minus in der
Kasse von Bad Münster wurde immer größer.
1991 machte der Kurbetrieb mehr als 3,5 Millionen Mark Verlust, in den Folgejahren sah es
mit stets mehr als zwei Millionen Mark nicht viel besser aus. Ausgleichen
musste am Ende immer die Stadt. So geriet sie in eine Schuldenspirale, aus
der sie heute nicht mehr herauskommt: Um Zins und Tilgung bezahlen zu
können, muss der Kämmerer immer wieder neue Kredite aufnehmen.
Die letzte Stufe der Sanktion: Zwangsverwaltung
Zwar schreibt die Gemeindeordnung vor, dass der Haushalt der Gemeinden ausgeglichen sein muss – was nichts anderes heißt, als dass sie so viel
einnehmen müssen, wie sie ausgeben. Nur dann wird ein Haushalt genehmigt. In der Praxis halten sich Einnahmen und Ausgaben in vielen Städten, Gemeinden und Kreisen allerdings schon längst nicht mehr die Waage.
Ihre Haushalte werden nur unter Auflagen genehmigt. Kredite können
begrenzt werden, die Gemeinden müssen mehr einsparen oder durch
höhere Steuern mehr Geld in die Kassen spülen. Greift dieses Vorgehen
nicht, kann die Kommunalaufsicht ein so genanntes Haushaltssicherungskonzept fordern – dieses Prozedere ist beispielsweise in Rheinland-Pfalz
oder Nordrhein-Westfalen üblich. Die Stadt muss dann konkret benennen,
wie sie ihren Haushalt in einem Zeitraum von vier Jahren wieder auszugleichen gedenkt.
In diesem kritischen Zustand befinden sich immer mehr Kommunen. In
Nordrhein-Westfalen sind beispielsweise schon 200 Städte, Gemeinden
und Kreise in der Haushaltssicherung – zwei Drittel der Einwohner des
Landes leben in Gemeinden, die in eine finanzielle Schieflage geraten sind.
Für 103 von ihnen sieht die Kommunalaufsicht kaum noch Chancen,
jemals den Haushalt auszugleichen, ihnen sind freiwillige Ausgaben grundsätzlich untersagt. Jede Investition wird akribisch geprüft, nur was wirklich notwendig ist, darf angeschafft werden. Für die ganz schweren Fälle
gibt es noch eine weitere Sanktionsstufe: Die kommunale Selbstverwaltung
wird aufgehoben, ein Zwangsverwalter nimmt die Zügel in die Hand. Aber
so etwas passiert eigentlich nie. Die Vertreter der kommunalen Verbände
in Deutschland müssen deshalb lange nachdenken, bis ihnen ein Name
einfällt: Bad Münster am Stein-Ebernburg.
Aber wie konnte es so weit kommen? Und: Wie kommt die Stadt aus der
Misere wieder heraus? „Wir hätten vermutlich schon in den achtziger Jahren eingreifen und die Notbremse ziehen müssen“, übt sich Rudolf Oster,
Chef der Kommunalaufsicht im Mainzer Innenministerium, in Selbst-
Kämen mehr von ihnen, wäre alles gut:
Kurgäste in Bad Münster.
kritik. „Dann wäre die Geschichte sicher anders
verlaufen.“ Doch Ministerialdirigent Oster spricht
auch von Versuchen des „Tarnens und Täuschens“. Kreis und Land hätten viel zu lange
den Beschwichtigungen geglaubt, die Rügen des
Rechnungshofs seien ignoriert worden. Und der
Gemeinderat habe sich, obwohl es immer enger
wurde, nicht auf eine Lösung einigen können.
„Die haben sich gestritten wie die Kesselflicker.
Alles sollte so bleiben, wie es ist. Deswegen ist
jetzt auch nichts mehr, wie es früher war.“
Andere Kurbäder waren
besser und schneller
Tatsächlich haben andere Kurorte vorgemacht,
wie man sich dem veränderten Markt für Kur
und Erholung stellen kann. „Die Bürger sind sehr
wohl bereit, Geld für ihre Gesundheit auszugeben,
auch wenn die Kassen das nicht mehr so üppig
bezahlen wie früher“, meint Thomas Bausch,
Tourismus-Professor an der FH München. „Aber
dann muss man sie auch als Kunden behandeln,
sie umwerben und ihnen konkurrenzfähige Angebote machen.“ Private Anbieter oder GmbHs
unter dem Dach von Stadt oder Land hätten es
schon aus tariflichen Gründen leichter, wirtschaftlich zu arbeiten. „Die Politik darf aber über ihre
Posten im Aufsichtsrat nicht zu viel Einfluss
nehmen auf die Geschäftspolitik“, warnt Bausch.
„Wer ein Bad wirtschaftlich führen will, muss sich
an den Kunden, nicht an den Wählerstimmen vor
Ort orientieren.“
Als Beispiel für eine erfolgreiche Strategie führt
der Wissenschaftler die Bayerischen Staatsbäder
an – dort hätten die Verantwortlichen nicht nur
die Strukturen verbessert, sondern durch Investitionen auch die Zielgruppe der Wellness-
Urlauber angelockt. Ein positives Beispiel in Rheinland-Pfalz kennt Lutz
Hertel, der Vorsitzende des Vorstands des Deutschen Wellness-Verbands.
„Die Hotels in Bad Sobernheim haben sich von den Bedürfnissen des
Kurgastes auf die des Wellness-Gastes umgestellt. Sie müssen jetzt mehr
bieten, haben aber genau deshalb Erfolg.“
Auch in der unmittelbaren Nachbarschaft von Bad Münster gab es gute
Ideen. Das nur fünf Kilometer entfernte Bad Kreuznach gliederte den
Betrieb von Bäderhaus und Therme schon Anfang der neunziger Jahre in
GmbHs unter dem Dach der Stadtwerke aus. So ließen sich Kosten sparen,
weil die Angestellten nicht mehr nach dem vergleichsweise teuren BATTarif bezahlt werden mussten. Die Verluste, die es dennoch gab, wurden
durch die Gewinne der Stadtwerke aus dem Verkauf von Strom und Gas
wieder aufgefangen. Pech für Bad Münster, dass es hier keine Stadtwerke
gab, die der Gemeinderat für so eine elegante Lösung hätte heranziehen
können. Pech auch, dass die Konkurrenz schneller und innovativer war und
die Subventionen des Landes zu nutzen wusste. Während Bad Münster in
der Depression versank, wurde Bad Kreuznach Stück für Stück attraktiver
für die Gäste. „In den vergangenen sechs Jahren haben wir in Kur und
Wellness etwa 30 Millionen Euro investiert“, sagt Hansjörg Rehbein, der
Pressesprecher der Stadt. Bad Münster verwaltete das Elend.
Natürlich hatten Stadtrat und Bürgermeister die ganzen Jahre immer wieder überlegt, was sie gegen die Millionen-Verluste tun können. Vor allem
hofften sie – darauf, dass die guten alten Zeiten wiederkommen würden,
in denen viele Kurgäste nach Bad Münster reisten und lange blieben. Sie
handelten aber auch – punktuell jedenfalls: Die Zahl der Mitarbeiter im
Kurbetrieb wurde reduziert, von 90 im Jahr 1992 auf weniger als 30. Das
senkte den Jahresverlust von 3,5 Millionen auf weniger als zwei Millionen
Mark. Die Gemeinde verpachtete ihre Gärtnerei – früher hatten noch städtische Bedienstete Samen ausgestreut, um Blumen für den Kurpark anzuziehen. Und sie sorgte dafür, dass nicht mehr die Helfer des Bauhofs die
Särge zum Begräbnis trugen, sondern private Bestattungsunternehmen,
weil das billiger war.
Die Schließung des Kurbetriebs aber konnte der damalige Stadtbürgermeister Stefan Köhl im Gemeinderat nicht durchsetzen – zu schwer
wogen für die Vertreter die Befürchtungen, das zur Kurstadt gewachsene
Dorf damit seiner Identität zu berauben. Das war kurzfristig gedacht. Denn
eine Alternative zur Schließung gab es nicht. Nur einen Fremden, der am
Ende den Buhmann spielen musste.
Zwangsverwaltung
Text / Foto: Helge Bendl
Rechtsanwalt Harald Bartos durfte
als Zwangsverwalter drei Jahre lang die
Geschicke von Bad Münster lenken.
McK Wissen 13
Seiten: 94.95
Im Jahr 1999 verlor die Kreisverwaltung Bad
Kreuznach die Geduld und stellte fest: Bad
Münster am Stein-Ebernburg ist zahlungsunfähig.
Ein „Beauftragter nach Paragraf 124 Gemeindeordnung“ sollte das Ruder übernehmen – im
Volksmund schlicht „Zwangsverwalter“ genannt.
Wegen der Dramatik der Situation wurden ihm
besondere Rechte eingeräumt: Er sollte als Vertreter des Gemeinderats beschließen, was zu tun
ist. Und die Entscheidung dann als Vertreter des
Bürgermeisters ausführen. Rechtlich eine haarige
Kombination, dessen war sich das Innenministerium bewusst, schließlich wurde die Gewaltenteilung partiell aufgehoben. Doch niemand klagte,
das Experiment ging durch. Bürgermeister und
Gemeinderat waren ab 2000 für die Zeit von drei
Jahren entmachtet.
„Der Beauftragte sollte die unangenehmen Entscheidungen treffen, die vorher niemand fällen
wollte oder konnte“, sagt Ministerialdirigent
Oster. Das Innenministerium wählte Harald Bartos für den schwierigen Job aus, ein Mann für
die Knüppelarbeit, wie Oster sagt. „Er hat polarisiert, aber etwas bewegt.“
„Ich bin schon immer ein eher ungeduldiger
Mensch gewesen“, sagt Harald Bartos, lächelt ein
wenig und faltet die Hände. „In der Kommunalpolitik dauert es normalerweise sehr lange, bis
Entscheidungen fallen. Und manchmal noch länger, bis sie dann umgesetzt werden.“ In Bad
Münster am Stein-Ebernburg konnte der 53-Jährige, Rechtsanwalt und früher Bürgermeister einer
25 000-Einwohner-Gemeinde bei Trier, schalten
und walten, wie er wollte. Und er sollte zwei
dringende Aufgaben erledigen: erstens rasch den
städtischen Kurbetrieb schließen. Zweitens nach
einer neuen Perspektive für den Ort suchen.
„Am Anfang habe ich den Gemeinderat noch einberufen und die Mitglieder
sogar zur Probe abstimmen lassen“, erzählt Bartos heute. „Ich wollte zeigen, dass ich es ernst mit den Leuten meine und auf ihre Meinung Wert
lege. Doch man hat mir nur unterstellt, ich wolle den Ort kaputtsparen
und alles zu Geld machen.“ Die persönliche Abneigung zwischen Zwangsverwalter Bartos und dem entmachteten Bürgermeister Stefan Köhl machte
die Situation nicht einfacher. Bartos warf dem ehemaligen Chef der Stadt
vor, mit schuld an der Finanzmisere zu sein. Köhl polterte, Herr Bartos baue
doch nur Luftschlösser und mache sich lächerlich.
Auch der Zwangsverwalter fand
keine neue Perspektive
Seine erste Aufgabe erledigte Harald Bartos zügig. Ende März 2001 wurde der Kurbetrieb der Stadt geschlossen, alle Mitarbeiter wurden entlassen. Im Mai 2004 übernahm ein privater Klinik-Betreiber die Anwendungen mit dem berühmten Radon-Wasser und bietet heute Massagen und
Packungen mit Heilschlamm an. „Es ist keine Goldgrube, aber wir sind gut
gestartet“, sagt Klaus Kurre, Verwaltungsdirektor der Paracelsus-Kliniken
in Bad Münster. Die Paracelsus-Gruppe, die in ganz Deutschland Krankenhäuser betreibt, besaß hier bereits zwei Häuser mit zusammen 240 Betten. Ein ambulantes Therapiezentrum im ehemals von den städtischen Kurbetrieben genutzten Kurmittelhaus ist nun das dritte Standbein vor Ort.
Es kommt – je nach Nachfrage – mit drei bis sechs Mitarbeitern aus, die
flexibel eingesetzt werden können. Und es läuft gut, meint Direktor Kurre. „Der Bereich hat großes Potenzial – der Trend geht generell weg von
der stationären hin zur ambulanten Behandlung.“
Mit seiner zweiten Aufgabe tat sich Bartos schwerer. Zwar gab es Versuche, eine große Therme anzusiedeln, doch das Land stellte sich quer und
wollte keine Konkurrenz zu den erst ein paar Jahre davor erweiterten
Bäderlandschaften in Bad Kreuznach. Zudem hätte die Stadt für mögliche
Verluste bürgen sollen – das war den Finanzfachleuten dann doch zu heikel.
Auch ein Seilbahnprojekt kam über das Planungsstadium nicht hinaus. So
endete Bartos’ Amtszeit Ende August 2003 weniger erfolgreich als erhofft.
Ein Nachfolger wurde nicht bestimmt. Im folgenden Jahr standen Kommunalwahlen an und die gewählten, aber entmachteten Ratsmitglieder
drängten darauf, die Entscheidungen wieder ihnen zu überlassen.
„Wir müssen mit ehrenamtlichem Engagement ausgleichen, was die Stadt nicht mehr leisten kann.“ Michael Fries, Bürgermeister
Michael Fries, Bürgermeister der
überschuldeten Stadt Bad Münster am SteinEbernburg hofft auf einen Geldgeber.
Wie es jetzt weitergeht mit Bad Münster am
Stein-Ebernburg? Der 2004 gewählte Bürgermeister Michael Fries hat eine klare Vorstellung:
„Das Land soll uns entschulden. Von kommunaler Selbstverwaltung kann man bei uns ja nicht
sprechen, wenn wir so klamm sind, dass nicht
einmal mehr ein Zuschuss für ein Vereinsfest
möglich ist.“
Investor dringend gesucht
Es sieht nicht so aus, als würde dieser Wunsch
in Erfüllung gehen. Denn auch die Kassen des
Landes sind leer. „Im Doppelhaushalt der Jahre
2005/2006 ist kein Geld für eine Entschuldung
der Stadt vorgesehen“, sagt Ministerialdirigent
Rudolf Oster lakonisch. Für die Jahre danach wagt
er keine Prognose – an der klammen Finanzlage
werde sich so bald aber wohl nichts ändern.
Das Defizit über den Finanzausgleich der rheinland-pfälzischen Kommunen zu reduzieren
kommt für ihn auch nicht in Frage – warum sollten andere Städte und Gemeinden im Land für
die in Bad Münster gemachten Fehler bluten?
Also, was nun?
Ein paar kleinere Projekte, um die Verluste der
Stadt zu minimieren, hat der neue Bürgermeister
schon auf den Weg gebracht. Ein privat organisierter Verkehrsverein hat die Tourismuswerbung
übernommen. Es gibt endlich eine Zusammenarbeit mit Bad Kreuznach, dem ungeliebten
Nachbarn: An der Gemarkungsgrenze entsteht
ein Nordic-Walking-Parcours. Und mithilfe
einer privaten Stiftung kann neuerdings wieder so manches Fest stattfinden, das Besucher bringt – die Stadt schießt kein Geld mehr zu, weil nur
noch Pflichtaufgaben bezahlt werden dürfen. Vielleicht lässt sich ja auch
das marode Freibad zu einem Ganzjahresbad umbauen?
Bürgermeister Fries weiß, dass das alles nicht reicht, um die Stadt zu entschulden. Bad Münster braucht einen Magneten, etwas, das die Leute
anzieht. Und dazu braucht die Stadt einen Investor. Denn auch die Gradierwerke, an denen die Kurgäste die heilkräftige Luft inhalieren, sind in
dramatisch schlechtem Zustand. „Laut Baurecht müsste man sie eigentlich sofort erneuern“, sagt im Mainzer Innenministerium Rudolf Oster eher
beiläufig – er will im Ort nicht noch mehr Unruhe. Die Kosten der Erneuerung? Eine halbe Million Euro. Die gibt es womöglich sogar vom Land,
aber nur, wenn garantiert ist, dass künftig noch Kurgäste nach Bad Münster kommen werden.
Würde sich ein potenter Geldgeber interessieren, die Stadt würde dem
Heilsbringer das Kurgelände sogar schenken, sollte er sich entschließen, ein
modernes Hotel zu bauen. Auch das Land würde in so einem Fall weitere
finanzielle Unterstützung leisten. Es laufen schon Verhandlungen mit
Hoteliers aus Bad Kreuznach, die sich angeblich im Nachbarort engagieren
wollen. Vielleicht wird für Bad Münster ja doch noch alles gut?
Vielleicht auch nicht. Im Innenministerium kursieren schon Planspiele für
die Zeit nach den Landtagswahlen im kommenden Jahr. Womöglich wird
es, den politischen Willen der dann Regierenden vorausgesetzt, eine Kommunalreform geben. Bad Münster am Stein-Ebernburg müsste dann vielleicht unter die Haube des wirtschaftlich potenten Bad Kreuznach schlüpfen und auf das Stadtrecht verzichten.
Bürgermeister Michael Fries will gar nicht daran denken, und er wird die
Hoffnung nicht aufgeben. Im Moment pflanzen Freiwillige Blumen und
streichen die Gebäude im Kurpark. „Wir müssen mit ehrenamtlichem
Engagement ausgleichen, was die Stadt nicht mehr leisten kann“, sagt er.
Und macht gute Mine zum bösen Spiel: „Immerhin haben wir jetzt den
Ehrenamtspreis des Landes bekommen.“
Stilblüten
McK Wissen 13
Seiten: 96.97
Wie bitte?
Von unauffällig im Wald stehenden Bäumen, notwendigen Dritthosen
und entbitterten Mandeln – eine kleine Sammlung amüsanter und
mitunter rätselhafter Auszüge aus Gesetzes- und Verwaltungstexten.
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Das Inkrafttreten eines Rechtsakts, der die Rechtsgrundlage für einen Akt bildet, darf nicht vom Inkrafttreten
des letztgenannten Akts abhängig gemacht werden.
Kein Akt kann vor dem Akt in Kraft treten, der seine
Rechtsgrundlage bildet.
Gemeinsamer Leitfaden des Europäischen Parlaments, des
Rates und der Kommission für Personen, die in den
Gemeinschaftsorganen an der Abfassung von Rechtstexten
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Schulaufnahme
E-Government
Text: Katja Apelt
McK Wissen 13
Seiten: 104.105
16
Under
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Zu viele Regeln, zu wenig Übersicht und keine Mittel für Investitionen – Deutschland
blieb beim E-Government bislang weit hinter seinen Möglichkeiten. Dabei würde sich die
virtuelle Kooperation lohnen. Für Bürger, Behörden und Unternehmen.
Der Audi AG war das auf Dauer einfach zu teuer. Jedes Mal, wenn
der Ingolstädter Automobilkonzern neue Fertigungshallen bauen oder Produktionsstraßen umbauen lassen wollte, musste er einen Bauantrag stellen.
Ein Zeit raubender und teurer Prozess, bei dem stapelweise Papier zwischen
Unternehmen, Architekten, Planern, Statikern und den Behörden hin und
her wanderte. Grund genug für den Konzern, bei der Digitalisierung der
eigenen Geschäftsprozesse auch zu untersuchen, wo Audi Schnittstellen
mit Behörden hat und ob sie sich auf elektronischem Weg an das Unternehmen anbinden ließen.
Das Ergebnis: Seit Mai 2004 arbeiten die Autobauer mit einer virtuellen
Bauplattform. Alle rund 100 internen Kollegen und etwa 300 Externe, die
an einem Bauprojekt beteiligt sind, können seitdem online auf die Unterlagen zugreifen. Wer Zugang zur Plattform hat – Architekten und Planer,
aber auch Beamte verschiedener Ingolstädter Behörden, vom Bauordnungsamt über das Tiefbau-, Stadtplanungs-, Stadtentwässerungs- bis zum
Gartenbauamt – kann die Baupläne am Computer einsehen, ändern und
anschließend wieder auf dem Server ablegen.
Das spart dem Autokonzern Zeit und Geld. Heute ist ein Genehmigungsverfahren im Schnitt in fünf Monaten beendet, immerhin einen Monat schneller als früher. Die finanzielle Ersparnis: rund ein Prozent des Bauvolumens.
Bei jährlich etwa zehn neuen Bauprojekten und 30 genehmigungspflichtigen
Umbauten summiert sich das schnell auf mehrere Millionen Euro.
Tatsächlich hat das virtuelle Bauamt in Ingolstadt nur einen Haken: Die
Baugenehmigung muss auch heute noch schriftlich erfolgen, so verlangt es
in Bayern das Gesetz. Medienbruch heißt das in der Fachsprache – am Ende
des komplexen elektronischen Prozesses muss das Dokument gedruckt, per
Post verschickt und herkömmlich unterschrieben werden. Schöne neue
Medienwelt.
So ist es fast immer hier zu Lande, wenn es um die Verwaltung der
Zukunft geht. Die deutschen Behörden wollen sich modernisieren,
deshalb versuchen Bund, Länder und Gemeinden seit Jahren mithilfe der
Informationstechnologie bürgernäher zu werden. E-Government heißt das
Ziel, und das verfolgt inzwischen nahezu jede Gemeinde. Keine Kommune
in Deutschland, die den Sprung ins Internet-Zeitalter nicht versucht, kein
Bürgermeister, der nicht stolz auf sein virtuelles Rathaus verweist. Da
werden Internetseiten gebaut, Formulare digitalisiert, Bürgerportale eingerichtet, Heerscharen von Web-Designern beschäftigt, IT-Arbeitskreise
gebildet und Millionen von Euro in Hard- und Software investiert.
dern am Computer in einer elektronischen Akte.
Statt Vorgänge physisch mittels Laufmappen
zwischen unterschiedlichen Amtsstuben zu verschieben, holen Sachbearbeiter Genehmigungen
anderer Dienststellen elektronisch ein. Die virtuelle Akte ist zentral über eine Plattform abrufbar,
Kollegen aus unterschiedlichen Ämtern können
gleichzeitig auf sie zugreifen.
Auch komplexe Dienstleistungsprozesse lassen
sich schon heute miteinander verweben. ProDer Mensch und der Apparat müssen sich wandeln
gramme können jederzeit auf dieselben Daten
Zu E-Government führt das in der Regel nicht. Denn hinter dem Begriff zugreifen und einander neue Daten liefern. Softsteckt mehr als das Übersetzen eingespielter Verwaltungsvorgänge in die ware sammelt virtuelle Unterlagen, ordnet sie
digitale Welt. E-Government meint einen Prozess, der bei der reinen Infor- und legt sie ab. Externe Informationen werden
mation beginnt und mit der Abwicklung von Transaktionen noch lange integriert, Einnahmen und Ausgaben automatisch
nicht endet. Wenn aus dem Bürger ein Kunde werden soll und aus der Wirt- in den entsprechenden Konten verbucht, von
schaft ein Partner der öffentlichen Hand, muss sich die Verwaltung grund- Steuereinnahmen über Gehaltszahlungen bis hin
legend ändern. E-Government heißt nämlich nicht, bunter und moderner zu Ausgaben, die der virtuelle Einkauf meldet.
zu werden, sondern schlanker, einfacher, und damit besser und billiger. Die „Mit integriertem E-Government wäre das RatBehörde muss sich in einen Dienstleister verwandeln – und dazu die Digi- haus nicht nur virtuell, sondern auch effizient“,
talisierung nutzen. Das klingt kompliziert, und das ist es auch. Auf dem sagt Willi Kaczorowski, Executive Adviser bei
Weg ins digitale Zeitalter gilt es, Arbeitsabläufe zu hinterfragen, Regeln zu Cisco Systems und Experte beim Bundesverband
vereinfachen, Überflüssiges auszusortieren, Prozesse neu zu definieren, sich Informationswirtschaft, Telekommunikation und
zu verändern, zu lernen. Der Mensch und der Apparat müssen sich wan- neue Medien (Bitkom).
deln. Das braucht Zeit, Kraft und Geld. Vor allem aber braucht es Einsicht Bislang ist das noch Theorie. In der Praxis sind
die deutschen Ämter auf dem Weg zur modernen
– und die richtigen Ziele.
Wenn die Richtung stimmt, kann aus der behäbigen Behörde tatsächlich Verwaltung nur vereinzelt wirklich vorangekomeine flexible Verwaltungswelt werden. Wo E-Government schon Einzug men. Glaubt man den diversen Untersuchungen,
gehalten hat, bearbeiten Beamte Gewerbeanmeldungen, Anträge auf Arbeits- ist Deutschland im internationalen Vergleich
bestenfalls untere Mittelklasse. In einer Studie
losengeld oder einen neuen Personalausweis nicht mehr auf Papier, son-
E-Government
Text: Katja Apelt
der Europäischen Union aus dem Jahr 2002 landete die Bundesrepublik
hinter Estland oder Island auf Platz 13 – von 15 untersuchten Ländern.
Irland war bei den digitalen Bürgerservices Europameister.
Die Emnid-Studie „Government Online 2003“ kam zu keinem besseren
Ergebnis. Auf der Liste der E-Government-Nationen rangiert Deutschland
aus Sicht der Maktforscher, die 32 Nationen befragten, abgeschlagen auf
Rang 19. Die aktuelle Untersuchung der EU-Kommisson vom März dieses
Jahres weist dem Land nur einen Platz im unteren Mittelfeld zu. In puncto
Erreichbarkeit öffentlicher Dienstleistungen übers Internet liegt Deutschland nach Ansicht der Kommission zwar vor Griechenland und Litauen,
aber hinter Belgien, Malta und Slowenien. 66 Prozent aller Dienstleistungen deutscher Verwaltungen – von der einfachen Information bis zum
Datenaustausch für Unternehmen – konnten im Oktober 2004, dem Zeitpunkt der Erhebung, hier zu Lande im Internet abgefragt werden. Beim
Spitzenreiter Schweden sind es schon 89 Prozent.
Erst reorganisieren, dann digitalisieren
Am guten Willen der Deutschen mangelt es nicht. Fast jede Kommune ist
seit Jahren im Netz präsent, die Bundesländer schufen eigene Verwaltungsportale. Bundeskanzler Gerhard Schröder machte die Verwaltungsreform
via Internet sogar zur Chefsache. Schon im Jahr 2000 startete die Regierung ihr Großprojekt Bund-Online-2005, bis Ende dieses Jahres sollen
rund 450 Dienstleistungen deutscher Behörden der Kundschaft auf elektronischem Weg zugänglich sein.
Experten sehen im mühsamen Vorankommen der Deutschen denn auch
weniger ein Motivations- als ein Verständnisproblem. „Sie träumten von
elektronischen Wahlen, digitalen Einkäufen und virtuellen Rathäusern“,
meint etwa Professor Stephan Jansen, Gründungspräsident der Zeppelin
University in Friedrichshafen, der sich seit Jahren mit dem Thema befasst.
Aber schon das Konzept habe nicht gestimmt: Die Kommunen schaffen
erst teure Software an, um im zweiten Schritt die komplizierten Verwaltungsprozesse anzupassen. Verkehrt gedacht, findet Jansen: „Reorganisation muss vor Digitalisierung kommen.“
Das ist leichter gesagt als getan, das weiß auch der Wissenschaftler, schließlich haben die Deutschen im weltweiten Vergleich ein schweres Handicap
zu überwinden: Wir haben mehr Verwaltung als andere. Schätzungs-
McK Wissen 13
Seiten: 106.107
weise 70 000 Gesetze, Vorschriften, Verordnungen und Verfahrensregeln
müssen Beamte und Angestellte des öffentlichen Dienstes hier zu Lande
beachten – die Regularien der obersten Gerichtsbarkeiten nicht mitgezählt.
Das sorgt in der Praxis für komplexe Strukturen, die nur schwer aufzulösen sind, um sie anschließend zu digitalisieren.
In der Industrie, etwa im Automobilbau oder im Bankenbereich, bestehe
der Geschäftsalltag aus fünf bis zehn Kernprozessen, die es per IT darzustellen gelte, weiß Torsten Koß, Leiter des Public-Sector-Bereichs bei SAP.
„Im öffentlichen Sektor können leicht zwischen 100 und 150 Prozesse
identifiziert werden“, schließlich zähle jeder Dienstleistungskomplex eines
Amtes und jedes Fachverfahren einer Kommune zum Kerngeschäft. Bei der
Identifizierung internetfähiger Fachverfahren machte Nordrhein-Westfalen
im Rahmen einer E-Government-Studie allein 92 verschiedene Prozesse
ausfindig. Darunter fielen zum Beispiel die elektronische Auftragsvergabe,
verschiedene Steuererklärungen, Scheidungsverfahren, die Zwangsvollstreckung, arbeitsmarkt- und sozialpolitische Förderprogramme unterschiedlicher Ministerien oder Antragsverfahren für EU-Förderprogramme.
Dazu addieren sich typisch kommunale Aufgaben wie Pass- und Kfz-Angelegenheiten, das Meldewesen oder die Gebührenordnung. Jeder Vorgang
hat seine spezifischen Eigenheiten und Regeln.
Und jede Kommune hat das Recht zu entscheiden, wie sie es im Einzelfall
mit Vorschriften und Verordnungen halten mag – auch das ist Teil des
deutschen Problems. Die beiden Verfassungsprinzipien Föderalismus- und
Ressortunabhängigkeit sowie der Grundsatz der kommunalen Selbstverwaltung regeln die Fragen der Verantwortung eindeutig: Jede Kommune,
jedes Bundesland und jede Behörde auf Landes- oder Bundesebene entscheidet autonom. In der Kommune spielen sich rund 80 Prozent aller
möglichen E-Government-Prozesse ab. Und deshalb hat jede Kommune
bislang auch ihr eigenes IT-Äckerchen bestellt.
So hat sich mit den Jahren und im Bestreben, beim technologischen Aufschwung dabei zu sein, in Deutschland eine IT-Landschaft gebildet, die
heterogener kaum sein könnte. Die eine Gemeinde verlässt sich auf eine
Microsoft-Lösung, die nächste auf die Eigenproduktion eines lokalen Dienstleisters, auf Landesebene entwickelt sich eine SAP-Kultur. Wohin das in den
16 Bundesländern führt, erleben System-Anbieter und -Anwender in ihrer
Arbeit täglich. Um die technische Seite steht es schlimm im Land. Städte,
Länder und der Bund: Jeder wurschtelt vor sich hin, die Systeme sind
nicht kompatibel. Die Folge: hohe Reibungsverluste und hohe Kosten.
Auch an anderen Stellen wurden Fehler gemacht.
Weil aus der Behörde ein Dienstleister werden
sollte, richteten die Verantwortlichen den Blick
nicht nach innen, sondern nach außen – und
nahmen den falschen Kunden ins Visier.
Richtige Idee – falscher Adressat
Die Wirtschaft wäre der wichtigste Adressat gewesen. Große und mittelständische Unternehmen
kontaktieren die Einrichtungen der öffentlichen
Verwaltung so oft, dass „die Vereinfachung der
Kommunikation zwischen Verwaltung und Wirtschaft inzwischen sogar für die Standortwahl
entscheidend ist“, meint Bitkom-Experte Willi
Kaczorowski. In Portugal würden derartige Projekte bereits mit EU-Geldern finanziert. Anders
in Deutschland. Hiesige Unternehmen, so besagen
Schätzungen, geben pro Jahr etwa 15 Milliarden
Euro für Verwaltungskontakte aus – einem 2000Mann-Betrieb gehen jährlich 365 Personaltage
verloren, um Anträge auszufüllen.
Aber der G2B-Bereich, Government to Business,
also die Kommunikation zwischen Verwaltung
und Wirtschaft, schien den Behörden zunächst
weniger wichtig als der Bürger. Für ihn wollten
die Verwaltungen bequemer, moderner und
anfassbarer werden. Also setzten sie auf G2C,
Government to Citizen – und konzentrieren ihre
Anstrengungen seitdem vor allem auf die
Zufriedenheit einer Zielgruppe, die sich für
die neuen Angebote nur mäßig interessiert.
Gut die Hälfte aller Online-Dienste deutscher
Verwaltungen, so das Ergebnis einer Difu-Studie,
sind für den Bürger gedacht. Anders als ein
Unternehmen hat er in der Regel mit der Vewaltung jedoch vergleichsweise
wenig zu tun. Anderthalb Behördengänge fallen im Schnitt pro Jahr und
Einwohner an, und selbst die bleiben ihm – allen technologischen Bemühungen zum Trotz – bis heute nur selten erspart.
Die Behörden haben Portale gebaut und Informationen ins Netz gestellt, vereinfacht haben sie wenig. Deshalb können die Menschen im Land neuerdings vor allem die vielen Formulare, die sie schon in Papierform nicht verstanden haben, online bestellen und am privaten Computer ausdrucken. Das
stößt naturgemäß auf wenig Begeisterung, also ist der Bürger frustriert und
hält sich zurück. Für komplexere Vorgänge am heimischen Rechner, etwa
eine elektronische Signatur, sind eine persönliche Chipkarte plus Lesegerät
nötig – eine komplizierte und mit 61 Euro Anschaffungspreis plus 26 Euro
Jahresgebühr angesichts der Zahl notwendiger Behördengänge teure Lösung. Von den 10 000 Signatur-Sets, die im Zuge des Kommunen-Projektes
Media@Komm-Transfer an die Bevölkerung in Bremen sogar verschenkt
werden sollten, fanden nur rund 6000 einen Abnehmer. Die Hanseaten verzeichnen pro Monat weniger als 100 kartengestützte Verwaltungstransaktionen. Und Bremen gehört zu den Vorzeigekommunen in Deutschland.
Zu wenig Personal für zu viel Bürokratie
G2C ist gut, G2B wäre wichtiger.
Unternehmen verlieren im häufigen Umgang mit Behörden
viel Zeit und Geld. Der Bürger hingegen kommt
mit der Verwaltung vergleichsweise selten in Kontakt.
Anderthalb Behördengänge fallen hier zu Lande
im Schnitt pro Jahr und Einwohner an. Trotzdem ist gut die
Hälfte aller Online-Dienste deutscher Verwaltungen für den
Bürger gedacht.
Auch das Renommierprojekt des Bundes, Bund-Online, setzt vor allem auf
Informations- und Formularangebote, das hat das Handelsblatt im März dieses Jahres recherchiert. Zwar können rund 338 Dienstleistungen der Bundesverwaltung inzwischen online genutzt werden. Überall da, wo komplexere
technologische Anstrengungen erforderlich sind, tendieren die Nutzerzahlen jedoch gegen null.
Selbstverständlich ist so manches im Laufe der Zeit auch besser geworden.
Heute kann sich der Bürger online an- oder ummelden, er kann Lohnsteuerkarten bestellen, sein Auto zulassen, Volkshochschulkurse buchen, Wunschkennzeichen reservieren oder Anwohnerparkplätze beantragen. Beim Hamburger Finanzgericht können Steuerberater und Anwälte schon seit geraumer
Zeit Schriftsätze und Klagen per Mail einreichen. In Niedersachsen werden
Scheidungen vom Antrag bis zum Urteil ohne Papier abgewickelt.
„Die Daten sollen laufen, nicht die Bürger“, formulierte Bundesinnenminister Otto Schily einst das Ziel. Aber solange sich die Einstellungen und
Prozesse nicht grundlegend verändern, laufen Daten eben nicht, das ist das
Problem.
Tatsächlich ist der E-Government-Prozess in
Deutschland ins Stocken geraten, und jetzt steigt
von allen Seiten der Druck. Von außen fordert die
Wirtschaft den Fortschritt, denn Bürokratie ist
zeit- und kostenintensiv. Von innen erzwingen
die Umstände eine Reform: Die Kassen sind leer,
und den Behörden gehen die Leute aus.
In den nächsten zehn Jahren wird etwa die Hälfte
der Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes in Pension gehen, hat Michael Tschichholz, Leiter des
Fraunhofer E-Government-Zentrums, errechnet.
Dann fehlen die Mitarbeiter, die Akten bearbeiten.
Wenn sich an den Verwaltungsabläufen nichts
ändert, ist der alte Apparat nicht aufrechtzuerhalten.
Für all jene, die E-Government nicht mit dem
Aufbau von Internet-Portalen verwechseln, ist das
eine gute Nachricht. Denn wer seine Kernprozesse sauber definiert und seine Geschäfte elektronisch abwickelt, stellt nicht nur seine Kunden
zufrieden. Er macht die Organisation auch leistungsfähiger und sorgt bei gleicher oder besserer
Qualität für sinkende Kosten; in diesem Punkt
unterscheiden sich Kommunen ausnahmsweise
einmal nicht von Unternehmen.
Die EU-Kommission, die europaweit die Anstrengungen der öffentlichen Verwaltungen untersuchte, hat ausgerechnet, dass jeder Offline-Prozess in
einer Behörde 1,8-mal so teuer ist wie die komplett digitalisierte Variante. Was das in Summe
bedeuten kann, hat Stuttgart schon einmal akribisch für sich kalkuliert. Im vergangenen Jahr hat
die Stadt ihre Prozesse vom Fraunhofer Institut
für Arbeitsorganisation untersuchen lassen und
eine exakte Wirtschaftlichkeitsanalyse erstellt.
Seitdem wissen die Schwaben genau, was der
Transfer eines Arbeitsvorgangs ins Internet kostet
– und sie wissen, dass sich E-Government für
E-Government
Text: Katja Apelt
die Stadt rechnet. Schon durch die Verlagerung einiger weniger Amtsgeschäfte ins Netz ließ sich ein Einsparpotenzial in Höhe von 530 000 Euro
durch Mehreinnahmen oder weniger Arbeit nachweisen. Würden etwa
Abstammungs- und Geburtsurkunden oder Familienpässe künftig online
ausgestellt werden, ließen sich rechnerisch 232 Arbeitstage im Jahr einsparen. Mittelfristig will die Stadt auf diesem Weg zwölf Millionen Euro
im Jahr weniger ausgeben.
E-Government ist Chefsache
Einen noch radikaleren Weg beschreitet das Bundesland Hessen, das mithilfe von IT seine gesamte Verwaltung umkrempeln und modernisieren will.
Harald Lemke, Staatssekretär im Innen- und Finanzministerium der hessischen Landesregierung, ist der einzige ressortübergreifende Chief Information Officer auf Länderebene. Der Informatiker will E-Government mit
einer einheitlichen, zentralen Steuerung kombinieren – nachdem die nötige
Innenreform der Verwaltung stattgefunden hat. Erst wenn die entscheidenden Prozesse analysiert und gestrafft sind, sollen die einzelnen Verwaltungen mit einem Content-Management-System vernetzt werden, das die
Dokumente sortiert und dann sowohl für den Mitarbeiter als auch für den
Bürger abrufbar macht. Nach Angaben eines Sprechers hat die Landesregierung in der laufenden Legislaturperiode zehn Millionen Euro jährlich für
das Projekt bereitgestellt, außerdem investiert das Land 300 Millionen Euro
in die Computerausstattung. Langfristig will Hessen mithilfe der neuen
Organisation und der Technologie 30 Prozent seiner Personalkosten und
20 Prozent aller Sachkosten einsparen.
Das kann sich der Pionier leisten, weil das Land die finanziellen Mittel hat?
Falsch gedacht. Das leistet sich das Land, weil es ein kompetentes Management hat. Geld ist auf dem Weg zur modernen Verwaltung in Wahrheit
selten das Problem. Eher schon die Erkenntnis, dass E-Government Chefsache ist. „Ein System ist immer nur so gut wie seine Anwender“, meint
Bitkom-Experte Willi Kaczorowski. Und die sitzen auch in den Chefetagen
der Behörden.
Zwei Drittel aller E-Government-Vorhaben, schätzt Wolfgang Branoner, der
Public-Sector-Verantwortliche bei Microsoft, scheitern am Widerstand auf
der obersten Ebene. IT ist eine Frage der Führung. Warum sollte das in
der Behörde anders sein als in jedem Unternehmen?
McK Wissen 13
Seiten: 108.109
In Progress
Die Ziele sind dieselben, im Vorgehen unterscheiden sich
Wirtschaft und Behörde erheblich.
Erfahrungen auf dem Weg zur elektronischen Verwaltung.
Das Bundesland Hessen gilt als Vorreiter in puncto konsequenter IT-Strategie. Doch andere Länder, Kommunen und Gemeinden werden über kurz oder lang folgen, da sind sich die Beobachter
einig. Der Markt für technologische Entwicklungen im öffentlichen Sektor wird wachsen, die
Branche rechnet mit zweistelligen Zuwachsraten in den kommenden Jahren. Zwar gehen die Schätzungen über das Gesamtvolumen deutlich auseinander, doch selbst die pessimistischen Prognosen
versprechen den Anbietern beste Geschäfte. Nach einer Studie der Gartner Group gibt der öffentliche Sektor in Deutschland schon heute insgesamt etwa 11,1 Milliarden Euro aus. So viel wie die
Telekommunikationsindustrie und der Dienstleistungssektor zusammen. Bis 2008 soll der Markt mit
jährlich rund 4,3 Prozent weiter wachsen.
Ein Teil des investierten Geldes wird in die dringend nötige Harmonisierung der heutigen Systeme
fließen müssen. Das Land braucht Integrationslösungen, wenn E-Government in Deutschland
Realität werden soll. Und die System-Anbieter brauchen neben spezifischen Kenntnissen in Verwaltung und Behörden vor allem Erfahrung und Geduld.
Ein Beratungsprozess mit besonderen Regeln
Die großen Player haben die öffentliche Verwaltung schon seit den achtziger Jahren als Kunden
im Visier, in jüngster Vergangenheit gründeten sie für das Segment eigene Abteilungen. Microsoft
Deutschland löste den Bereich vor zwei Jahren aus dem Großkundensegment heraus, SAP formierte
seine Abteilung Public Services 1996. Gut aufgestellt ist auch die Siemens-Tochter Siemens
Business Services (SBS), die sich in Deutschland inzwischen mit rund 1400 Mitarbeitern um
öffentliche Auftraggeber kümmert. Oder die Deutsche Telekom, die als einstiges Staatsunternehmen
die Hürden der Bürokratie aus eigener Erfahrung kennt. „Bei uns ist die Qualifikation quasi hausgemacht“, sagt Günter Förster, Mitglied der Geschäftsleitung im Public Sector bei der Telekom-Tochter
T-Systems, die für die großen und mittelständischen Kunden im Konzern zuständig ist. Die Wettbewerber haben sich mit Erfahrungswissen aus den Verwaltungen präpariert.
Wolfgang Branoner, der Public-Sector-Verantwortliche der Microsoft Deutschland GmbH, war von
1998 bis 2001 Wirtschaftssenator in Berlin. Jürgen Bender, der bei SAP Deutschland die öffentlichen
Verwaltungsprojekte auf Bundes- und Landesebene betreut, unterstützte früher Oskar Lafontaine
in der saarländischen Staatskanzlei. Torsten Koß, der Leiter des Public-Sector-Bereichs der Walldorfer
SAP, arbeitete an der Universität Hannover schwerpunktmäßig in den Bereichen Business Process
Reengineering und Controlling im öffentlichen Dienst, bevor er 1996 zu SAP wechselte.
Expertise in verwaltungsnahen Bereichen ist dringend nötig. Denn auch wenn sich die Ziele –
Transparenz, Effizienz und Geschwindigkeit – in Behörden und Wirtschaft ähneln: Der öffentliche
Sektor funktioniert anders als Unternehmen. Sprache, Erfahrung im Umgang mit moderner Technologie und nicht zuletzt die Flut von Vorschriften und Gesetzen innerhalb der Behörde machen
die Projekte für die öffentliche Hand zu einem Beratungsprozess mit besonderen Regeln.
Um Deutschland ins IT-Zeitalter zu hieven, bedarf es mehr als der bloßen Digitalisierung von Verwaltungsabläufen. „Damit würde man ineffiziente Vorgänge einfach nur elektronisch einzementieren“, meint Senator a. D. Wolfgang Branoner. Deshalb müssen zunächst die Verwaltungsverfahren
reformiert werden, danach mache es Sinn, die Abläufe zu elektronisieren.
Fremde Regeln, fremde Technik, fremde Messgrößen – E-Government ist schwer
Für die Apparate bedeutet das: Prozesse überprüfen, Verordnungen und Gesetze verändern oder auch
abschaffen und klare, überschaubare und damit E-Government-fähige Strukturen schaffen. Keine
leichte Aufgabe für die Bediensteten, die im Laufe ihres Berufslebens mit moderner Technik nur
selten in Berührung gekommen sind. Laut Statistischem Bundesamt ist jeder vierte Mitarbeiter im
öffentlichen Dienst zwischen 55 und 65 Jahre alt, entsprechend schwer tut sich so mancher in der
Behörde mit den Aufgaben, die E-Government von ihm verlangt. „Bei der Einführung von E-Government ist Change Management unerlässlich“, weiß Bitkom-Vertreter Willi Kaczorowski. Die Mitarbeiter
müssten langsam und behutsam an die neuen Prozesse und Anwendungen geführt werden, damit sie
sich in dem neuen System wohl fühlten und keinen bleibenden Widerwillen entwickelten.
Auch deshalb muss viel Zeit mitbringen, wer mit der Verwaltung ins Geschäft kommen will. „Vom
ersten Kundenkontakt bis zum Vertragsabschluss können 18 bis 24 Monate vergehen“, erzählt
Torsten Koß. Dazwischen liegen – als Hauptteil der eigentlichen vertrieblichen Arbeit und typisch
für diesen Sektor – Ausschreibung und Vergabeentscheidung für den betreffenden Auftrag. Gewöhnungsbedürftig für die System-Anbieter ist auch die Art, wie Verwaltungen über Investitionen
entscheiden. In Unternehmen hilft das Messinstrument Return on Investment (ROI), die Rentabilität von Mitteleinsätzen zu beziffern. Im öffentlichen Sektor ist der ROI hingegen noch weitgehend
unbekannt. Die verbreitete Buchführungspraxis der Kameralistik betrachtet nur Ein- und Auszahlungen, nicht aber Aufwendungen und Erträge. Zwar stellen inzwischen viele Städte und Verwaltungen ihre Buchhaltung auf die doppelte Buchführung um, die so genannte Doppik, mit der sie
ihre Aktivitäten künftig am Ergebnis der Verwaltungstätigkeit ausrichten kann, statt wie bisher nur
nach dem Mittelaufwand zu planen. Der Return on Investment lässt sich damit jedoch nur schwer
kalkulieren.
Um eine Messlatte für die Wirtschaftlichkeit von Investitionen in der Verwaltung zu schaffen, konzentriert sich SAP auf einen „Public ROI“. Eine weiche Größe, die positive Effekte einer Investition
sichtbar machen soll. Der westaustralischen Polizei habe der Einsatz des neuen Instruments geholfen, erzählt Thomas Schild, SAP-Manager im Bereich Business Development im öffentlichen Dienst.
„Durch den Einsatz der Software konnte die Polizeipräsenz auf der Straße gesteigert werden, da die
Beamten durch reduzierte Verwaltungsarbeit weniger an den Schreibtisch gebunden sind.“ Dadurch
sei die Kriminalitätsrate gesunken, gleichzeitig habe sich das Sicherheitsgefühl der Bürger erhöht.
Der Public ROI habe dabei drei Komponenten. Der soziale Teil beschreibt den Mehrwert für
Bürgerinnen und Bürger, im Falle von Australien wäre dies das erhöhte Sicherheitsgefühl. Der
politische ROI bildet die bessere Erfüllung politischer Ziele ab, etwa niedrigere Kriminalitätsraten.
Der operationale ROI misst die tatsächlich eingesparten Kosten, beispielsweise für Papier oder
Porto. In der Praxis habe sich der Public ROI bewährt, meint Thomas Schild. Fortschrittlichen
Denkern in der Verwaltung helfe er, sich zu einem Projekt durchzuringen.
Um die verschiedenen Anwendungen im Land zu integrieren, setzen die Technik-Anbieter zurzeit
auf Interoperabilität. Sie schaffen Schnittstellen zu fremden Programmen, entwickeln Übersetzungssprachen, die eine Kommunikation zwischen den Systemen ermöglichen oder schaffen eine Plattform, die sämtliche Daten und Anwendungen managt und Aufgaben im System verteilt.
SAP setzt dabei auf die Standardsoftware Net-Weaver, eine Plattform, die verschiedenste Programme, Fachanwendungen und Datenbanken integrieren und als Schnittstelle zwischen dem Bürger und
der Verwaltung agieren kann. Microsoft hat neben seinem Betriebssystem Windows XP und einer
Standard-Software für den öffentlichen Bereich das E-Government Starter Kit und seinen großen
Bruder, Government Gateway entwickelt. Beide Anwendungen versprechen, die Datenkommunikation sowohl zu Fachverfahren als auch innerhalb des Behördenapparats für Bürger und Wirtschaft
zu unterstützen.
T-Systems sieht sich als „Dienstleister Public Services“ und richtet den Blick vor allem auf den „vernetzten
Föderalismus“, also auf vertikal durchgängige Prozesse zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Das
Unternehmen unterstützt die Harmonisierung und Integration von Infrastrukturen und Plattformen
sowie die parallele Einführung betriebswirtschaftlicher Steuerungs- und Controlling-Systeme. Ein weiterer
Schwerpunkt ist Business Process Outsourcing – von der temporären Übernahme von Betriebsaufgaben
bis hin zur Übernahme der Betriebsverantwortung kompletter ITK-Infrastrukturen und Plattformen.
ORF
Text / Foto: Gerhard Pretting
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Der Berg ruft
Öffentlich-rechtliche Sender sind für ihren Qualitätsanspruch bekannt und für ihren gesetzlichen Programmauftrag.
Am Gemeinwohl orientiert und durch Gebühren finanziert, haben die einstigen Monopolisten bislang vor
allem für den Erhalt ihres Status quo gekämpft. Umso erstaunlicher ist der Weg, den der Österreichische Rundfunk
im vergangenen Jahr beschritt. Um in der Organisation leistungsfähiger zu werden, engagierte
der ORF McKinsey & Company. Ein Tabubruch.
ORF
Text / Foto: Gerhard Pretting
Österreich ist das Land der Berge. Das wird sogar in der Nationalhymne besungen. Der Großglockner ist mit 3797 Metern der höchste, der
wichtigste Berg ist er aber nicht. Den findet man nicht in Tirol oder
Vorarlberg, sondern in Wien. Allerdings ist „Berg“ für diesen Ort ein
Euphemismus. Ein Hügel ist der „Küniglberg“ – bestenfalls.
Seine Bedeutung verdankt er denn auch nicht seiner Topografie, sondern
der Tatsache, dass hier in den siebziger Jahren das ORF-Zentrum
errichtet wurde. Insider – und in Wien scheint jeder Zweite ein MedienInsider zu sein – sagen deshalb auch nicht: „Ich habe etwas beim ORF
zu erledigen“, sondern „ich muss auf den Küniglberg“. Wer etwas auf sich
hält, spricht den Namen nicht OH.ER.EF aus – so wie AH.ER.DE – sondern „Orf“. So wie den Komponisten Carl Orff. Aber das sei nur nebenbei erwähnt.
Nähert sich der Besucher dem Hauptgebäude des Österreichischen Rundfunks, ist er zuerst einmal vom Liebreiz der Umgebung fasziniert. Hietzing,
13. Gemeindebezirk. Beste Wiener Wohngegend. Imposant thront hier das
Haus, das der Architekt Roland Rainer zwischen 1968 und 1975 erbaute.
Es wirkt wie eine uneinnehmbare Burg, und das war es ja auch, jahrzehntelang, als es die Privaten noch nicht gab. Das digitale Fernsehen. Haufenweise Konkurrenz. Immer weniger Werbeeinnahmen. Sinkende Einschaltquoten. Schrumpfende Marktanteile. Aber unverändert hohe Kosten.
Das ORF-Zentrum ist eine Stadt in der Stadt. Weil sich die Infrastruktur
in dieser Gegend in Grenzen hält, bietet das Haus alles, was man zum
Leben braucht. Eine Kantine, eine Sushibar, einen Supermarkt, ein Blumengeschäft, ein Fitnessstudio und noch einige Annehmlichkeiten mehr.
Das sagt viel über das Selbstverständnis des Unternehmens aus. Geplant
und erbaut wurde es, als an der Monopolstellung des ORF noch lange nicht
gerüttelt wurde. Der ORF war der ORF war der ORF. Eine Macht im
Land. Unumstößlich. Und wohlhabend.
Der Österreicher hört ORF
Man kann die Bedeutung des ORF für die mentale Entwicklung des
Landes gar nicht hoch genug einschätzen, meint Alexander Wrabetz, der
kaufmännische Direktor des Unternehmens. „Deutschland würde auch
ohne Fernsehen heute nicht viel anders aussehen. Österreich hätte sich
ohne den ORF in den vergangenen 50 Jahren anders entwickelt.“
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Seiten: 112.113
Der ORF ohne Österreich auch. Das öffentlich-rechtliche Unternehmen
gedieh im Laufe der Zeit prächtig. Zuschauerzahlen, Sendezeiten, Marktanteile, Gebühren und Werbeeinnahmen wuchsen Jahr um Jahr und
bescherten dem Unternehmen beste Bilanzen. Im Februar 1968, so listet
der ORF in seiner Chronik auf, zählte er eine Million Fernsehteilnehmer,
2001 wurden mehr als 2,7 Millionen Zuschauer beim Fernsehen und gut
2,8 Millionen Radiohörer registriert. Damals ein neuer Rekord beim
Programmentgelt: Der Sender erwirtschaftete 375 Millionen Euro. Die
Programmleistung stieg parallel dazu: Aus 4924 Stunden Sendezeit in den
beiden TV-Kanälen 1974 wurden knapp 7000 Stunden im Jahr 1982,
13 Jahre später sendete der ORF schon knapp 19 000 Stunden Fernsehprogrammleistungen. Und deckte bald den gesamten Markt ab: Mit
seinen analogen terrestrischen Sendeanlagen erreicht der öffentlich-rechtliche Sender bei einem Versorgungsgrad von 95 Prozent im TV- und
98 Prozent im Radiobereich zuletzt rund 3,2 Millionen österreichische
Haushalte. Kein Wunder, dass auch die Kunden Schlange standen. Die
Bilanz des Jahres 2001 wies 348 Millionen Euro an Werbeeinnahmen aus.
2001 war der Höhepunkt erreicht
So wuchs mit der Zeit die Macht im Land – und mit ihr wuchs der
Apparat. Das Unternehmen, das heute rund 1840 Sender auf 477 Sendeanlagen betreibt, leistete sich mit den Jahren all das, was auch andere
öffentlich-rechtliche Sendeanstalten lange für ihr Leistungsspektrum zu
brauchen glaubten: Studios, Technik, Planer, Verwalter und ein Heer von
Redakteuren.
Die Probleme begannen in den achtziger Jahren. Damals brachte das
Kabelfernsehen deutsche Kanäle in die österreichischen Haushalte – und
die glorreichen Monopolzeiten näherten sich ihrem Ende. Der Prozess
verlief schleichend, aufhalten ließ er sich nicht. Ein verkabelter Haushalt
in Österreich konnte Ende 2004 bereits bis zu 49 deutschsprachige Sender
empfangen, für den ORF eine starke Konkurrenz. Auch und vor allem mit
Blick auf die dringend benötigten Werbeeinnahmen.
Die waren in der Vergangenheit kontinuierlich gestiegen. Ein Trend, der
sich im Jahr 2001 weltweit und auch für den Österreichischen Rundfunk
umkehrte. Nach durchschnittlichen Wachstumsraten des Werbeaufwands
von zwölf Prozent jährlich, verzeichnete Österreich 2001 ein Minus
Alexander Wrabetz, käufmännischer
Direktor beim ORF, und Generaldirektorin
Monika Lindner wussten, wo sie als Erstes
sparen mussten: in der kaufmännischen
und der Generaldirektion.
von 0,4 Prozent. Es war das schlechteste Werbejahr der zurückliegenden
beiden Dekaden. Die Werbeeinnahmen des ORF sanken innerhalb dieses
Jahres um rund 17 Millionen Euro und gehen seitdem – parallel zum Marktanteil – kontinuierlich zurück. Für das Jahr 2005 sieht der Finanzplan des
ORF „Erträge aus Programmentgelten“ in Höhe von 427,5 Millionen Euro
und Werbeeinnahmen von 292,1 Millionen Euro vor.
Sinkende Werbeeinkünfte müssen auch andere Sendeanstalten verkraften.
Weil der ORF jedoch im Unterschied beispielsweise zur britischen BBC
oder den deutschen Anstalten ARD und ZDF in höherem Maß von Werbung abhängig ist, trifft ihn der Rückgang deutlich härter als die westeuropäischen Schwestersender. Knapp 56 Prozent der ORF-Erträge stammen aus Rundfunkgebühren, rund 38 Prozent aus Werbeeinnahmen. In
Deutschland trugen die Werbeeinnahmen im Jahr 2003 nur noch wenig zu
den Gesamterträgen der öffentlich rechtlichen Sender bei. Bei den Landesrundfunkanstalten der ARD sank der Anteil auf zwei Prozent, ins Budget
des ZDF fließen 6,8 Prozent Einnahmen aus Werbung.
Die hohen Einkünfte des ORF sind das Ergebnis einer Werbezeitregelung,
die der Gesetzgeber den Österreichern aus einem einfachen Grund eingeräumt hat: Nur mit den Gebühren des mit gut acht Millionen Einwohnern
vergleichsweise kleinen Landes wäre ein solides Radio- und Fernsehprogramm, das sich mit denen der deutschen und englischen Kollegen messen
kann, kaum möglich. Zum Vergleich: Die ARD hat einen Gebührenertrag
von gut fünf Milliarden Euro, das ZDF von mehr als anderthalb Milliarden Euro.
Die Werbepreise sinken, jetzt muss gespart werden
Der ORF kann im laufenden Jahr mit einem Gesamtbudget von 769,4
Millionen Euro planen – und muss damit zwei landesweit empfangbare
Fernseh- und drei Radioprogramme betreiben, dazu neun Landesstudios
mit eigenem Regionalradio und einer halben Stunde Bundeslandfernsehen
pro Tag. Am Ende des Jahres hofft der Sender auf eine schwarze Null –
und hat sich, um das Ziel auch in Zukunft zu erreichen, ein rigides Sparprogramm auferlegt. „Aus kaufmännischer Sicht besteht unsere größte
Herausforderung in den österreichischen Werbefenstern der großen deutschen Privatsender, die für Werbetreibende eine Alternative zu Einschaltungen im ORF bieten“, skizziert Alexander Wrabetz die künftige Entwicklung seines Hauses. „Sie bekommen durch die Verbreitung des
Wer erst einmal da ist, muss und will meist gar nicht mehr weg. „Auf dem Küngiglberg“,
wie die Journalisten ihr ORF-Zentrum nennen, gab es neben Supermarkt, Sushibar
und feiner Menü-Auswahl lange Jahre auch einen ungewöhnlich sicheren Arbeitsplatz.
ORF
Text / Foto: Gerhard Pretting
digitalen Fernsehens eine neue Qualität. Was zur Folge haben wird, dass
durch das Mehrangebot das Werbepreisniveau in den nächsten vier Jahren
sinkt.“ 20 bis 30 Prozent sind als Worst-Case-Szenario denkbar, fürchtet
Wrabetz. Weil die Gebühren nicht im gleichen Maß erhöht werden können – die letzte Steigerung liegt gerade mal ein Jahr zurück –, und weil die
Politik dem ORF durch neue Werbezeitregeln zudem das Leben schwer
macht, führt aus Sicht des kaufmännischen Direktors an radikalen Sparmaßnahmen kein Weg vorbei.
Schnitträume besser einteilen – zehn Millionen Euro sparen
Erstmals engagierte der ORF deshalb eine Unternehmensberatung, um
Wege zur nachhaltigen Senkung der Gemeinkosten zu finden – und handelte sich erwartungsgemäß öffentliche Schelte ein. Der Auftrag an McKinsey & Company wurde im Frühjahr 2004 erteilt und wochenlang in den
Medien diskutiert. Zwar waren Redaktionen und Programmgestaltung
explizit aus der Studie ausgenommen. Die Befürchtung, die Berater könnten sich in die journalistische Arbeit einmischen und dem Fernsehsender
womöglich flächendeckend „Servus, Hansi Hinterseer“ verordnen, eine der
erfolgreichsten Sendungen des ORF mit Marktanteilen von rund 35 Prozent, wurde dennoch mehrfach kolportiert.
Auch intern hielt sich die Begeisterung in Grenzen. Unter dem Titel „Da
zittert der Kü’berg …“ beschrieb Christian Mucha, Medienbeobachter und
-kritiker in seinem Branchenblatt ExtraDienst die Stimmung im ORFZentrum: „Derweil ist in den einzelnen Abteilungen die nackte Angst
ausgebrochen. Vor allem dort, wo man ahnt, dass nicht gerade sparsam
operiert wird, löst das Arbeitsprojekt ‚Overhead‘ Panik und Entsetzen aus.“
McKinsey-Partner Markus Klimmer, der den Öffentlichen Sektor aus
vielerlei Beratungsprojekten kennt, nennt die ORF-Entscheidung rückblickend „einen sehr mutigen Schritt, der vor allem zur Transparenz beiträgt – und zeigt, dass sich das Unternehmen gegen die im öffentlichen
Sektor weit verbreitete Da-kann-man-eh-nix-machen-Mentalität auflehnt“.
In anderen Sendern werde angesichts knapper Mittel bestenfalls hin und
wieder an den variablen Kosten gedreht. Da werde mal eine geplante
Eigenproduktion um ein paar Monate geschoben, eine Sendung mit zu
niedrigen Quoten abgesetzt oder auch mal ein Film weniger gedreht, um
die Bilanz im Lot zu halten.
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Seiten: 114.115
Das Management des ORF wagte sich an die Kernbereiche des Unternehmens – und fing der Glaubwürdigkeit wegen zunächst einmal bei sich selbst
an. Im Fokus der McKinsey-Analyse standen im Wesentlichen die Generaldirektion, die Kaufmännische Direktion, große Teile der Technischen Direktion sowie die verwaltungsnahen Bereiche von Fernsehen und Hörfunk und
die kaufmännischen Verwaltungen der Landesstudios. Drei Monate nach
dem Projektstart am 9. März 2004 sind 22,6 Millionen Euro Einsparungen
vom Direktorium des ORF beschlossen. Die Maßnahmen zur Reduktion
sollen in den kommenden zwei bis drei Jahren umgesetzt werden.
Mit rund zehn Millionen Euro Sparpotenzial stellt die Technische Direktion den mit Abstand größten Brocken dar. Allein die Einrichtung einer
zentralen Disposition der Fernsehschnittplätze, so die Analyse, kann rund
eine Millionen Euro jährlich einsparen helfen. Bisher bucht jede Redaktion
ihre Plätze selbst – mit der Folge, dass die Schnitträume zwischen zehn und
17 Uhr überbelegt sind, die restliche Zeit jedoch meist leer stehen. Eine
zentrale Disposition soll Leerzeiten in Zukunft verhindern helfen. „Das
erfordert ein gewisses Umdenken bei den Redakteuren“, sagt Alexander
Wrabetz. Schließlich stehen sich da eine effiziente Auslastung und die
Bequemlichkeit der Gestalter noch unversöhnlich gegenüber. „Aber im
Landesstudio Burgenland haben wir die Praxis schon verändert, und dort
hat es sehr gut funktioniert. Warum also sollte das im ORF-Zentrum nicht
gelingen?“
Absicherung nach Beamtenart – Bezahlung nach Marktpreisen
An anderen Stellen wird nicht optimiert, sondern ganz gestrichen – und
damit konsequent zu Ende gebracht, was ohnehin längst am Ende war.
Bestes Beispiel: das Besetzungsbüro. Ein Relikt aus Zeiten, in denen der
ORF noch selbst viele Fernsehfilme produzierte und deshalb Schauspieler
auswählen und engagieren musste. Inzwischen werden große Filme längst
außer Haus hergestellt, wie so vieles, was der Sender mit den Jahren an
Dienstleister außerhalb des Unternehmens verlagerte. Das Besetzungsbüro, teuer, aber nutzlos, blieb; jetzt wurde es geschlossen.
In anderen Bereichen sind die Maßnahmen zur Optimierung diffiziler. Beispielsweise beim Personal. Im Laufe der Jahre haben sich in der Organisation immer kleinere Einheiten gebildet, die ein nur sehr eingeschränktes
Aufgabenspektrum haben. Diese kleinteilige Struktur hat zur Folge,
Seit den siebziger Jahren steht das
ORF-Zentrum in der Wiener
Würzburggasse. Das soll sich auch in
Zukunft nicht ändern.
dass im Unternehmen ein umfangreiches Mittelmanagement seinen Dienst
versieht und überdurchschnittlich viele administrative Hilfskräfte benötigt
werden. Die meisten Mitarbeiter sind unkündbar und werden außerdem
exzellent entlohnt: Das Unternehmen zahlt nicht selten das Doppelte dessen, was in Deutschland üblich ist.
Auch die hohen Personalkosten sind ein Erbe der erfolgreichen ORFVergangenheit. Geboren in einer Zeit, in der das Monopolunternehmen
seine Bediensteten mit Verträgen verwöhnte, die das Beste aus beiden
Welten vereinten: Absicherung nach Beamtenart, Bezahlung zu Marktbedingungen. Es waren die Zeiten der „FBV“, jener sagenumwobenen „Freien
Betriebsvereinbarung“, über die der ehemalige Generalintendant (so hieß
der Generaldirektor früher) Thaddäus „Teddy“ Podgorski in seinem Erinnerungsbuch „Die große Illusion“ schreibt: „Die FBV sollte zum Schlüssel
für das Schicksal des ORF werden. In ihr stand festgeschrieben, dass
einem Dienstnehmer nichts geschehen konnte, wenn er in Ungnade fiel.
Es stand aber ebenfalls drin, wenn auch zwischen den Zeilen, dass ihm
nichts passieren konnte, wenn er faul, unbegabt, destruktiv und illoyal
war.“ Auch Gerd Bacher, der ehemalige ORF-Generalintendant mit der
längsten Amtszeit, erklärte in einem Interview mit dem Standard die Freie
Betriebsvereinbarung zur „unheilbarsten Krankheit des ORF“, mit der man
das „Haus nicht rationell führen“ könne. Inzwischen wurde die Vereinbarung abgeschafft, aber spät und auch nur für jene Mitarbeiter, die nach
1993 angestellt wurden.
Schluss mit der Lüge vom niedrigen Personalstand
Anfang 2004 entschloss sich die Geschäftsleitung außerdem zu einem
Schritt, der die Sparbemühungen des Senders auf den ersten Blick zu konterkarieren scheint: Der ORF stellte 1200 bis dahin freie Mitarbeiter des
Unternehmens fest ein. Gerd Bacher, heute einer der heftigsten Kritiker des
Hauses, nannte die Einstellungswelle „einen Irrsinn“. Für Generaldirektorin
Monika Lindner war es dagegen ein wichtiger Schritt, der half, die Fehler
der Vergangenheit endgültig zu korrigieren.
Tatsächlich waren die vielen „Freien“ nämlich „fixe freie Mitarbeiter“, was
bedeutete, dass sie neben einer festen Monatspauschale auch einen Schreibtisch im Unternehmen, Visitenkarten und jede Menge sozialer Vergünstigungen ihr Eigen nennen durften. In jedem anderen Betrieb hätte man sie
Angestellte genannt. Nicht so im ORF, weshalb die Gefahr einer kol-
lektiven Anstellungsklage, die das Unternehmen finanziell bei weitem überfordert hätte, wie ein Damoklesschwert über dem Management schwebte.
„Offiziell hatten wir den Personalstand der sechziger Jahre“, sagt Generaldirektorin Lindner. „Das war eine glatte Lüge, weil es noch einmal so viele
freie Mitarbeiter gab. Zudem war der Personalzufluss ungebremst und
unkontrollierbar. Leute kamen, machten einige Beiträge, waren nach kurzer Zeit bereits freie Mitarbeiter und wurden nach und nach zu verdeckten Angestellten.“
Inzwischen ist ein Großteil der Freien fest angestellt. Zu neuen, für das
Unternehmen leistbaren Konditionen. „Wir haben innerhalb der Medienbranche sicher den modernsten und schlanksten Kollektivvertrag“, erklärt
der kaufmännische Direktor Alexander Wrabetz sichtlich stolz. „Kündigungsfristen und Abfindungen nach Angestelltengesetz, keine Sozial- und
sonstige Zulagen, abgeflachte Senioritätskurve.“
Auch wenn Monika Lindner und Alexander Wrabetz betonen, dass die
Anstellungswelle kostenneutral vonstatten ging, bleibt der Druck auf das
Unternehmen hoch. Der ORF will auch in Zukunft sparen. Weitere
Gebührenerhöhungen, sind auf Dauer keine Lösung, mit durchschnittlich
236 Euro pro Jahr liegt Österreich vor Deutschland (204 Euro) und Großbritannien (180 Euro) bei den Gebühren im Europa-Vergleich ohnehin
bereits im Spitzenfeld.
Monika Lindner kann sich stattdessen vorstellen, auch das letzte Tabu im
öffentlich-rechtlichen Sender zu brechen: „Ich wünsche mir, dass die
Abteilungen sich aufrichtig mit unseren Sparvorgaben beschäftigen und das
auf Dauer reicht. Sollten wir aber gezwungen sein, strikter vorzugehen,
schließe ich nicht aus, auch die Redaktionen von einem Beratungsunternehmen durchleuchten zu lassen. Ich werde mir damit zwar keine Freunde
machen und Prügel beziehen, aber wenn es notwendig sein sollte, werden
wir es tun.“
Eine Drohung? Teil eines Versprechens. Schließlich hat die Generaldirektorin auch ihr Wort gehalten und mit dem Sparen dort angefangen, wo es
die Journalisten im Haus stets für notwendig hielten, ganz oben.
Und möglicherweise sogar ein Schritt, der neue Freunde schafft. Medienkritiker Christian Mucha jedenfalls hat in seinem Branchendienst durchaus positive Bilanz gezogen. Dass ihm „McKinsey & Co nicht gerade
sympathisch“ seien, hätten treue Leser des ExtraDienst schon länger
geahnt. In diesem Fall jedoch, schrieb er, halte er das Beraterhonorar für
gut angelegt.
„Wir haben innerhalb der
Medienbranche sicher den
modernsten und schlankesten
Kollektivvertrag. Kündigungsfristen und Abfindungen nach
Angestelltengesetz, keine
Sozial- und sonstige Zulagen,
abgeflachte Senioritätskurve.“
Alexander Wrabetz
Interview James Buchanan
Text / Foto: Steffan Heuer
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„Die Menschen wollen vom
Staat abhängig sein.“
Nobelpreisträger James Buchanan, international renommierter Mitbegründer der Public-Choice-Theorie, über die
wahren Motive von Staatsdienern und Politikern, den Verteilungskampf um öffentliche Güter und Dienstleistungen
– und das Dilemma eines ausufernden öffentlichen Sektors.
James Buchanan, Virginia, USA
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Als der frisch gebackene Doktor der Wirtschaftswissenschaften James Buchanan Anfang der
fünfziger Jahre die westlichen Demokratien mit den Augen eines vom Sozialismus zum Liberalismus
gewandelten Ökonomen betrachtete, wunderte er sich über die Missachtung, mit der seine Kollegen den Staat straften. „Ein Drittel bis zur Hälfte des Bruttoinlandsproduktes eines Landes wurde
nicht auf freien Märkten ausgegeben, sondern von der öffentlichen Hand. Ökonomen aber schenkten diesem Sektor so gut wie keine Beachtung. Der öffentliche Sektor schrie förmlich nach Erklärungsmodellen“, erinnert sich der heute 85-Jährige.
Aus diesem Antrieb entwickelte Buchanan in den vergangenen fünf Jahrzehnten das Gedankengebäude und analytische Rahmenwerk der Public-Choice-Theorie. Sie erklärt, warum die öffentlichen
Ausgaben von Sozialstaaten unentwegt wachsen – und benennt als Hauptursache das Fehlverhalten der einzelnen Akteure. Als die Kritik von Public Choice Ende der fünfziger Jahre erstmals
formuliert wurde, waren Volkswirte und Politologen noch von einem Gesellschaftsmodell ausgegangen, in dem sich die Staatsdiener allein um das Gemeinwohl sorgen. Für Buchanan ging dieser
Ansatz an der Realität vorbei: Warum sollte ein Politiker oder Beamter menschlich untypisch, also
altruistisch handeln? Der Ökonom ging von den Beobachtungen in der privaten Wirtschaft aus
und bezog diese auf den öffentlichen Sektor – volkswirtschaftliches Denken und Staatsrechtslehre
wurden erstmals zusammengeführt.
Aus einem kleinen Verein früher Verfechter des Buchanan’schen Ansatzes ist heute, 40 Jahre
später, ein anerkanntes Fachgebiet der liberalen Schule geworden. Weil die Idee des Wohlfahrstaats
als ein unrealistisches Ziel kritisiert wird, halten ihre Verfechter eine möglichst niedrige Staatsquote
für die bessere Alternative.
Buchanan selbst musste auf Anerkennung geraume Zeit warten – die Theorie passte schlecht zu
den ehrgeizigen fiskalpolitischen Regierungsprogrammen der sechziger, siebziger und frühen achtziger Jahre. Erst 1985 fand die Theorie Eingang in das Standardwerk „Volkswirtschaftslehre“
von Paul Samuelson und William Nordhaus, nach dem weltweit unzählige Universitäten seit 1948
lehren. Mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften wurde Buchanan 1986 für seine
Grundlagenforschung über politische Entscheidungsprozesse ausgezeichnet.
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Professor Buchanan, Sie gelten als Vater der Public-Choice-Theorie.
Worum geht es darin eigentlich?
Es geht darum, die Entstehung von wirtschaftlichen und politischen
Entscheidungen zu verstehen. Die meisten Theoretiker betrachten den
öffentlichen Sektor durch die rosarote Brille. Sie haben nach wie vor
jenes romantische Bild im Kopf, dass die im Auftrag der Regierung
handelnden Wirtschaftssubjekte vor allem daran interessiert seien, das
Gemeinwohl zu mehren. Stattdessen plädiere ich dafür, Politik auch in der
Theorie nüchtern zu betrachten oder, wie ich in einer Vorlesung 1979
sagte: Die Public-Choice-Theorie ist der Versuch, Politik ohne Romantik
zu begreifen. Beamte und Politiker sind ganz normale Menschen, sie verhalten sich nicht anders als Marktteilnehmer in anderen Bereichen einer
Volkswirtschaft.
Wieso dann Public-Choice-Theorie, wenn sich das ökonomische Verhalten
von Bürokraten und normalen Marktteilnehmern ähnelt?
Es gibt zwar keinen grundlegenden Unterschied zwischen Menschen, die
auf Märkten oder im öffentlichen Sektor agieren. Aufgrund der verschiedenen organisatorischen Strukturen, in die der einzelne Akteur eingebunden
ist, sind die Unterschiede in den Folgen des Handelns aber groß.
Wirtschaftswissenschaftler sahen das in der Vergangenheit nicht so?
Bevor die Public-Choice-Theorie die Diskussion in den fünfziger Jahren
entfachte, wollten Ökonomen vor allem die Funktionsweise von Märkten
verstehen. Wir haben versucht, ökonomisches Denken auf den öffentlichen
Sektor auszudehnen. Historisch betrachtet, ist die Theorie entstanden, weil
wir das Mehrheitsprinzip als die damals unangefochtene Demokratieform
erstmals unter ökonomischen Gesichtspunkten kritisch hinterfragten.
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legenden Bausteine der Wirtschaftswissenschaften und gelten für den privaten Sektor genauso
wie für den öffentlichen: In idealisierten Märkten
handelt der Mensch für sich allein. Er ist auf
seine individuelle Nutzenmaximierung bedacht
und handelt dabei, zweitens, als Vernunftwesen.
Ökonomen gehen deshalb vom Individualismus
und Rationalismus als Grundeigenschaften des
Menschen als Wirtschaftssubjekt aus. Der dritte
Faktor ist das Prinzip des Tauschgeschäftes.
Märkte, egal, ob öffentliche oder private, sind
nichts anderes als Orte für Tauschgeschäfte.
Zur Person
James Buchanan, Jahrgang 1919, gilt als geistiger Vater
der Public-Choice-Theorie. Der gebürtige Südstaatler studierte
während der Umbruchsperiode des Zweiten Weltkriegs in
Tennessee und promovierte 1948 an der berühmten University of
Chicago Business School. Als Nachwuchsakademiker lehrte
und forschte Buchanan an der University of Virginia und an der
University of California in Los Angeles.
Was heißt das für den Staat?
Wenn es solche Tauschvereinbarungen zwischen
Individuen und der Gemeinschaft nicht gäbe,
ließe sich staatlicher Zwang nur schwer legitimieren. Auf unterschiedlichen Ebenen – per
Gesetz oder durch die Verfassung – müssen sich
die Bürger verständigen, einen Teil ihrer Freiheit
aufzugeben, um dafür im Gegenzug Güter oder
Dienstleistungen vom Staat zu erhalten. Die
Public-Choice-Theorie zwingt die Menschen
dazu, über politische Prozesse als einen komplexen Mechanismus von Tauschgeschäften nachzudenken. Märkte dagegen leben von einfachen
Tauschgeschäften, in denen das Spiel von Angebot und Nachfrage den Preis bestimmt.
Diskussionen über die ideale Demokratie gab es schon vorher. Was haben
die Ökonomen dazu beigetragen?
Wenn man von Fürsorgeprogrammen, Straßenbau, öffentlicher Bildung und anderen Gütern
und Dienstleistungen redet, kann man wohl kaum
von diesem Spiel sprechen.
Wir gehen von drei treibenden Faktoren aus, die das wirtschaftliche Verhalten eines Menschen bestimmen. Die ersten beiden sind die grund-
Genau da liegt das Problem. Im Staatssektor gibt
es zwar keine freien Märkte, auf denen die
Als Buchanan eine deutsche Ausgabe der in Vergessenheit
geratenen Werke des schwedischen Verfassungs-Ökonomen Knut
Wicksell aus dem späten 19. Jahrhundert entdeckte und ins
Englische übersetzte, war bei ihm der Keim für die Public-ChoiceTheorie gelegt, die er Ende der fünfziger Jahre mit seinem
Kollegen Gordon Tullock zu formulieren begann.
Ihr Buch „The Calculus of Public Consent“ aus dem Jahr 1962
gilt als Meilenstein. Aus einer ersten Konferenz für interessierte
Wirtschaftswissenschaftler und Politologen 1963, entstanden
erst eine eigene Fachzeitschrift und schließlich ein Studiengang
an der Universität von Rochester im Staat New York. Ende
der sechziger Jahre richteten Buchanan und Tullock ein eigenes
Forschungszentrum ein, das Center for Study of Public Choice,
das 1983 an der George Mason University in Fairfax, Virginia
seine permanente Bleibe fand.
öffentlichen Güter gehandelt werden können,
aber es gibt Kosten, die jemand tragen muss. Im
Gegensatz zur Privatwirtschaft können sich die
Preise aber nicht entsprechend des Spiels von Angebot und Nachfrage entwickeln. Wenn ich als
Bürger einer Gemeinschaft darin eingewilligt
habe, dass mich der Staat doppelt so hoch besteuert wie meinen Nachbarn, dann gibt es – abgesehen von Emigration – kaum eine Möglichkeit, durch Handel aus diesem Preisgefüge herauszukommen. Ein Dilemma: Der Staat hat
theoretisch die Möglichkeit, willkürlich hohe
Preise zu verlangen.
Was ist mit Regierungsvertretern oder Politikern,
die entscheiden, wer welche Leistungen in welcher Höhe empfängt?
Eine alte Schreibmaschiene, eine altes
Telefon und eine alte Theorie? Keineswegs,
der 85-jährige Nobelpreisträger arbeitet
weiter – an drei Büchern gleichzeitig.
oder rückgängig zu machen. Am Ende geht es darum, dass Lobbyisten
Politiker dazu veranlassen, für ihre jeweilige Interessengruppe vorteilhafte Gesetze oder Regelungen zu verabschieden – was dann auf Kosten
der Allgemeinheit geht.
Welchen Preis zahlt die Öffentlichkeit für Beamte, Politiker und Gesetzgeber, die sich von Lobbyisten lenken lassen?
Rent Seeking führt zu einem Nettoverlust für die Gemeinschaft. Nehmen
wir Rechtsanwälte als Beispiel – sie sind in Amerika zu einer regelrechten
Plage geworden. Ein Jurist, der für einen Lobbyisten in Washington
arbeitet, tut grundsätzlich nichts anderes als Steuervorteile und Ausnahmen für dessen Kunden herauszuschlagen. Das kann die absonderlichsten
Blüten treiben. Hier haben beispielsweise Großwildjäger gesetzlich dafür
gesorgt, dass sie ihre Trophäen ausstopfen lassen und an irgendwelche, teilweise dubiosen Museen geben können, die ihnen dafür steuerlich absetzbare Spendenquittungen in absurder Höhe ausstellen.
Sie wollen natürlich im Amt bleiben und reagieren deshalb auf die Wünsche und Anliegen ihrer
Wähler. Die Partei, die ihnen auf den Posten verhalf, verfolgt ihre eigene Agenda, die Politiker
fördern und erfüllen sollen. Das sorgt für höchst
gemischte Motivationen.
Sind solche Steuerschlupflöcher die Spitze des Eisbergs? Wie hoch ist der
Verschleiß?
Politologen haben für die Schattenseiten des
öffentlichen Sektors den Begriff „Rent Seeking“
geprägt – das Streben nach privatem Gewinn
auf Kosten der Gemeinschaft. Was sagt Public
Choice dazu?
Was schätzen Sie?
Public Choice erklärt, wie und warum Ressourcen in diesem unnötigen Wettbewerb um öffentliche Zuwendungen verschwendet werden. Wenn
der Staat Geld von mir nehmen und an jemand
anderen geben kann, werde ich als rational
handelnder Individualist in Mittel und Wege
investieren, um diesen Transfer aufzuheben
Das lässt sich unmöglich messen. Einige Schätzungen gehen von enormen
Verlusten für die Volkswirtschaft aus, aber je nach Modell kann man jede
beliebige Zahl errechnen.
Ich kann Ihnen keine Ziffern nennen, aber lassen Sie es mich so versuchen:
In Amerika gibt es bedeutend mehr Verschwendung durch Rent Seeking
als in den rein parlamentarischen Systemen Europas. Dort sorgt die Parteidisziplin für Verhandlungen, bevor Themen zur Abstimmung gelangen. In
den USA dagegen bilden sich starke Interessengruppen, die Otto Normalverbraucher Gelder vorenthalten. Amerikaner nennen das „Pork Barrel“Politik – saftige Speckschwarten für bestimmte Lobbys. In einem klassischen Fürsorgestaat wie Schweden kommt es zwar insgesamt zu mehr
Ausgaben, als die Bürger finanzieren möchten, aber ein solches System ist
zugleich weniger verschwenderisch als das amerikanische. Wer sich wie in
den USA bezahlen lässt, um für eine Gruppe auf Kosten einer anderen
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Gruppe Geld herauszuschlagen, betreibt negatives Unternehmertum. Anstatt
etwas zu produzieren und das Bruttosozialprodukt zu erhöhen, vernichten
diese Leute Wert.
Ist das nicht eine sehr negative Analyse? Ist Public Choice am Ende nicht
vor allem eine pessimistische Bestandsaufnahme? Beamte und Politiker
lassen sich von Eigennutz und Lobbyisten beeinflussen, einzelne Bevölkerungsgruppen haben schon rein ökonomisch schlechte Karten, sich im
öffentlichen Sektor Gehör zu verschaffen.
Das sind berechtigte Einwände. Es ist außerordentlich schwer, dafür
zu sorgen, dass alle Gruppen gleich behandelt werden. Man kann argumentieren, dass sich diese Gruppen an der Macht abwechseln und sich
so beim Abschöpfen von Vorteilen auf Dauer in Schach halten. Aber ein
solches Hin und Her sorgt vor allem für eines: Der öffentliche Sektor wird
zur Geisel des politischen Spiels. Je mehr sich unterschiedliche Gruppen
um die Macht balgen, desto größer wird der öffentliche Sektor. Und je
größer die Staatsquote wird, desto größer sind auch die Möglichkeiten
für Marktteilnehmer, sich zu bereichern. Eine Menge dieser Probleme
würden sich erledigen, wenn wir eine Staatsquote von zehn statt 50 Prozent hätten.
Weniger Staat – das haben schon viele Ökonomen postuliert.
Mir geht es um etwas anderes: um die fundamentale Frage, was den
öffentlichen Sektor antreibt und wachsen lässt. Dazu habe ich vier Spielarten von Sozialstaat definiert. Was wir heute haben, ist sicherlich nicht
der sozialistische Staat der zentralen Planwirtschaft. Systeme wie diese sind
verschwunden. Das zweite Modell, das sich abgrenzen lässt, ist der paternalistische Staat, in dem eine Elite der Bevölkerung vorschreibt, was sie zu
tun hat. Dann gibt es eine dritte Variante, die vom sozialdemokratischen
Gleichheitsideal motiviert ist. Diesen Umverteilungsstaat finden wir heute
allerorten, vor allem in Europa. Aber auch dieser sozialdemokratische
Ansatz ist meiner Meinung nach nicht zielführend bei der Frage, was die
Staatsquote nach oben treibt. Ich denke da an das Modell des fürsorglichen
Elternstaats: Die Menschen wollen vom Staat abhängig sein! Heute hat
das Vertrauen in den öffentlichen Sektor Gott als letzte Hoffnung
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abgelöst. Insbesondere die Bürger der europäischen Wohlfahrtsstaaten glauben nach wie vor
an den Staat als legitime fürsorgliche Institution.
Während beim paternalistischen Staat Entscheidungen und Wünsche von oben nach unten
fließen, fordern die Bürger im Elternstaat Güter
und Dienstleistungen ein. Der Staat reagiert
lediglich auf das Verlangen der Bevölkerung nach
elterlicher Fürsorge.
Der Bürger ist schuld daran, dass der öffentliche
Sektor wächst?
Der Fehler liegt im System. Wenn der Staat eine
Rolle als Elternersatz annehmen soll, dann muss
er das für alle tun. Jede Bevorzugung einzelner
Gruppen bei Zuwendungen oder Besteuerung
durch den öffentlichen Sektor verletzt das Gleichheitsprinzip. Also stehen wir vor der entscheidenden Frage, ob sich eine Gesellschaft das leisten kann. Wenn die Bevölkerung vom Staat abhängig sein will, aber nicht gewillt ist, dafür die
nötige Steuerlast zu akzeptieren, stecken wir in
der Klemme. Externe Faktoren machen die Situation noch schlimmer: die demografische Krise
durch Überalterung, Einwanderungstrends und
schließlich eine wachsende Staatsverschuldung.
Der Generationenvertrag geht nicht mehr auf.
Die kinderlose, überalterte Gesellschaft treibt die
Staatsausgaben nach oben. Und das bei gleichzeitig wachsender Ressourcenverschwendung
durch den fortschreitenden Lobbyismus. Damit
will ich nicht sagen, dass die westlichen Sozialstaaten gescheitert sind. Aber ganz sicher muss
sich in der Bevölkerung die Erkenntnis durchsetzen, dass ihre Ansprüche nicht durch gewöhnliche Steuersätze zu decken sind.
Die George Mason Universität in Virginia hat
Buchanan ein Haus gewidmet – sämtliche
Wirtschaftsjournale sind respektvoll sortiert.
Sie haben in der Vergangenheit immer wieder
betont, dass es Ihnen auf fairen und gerechten
Zugang aller Bürger zum öffentlichen Sektor
ankommt. Wie passt das mit Ihren Ausführungen
über den fürsorglichen Elternstaat zusammen.
Haben Sie Ihre Meinung geändert?
mechanismen zu sorgen. So wird ein staatliches Monopol durch ein privates ersetzt, samt Bestechungsgeldern und all den anderen Problemen. Auf
der anderen Seite lässt sich nicht leugnen, dass es handfeste Vorteile wie
etwa mehr Wettbewerb und Transparenz bringt, verkrustete öffentliche
Strukturen aufzubrechen.
Was gehört denn Ihrer Meinung nach in die öffentliche Hand?
Literatur
Kenneth Arrow: Social Choice and
Individual Values. Yale University Press,
1970; 138 Seiten; 15,95 Euro
James Buchanan: Politics without
Romance. In: Institut für Höhere Studien
und Wissenschaftliche Forschung:
IHS-Journal, 1979, Band 3, Heft 2; S. 1–11
Anne Krueger: The Political Economy
of the Rent-Seeking Society. In: American
Economic Review, 1974, Band 64, Heft 3;
S. 291–303
Mancur Olson: The Rise and Decline of
Nations. Yale University Press, 1984;
276 Seiten; 19 Dollar
Ich habe nie etwas gegen den so genannten
Sozialstaat gehabt, geschweige denn den Staat
als etwas grundsätzlich Schlechtes abgelehnt.
Meine These ist lediglich: Marx ist passé, Bismarcks Ideen vom Sozialstaat hingegen leben
weiter. Was mir Sorgen macht, ist ein Staat, der
bestimmte Bevölkerungsgruppen diskriminiert.
Man kann mit Fürsorgeprogrammen eine Menge
Gutes erreichen – solange sie für alle gelten und
solange die Bevölkerung bereit ist, für sie zu
bezahlen. Gefährlich wird es für unseren demokratischen Prozess, wenn man bestimmte Bevölkerungsgruppen aus Programmen wie der allgemeinen Rentenversicherung auszuschließen
beginnt. So wird aus allgemeiner Fürsorge ein
Umverteilungsprogramm, das Rent Seeking und
Lobbyisten geradezu einlädt. Auf uns kommen in
den nächsten Jahrzehnten große Verteilungskämpfe zu.
Vielleicht ist es keine schlechte Idee, bestimmte
öffentliche Dienstleistungen zu privatisieren, damit weniger Ressourcen verschwendet werden
und mehr Markt herrscht.
An diesem Ansatz ist in der Praxis nicht viel dran,
weil die Prozesse schlecht gemanagt werden.
Regierungen von Lateinamerika bis Großbritannien haben ihr Glück mit Privatisierungen versucht. In vielen Fällen haben die Verantwortlichen
aber nicht daran gedacht, für Wettbewerbs-
Es gibt Situationen, in denen der Staat sogar eine größere Rolle spielen
könnte. Wenn die Angst vor teuren Klagen im Raum steht, trauen sich
private Investoren oft nicht an Projekte heran, und die öffentliche Hand
sollte einspringen. Wir sollten beispielsweise bedeutend mehr Geld in neue
Atomkraftwerke investieren, da diese Energie sauber und effizient ist und
die Abhängigkeit von Ölimporten reduziert. Diese Aufgabe durch die
öffentliche Hand anzugehen bietet Vorteile – sofern sich das politisch
durchsetzen lässt. Eine private Investorengruppe müsste fürchten, bei
einem Unfall in den Bankrott geklagt zu werden.
Sie sind jetzt 85 und noch immer sehr engagiert. Wollen Sie nicht irgendwann einmal kürzer treten?
Nein, ich arbeite gern noch viel, aber eher zurückgezogen. Die meiste Zeit
verbringe ich in meinem Landhaus, wo ich meine E-Mails lesen kann und
vier bis fünf Stunden am Tag schreibe. Im Moment habe ich drei Bücher
in Arbeit. Das eine beschäftigt sich mit technischen Fragen der PublicChoice-Theorie. Ein weiteres Buch wird im Herbst erscheinen. Es trägt den
Titel „Warum auch ich kein Konservativer bin“. Diese Sammlung von
Vorlesungen lehnt sich bewusst an Friedrich von Hayeks klassisches Werk
„Warum ich kein Konservativer bin“ an. Mein drittes Buch ist eine Sammlung von Aufsätzen aus den vergangenen 15 Jahren mit dem Titel „The
Extent of the Market“. Ich sehe mir das Konzept des Freihandels aus der
Perspektive von Adam Smith an, wonach die Größe eines Marktes vom
Grad der Arbeitsteilung abhängt. Je größer und je offener eine Volkswirtschaft, desto mehr Spezialisierung gibt es und desto mehr Wachstum.
Logisch durchdacht, gibt es keine Rechtfertigung, den nationalen oder
internationalen Handel einzuschränken. Sie sehen: In Rente bin ich noch
lange nicht. Das wäre ein schrecklicher Gedanke!
Bürgerengagement
Text / Foto: Stefan Scholl
Ein Dorf
für Kinder
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Kein Geld, keine Arbeit, keine Zukunft – eigentlich gibt es in dem bettelarmen Taigadorf
Kejsess kaum noch etwas, das zu verwalten wäre. Aber um ihren Kindern eine
Perspektive zu geben, entwickeln die Bewohner eine beispielhafte Eigeninitiative.
Der Held dieser Geschichte könnte Alexander Baskal heißen. „14 Paar
Ski habe ich selbst gekauft.“ Er sitzt mit ein paar Elfjährigen im Lehrerzimmer, sein Blick, blau wie der westsibirische Himmel, wandert suchend
übers Schachbrett. „Manchmal“, unterbricht er sich, „setzen die Jungs mich
schon matt.“ Die Jungs kichern, Baskal aber ereifert sich wieder über Ski.
„Kunststoffski, Fischer und Rossignol, gekauft oder eingetauscht, gegen
eine Gans oder anderes Fleisch.“ In Baskals Eifer mischt sich Stolz: Fischer,
Rossignol, ein Paar solcher Markenski kostet 6000 Rubel, 180 Euro, mehr
als Baskal im Monat verdient.
Baskal, 36, ist öffentlicher Angestellter, Sportlehrer der Mittelschule und
Skitrainer des Clubs Viktoria, aber man könnte ihn auch Dorfminister für
Körperkultur nennen. Er war einmal Omsker Vizemeister über zehn Kilometer Langlauf, dann verletzte er sich beim Rennradfahren zweimal dasselbe Knie, seitdem lebt er für die Siege seiner Schüler. Skilaufen ist Pflicht
an der Mittelschule, 27 Kinder trainiert Baskal täglich, sie siegen nicht nur
bei Kreis-, sondern auch bei Gebietsmeisterschaften. Die Loipen im Dorf
spurt er mangels Motorschlitten eigenfüßig, Baskal tritt auch die zwei
Meter breiten Trassen für die Skater platt, auf breiten Jagdskiern, 1050
Meter Trasse an der Schule, 1200 Meter hinter dem Friedhof, „mit einer
90 Meter langen Steigung fürs Hügeltraining“. Im Winter, nach jedem
Neuschnee, sieht man den wuchtigen Mann auf seinen Holzbrettern in
Zeitlupe über die verschneiten Feldern ziehen. Sisyphus in Sibirien.
Wassilij Bobrowitsch, der zweite Sportlehrer, schleppt zu Winteranfang
das Wasser in 40-Literkannen auf den Eishockeyplatz. Seine Jungs spielen
das beste Eishockey im Kreis, dank Bobrowitsch tragen sie auch rich-
tige Trikots. Es gibt hier viele solcher Helden, Sport- und Musiklehrer,
Kommunalbeamte und Kolchosniki. Das große Russland sucht vergeblich
eine nationale Idee, das Dorf Kejsess hat für sich eine gefunden, eine sehr
einfache, aber starke Idee, um die sich alles öffentliche Leben dreht: die
Kinder von Kejsess, ihr Glück, ihre Zukunft.
Bettelarm – aber reich an Pädagogen
Der Aprilhimmel über Kejsess strahlt blau und riesig wie die Iris einer verliebten Dorfschönheit. Der Alltag darunter ist bitterhart. Die großen Fröste,
oft minus 40 Grad, sind vorbei, jetzt balancieren gestiefelte Gestalten über
Holzbretter durch das Schmelzwasser, das die Hofeinfahrten überschwemmt.
Das Dorf Kejsess im Rayon Sedelnikowo, 330 Kilometer nordöstlich von
Omsk, ein Kolchos, elf Straßen, 400 hölzerne Haushalte, belagert von den
Birken und Fichten der westsibirischen Wildnis. Gestern Nacht hat ein
besonders blutrünstiger Vielfraß zwei Schweineställe am Dorfrand überfallen, fünf Schweine getötet, drei musste man notschlachten. Leben heißt
hier überleben.
Den 1200 Bürgern geht es wie 40 Millionen russischen Landbewohnern,
von denen 25 Millionen unter der Armutsgrenze leben. 370 Erwachsene
arbeiten im Kolchos „Erster Mai“, für Monatshungerlöhne von umgerechnet zehn oder 20 Euro. Lehrer verdienen 50 bis 200 Euro, sind damit die
Spitzenverdiener im Dorf, aber auch das reicht nicht zum Überleben. Alle,
sogar die Schuldirektorin, sind Selbstversorger. Sie melken eigene Kühe,
ernten die eigenen Kartoffeln, hacken Holz, schleppen Wasser, jagen,
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Bürgerengagement
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sammeln Pilze oder Beeren. Reich sind nur die Omsker, dank ihrer Ölraffinerien. Deswegen kann es sich der Omsker Gouverneur leisten, mehr als
30 Lehrergehälter allein in Kejsess zu bezahlen. Das Dorf ist bettelarm, aber
reich an Pädagogen.
Verwalten? Freiwillige vor!
In den siebziger Jahren lebten in Kejsess mehr als 3000 Menschen, blühte
hier sowjetisches Landleben. Aber von der Leinenfabrik stehen nur noch
Ruinen, auch die Molkerei, das Traktorenwerk, die lokale Radiostation und
das Krankenhaus haben längst dichtgemacht. Es gibt kein Parteikomitee
und keinen Dorfsowjet mehr, wozu auch? Staatliche Verwaltung bedeutet,
Kader und Ressourcen zu verteilen. Auf den Dörfern aber geht es schon
lange nur noch darum, die Armut zu verwalten.
Kejsess hat eine Dorfverwaltung, aber keinen Etat. Der Chef der Verwaltung, Michail Korobkow, ein kleiner Mann mit breit gearbeiteten Händen,
bekommt zwar sein Gehalt vom Staat, aber jede Kopeke für die öffentlichen
Belange im Dorf muss er beim Rayon beantragen. Und der ist arm. Wenn
Korobkow für umgerechnet 1800 Euro Kohle beantragt, erhält er welche
für 800. Auch dieses Frühjahr mussten die Heizer wieder Brennholz in der
Taiga schlagen, um Schule, Kindergarten und Kulturhaus warm zu
Alexander Baskal, Sportlehrer
und Skitrainer in Kejsess, trainiert seine
Schüler nicht nur auf der Piste.
Im Schachspiel wird er von den Elfjährigen
schon mal besiegt.
halten. „Ohne Haushalt“, seufzt Korobkow, „kann doch von lokaler Selbstverwaltung keine Rede sein.“ Kader und Ressourcen verteilen, das heißt
für ihn Freiwillige zusammenzutrommeln, Bretter oder Schlacke zu beschaffen, selbst mit anzupacken, um die vom Frost gesprengte Asphaltdecke
oder eine löchrige Holzbrücke zu flicken. Verwalten, das heißt oft nur noch
zu entscheiden, ob beim Beerdigen der Sarg auf einem Kolchoslastwagen
oder im Krankenwagen zum Friedhof gekarrt wird.
Und doch: Auf dem Flur der Dorfverwaltung hört man lachende Kinderstimmen. Im Sitzungssaal rechts bereitet die Jugendgruppe „Ich und du“
den „Tag der Familie“ am 15. Mai vor. Links, im Kabinett von Alexandra
Schemtschugowa, 44, haben sich sechs Kinder und zwei Mütter versammelt. „Und jetzt erzählt mir, Kinder“, moderiert Alexandra, „welche Eigenschaften der Mutter uns das Herz wärmen. Ira, wir fangen mit dir an.“ Ira
legt ihre Kinderstirn in Falten, druckst herum: „Mmm … also, Zärtlichkeit.“ Gruppentherapie in Gummistiefeln: Die Acht- bis Elfjährigen und ihre
Mütter kommen aus Familien, die Alexandra und die anderen Pädagogen
im Dorf als „Risikogruppe“ bezeichnen.
Alexandra leitet das einzige Komitee der Dorfverwaltung, das Komitee
für Jugendfragen. Eine Frau mit kastanienroter Kurzhaarfrisur und klugen
hellen Augen. „Die Löhne bei uns sind niedrig“, untertreibt sie. „Leute mit
schwachem Willen geben sich auf, fangen an zu saufen.“ Meist saufen
„Die Schule gibt keine Ruhe. Die wollen, dass sich die Kinder entfalten.“
Alexandra Schemtschugowa (rechts) leitet
das einzige Komitee der Dorfverwaltung
und diskutiert Jugendfragen.
die Väter, manchmal die Mütter. Auch tagsüber straucheln schwarze
Gestalten durchs Dorf. Oft liegt schon vormittags die erste Schnapsleiche
im Straßengraben. Der Dorfvorsteher vermutet, 20 Prozent der Leute hier
seien Alkaschi, Alkoholiker. Der Kolchosdirektor hat einmal gesagt, er
würde am liebsten die Hälfte seiner Belegschaft wegen Sauferei entlassen.
Der Dorfpolizist und die Schuldirektorin vermuten, dass ein Drittel der
Bevölkerung regelmäßig trinkt. Sibirische Zweidrittelgesellschaft.
Die Alkaschi schlagen ihre Kinder nicht. „Sie kümmern sich einfach nicht
mehr um sie“, sagt Alexandra. Ihre Gruppentherapie, zweimal die Woche,
soll die Eltern wieder für ihre Kinder interessieren. „Aber meist kommen
nur die Mütter. Und auch nicht alle.“ Alexandra traktiert auch die Kinder,
die allein kommen, mit Fragespielen, Volksmärchen und Hausaufgaben, die
auf die Eltern zielen: „Stellt euch vor, ihr seid Reporter. Und zu Hause
macht ihr ein Interview mit eurem Vater. Fragt ihn, wie seine Kinder einmal sein sollen!“ Die ölblauen Holzwände ihres Kabinetts sind mit Fotografien von Kinderfesten und filzstiftbunten Merkblättern tapeziert: „Was
fühlt das Mutterherz?“ – „Was ist Liebe?“
Alexandra ist die vielleicht öffentlichste Frau in Kejsess, ihr Alltag eine
endlose Kette von Veranstaltungen. Treffen der Jugendlichen mit örtlichen
Kriegsveteranen, Lektionen und Diskussionsabende über die Gefahren von
Alkohol, Nikotin oder Aids, Gruppenspiele mit Schulklassen: „Wie soll eine
Familie reagieren, wenn die Tochter sich in einen Taugenichts verliebt?“
Auch das Sisyphusarbeit, aber die Frauen in Sibirien sind noch schwerer zu
verdrießen als ihre Männer. „Manchmal stehe ich um fünf Uhr morgens
auf“, sagt Alexandra. „Da habe ich die besten Ideen.“
Die Häuser im Dorf sind meist einstöckig, aus vom Alter geschwärztem
Holz, auch die Gebäude der Dorf- und der Kolchosverwaltung. Nur der
Giebel des Kulturhauses ist höher, seine Steinwände sind beige verputzt.
Auch sibirische Architekturen haben ihre Hierarchien.
Im Direktorenzimmer des Kulturhauses wird gesungen. Die 45-jährige
Nadeschda Chaponkowa und ein wetterbrauner Kolchosnik, er hat die
Hände auf die Knie gelegt und blickt versonnen, feilen an der Tonlage eines
Liedes, das der Dorfchor zum 9. Mai, dem „Tag des Sieges“ einstudiert.
Sie verstummen, sinnen schweigend. „Etwas höher“, sagt der Kolchosnik.
„Ja, etwas höher“, sagt Nadeschda. Die Direktorin trägt ähnlich rote
Haare wie Alexandra vom Jugendkomitee.
Nadeschda Chaponkowa, 45
Das Kulturhaus, offiziell heißt es jetzt „Erholungszentrum“, ist Konzertbühne, Kino, Diskothek und vor allem Jugendclub. Natürlich gibt es den
Erwachsenenchor. Und der indische Spielfilm „Liebe ohne Worte“, der
morgen um 22 Uhr gezeigt wird, ist auch nichts für Kinder. Aber die meisten Kulturträger im Dorf sind jünger als 18 Jahre. 149 Kinder und Jugendliche engagieren sich in der Volkstanzgruppe, der Theatergruppe, dem
Kreis für Kunsthandwerk, dem Kinoclub „Traum“ oder dem patriotischen
Klub „Spiegel“. Teilnahme kostenlos. Sie lernen tanzen, musizieren, Theater spielen, moderieren, organisieren, improvisieren.
Schuldirektorin – die stärkste Frau im Dorf
Und sie treten auf. Erst am Sonntag gab es ein Wohltätigkeitskonzert,
die meisten Nummern trugen Jugendliche vor. „Kinder, strengt euch an“,
hat Nadeschda ihnen gesagt, „Eure Großväter haben für euch gekämpft,
sind gefallen, mit den Einnahmen renovieren wir das Kriegerdenkmal.“
Nadeschda hat 25 Jahre Erfahrung mit Kulturarbeit, sagt, früher hätte es
weniger Geldprobleme gegeben, aber heute veranstalte man mehr. Ob die
feierliche Verabschiedung der Wehrpflichtigen oder die nicht weniger feierliche Verteilung der ersten Pässe für die 16-Jährigen, die meisten Feste stellt
das Kulturhaus gemeinsam mit dem Jugendkomitee und der Schule auf die
Beine. „Die Schule gibt keine Ruhe“, sagt Nadeschda. „Die wollen, dass
sich die Kinder entfalten.“
Die Architektur und die Hierarchien sind niedrig in Kejsess. Aber es ist kein
Zufall, dass die Schule zweistöckig und aus Stein ist. Die Direktorin residiert im Obergeschoss, Irina Chromowa, 39, die vielleicht stärkste Frau im
Dorf. „Es gibt Eltern, die ihre Kinder nicht mehr in die Schule schicken“,
schimpft die Hünin. „Aber wir zwingen sie. Schlimmstenfalls gehe ich
selbst hin.“ Kein Zweifel, wie solche Besuche enden, die Oberarme der
Direktorin sind mächtig.
Irina Chromowa war einmal Komsomolvorsitzende des Kreises. Eine Enthusiastin, die an die glückliche Zukunft des Sowjetvolkes glaubte. Diese
Zukunft ist längst Asche, aber Irina hat ihren Enthusiasmus nicht verloren.
Die sibirischen Dorfschullehrer pflegen ihr eigenes Selbstverständnis. „Lehrer ist ein zutiefst schöpferischer Beruf“, erklärt Schulrat Rjadowoj, früher
selbst Direktor der Kejsesser Schule. Lehrer seien wie Künstler oder
Bürgerengagement
Text / Foto: Stefan Scholl
Schauspieler, sie könnten nicht einfach nach Tarifvertrag arbeiten. „Wir
haben die alten Stereotypen der sowjetischen Pädagogik noch nicht überwunden“, räsoniert Rjadowoj ironisch. „Wir wollen die Kinder nicht nur
informieren, wir wollen sie begeistern, ihren Charakter entfalten.“
Seit 19 Jahren leitet Irina die Kejsesser Mittelschule, 23 Lehrer, vier Erzieher,
180 Schüler, elf Jahrgänge. Für viele Kinder sei die Schule das zweite Zuhause. „Ein Junge kam, als er aus der Armee entlassen wurde, direkt zu uns
in die Schule, schleppte seine Koffer mit. Erst danach ist er nach Hause
gegangen.“ In Irina Chromowas Stimme mischt sich Stolz mit Sorge.
Natürlich sei es schwer, gegen saufende Eltern an zu erziehen. „Familien,
auch schlechte Familien, prägen das Kind zu mehr als der Hälfte.“ Sie
macht ein Gesicht wie Winston Churchill 1941, ernst, aber zuversichtlich,
„aber wir halten die Kinder so lange wie möglich hier.“
180 Stunden Bildung und Freizeit
So lange wie möglich, elf Jahre lang, bis zur Hochschulreife. Und so lange
wie möglich jeden Tag, die Schule öffnet morgens um halb acht und
schließt ersten gegen zehn Uhr abends. Sechs Unterrichtsstunden, das Mittagessen danach ist kostenlos. Nachmittags verwandelt sich die Schule in
ein Pionierhaus, einen Sportclub und einen Spielplatz. Eishockey, Umweltschutz, Volleyball, Klavier, Computer, Flugzeugmodellbau, insgesamt bieten
Schule und Kulturhaus mehr als 180 Stunden Freizeitangebot.
Aber auch nachmittags wird weiter gelernt: „Fakultative“, Wahlfächer, oft
werden sie als kostenlose Förderstunde für schwache, aber auch für besonders talentierte Schüler genutzt. „Damit sie bei den Aufnahmeprüfungen
mit den Stadtkindern konkurrieren können“, sagt Irina.
Die schöne Katja mit den riesigen schwarzen Augen sitzt mit nur einer
Klassenkameradin im Fakultativunterricht Deutsch. Katja ist Musterschülerin, fröhlich, fleißig, hilft schwächeren Altersgenossen bei den Hausaufgaben. Und sie gehört zu den 16 Jugendlichen, die als Anerkennung für
ihren Eifer im Kulturhaus umsonst in die Disco dürfen.
Zum Tag des Sieges fährt sie gemeinsam mit ihrem Geschichtslehrer nach
Moskau, zu einem Empfang beim Präsidenten, eine Auszeichnung für das
vorbildliche Heimatkundemuseum. Ihren Studienplatz hat sie schon sicher,
der Kreis hat ein Stipendium für sie ausgeschrieben. Katja will in Omsk
Wirtschaft studieren. Und wie fast alle Abiturienten will sie weg aus
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Kejsess. „Hier gibt es doch keine Arbeit für uns. Ich möchte zuerst Karriere machen, danach eine Familie gründen.“ Katja lächelt, sie ist 16, und
die Zukunft lockt.
„Je besser unsere Dorfschulen ihre Kinder vorbereiten, je mehr einen Studienplatz in der Stadt erobern, desto weniger Intelligenz bleibt im Dorf“,
klagt Schulrat Rjadowoj. Zu Sowjetzeiten verdiente eine Melkerin doppelt
so viel wie ein Lehrer. „Das Verhältnis hat sich gründlich umgekehrt“, sagt
die Direktorin. Jetzt ackern die Eltern, um ihren Kindern eine gute Bildung
zu finanzieren. In den vergangenen Jahren verschwanden mehr als 30 Prozent der Schulabgänger an die Hochschulen nach Omsk oder Tara. Aber
von 16 Absolventen der letzten Abschlussklasse arbeiten zwei auf der Kolchose, vier lernen in einer Berufsschule, acht an Colleges, vergleichbar den
deutschen Fachhochschulen, nur zwei an der Universität. „Wir brauchen
in der Landwirtschaft junge, gut ausgebildete Spezialisten“, erklärt Irina.
Deshalb hätten die Lehrer ihre Schüler diesmal bewusst auf mittlere Ausbildungen orientiert. Kaderpolitik im Klassenzimmer.
Die Mittelschule baut auf zwei Hektar eigene Kartoffeln und eigenes
Gemüse an. Im Herbst helfen Schüler und Lehrer der Kolchose bei der
Ernte. „Deine beste Brigade, Chromow“, sagt Irina zu ihrem Ehemann, dem
Kolchosvorsitzenden, „ist doch unsere Schule.“ Der Kolchos revanchiert
sich mit Milch zum Selbstkostenpreis, aber auch mit 14 Stipendien zu
Schuldirektorin Irina Chromowa hat eine
wirkungsvolle Methode, Eltern davon
zu überzeugen, ihre Kinder in die Schule zu
schicken: Sie besucht sie.
Pionierapell der 6. Klasse
„Ich möchte Geschichte studieren. Historiker wissen nämlich am meisten.“
Sweta, 11
400 Rubeln. „Ohne uns kommt hier keiner aus“, sagt Irina, „aber wir auch
nicht ohne die anderen.“ Jeden Montagmorgen um acht treffen sich die
Jugendbeauftragte und die Dorfbibliothekarin bei Irina zur Kabinettsitzung:
Was bieten wir unseren Kindern diese Woche an? Soll nicht die Dorfverwaltung in den Kindergarten ziehen, damit das neue Sozialzentrum „Rodnik“ (Quelle) ihr Gebäude übernehmen kann?
Kinder selbst erziehen mit. „Jura benimm dich gefälligst“, schimpft die
blaugrüngoldäugige Sweta nach einer Rempelei mit ihrem wilden Klassenkameraden Jura. „Er ist zwar nicht mein Bruder“, erklärt die Elfjährige mit
energischer Stimme. „Aber ich schäme mich trotzdem für sein Benehmen.“
Auch die kleine Sweta weiß schon, was sie vom Leben will: „Ich möchte
Geschichte studieren. Historiker wissen nämlich am meisten.“
Die Kinder und ihre Zukunft sind die Hoffnung des Dorfes, seine Ideologie. Und das Dorf hat Glück, dass die Ölraffinerien in Omsk RiesenKein Geld, aber viel Hoffnung
gewinne machen. Und dass der Omsker Gouverneur, ein alter Parteikader,
Seit einigen Monaten nimmt auch Nina Troptowa an den Beratungen bei sich so viele Rubelplanstellen für Lehrer und Pädagogen leistet. Immer
Irina teil. Nina, 37, leitet das im vergangenen Jahr eröffnete Zentrum für mehr wirtschaftsliberale Gouverneure und Bürgermeister kalkulieren ihren
sozial schwache Familien. „Es gibt Kinder im Dorf, die sich nicht satt Haushalt eiskalt, schließen Musik- und Sportschulen, Kulturhäuser, auch
essen können.“ Auch Ninas Haare sind hennarot gefärbt, sie ist kräftig und Dorfschulen. „Warum bringst du Kinder zur Welt, wenn du kein Geld hast?“,
fröhlich, als wäre sie Irinas kleine Schwester. „Meist Kinder aus Säuferfami- herrschte ein Beamter in Twer, 170 Kilometer nördlich von Moskau, eine
lien. Unsere Risikogruppe.“
junge Mutter an, die sich beklagt hatte, weil die Stadt alle Milchküchen
Also lädt der Rodnik für drei Monate 30 Kinder ein. Hier gibt es etwas zu dichtgemacht hat. Sibirien ist bäuerlicher, konservativer, sozialer.
essen, Kleider, einen warmen Platz zum Lernen und Spielen. Aber vor allem Im November hat der Kreis Sedelnikowo einen neuen Landrat gewählt,
Selbstbewusstsein. „Die Kinder sehen in der Schule, dass sie schlechter einen ehemaligen Lastwagenfahrer, der es als Bauunternehmer zum reichsangezogen sind als die anderen, verkriechen sich in sich selbst. Wir wollen ten Mann von Sedelnikowo gebracht hat. Ein Mann der Tat, mit guten Verihnen die Möglichkeit geben, sich zu entfalten.“ Hausaufgabenhilfen, Nähen, bindungen nach Omsk. Gerade erst hat der Gouverneur den Rayon besucht,
Basteln, Spiele und Feiern. Tag des Witzes, Tag des Frühlings, Tag der hat Geld für neue Wohnhäuser bewilligt, auch die Straßen sollen repariert
Gesundheit, Geburtstage. Die Piroggen zum feierlichen Teetrinken sind werden. Der neue Landrat ruft die Kolchosbauern auf, die Milch ihrer
selbst gebacken, die Pfefferminze und die Melisse für die Teemischung Privatkühe an die Molkerei im Kreiszentrum zu verkaufen, will Butter und
selbst gesammelt und getrocknet. Auch Liebe steckt im Detail.
Käse aus Sedelnikowo in Omsk vermarkten. Auch in Kejsess kommt neue
Erzieherinnen und Kinder helfen bei großen Aufräumaktionen zum Früh- Hoffnung auf.
lingsanfang mit, die Schule stellt ihre Basteleien zum Verkauf aus, die Kin- Und Skilehrer Baskal denkt über seinen Nachwuchs nach: „Ich stelle die
der lernen, dass sie nützlich sind. Schule und Kolchose helfen mit Gemüse Kinder lieber auf Skier, als dass sie im Dorf herumlungern“, sagt er. „‚Du
und Kartoffeln, Brot gibt es aus dem Rayonzentrum. Aber der Rodnik ist gewinnst bei den Dorfmeisterschaften‘, sage ich ihnen, ‚dann bei den
noch ärmer als das übrige Dorf, lebt von Spenden. Stifte oder Stoffe bezah- Kreismeisterschaften, dann bei den Gebietsmeisterschaften. Und dann
len die Frauen – neben Nina noch zwei Sozialarbeiterinnen und zwei sehen wir weiter.‘“ Natürlich kann auch Baskal nicht aus jedem Dorfkind
Psychologinnen – oft aus eigener Tasche. „Wir haben im Monat gerade einen Olympiasieger machen. Aber gute Skiläufer seien in Sibirien immer
Lebens- und Sachmittel für 1000 Rubel“, seufzt Nina. „Aber dafür viel gefragt. Der 24-jährigen Oksana beispielsweise hatte Baskal auch einst
Hoffnung.“
das Skilaufen beigebracht. Ihre Eltern soffen, aber sie gewann bei den
Kejsess lebt für seine Kinder. Wenn die Eltern sich besaufen, nehmen die Omsker Gebietsmeisterschaften, studierte Sport. „Jetzt ist Oksana wieder
Nachbarn ihre Kinder oft zum Übernachten zu sich. Hier kennt jeder in Kejsess. Unsere zweite Skitrainerin.“ Manchmal kommt auch Sisyphus
jeden, fühlt sich nicht nur für die eigenen Kinder verantwortlich, die
ans Ziel.
Nina Troptowa bietet Kindern aus
sozial schwachen Familien im
Sozialzentrum Rodnik einen warmen Platz
zum Lernen und Spielen.
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Text
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Katja Apelt schreibt über Wirtschaft, Finanzen, Reise und Gastronomie. Bei ihrer Recherche
über E-Government entschloss sie sich, wenigstens ihre eigene Bürokratie besser zu vernetzen, warf
ihr Filofax weg und kaufte sich einen PDA. 2 Dass Freud und Leid manchmal sehr nahe beieinander liegen, erfuhr Helge Bendl bei seiner Recherche in Bad Münster am Stein-Ebernburg. Eigentlich waren die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Kurbetrieb ideal, und doch ist die Stadt
heute pleite – und wenig attraktiv. Pflichtbewusst übernachtete Bendl in Bad Münster, abends
jedoch hielt er die Grabesruhe nicht aus und flüchtete zum Nachbarn Bad Kreuznach, um gemütlich ein Glas Nahe-Wein zu trinken. 3 Ralf Grauel lebt in Berlin und schreibt als fester Autor für
brand eins und McK Wissen. 4 Elisabeth Gründler lebt als freie Autorin in Hannover und zog aus
ihrer Recherche das Fazit: Berlin ist ein besonderes Biotop. 5 Steffan Heuer berichtet seit 1994
aus den USA über Wirtschafts- und Technologiethemen, unter anderem für brand eins, Technology
Review Deutschland und die Weltwoche. Nach seinem Interview mit dem betagten Nobelpreisträger James Buchanan hat er sich (wieder einmal) vorgenommen, etwas gesünder zu leben, um mit
Mitte 80 vielleicht auch noch so fit zu sein wie sein Gesprächspartner heute. 6 Andreas Molitor,
Wirtschaftsjournalist aus Berlin, besuchte die Modell-Arbeitsagentur in Halle gleich zweimal. Ein
beleibter Mensch hatte sich im Zug versehentlich auf seine Kamera gesetzt und sie zerstört. Für die
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Fotos wurde deshalb ein zweiter Besuch notwendig. 7 Im Zuge seiner Recherchen über den österreichischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk wurde brand eins-Autor Dr. Gerhard Pretting eine
Ehre zuteil, auf die er während seiner aktiven ORF-Karriere niemals zu hoffen gewagt hätte: Er
bekam einen Termin sowohl mit der Generaldirektorin als auch mit dem Kaufmännischen Direktor. 8 Stefan Scheytt ist freier Journalist, lebt in der Nähe von Tübingen und schreibt unter
anderem für die Schweizer Weltwoche und brand eins. In der Kreisverwaltung Osnabrück traf er
auf so viel Eifer und Engagement, wie er es bislang nur von privatwirtschaftlichen Unternehmen
kannte. 9 Stefan Scholl, freier Autor in Russland, stellte bei seiner Recherche über das bettelarme, aber kinderliebe Taigadorf Kejsess erneut fest, dass sich Enthusiasmus vor allem dort finden
lässt, wo es sehr wenig Geld gibt. 10 Der Berliner Journalist Florian Sievers hat sich auf dem
niederländischen Trinkwasser-Markt umgesehen. Weil er dabei auch etwas über die gute Wasserqualität an seinem Wohnort gelernt hat, trinkt er im Büro jetzt ausschließlich Berliner Grundwasser
– und nervt seine Gastgeber im Ausland seit neuestem mit der Frage, ob man ihr Leitungswasser
eigentlich trinken kann. 11 Dr. Christian Weymayr, Medizinjournalist und brand eins-Autor
in Tübingen, schreibt vor allem über Forschungs- und Wirtschaftsthemen. Seit seiner VivantesRecherche sieht er Spenden an Kliniken mit anderen Augen.
Consulting
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1 Dr. Uta Böllhoff ist Engagement Manager im Berliner Büro und Mitglied der Human Resources
Initiative von McKinsey. Die Volkswirtin berät vorwiegend Klienten aus dem öffentlichen Sektor und
der Telekommunikationsbranche in den Bereichen HR und Strategie. 2 Russell Cake ist Engagement Manager im Londoner Büro und derzeit im Rahmen eines Sabbaticals Mitarbeiter der Delivery
Unit in Großbritannien. Vor seinem Wechsel in den öffentlichen Dienst war der gelernte Ingenieur für
Klienten in der Hightech-Industrie und im Public Sector tätig. 3 Dr. Diana Circhetta de Marrón
hat Rechtswissenschaften und Sprachen in Deutschland und den USA studiert. Als Senior Associate im Stuttgarter Büro gehört sie seit 2003 dem Public Sector von McKinsey an. Sie arbeitet
schwerpunktmäßig für Regierungen und Behören, vor allem an der Verbesserung der Aufbau- und
Ablauforganisation öffentlicher Verwaltungen sowie an Personalthemen. 4 Dr. Henrik Haenecke
ist Associate Principal im Berliner Büro. Der Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler promovierte im Bereich Marketing an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik (HWP) und
berät vorwiegend Verwaltungen und öffentliche Unternehmen in strategischen Fragestellungen.
5 Holger Haenecke, Engagement Manager im Berliner Büro, legte nach seiner Ausbildung
zum Rechtsanwalt seinen Schwerpunkt auf die Herausforderungen im öffentlichen Sektor. Als
Projektleiter und Mitglied des Public Sector berät er sowohl privatwirtschaftliche Unternehmen als
auch öffentliche Verwaltungseinrichtungen in den Bereichen Marktstrategie, Marketing und IT.
6 Dr. Michael Jung ist Director bei McKinsey und Gründer des Wiener Büros sowie der europäischen Leadership & Organization Practice. Die Beratung entwickelt aus seinen Initiativen neue
Ansätze zu Large Scale Change Management in Konzernen und im öffentlichen Sektor. Jung studierte Wirtschaftswissenschaften, Jura und Philosophie an der LMU in München und promovierte
über die Grundlagen der Organisationstheorie. 7 Dr. Markus Klimmer ist Partner im Berliner Büro
und Leiter des Public Sector. Er studierte Politik- und Verwaltungswissenschaft, Volkswirtschaftslehre
und Öffentliches Recht an der London School of Economics, der University of California in Los
Angeles und an der Universität Hamburg und promovierte anschließend im Bereich der regionalen
Strukturpolitik. 8 Dr. Katrin Krömer ist Engagement Manager im Berliner Büro und Mitglied des
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Public Sector. Sie berät hauptsächlich öffentliche Institutionen bei der Entwicklung und Umsetzung
von Steuerungssystemen und Konzepten zur Leistungssteigerung. Regionale Wirtschaftsentwicklung
und Standortentscheidungen bilden einen weiteren Schwerpunkt ihrer Arbeit. 9 Dr. Timo Meynhardt
ist Practice Specialist im Berliner Büro und beschäftigt sich vor allem mit Fragen des Change
Management in großen Transformationsprozessen. Als Mitarbeiter der Einheit „MyWorkPlace“
konzentriert sich der Psychologe besonders auf neue Möglichkeiten der Organisationsdiagnose.
10 Dr. Stefan Niemeier, promovierter Wirtschaftswissenschaftler, ist Associate Principal im Büro
Frankfurt. Seit seinem Firmeneintritt 1998 berät er vorwiegend Einrichtungen der öffentlichen Verwaltung und Klienten aus der Konsumgüterbranche. Im Fokus seiner Arbeit stehen Transformationsprozesse, Turnaround-Strategien und die Gestaltung von Organisationsstrukturen. 11 Dr. Rainer
Salfeld ist Director im Münchener Büro und Mitglied der Führungsgruppe des europäischen
Healthcare Sector. Seit 1986 bei McKinsey, leitete der promovierte Jurist zahlreiche Beratungsprojekte für Leistungserbringer und Krankenkassen und sammelte weitreichende Erfahrungen im Bereich
der Medizintechnik und der IT-Systeme im Gesundheitswesen. Neben der Arbeit für seine Klienten
unterrichtet er Betriebswirtschaftslehre an der Universität Augsburg. 12 Dr. Peter Sander ist
Partner im Frankfurter Büro und Mitglied der Führungsgruppe der European Real Estate Practice.
Seit 1993 beschäftigt er sich mit Sales & Marketing, Organisation und Verbesserung der operativen
Leistung von Unternehmen und berät vorwiegend Klienten aus der Prozessindustrie sowie der Immobilienbranche. 13 Dr. Marko Schulz ist Partner im Berliner Büro und gehört dem Führungsteam
des Public Sector und der Travel & Logistics Practice an. Seine Klienten sind vorwiegend öffentliche
und private Unternehmen der Entsorgungs-, Versorgungs- und Energiewirtschaft sowie des Dienstleistungssektors, die er unter anderem in Strategie- und Organisationsfragen berät. 14 Dr. Moritz
Viehweger ist Partner im Berliner Büro und Mitglied der europäischen Führungsgruppe des Public
Sector sowie der Media, Entertainment & Information Practice. Seit neun Jahren berät der Kommunikationswissenschaftler vor allem Klienten aus der europäischen Medienindustrie sowie dem
öffentlichen Sektor in Fragen der Unternehmensstrategie und der Produktivitätssteigerung.
Team / Kontakt
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Herausgeber
Rolf Antrecht, McKinsey & Company
Chefredaktion (verantwortlich)
Susanne Risch, [email protected]
Design
Mike Meiré, Creative Director
Redaktion
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Detlef Diederichsen, Textredaktion
Tania Ehrentraut, Organisation / Dokumentation
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Kristina Haaf, McKinsey Communication Services
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Kathrin Lilienthal, Dokumentation
Katja Ploch, Dokumentation
Victoria Strathon, Dokumentation
Michaela Streimelweger, Chefin vom Dienst
Gestaltung
Katja Fössel
Jens Wiemann
Illustration
Martina Wember
Text
Katja Apelt
Helge Bendl
Oliver Fahrni
Ralf Grauel
Elisabeth Gründler
Steffan Heuer
McK Wissen 13
Seiten: 130.131
Andreas Molitor
Dr. Gerhard Pretting
Stefan Scheytt
Stefan Scholl
Florian Sievers
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Hamburg

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