Flucht in den Suizid

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Flucht in den Suizid
EPPENDORFER
Zeitung für Psychiatrie
Ausgabe 9 / 2015
RADIO
Jahrgang 30 C 42725 3,95 Euro
PSYCHIATRIE
„Sonnengrau“ on air
FILM
Leben mit Huntington
Es begann mit einem Blog, in
dem Tanja Salkowski über ihre
Depressionen schrieb. Aus dem
Blog wurde ein Buch und aus
dem Buch eine erfolgreiche
und schon zweifach ausgezeichnete Radiosendung. Einmal im Monat funkt „Radio
Sonnengrau“ von Lübeck aus –
und per Livestream im Internet
in die ganze Welt. Der EPPENDORFER war bei einer SenSeite 3
dung dabei.
Es ist eine seltene Krankheit, deren
Symptome nicht immer klar zuzuordnen sind: Bis zu 8000 Huntington-Erkrankte gibt es bundesweit.
Einzigartig in Norddeutschland ist
die Huntington-Station des
AMEOS Klinikums für Psychiatrie und Psychotherapie in Heiligenhafen. Das Angebot entstand
1998 auf Initiative von Patienten
und Angehörigen. Der EPPENDORFER sprach mit einer Patientin.
Seite 9
Zurück auf den „Blender“
V
Über ein Jahr lang begleitete Susann Reck mit der Kamera sechs
Bewohner einer Sozialpsychiatrischen Einrichtung auf einem in
Bayern gelegenen Berg namens
„Blender“. Als Tochter des
Heimgründers wuchs sie unter
psychisch kranken
chronisch
Menschen auf. Nun wollte sie erkunden, inwieweit das ihr Leben
geprägt hat. Herausgekommen ist
ein berührender Dokumentarfilm.
Seite 4
w
Flucht in den
Suizid
Verbände fordern mehr Hilfen für psychisch belastete
Flüchtlinge / Expertin für systematisches Screening
Angesichts der Flüchtlingsmengen,
dramatischer Fluchtszenen und der
schwierigen Bedingungen in den
Massenunterkünften wird der Ruf
nach einem Ausbau psychiatrischer
bzw. psychotherapeutischer Hilfen
immer lauter. Anlässlich des Welttages für Suizidprävention wiesen das
Nationale Suizidpräventionsprogramm für Deutschland (NaSPro)
und die DGPPN auf das erhöhte Risiko für Suizidversuche hin und forderten eine bessere Betreuung von
Betroffenen – insbesondere auch
über akute Krankheits- und Krisensituationen hinaus.
BERLIN. Flüchtlinge und Asylbewerber bilden eine Hochrisikogruppe:
Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung
gilt die Rate für Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) als zehnfach erhöht. Gleichzeitig treten oft weitere
psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Angststörungen auf, die
ohne ausreichende Behandlung mit
einem erhöhten Suizidrisiko verbunden
sein können. Nach Angaben der Leitenden Oberärztin der Charité im St. Hedwig Krankenhaus sowie Leiterin des
DGPPN-Fachreferates für Migration,
Privatdozentin Dr. med. Meryam
Schouler-Ocak, wurden bei über 80
bzw. über 60 Prozent Symptome von
Angst und Depression gefunden. Das
geht aus ausländischen Studien hervor.
In Deutschland gebe es dazu keine Untersuchungen. „Wir wollten in Berlin
eine Studie zu psychischen Belastungen
bei Flüchtlingen durchführen, konnten
jedoch bislang keine Förderung dafür
finden.“
Bezüglich Suizidalität verweist
Schouler-Ocak auf eine Studie aus den
Niederlanden (Goosen et al. BMC Public Health 2011, 11:484). Nach der
Analyse von Daten vonFlüchtlingen
und Asylbewerbern fanden sich dort bei
männlichen Asylbewerbern deutlich erhöhte Zahlen (pro Jahr 25,6 Suizide auf
100.000 Einwohner gegenüber 15,7 bei
einheimischen Männern).
Als besondere Risikofaktoren für
einen Suizidversuch zählt SchoulerOcak u.a. auf: Leben in einer Aufnahmeeinrichtung, lange Antragszeiten,
Singledasein, männliches Geschlecht,
Zukunftsängste, psychische Krankheitsvorgeschichte, Diagnosen PTSD oder
Depression, vorheriger Kontakt zum
Versorgungssystem, Selbstverletzendes
Verhalten in der Vorgeschichte, schwere
und viele Verluste sowie Anpassungs-
probleme an die neue Umgebung.
Forderungen der Expertin: Erfassung
von Daten auch in Deutschland, Präventionsmaßnahmen sowie Aufbau von
Behandlungsangeboten. Mit Blick auf
drohende Chronifizierungen schlägt sie
zudem ein systematisches Screening
zur Erfassung psychiatrischer bzw. psychischer Auffälligkeiten vor, wie es die
aktuelle EU-Aufnahmerichtlinie verlange, „nämlich das Erkennen besonderer Schutzbedürftigkeit antragstellender
Asylbewerber, hierzu gehört auch das
Diagnostizieren psychiatrischer Trauma-Folgeerkrankungen.“ Dies sollte
nicht zu früh geschehen („Man muss
den Betroffenen erstmal die Gelegenheit
geben, anzukommen“), aber regelhaft.
„Ohne qualifizierte Dolmetscher werden wir diese Forderungen nicht umsetzen können“, macht sie deutlich. In ihrer
gemeinsamen Pressemitteilung setzen
sich NaSPro und DGPPN zudem für
„die Etablierung von regionalen und lokalen Netzwerken“ ein, die alle an der
Versorgung der Betroffenen beteiligten
Gruppen einbinden. Darüber hinaus sei
der regelhafte Einsatz von Sprach- und
Kulturmittlern sicherzustellen.
A. Hinrichs
Weitere Berichte zum Thema
Flucht und Trauma: Seite 5
Proteste gegen Menschenrechtsverletzungen in der Psychiatrie in den 70ern.
Foto: Ludger Ströter, LVR, LVR Archiv des Landschaftsverbandes
40 Jahre Enquete
Ein folgenschwerer Bericht ...
E
r umfasste 430 DIN-A4-Seiten und wurde im Auftrag des
Bundestages von rund 200
Mitarbeitern aller Bereiche der Psychiatrie erstellt. Die Rede ist vom Bericht
über die Lage der Psychiatrie in der
Bundesrepublik Deutschland – so die
offizielle Bezeichnung der PsychiatrieEnquete, die in diesem Monat 40 Jahre
alt wird! Die Bundesrepublik begann
sich nach der Verfolgung und Ermordung psychisch Kranker im Nationalsozialismus erst spät mit der Situation
der psychisch Kranken auseinander zu
setzen. 1970 beschäftigte sich der Deutsche Ärztetag erstmals mit der psychiatrischen Versorgung. In den folgenden
zwei Jahren wurden die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
(DGSP) und die Aktion psychisch
Kranke e. V. gegründet.
Die Enquete kritisierte elende und
zum Teil als menschenunwürdig zu
bezeichnende Umstände, unter
denen eine sehr große Anzahl von
Patienten leben müssten. Sie wurde
Ausgangspunkt umfassender Reformen. Zu den Kernforderungen zählten
u.a.: Gemeindenahe Versorgung, Dezentralisierung, getrennte Versorgung
für psychisch Kranke und geistig behinderte Menschen und Gleichstellung somatisch und psychisch Kranker.
Eine kritische Bilanz mit dem Titel
„40 Jahre Psychiatrie-Enquete – Blick
zurück nach vorn“ erscheint aktuell im
Psychiatrie-Verlag, der auf seiner
Homepage auch eine chronologische
Grafik zur Verfügung stellt (www.psychiatrie-verlag.de).
(hin)
Heilpraktiker im Drogenrausch – wer trägt die Verantwortung?
Seminar lief aus dem Ruder – Teilnehmern drohen strafrechtliche Konsequenzen
HANDELOH (hin). Sie lagen mit
Krämpfen auf dem Boden, redeten wirr,
litten an Schmerzen, Luftnot und Herzrasen, torkelten orientierungslos durch
den Garten. Einige mussten wegen Halluzinationen sogar am Bett fixiert werden. So die Berichte über den
Massenrausch von 29 Männern und
Frauen – Heilpraktiker sollen es sein –
im Alter von 24 bis 56 Jahren, die in
dem Tagungszentrum „Tanzheimat
Inzmühlen“ in Handeloh (Nordheide)
an einem Seminar teilnahmen, das im
Drogenchaos endete und zu einem
Großeinsatz von rund 160 Rettungskräften führte.
Die Tagungsteilnehmer wurden auf
umliegende Kliniken verteilt, einige
mussten kurzzeitig sogar auf die Intensivstation verlegt werden. Die Polizei
leitete Strafverfahren gegen die Beteiligten ein. Sie geht davon aus, dass die
Gruppe mit dem Psychedelikum 2C-E
experimentiert hat, das in Szenekreisen
als „Aquarust“ bekannt und erst seit
Ende 2014 verboten ist. Als Wirkungen
werden im Netz u.a. Klangverzerrungen, erweiterte Wahrnehmung von
Musik und visuelle Erscheinungen beschrieben. Ob es sich tatsächlich um
„Aquarust“ handelte, wurde bis Redaktionsschluss nicht bestätigt, die Ergebnisse von Blut- und Urinproben standen
noch aus. Offen blieben zunächst auch
die Hintergründe – und die Frage nach
den Verantwortlichkeiten. Der Präsident
des Verbands Deutscher Heilpraktiker
(VDH), Heinz Kropmann, äußerte sich
gegenüber dem NDR entsetzt und
drohte den Teilnehmern – die möglicherweise auch für die Kosten des Rettungseinsatzes herangezogen werden
können – im Fall vorsätzlicher Einnahme mit Verbands- ausschluss. Das
Tagungshaus wird von der Stiftung
HEILENDE KRÄFTE IM TANZ®
(HKTI) getragen. Die Tanzheimat als
Vermieterin grenzte sich auf der Home-
page von den Veranstaltern des Drogenseminars ab. Dahinter stehe eine externe
Gruppe.
Der Vorfall weckt Erinnerungen an
eine psycholytische Gruppentherapiesitzung in Berlin, bei der der Therapeut
und Mediziner Garri R. 2009 LSD bzw.
Ecstasy einsetzte. Infolge von Überdosierungen kam es dabei zu zwei Todesfällen. Der Therapeut wurde im Jahr
2011 zu mehr als vier Jahren Gefängnis
verurteilt.
S eit e 2
VERMISCHTES / AKTUELLES
Sozialbündnis fordert
Stopp von PEPP
● EPPENDORFER 9 / 2015
Brief aus der Hauptstadt
Attac, ver.di und DPWV legen 10-Punkte-Katalog vor
Attac Deutschland, ver.di und der
Paritätische Wohlfahrtsverband
haben ein Bündnis initiiert und
schlagen gemeinsam Alarm: In
einem Anfang September vorgestellten Positionspapier warnen sie
einmal mehr vor der Einführung
des Pauschalierenden Entgeltsystems in der Psychiatrie und Psychosomatik (PEPP). Dieses werde
zu Verschlechterungen für Patienten, besonders für schwerer erkrankte, sowie für das Personal
führen und müsse daher gestoppt
werden. Hinter dem Bündnis stehen z.B. auch der Dachverband
Gemeindepsychiatrie und die
Deutsche Gesellschaft für Soziale
Psychiatrie (DGSP), aber nicht die
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN).
BERLIN (rd). Tatsächlich wurde
PEPP als Zugeständnis an die große
Masse an Kritikern für zwei Jahre
ausgesetzt. Bis Ende 2018 wird das
Erlösbudget weiterhin krankenhausindividuell vereinbart. Die Zeit
soll genutzt werden, Alternativen zu
diskutieren und zu prüfen. Indes entscheiden sich aber nach Angaben des
Anti-PEPP-Bündnisses immer mehr
psychiatrische Kliniken dafu r, das
neue Entgeltsystem einzufü hren. Die
Ärztezeitung spricht von rund 80 Kliniken, die die Option einer freiwilligen PEPP-Nutzung nutzen würden.
Hinter dieser Entscheidung steht eine
zusätzliche finanzielle Vergü tung fü r
die optierenden Kliniken und die Erwartung, durch auf das PEPP-System
bezogene interne Umstrukturierungen
in den nächsten Jahren stabile oder
sogar höhere Einnahmen erzielen zu
können.
Derweil fürchten die Kritiker, dass
PEPP auch auf die Versorgungslandschaft negative Auswirkungen haben
werde, da die Verzahnung von stationärem und ambulantem Bereich zu-
IMPRESSUM
Verlagsanschrift:
Vitanas GmbH & Co. KGaA
Vitanas Sozialpsychiatrisches
Centrum Koog-Haus
Eppendorfer
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25541 Brunsbüttel
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Herausgeber:
Matthias Roller
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Internet: www.eppendorfer.de
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Redaktionsleitung,
Layout und Satz
Anke Hinrichs (hin)
Redaktionsbüro NORDWORT
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22763 Hamburg
Tel.: 040 / 41358524
Fax: 040 / 41358528
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Mitarbeiter dieser Ausgabe:
Martina de Ridder, Sönke
Dwenger, Ilse Eichenbrenner,
Michael Freitag (frg), Klaus
Frieling (klf), Esther Geißlinger (est),
Gesa Lampe, (gl), Dr. Verena Liebers,
Annemarie Heckmann (heck),
Jens Riedel (jri), (rd) steht für
Redaktion, Agentur: epd
nehmend erschwert werde. Das mit
der Ausarbeitung der PEPP-Systematik betraute DRG-Institut (InEK) solle
die Arbeit einstellen, so das Bündnis,
das in einem 10-Punkte-Forderungskatalog Vorschläge für ein alternatives
Versorgungs- und Entgeltsystem vorschlägt. Dies solle den realen Bedarf
für die Versorgung abbilden und vergüten.
Ein Kernpunkt: Auf allen Ebenen
solle die Psychiatrie-Personalverordnung (PsychPV) vollständig umgesetzt werden. Außerdem fordern die
PEPP-Kritiker: „Umstellung von
einem Preissystem fü r Teilleistungen
auf ein Budgetsystem mit regionalen
Verhandlungen der Selbstverwaltung
auf der Basis bedarfsbezogener Relativgewichte, behandelter Patienten
und Patientinnen und regionaler Besonderheiten im Landesvergleich“.
Weitere Forderungen und die vollständige PEPP-Kritik sind im Internet
nachzulesen
unter:
www.der-paritaetische.de.
In aller Kürze
PINAH: Klinikbesuche
nach Bedarf
BOCHUM (rd). In Bochum gehen
Techniker Krankenkasse (TK), BARMER GEK, der Landschaftsverband
Westfalen-Lippe (LWL) und das Bochumer Universitätsklinikum gemeinsam mit
einem neuartigen Modellprojekt an den
Start: PINAH (Psychiatrie integrativ aus
einer Hand) umfasst auch so genannte
„stationsungebundene Behandlungsleistungen“, zu denen der Patient je nach Bedarf in die Klinik kommen kann, ohne
dort ein Bett zu belegen. Und: Je nach Bedarf sucht medizinisches, therapeutisches
oder pflegerisches Fachpersonal aus der
LWL-Klinik den Patienten nach seiner
stationären oder teilstationären Behandlung in seiner Wohnung oder vertrauten
familiären Umgebung auf. Auch mobile
Krisen- und Notfallteams zählen zum
Konzept, ebenso die Vermittlung ambulanter Weiterversorgung.
Onlinehilfe für
depressive Schüler
DÜSSELDORF (rd). Der Schauspieler
und Musiker Jörn Schlönvoigt („Gute
Zeiten, schlechte Zeiten“) wird Botschafter für www.fideo.de – eine von der
Stiftung Deutsche Depressionshilfe angebotene Plattform mit Selbsthilfe-Forum
zu Depression bei jungen Menschen.
FIDEO steht für „Fighting Depression
Online“ und ist ein Online-Informationsangebot mit moderiertem SelbsthilfeForum für junge Menschen ab 14 Jahren
Trauer um
Oliver Sacks
NEW YORK (rd). Trauer um den wohl
berühmtesten Neurologen der Welt: Der
Brite Oliver Sacks starb im Alter von
82 Jahren an Krebs. Er hinterlässt 13 Bücher. Das letzte – „on the Move“ – ist
seine Autobiographie. Darin outet er sich
als homosexuell. In frühen Jahren experimentierte er viel mit Drogen, speziell
Amphetaminen. Nachdem er sich, unterstützt durch eine Psychoanalyse, von den
Drogen losgesagt hatte, verfiel er dem
Schreiben. Der Sohn eines Allgemeinmediziners und einer Chirurgin wurde mit
Fallgeschichten berühmt. In seinem Bestseller „Der Mann, der seine Frau mit
einem Hut verwechselte“ erzählt
Sacks zwanzig
Geschichten von
Menschen, die aus
der „Normalität“
gefallen sind, weil
physische Veränderungen bzw.
Verletzungen des
Gehirns
psychische Störungen Oliver Sacks im
hervorgerufen Jahr 2009.
Foto: Luigi Novi
haben.
AUS DEM INHALT
Druck: Beig-Verlag, Pinneberg
Es gilt die Anzeigenpreisliste 2012.
Der Eppendorfer erscheint zehnmal
im Jahr und kostet jährlich 39,50 Euro.
Für unverlangt eingesandte
Manuskripte und Fotos wird
keine Gewähr übernommen.
DATENSCHUTZ
Polizei speichert Hinweise auf
Krankheiten oder Verhalten S. 4
BREMEN
Max Weber: Vordenker und
Patient
S. 10
TRAUMA
Todesangst und Überleben nach
extremer Gewalt
S. 5
KULTUR
Interaktive Zugänge zu
Ess-Störungen
Männer und Frauen sind gleichberechtigt – aber Texte müssen auch
lesbar sein. Wegen der besseren Lesbarkeit hat sich die Redaktion entschieden, auf die zusätzliche Nutzung
der weiblichen Form zu verzichten.
HAMBURG
Mehr Psychiatrie für
Mümmelmannsberg
S. 7
NIEDERSACHSEN
Eine Psychiatrie
für Celle
S. 12
S. 8
BÜCHER
Autobiografische Graphic Novel
einer Künstlerin
S. 17
ZWANG
Nachbesserungsbedarf
und neue Urteile
S. 11
Zentrum der Macht: der einst von Christo verpackte Reichstag.
„Raumausloten“
G
anz leichtfüßig begann die fensiv moderiert von Prof. Dr. Eckart
heißeste Phase des Sommers Rüther, schaffte es, das glitzernde
im Hörsaal der guten alten Tempo beizubehalten, bis wir, klatschNervenklinik der Charité. Es war irre nass, endlich alle ins Freie wankten.
heiß, wir schwammen schon nach we- Gerade hat die Soteria-Station im
nigen Minuten auf den Holzsitzen und St. Hedwigs-Krankenhaus einen Arhielten uns an den Wasserflaschen fest, chitekturpreis gewonnen. Nicht auszudie uns beim Einlass – als gehe es zu phantasieren ist das Environment der
einer Safari –mit freundlichen Worten alten Nervenklinik, sollte der Geist von
überreicht worden waren. „Raum und „Raum und Psyche“ sich hier materiaPsyche“ hieß die ungewöhnliche Ver- lisieren.
anstaltung, mit der ein Denkprozess
uch Berlin ächzt unter den
zur Neugestaltung des Tagungsortes
Zahlen der eintreffenden
eingeleitet wurde. Es war nämlich geFlüchtlinge, insbesondere
plant gewesen, das historische Ge- die Zustände auf dem Gelände des Labäude samt seinen vier Gärten GeSo sorgen für Beamten-Bashing.
aufzugeben und die Psychiatrie in das Flüchtlinge müssen tagelang ausharren
neue Bettenhochhaus umzusiedeln; es bis sie registriert werden. Mit „Bonnies
gab Widerstand und inzwischen ist si- Ranch“ wurde eine weitere leerstecher – die Psychiatrie darf bleiben. hende Anstalt für die Unterbringung
Doch wie ist sie zuaquiriert. Fast scheut
künftig zu gestalman sich angesichts
ten, angesichts von
derart existenzieller
Konzepten wie SoProbleme gegen so
teria, Home Treatetwas banales wie
ment und Pflichtein Entgeltsystem
versorgung? Wie
demonstrieren zu
wirken sich Räume
gehen (http://www.
auf die seelische
pepp-stoppen.de/).
Befindlichkeit aus?
Vor dem GesundVon vielen Seiten,
heitsministerium in
mit unterschiedder Friedrichstraße
lichsten Disziplinen „PEPP stoppen“-Demo.
teilt man sich an
und Formaten wolljedem letzten Freite man sich auf das
tag des Monats um
Thema zubewegen. Ein kleines En- 15 Uhr das Gelände. Ein paar Teams
semble mit Sopranistin stimmte ein, aus psychiatrischen Abteilungen sind
später gab es Vorträge zu Architektur, da, samt ärztlicher Leitung, und ein
Ökonomie und Anthropologie. Viele paar Schritte weiter die GegendemonsTeilnehmer waren wegen Prof. Dr. tranten von der BundesarbeitsgemeinPeter Sloterdijk gekommen, der auf schaft Psychiatrie-Erfahrene. „Kein
einem Stuhl sitzend frei und ausge- Geld für die Zwangspsychiatrie“ steht
sprochen charmant seine Ideen entwi- auf deren Transparenten, die Antickelte. Fast noch aufregender fand ich PEPPler halten selbst gemalte Schilder
den Beitrag des Historikers PD Dr. hoch und alle verteilen Flugblätter. Die
Thomas Beddies, der berichtete, dass Passanten sind verwirrt, die reichlich
eine Sozialpädagogin (!), Ruth von der anwesenden Polizisten erst recht.
Leyen, neben den vielen Psychiatern „Weg mit PEPP, für eine humane Psydie Arbeit in diesem ehrwürdigen Haus chiatrie“ schallt es aus dem Megaphon.
prägte. Sie suizidierte sich 1934. Ich „Heuchler“ brüllt René Talbot vom
nahm mir vor, hier einmal tiefer zu BPE.
Ilse Eichenbrenner
schürfen. Doch die meisten waren
gekommen, um die Performance
„Raumausloten“ der Compagnie von
Betrifft: Abs.:
Sasha Waltz & Guests zu erleben: Drei
Tänzerinnen und drei Musiker „bespielten“ den Hofgarten und das Geie Autorin arbeitete als
bäude. Fast zwei Stunden lang schaute
Sozialarbeiterin im Sound hörte man zu, lief mit der Equipe
zialpsychiatrischen
durch Kellergänge und Flure und geDienst Berlin-Charlottenburg
nierte sich bei manchen hautnahen und ist seit Jahrzehnten der
Verrenkungen auch ein wenig. Zurück Deutschen Gesellschaft für Soim Hörsaal hüpften die jungen Damen ziale Psychiatrie und ihrem Berin ihren pastellfarbenen Gewändern liner
Landesverband
eng
sogar über die Tische, barfuß natürlich, verbunden. Sie hat mehrere Büfurios begleitet von einer ganzen Blächer verfasst und ist Redaktionsserformation. Sogar die abschließende mitglied der Zeitschrift „Soziale
Podiumsdiskussion (ohne Podium), ofPsychiatrie“.
A
D
● EPPENDORFER 9 / 2015
B L I C K P U N K T : „R A D I O S O N N E N G R A U“
S eit e 3
Von der Seele reden
„Radio Sonnengrau“ – ein preisgekröntes Radioprojekt aus Lübeck funkt über Grenzen hinweg
Es begann mit einem Blog, in
dem Tanja Salkowski über ihre
Depressionen schrieb. Aus dem
Blog wurde ein Buch und aus
dem Buch eine erfolgreiche und
schon zweifach ausgezeichnete
Radiosendung. Nathalie Klüver
war für den EPPENDORFER in
Lübeck live bei einer Sendung
von „Radio Sonnengrau“ dabei.
LÜBECK. Kurz bevor die rote
„On Air“-Lampe angeht, gibt Tanja
Salkowski noch schnell die letzten
Instruktionen an die Studiogäste.
Handys aus, denn das stört die Aufnahme. Trinken bitte nur außerhalb
des Studios – Wasser und Technik
vertragen sich nicht. Die Tür bitte
nur öffnen, wenn Musik läuft und
die Mikrolampe aus ist. Und während sie noch die letzten Ermahnungen ausspricht, setzt sich die
Moderatorin ihre Kopfhörer auf,
wirft ein „noch eine Minute zwanzig“ in den Raum und schließt das
Fenster. Routiniert dreht sie die Regler nach oben, drückt einen Knopf
und ein Jingle ertönt: „Radio Sonnengrau“.
Ton ab – und los geht’s mit Radio Sonnengrau: Moderatorin Tanja Salkowski (v.li), der Rechtsexperte der Sendung
Es ist der erste Mittwoch im Dieter Kunz (am hinteren Mikro) und Dietmar Schreiber vom Radioteam.
Foto: Klüver
Monat, 19 Uhr. Zeit für die Lübecker
Radiosendung, die seit April 2014
im Offenen Kanal Lübeck, per Live- diosenders. Ob sie noch nervös ist schriften und Facebook-Benachrich- terviews vor und kümmert sich um
stream im Internet und im Archiv auf vor den Sendungen? Nein, winkt tigungen entnehmen. „Die Sendung die Öffentlichkeitsarbeit und SponYoutube zu hören ist. Eine Radio- Tanja Salkowski ab, mittlerweile ist keine Einbahnstraße, Anregungen sorensuche. Ein Psychiater, ein
sendung rund um psychische Er- nicht mehr, auch wenn sie frei von unseren Hörern nehmen wir Rechtsanwalt und ein Psychotherakrankungen, die gerade erst im Juni spricht und nicht abliest wie die dankbar entgegen“, so Tanja Sal- peut sind fest als Experten im Team.
von Bundeskanzlerin Angela Merkel meisten anderen Moderatoren. Bei kowski. Es gehe darum, Betroffene Dadurch, dass der Großteil der Ehmit dem startsocial Bundespreis aus- ihrer ersten Sendung freilich, da war zu informieren, ihnen eine Plattform renamtlichen im Team selbst von
gezeichnet wurde und 2014 den mit es noch etwas ganz anderes, sagt sie. und Servicetipps zu bieten, präventiv einer psychischen Erkrankung beDie blonde Moderatorin weiß, wo- zu wirken und mit Vorurteilen auf- troffen sei, habe man eine besondere
4000 Euro dotierten Antistigmapreis
Herangehensweise an die Themen,
von der Deutschen Gesellschaft für rüber sie mit ihren Studiogästen zuräumen.
Ein 15-köpfiges ehrenamtliches sagt Moderatorin Salkowski: „Wir
Psychiatrie und Psychotherapie, spricht und was ihren Hörern auf
Psychosomatik und Nervenheil- dem Herzen liegt. Sie hat selbst eine Team bereitet die Sendungen vor, wollen auch Mut machen, zeigen,
schwere Depres- sucht und recherchiert die Themen was man als depressiv Erkrankter
kunde (DGPPN)
und Studiogäste, bereitet Telefonin- auf die Beine stellen kann.“
sion hinter sich.
überreicht
Ihre Krankheit
bekam.
Zwei Stunden Bunter Mix aus Interviews, hatte sie versteckt,
Rechts- und Veranstalerinnert sie sich,
lang wird jeweils
nach außen hin
über wechselnde
tungstipps und Musik
funktioniert, die
SchwerpunkttheFröhliche gespielt.
men gesprochen,
Als sie nach
mal geht es um
Traumata, mal um Schizophrenie, einem Suizidversuch in die Klinik
mal um Antidepressiva – zu jedem kam, stellte sie fest, dass viele MenThema werden Interviews mit Ex- schen in ihrem Umfeld überfordert
perten und Betroffenen gesendet, waren von der Diagnose. „Da habe
gibt es rechtliche Tipps, aber auch ich überlegt, wie man das Thema
Veranstaltungs- oder Buchtipps, noch präsenter machen und Vorurmanchmal auch Interviews mit Pro- teile abbauen kann“, erzählt sie.
Sie begann sich auf dem Blog
minenten. Und Musik, meistens
„Sonnengrau“ die Seele vom Leibe
Wünsche von Hörern.
Diesmal geht es um Depressionen zu schreiben, wie sie selbst sagt, und
bei Kindern und Jugendlichen und aus dem Blog entstand das gleichnaim Studio drängen sich die Gäste, mige Buch („Sonnengrau – Ich habe
die live auf Sendung mit Moderato- Depressionen, na und?“, Manuela
rin Tanja Salkowski sprechen wer- Kinzel Verlag, 214 Seiten, ISBN
den. Die Kinder– und Jugend- 978-3955440046). Das stellte sie in
psychiaterin Anna Tauchert wartet einer Sendung im Offenen Kanal vor
auf ihren Einsatz vor ihrem Mikro- und wurde dort prompt gefragt, ob
fon, auf einem Stuhl am Rand sitzt sie nicht eine eigene Sendung modeeine Mitarbeiterin des Kinder- und rieren möchte. Sie sagte ja. Eine
Jugendtelefons „Nummer gegen Bauchentscheidung, blickt sie heute
Kummer“, neben ihr eine nervöse zurück. Drei Monate später dann die
junge Frau, die in ihrer Jugend selbst erste Sendung. Die, bei der sie so
von starken Depressionen betroffen furchtbar nervös war. Der Zuspruch
war und live davon erzählen wird – war überwältigend, erinnert sie sich:
ihr erstes Radiointerview, berichtet „Die Hotline war völlig überlastet.“
Heute hören längst nicht mehr nur
sie, ja und die Nervosität steige jetzt
Lübecker „Radio Sonnengrau“.
doch so kurz vor Sendebeginn.
Vor Tanja Salkowski blinken drei Dank Online-Livestream und YouMonitore, einer zeigt die Songliste, tube sitzen die Hörer in ganz
einer die technischen Daten über die Deutschland, auch in Österreich und
Sendung, einer die Facebook-Fan- der Schweiz. Ein Hörer schaltet sich
page von Radio Sonnengrau – denn sogar regelmäßig aus Australien zu.
die Hörer können noch während der Psychisch Erkrankte genauso wie
Sendung Fragen stellen oder kom- Angehörige, am Thema Interesmentieren. Kurze Anmoderation, sierte, aber auch beruflich Involdann wieder ein Lied und die An- vierte wie Psychologen oder Pflegespannung weicht im kleinen Studio kräfte hören die monatliche Senim Obergeschoss des Lübecker Ra- dung, kann das Radio-Team den Zu-
Die letzten Takte von Radioheads
„Creep“ laufen, Tanja Salkowski
setzt die Hörer wieder auf. Ein vorher aufgezeichnetes Interview mit
einer Mutter einer an Depressionen
erkrankten 15-Jährigen wird eingeblendet, dann ist die junge Frau dran,
die über ihre Depressionen in der Jugend spricht. „Herzlich Willkommen
live auf Sendung, wie geht’s, wie
steht’s?“ begrüßt Tanja Salkowski
sie und schafft es im Handumdrehen
und mit den richtigen einleitenden
Fragen die Nervosität zu nehmen.
Sie verwickelt den Studiogast in ein
lockeres Gespräch über ein ernstes
Thema, dann noch ein schneller Hinweis auf ein laufendes Gewinnspiel,
die Ankündigung des Rechtsexperten nach dem nächsten Song und
schon drückt sie wieder ein Knöpfchen. Man plaudert und lacht viel in
diesen Musikpausen, bevor es wieder konzentriert zur Sache geht.
Beflügelt von dem im Juni verliehenen startsocial Preis will Tanja
Salkowski die Radiosendung professioneller ausbauen. Ein eigenes
Büro, ein Podcast-Service, langfristig einmal auch ein eigenes Studio
sind ihre Ziele: „Es ist an der Zeit,
auch Tabuthemen anzusprechen und
psychische Erkrankungen in die
Normalität zu holen.“
Nathalie Klüver
Mehr im Internet unter: www.
radio-sonnengrau.de. Nächste Sendung am 7. Oktober, 19-21 Uhr.
Thema: „Psychische Erkrankungen
auf dem Vormarsch – wie können
wir uns schützen?“, Talkabend mit
Betroffenen und Experten. Außensendung aus dem cloudsters Lübeck,
Schüsselbuden 30, 23552 Lübeck,
Eintritt frei, Einlass: 18 Uhr.
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