Eine kleine Klopperei

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Eine kleine Klopperei
„Eine kleine Klopperei ist ja alltäglich...“
Jugendliche der Walter-Gropius-Schule in Neukölln
sprechen über Film, Gewalt und Jugendschutz
Ein Projekt der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF)
e.V.
Projektbericht:
Claudia Mikat, Christian Kitter, Leopold Grün unter Mitarbeit
von Karin Dirks, Heike Grusemann und Stephan Schütze
„Eine kleine Klopperei ist ja alltäglich...“
Projekt der FSF Berlin von L.Grün, Ch. Kitter, K.Dirks u. Stephan Schütze
Einleitung ...................................................................................3
Teil 1: ............................................................. Vorüberlegungen
.....................................................................................................5
1.
2.
Ziele des Projektes....................................................................................................... 5
Filmauswahl ................................................................................................................. 6
2.1.
2.2.
2.3.
3.
Inhalt des Films „Der Prinzipal - Einer gegen alle“............................................................ 7
Die Prüfgeschichte des Films ............................................................................................. 7
Begründung der Auswahl des Films „Der Prinzipal“ ......................................................... 8
Die Gruppe der Jugendlichen .................................................................................. 10
3.1.
3.2.
3.3.
Festlegung der Altersgruppe............................................................................................. 10
Kontaktaufnahme.............................................................................................................. 10
Voraussetzungen der Altersgruppe ................................................................................... 11
Teil 2: ........................................................Ablauf des Projektes
...................................................................................................13
1.
Einstieg ....................................................................................................................... 13
2.
Der Mediensteckbrief................................................................................................ 13
3.
Filmvorführung und Interview ................................................................................ 14
4.
Praktische Medienarbeit........................................................................................... 14
Teil 3: .............................................. Auswertung des Projektes
...................................................................................................16
1.
Der Mediensteckbrief................................................................................................ 16
1.1.
1.2.
1.3.
1.4
2.
Das Interview ............................................................................................................. 18
2.1.
2.1.1.
2.1.2.
2.1.3.
2.1.4.
2.1.5
2.2.
2.2.1.
2.2.2.
2.2.3.
2.3.
2.4.
3.
Nutzung verschiedener Medien ........................................................................................ 16
Fernsehnutzung................................................................................................................. 16
Gewalt im Fernsehen und ängstigende Situationen .......................................................... 17
Zusammenfassung ............................................................................................................ 17
Gewalt, Spannung und Angst ........................................................................................... 18
Die Handlung des Films - Der erste Eindruck .............................................................. 18
Welche Szenen werden besonders erinnert? ................................................................. 19
Ein „Gewaltfilm“? ........................................................................................................ 21
Die „Angstschwelle“..................................................................................................... 23
Zusammenfassung: Gewalt, Spannung und Angst........................................................ 25
Gewalt im Handlungskontext ........................................................................................... 29
Identifikation mit den Figuren des Films...................................................................... 29
Das Verhalten des Direktors ......................................................................................... 30
Zusammenfassung: Gewalt im Handlungskontext........................................................ 33
Bezug zur Realität............................................................................................................. 34
Alterseinstufung und Wirkungsvermutungen ................................................................... 36
Zusammenfassung und Schlußfolgerungen ............................................................ 39
Literaturverzeichnis................................................................42
Anhang .....................................................................................43
2
Einleitung
Dienstag morgen in der Geschäftsstelle der FSF in Berlin: Drei Videokassetten und
die dazugehörigen Prüfanträge liegen bereit, die Prüfwoche kann beginnen. Eine
Berliner Prüferin ist bereits da, die Prüferin aus Köln ist soeben eingetroffen, die
dritte Person im Ausschuß, ein Herr aus München, wird jeden Moment erwartet, - bis
er eintrifft wird das Programm der Woche diskutiert. Ein interessantes Programm
dieses Mal, finden die beiden Frauen, denn es ist sehr abwechslungsreich: zwei Erotikfilme, ein indizierter Actionstreifen („Na ja, wenigstens ist der nicht so lang“), vier
Serienfolgen einer bekannten Kinderserie („Läuft die denn immer noch?“), zwei TVEigenproduktionen und zwei sogenannte Ausnahmeanträge, die bei weitem beliebteste Kategorie, - schließlich handelt es sich um Kinofilme, denen meist eine bessere
Qualität unterstellt wird. „Der eine ist sogar mit James Belushi“, freut sich die Prüferin aus Berlin, die Frau aus Köln verdreht die Augen: „Den hab´ ich noch nie gemocht“.
Geschmacksäußerungen dieser Art gehören dazu, Prüferinnen und Prüfer sind
schließlich Menschen mit einer individuellen Medienbiographie, mit bestimmten
Vorlieben und Abneigungen, LieblingsschauspielerInnen und –genres. Sobald sich
die Tür des Prüfraumes schließt, müssen persönliche Sichtweisen allerdings – so weit
es möglich ist - ausgeblendet werden, denn es geht nicht um Fragen des Geschmacks,
sondern um die Einschätzung des möglichen Gefährdungspotentials eines Programms: Welche Altersgruppe von Kindern oder Jugendlichen könnte in ihrer Entwicklung durch eine Sendung beeinträchtigt werden, und zu welcher Sendezeit muß
das Programm ausgestrahlt werden, um diese Zuschauergruppe aller Voraussicht
nach auszuschließen? Entscheidungsgrundlage sind dabei die Prüfgrundsätze der
FSF.
Diese Prüfgrundsätze müssen anhand jedes einzelnen Films konkretisiert werden und genau hierin besteht die Schwierigkeit der Filmprüfung. Ist im vorliegenden Fall
beispielsweise eine Gewaltdarstellung als so drastisch anzusehen, daß sie geeignet
ist, „Kinder geistig zu überfordern oder emotional zu beunruhigen“? Wird die Darstellung realitätsnaher Inhalte „unzureichend aufbereitet“, so daß sie von Kindern
„angstvoll erlebt“ werden könnte? Oder ist eine sozialethische Desorientierung Jugendlicher durch „Angebote von Identifikationsfiguren mit gewalttätigen ... Verhaltensmustern“ zu befürchten?
Daneben muß bei der Beurteilung dieser Faktoren zwischen verschiedenen Altersgruppen unterschieden werden, deren besondere Voraussetzungen „für die Wahrnehmung und Verarbeitung von Fernsehinhalten“ zu berücksichtigen sind. Erst die
Einschätzung, welche Auswirkungen ein Programm auf sechs-, 12-, 16- oder 18jährige Kinder bzw. Jugendliche hat, führt schließlich zu dem Prüfergebnis, einer
bestimmten Sendezeit.
Obwohl die Entwicklungspsychologie einige Daten darüber liefert, wie Kinder oder
Jugendliche bestimmter Altersgruppen Fernsehinhalte wahrnehmen und verarbeiten,
ist die Entscheidung für eine bestimmte Sendezeit niemals eindeutig. Die Auswirkung einer konkreten Sendung oder einer Szene auf z.B. 12jährige Kinder wird nicht
von allen Prüferinnen oder Prüfern gleich eingeschätzt werden, da die Vorstellungen
von dieser Altersgruppe auch von den eigenen Erfahrungen geprägt sind, z.B. von
persönlichen Kontakten zu Kindern und Jugendlichen oder Erinnerungen an Medien3
erlebnisse in der eigenen Kindheit. So bleibt auch bei einstimmigen Entscheidungen
manchmal eine Unsicherheit. Vor allem, wenn ein Ergebnis erst nach längerer Diskussion zustande kommt, liegt es nahe, den Film gemeinsam mit der in Frage stehenden Zuschauergruppe anzusehen: Wie reagieren Jugendliche darauf?
Monate später, ebenfalls an einem Dienstag, beginnt in der FSF eine ungewöhnliche
Woche: Im Sitzungszimmer sind Tische und Stühle zusammengestellt, in einem
zweiten Raum Scheinwerfer, Videokamera und -rekorder: Wir erwarten die erste der
drei Gruppen Jugendlicher, die uns während der kommenden Tage besuchen werden.
Geplant ist, mit den 14-jährigen Jungen und Mädchen gemeinsam einen Film anzusehen und sie anschließend zu ihren Eindrücken zu befragen. Nachmittags sollen die
Jugendlichen mit Videokameras auch praktische Erfahrungen sammeln können und
beispielsweise filmische Gestaltungsmittel oder Tricks erproben.
Im folgenden wird über den Verlauf der Veranstaltung und die Ergebnisse im einzelnen berichtet.
Der erste Teil „Vorüberlegungen“, beschreibt zunächst die Ziele des Projektes (1.),
die Kriterien, die für die Auswahl des Filmbeispiels entscheidend waren (2.) und die
Gruppe der Jugendlichen (3.).
Teil 2 stellt den Ablauf der Veranstaltungstage dar und ist in vier Arbeitsphasen gegliedert: Einstieg in das Thema (1.), der Mediensteckbrief (2.), Filmvorführung und
Interview (3.) und Praktische Medienarbeit (4.). Dieser Teil bietet möglicherweise
denjenigen Anregungen, die selbst ein ähnliches Projekt mit Jugendlichen durchführen möchten.
In Teil 3 werden die Ergebnisse der Studie vorgestellt. Die Auswertung des Mediensteckbriefes (1.), den die Jugendlichen zu Beginn der Veranstaltung erstellten, liefert
Hinweise darüber, welche Medien die Jugendlichen in ihrem Alltag nutzen, welche
Stellung hierbei dem Fernsehen zukommt, wie Gewaltdarstellungen im Fernsehen
beurteilt und inwieweit Szenen als ängstigend erlebt werden.
Die Auswertung der Interviews (2.) ist nach inhaltlichen Schwerpunkten gegliedert,
auf die sich die Fragen richteten: Gewalt, Spannung und Angst, d.h. die Beurteilung
der Gewaltszenen und die persönlich erlebte Schwelle von Spannung zu Angst (2.1.);
Gewalt im Handlungskontext, womit vor allem die Frage der Identifikation mit den
verschiedenen Figuren des Films angesprochen ist (2.2.); Bezug zur Realität (2.3.);
Alterseinstufungen und Wirkungsvermutungen (2.4.).
Wir haben jeweils versucht, ähnliche Antworten in Gruppen zusammenzufassen und
durch ein charakteristisches Zitat zu kennzeichnen, damit die Leserin oder der Leser
schnell einen ersten Eindruck von den Äußerungen der Jugendlichen gewinnen kann.
Mit der Zusammenfassung der Ergebnisse und Schlußfolgerungen für die Prüfpraxis
(3.), schließen wir den Bericht ab.
An der Vorbereitung und Durchführung der Veranstaltung und an der Fertigstellung
des vorliegenden Berichtes waren mehrere Personen beteiligt, bei denen wir uns für
ihre Unterstützung bedanken. Maike Fölz, Rebecca Mayer, Jeanette Schmeken und
Barbara Widmann haben dafür gesorgt, daß die drei Veranstaltungstage reibungslos
verliefen, Karin Dirks, Heike Grusemann und Stephan Schütze haben an der Fertigstellung des Berichtes mitgearbeitet, Dr. Christian Büttner hat uns hierfür wertvolle
Anregungen gegeben und wichtige Literaturhinweise geliefert. Unser besonderer
Dank gilt natürlich den 18 Mädchen und Jungen der Walter-Gropius-Schule in Neukölln, die uns für die Gespräche zur Verfügung standen.
4
Teil 1:
Vorüberlegungen
1.
Ziele des Projektes
Mit unserem Vorhaben, mit Jugendlichen einen Film zu diskutieren und ihnen die
Möglichkeit zu geben, eigene medienpraktische Erfahrungen zu machen, verfolgten
wir mehrere Absichten:
Programmkontrolle mit dem Ziel, eine Gefährdung von Kindern und Jugendlichen zu
verhindern, setzt Kenntnisse über ihr Medienverhalten, ihre Sehgewohnheiten, Vorlieben und Ängste voraus. Obwohl die FSF-Prüfgrundsätze wissenschaftliche Untersuchungsergebnisse zu diesen Fragen miteinbeziehen, besteht ohne den direkten
Kontakt die Gefahr, „an der Zielgruppe vorbei“ zu diskutieren. Da das Filmerleben
von Kindern und Jugendlichen für Erwachsene nur schwer nachvollziehbar ist, ist es
wichtig, mit verschiedenen Altersgruppen ins Gespräch zu kommen, um ihre Wahrnehmungsweisen, Bedürfnisse und Interessen kennenzulernen. Da das Thema „Gewaltdarstellungen im Fernsehen“ häufiger Gegenstand öffentlicher Diskussion sowie
des Jugendmedienschutzes ist, wollten wir den Schwerpunkt des Projektes auf diese
Problematik legen.
Aus medienpädagogischer Sicht sollten Kinder und Jugendliche möglichst frühzeitig
einen kompetenten Umgang mit den Medien erlernen. Je mehr sie sich eigener Nutzungsmotive und -gewohnheiten bewußt sind, je mehr sie über die Machart von
Fernsehen wissen, je besser sie die Tricks kennen, mit denen Illusionen erzeugt werden, und je mehr sie eigene Überzeugungen entwickeln, die sie den medienvermittelten gegenüberstellen können, desto eher sind sie in der Lage, mit Fernsehen unbeschadet, vielleicht sogar aktiv und kreativ, umzugehen.
Unser Projekt verfolgte daher eine doppelte Zielsetzung: Auf der einen Seite wollten
wir mit den Jugendlichen medienpädagogisch arbeiten: Wir wollten anregen, über
die eigene Medien- und Fernsehnutzung nachzudenken, ihnen die Möglichkeit geben, filmsprachliche Mittel kennenzulernen und praktisch zu erproben. Daneben
sollten sie über die Arbeit der FSF informiert werden, um einen Einblick in den Bereich des Jugendmedienschutzes zu erhalten. Auf der anderen Seite wollten wir mit
Jugendlichen über einen konkreten Film ins Gespräch kommen, um ihre Äußerungen
und Beurteilungen den Prüferinnen und Prüfern zugänglich zu machen.
Zusammenfassend lassen sich folgende Ziele und inhaltliche Schwerpunkte des Projektes formulieren:
• Jugendliche sollten einen Einblick in die Arbeit der FSF erhalten und ein Verständnis für die Motive des Jugendmedienschutzes entwickeln. Sie sollten ihre
Medienerfahrungen kritisch reflektieren und sich eigener Wertvorstellungen und
-grenzen bezüglich medialer Darstellungen bewußt werden.
• Die Jugendlichen sollten verschiedene filmische Gestaltungsmittel und Genrespezifika kennenlernen, um einen Film unter inhaltlichen und formalen Gesichtspunkten näher zu betrachten. Sie sollten z.B. erkennen, wie durch den Einsatz verschiedener Gestaltungsmittel die Aussage einer Szene verändert werden kann.
Daneben sollten sie die Möglichkeit erhalten, diese Kenntnisse praktisch umzusetzen und mit einer Videokamera eigene Übungen durchzuführen.
5
• In Einzelinterviews sollten die Jugendlichen zu einem ausgewählten Filmbeispiel
befragt werden. Ihre Äußerungen und Beurteilungen sollten auf Video aufgezeichnet und den Prüferinnen und Prüfern der FSF zugänglich gemacht werden.
2.
Filmauswahl
Bei der Auswahl des Filmbeispiels sollten folgende Kriterien erfüllt werden:
• Die im Film beschriebene Lebenswelt sollte Jugendlichen Identifikationsmöglichkeiten bieten bezüglich des Lebensraumes (Ort und Umfeld der Handlung), der
Altersgruppe der Agierenden und der behandelten Problematik.
• Der Film sollte Jungen und Mädchen gleichermaßen ansprechen.
• Der Film sollte ein „strittiges“ Maß an Gewalt beinhalten, in dem Sinne, daß die
Entscheidung für eine bestimmte Sendezeit erst nach längerer Diskussion und
nach dem Abwägen verschiedenster Argumente gefällt werden konnte. Besonders
geeignet schien uns ein Film, bei dem die Ausstrahlung an Auflagen gekoppelt
wurde, z.B. an die spätere Plazierung im Hauptabendprogramm ab 21.00 Uhr.
• Der Film sollte den Schülerinnen und Schülern möglichst unbekannt sein, also
weder gerade im Kino gezeigt, noch im Fernsehen ausgestrahlt worden sein.
Die bei der FSF eingegangenen Anträge der Fernsehsender wurden geprüft. Dabei
konnten auf Grundlage der Inhaltsangaben, der Jugendentscheide der FSK und der
Prüfgutachten der FSF nach den oben genannten Kriterien 14 Filme zur Sichtung
ausgewählt werden. Hinzu kamen sechs weitere Filme aus dem Angebot einer Videothek.1
Dabei kamen nur drei Filme in eine engere Auswahl, die unsere Kriterien annähernd
erfüllten. Neben den Spielfilmen „Evolver“ (USA 1994)2 und „Boyz ´N´ the Hood“
(USA 1990)3, die wir nach intensiven Diskussionen aus verschiedensten Gründen für
ungeeignet hielten, entschieden wir uns letztlich für den Film „Der Prinzipal - Einer
gegen alle“.
1
Unter anderem wurden folgende Beiträge gesehen: „Der knallharte Prinzipal“; „Evolver“; „Heavenly Creatures“; „Brainscan“; „Boyz `N the Hood“; „When no one would listen“; „Der Prinzipal - Einer gegen alle“; „Lethal Weapon III“; „Dead Bolt“;
„Extremities“; „Indiana Jones und der Tempel des Todes“; „Menace II Society“; „Stringer“
2
Die Thematik der Video- und Computerspiele, die in „Evolver“ (USA 1994) eine zentrale Rolle einnimmt, steht unserer
Ansicht nach in Beziehung zum Lebenskontext Jugendlicher, jedoch überwiegend zur männlichen Jugendwelt. Der Film zeichnet sich durch ein geschicktes Wechselspiel zwischen gewöhnlichen Handlungsabläufen und dramatischen Spannungsmomenten aus. Geeignet im Sinne unserer Veranstaltung schien uns bei „Evolver“ auch die Darstellung von Gewalt: Die Protagonisten
sind einer scheinbar unkontrollierbaren Macht ausgesetzt, einem ursprünglich für militärische Zwecke entwickelten Roboter.
Die deutliche Zuordnung von Gut und Böse - sozial verantwortlich handelnde Jugendliche versus aggressive Maschine - bietet
jedoch nur geringe Ansatzmöglichkeiten einer streitbaren Auseinandersetzung mit der Darstellung von Gewalt. An keiner Stelle
des Films geht die Faszination der Jugendlichen von der Gewalt des computergesteuerten Roboters über den Spielwunsch
hinaus. Aufgrund dieser Einschätzung entschieden wir uns gegen dieses Filmbeispiel.
3
Zunächst glaubten wir mit „Boyz ´N´ the Hood“ (USA 1990) das passende Filmbeispiel gefunden zu haben. Der Film zeichnet sich durch einen sorgfältigen Aufbau und eine interessante, plausible Entwicklung der Hauptfiguren aus. Er stellt in erster
Linie die Lebenswelt schwarzer amerikanischer Jugendlicher dar, dennoch bietet er genügend Transformationsmöglichkeiten in
bezug auf hiesige Verhältnisse. Durch den eindringlichen Handlungs- und Figurenaufbau wird der Eindruck unterstützt, daß
verschiedene Formen struktureller Gewalt stets präsent sind, während die Darstellung personaler Gewalt erst relativ spät einsetzt. Nach mehrmaliger Prüfung und einem Gespräch mit dem Vorsitzenden des Prüfausschusses der FSF entschieden wir uns
dennoch gegen den Film. Wir befürchteten, daß durch die pädagogische Botschaft, insbesondere durch den Vater der jugendlichen Identifikationsfigur, durch die aufdringliche moralische Kommentierung aller Gewalttaten jede Diskussionsbereitschaft
der Jugendlichen verhindert würde. Die ausgesprochen langsame und ruhige Erzählweise, die in den ersten 70 Minuten nur
wenig Spannungsmomente aufweist, könnte möglicherweise eine mangelnde Auseinandersetzung mit dem Inhalt und der
Problematik des Films bewirken.
6
2.1.
Inhalt des Films „Der Prinzipal - Einer gegen alle“
USA 1987
110 Min. Spielzeit
Der Film beschreibt die Verhältnisse an einer amerikanischen Schule, die von Drogenkriminalität, sozialen Problemen, Rechtlosigkeit und Aggressivität der Schülerinnen und Schüler bestimmt sind. Die Lehrer haben längst kapituliert und überlassen
die Dinge dem Selbstlauf. Mehrere Jugendbanden stehen sich feindlich gegenüber.
Die härteste Bande wird von Victor angeführt, der mit seinen Leuten die ganze
Schule „im Griff“ hat.
Rick Latimer, der per Strafversetzung als neuer Rektor an die Schule kommt, macht
gleich zu Beginn unmißverständlich deutlich, daß er der an der Schule herrschenden
Brutalität und Kriminalität mit den Mitteln seiner Autorität Paroli bieten wird.
Die Filmhandlung läuft auf einen Machtkampf zwischen Rick und Victor hinaus, in
dessen Verlauf es zu einer Reihe von gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt:
Rick wird von Schülern überwältigt und zusammengeschlagen, sein Motorrad wird
zerstört, eine Kollegin wird von einem Schüler fast vergewaltigt.
Rick versucht einzelne Schüler und Schülerinnen beim Lernen zu unterstützen und
ermutigt sie, sich von der Gewalt an der Schule zu distanzieren und am normalen
Schulbetrieb teilzunehmen. Nachdem ein Jugendlicher, der - unterstützt von Rick aus Victors Bande aussteigen will, krankenhausreif geschlagen wird, kommt es zum
entscheidenden Endkampf zwischen Rick und Victor. Ein Bandenmitglied wird dabei von Victor erschossen, weil er sich weigert, Rick zu töten. Schließlich gelingt es
Rick mit Hilfe eines Schülers, Victor zu überwältigen und der Polizei zu übergeben.
2.2.
Die Prüfgeschichte des Films
Bei der ersten FSK-Vorlage war dem Film „Der Prinzipal“ die beantragte Altersfreigabe ab 16 Jahren zunächst verweigert worden, da die Ausschußmitglieder Bedenken
wegen einer „Verherrlichung von Selbstjustiz“ hatten. Der Hauptausschuß der FSK
erteilte dem Film am 19.01.1988 in einer Länge von 110 Minuten unter der Auflage
von drei Schnitten die gewünschte 16er-Altersfreigabe. Durch die geforderte
Schnittbearbeitung - betroffen sind vor allem Szenen, in denen die Gewalt von dem
positiv besetzten Rektor Rick ausgeht - würden „einige Gewaltszenen erträglicher
gemacht, so daß die Identifikation mit dem ‘nur das Gute wollenden’ Lehrer überwiegen und stärker hervortreten“ würde.
Am 31.01.1996 wurde „Der Prinzipal“ der FSF zur Begutachtung vorgelegt. Der
Prüfausschuß hatte über eine Ausstrahlung um 21.30 Uhr zu entscheiden. Nach dem
Rundfunkstaatsvertrag war der Sender berechtigt, den Film in der geschnittenen
FSK-16-Version ab 22.00 Uhr zu zeigen. Für die vorgezogene Sendezeit um 21.30
Uhr mußte ein Antrag auf Ausnahmegenehmigung bei der zuständigen Landesmedienanstalt gestellt werden. Die FSF stimmte dem Antrag zu und verwies auf die
„solide Dramaturgie“ des Films und den „fast pädagogisch zu nennenden Ausgang
der Konfliktsituation“. Die Identifikationsfigur des Lehrers sei trotz einiger charakterlicher Schwächen als „moralisch integere Person“ erkennbar, die nur in Notwehrsituationen als Reaktion auf „eine völlig unmotivierte Gewalttätigkeit seitens der
Schüler“ zurückschlage.
7
Die Landesmedienanstalt erteilte schließlich die Ausnahmegenehmigung für die gewünschte Ausstrahlung des Films um 21.30 Uhr.
2.3.
Begründung der Auswahl des Films „Der Prinzipal“
„Der Prinzipal“ erfüllt nicht alle der oben aufgeführten Kriterien. Es ist davon auszugehen, daß der Film eher Jungen zugänglich ist und Mädchen wenig Identifikationsmöglichkeiten bietet, da sowohl die positiv besetzten Protagonisten als auch die negativ agierenden Hauptfiguren männlich sind. Das Kriterium des für Jungen und
Mädchen gleichermaßen attraktiven Identifikationsangebotes, das für unsere Studie
ursprünglich erfüllt sein sollte, konnte jedoch für diese Altersgruppe in keinem der
von uns gesichteten Film angenommen werden. 4
Mit Blick auf die anderen Kriterien erschien uns „Der Prinzipal“ jedoch besonders
geeignet:
Die Nähe der filmischen Lebenswelt zur Alltagswelt Jugendlicher ist zunächst bereits durch den Ort der Handlung, die Schule, gegeben. Auch wenn die dargestellte
Filmsituation - die Verhältnisse an einer US-amerikanischen Vorstadt-Schule - nicht
unmittelbar auf bundesrepublikanische Lebensverhältnisse übertragbar sein dürfte
(was unter Jugendschutzgesichtspunkten häufig als entlastend gewertet wird; vgl.
2.3.), gingen wir doch allgemein davon aus, daß die Filmhandlung bzw. der Lebensund Erfahrungsraum „Schule“ Jugendlichen eine geeignete Folie bieten kann, um
eigene Erfahrungen, Probleme und Themen anzuknüpfen.
Zur Schule gehört das Spannungsverhältnis zwischen LehrerInnen und SchülerInnen,
die Auseinandersetzung um Anpassung bzw. Eigenständigkeit. „In dieser Betrachtungsweise ist aber bereits die Polarisierung und d.h. die Möglichkeit der Gewalt,
einerlei auf welcher Seite, angelegt“ (Büttner 1990, S. 85), - eine Möglichkeit, die im
Film durch den zentralen Konflikt zwischen Rick und Victor auf die Spitze getrieben
wird. Auch die Nebenhandlung enthält zahlreiche Situationen, die einen Bezug zum
(Schul)-Alltag Jugendlicher aufweisen, z.B. Machtkämpfe unter den Schülerinnen
und Schülern, die Unterdrückung Schwächerer durch einen „Bandenchef“ wie Viktor, der Zwang, sich ihm unterzuordnen und damit unfreiwillig in Konflikt mit einer
beliebten Lehrkraft zu geraten, die Bedeutung von Anerkennung der eigenen Leistungen oder die grundsätzliche, im Film nicht infrage gestellte Botschaft, daß Bildung eine bzw. die einzige Chance zum sozialen Aufstieg darstellt, einen Arbeitsplatz garantiert.
Neben möglichen Anknüpfungspunkten durch den Ort der Handlung und die zentralen Konflikte, sahen wir vor allem in der Figur des Schuldirektors Rick eine für Jugendliche in zweifacher Hinsicht attraktive Figur:
Als Lehrer setzt Rick sich für seine Schülerinnen und Schüler ein. Er ermutigt sie,
sich gegen Victor durchzusetzen, bestärkt sie in ihren Leistungen, erteilt ihnen Nachhilfeunterricht und nimmt sich ihrer Probleme an. Als Direktor möchte er das Beste
4
Bei der Sichtung wurde deutlich, daß Frauen in der Mehrzahl der Fälle überwiegend als unselbständige, abhängige und
oftmals der männlichen Gewalt ausgelieferte Opfer dargestellt werden. Weibliche Figuren erscheinen fast immer eindimensional, so daß eine Identifikation eingeschränkt ist. Als positive Identifikationsfiguren übernehmen Frauen meist ausschließlich
soziale Funktionen; die Darstellung von weiblichen negativen Hauptfiguren ist oft unrealistisch, da sie in übertriebenen Formen
dargeboten wird (z.B. als eiskalte Psychopathin).
8
für die Schule, er wendet sich gegen die lethargischen Kolleginnen und Kollegen, die
längst resigniert haben.
Auf der anderen Seite ist Rick eben kein typischer Direktor oder Lehrer, sondern hat
selbst noch Züge eines jugendlichen Rebells. Äußerlich mit entsprechenden Attributen wie Motorrad und Lederjacke versehen, wird er als eine Person eingeführt, die
die ihm zugewiesenen Rollen nicht ausfüllen will oder kann. Ricks Ehe ist gescheitert, seine Ex-Frau wirft ihm vor, Schwierigkeiten stets aus dem Weg gegangen zu
sein („Du hast dich jedes Mal verzogen und vollaufen lassen, wenn wir Probleme
hatten“), auch nach der Trennung sucht er Trost im Alkohol. Rick wird versetzt, als
er in seiner Wut und Enttäuschung auf den Scheidungsanwalt seiner Ex-Frau losgeht
und dessen Auto zertrümmert. „Werd´ endlich erwachsen!“ fordert sie und kennzeichnet damit treffend die Situation, in der Rick sich befindet.
Als Direktor an der neuen Schule verfolgt er daher mit seinem Kampf gegen Viktors
Gang auch das persönliche Motiv, endlich irgendwo Fuß zu fassen, Verantwortung
zu übernehmen, „mal was Gutes [zu] tun, etwas Richtiges“, wie er später dem Bandenaussteiger Emile anvertraut. Im Gespräch mit dem Sicherheitschef Jake wird
deutlich, daß Rick in der neuen Stelle als Schuldirektor die letzte Möglichkeit sieht,
sich im Leben zu beweisen („Das hier, das ist jetzt alles, was ich habe ... ich will aus
diesem Laden eine Schule machen, so viel steht fest“). Daß dieser Wunsch, sich
selbst zu behaupten, auch bei seinem Engagement für die SchülerInnen eine Rolle
spielt, zeigt sich in einem Gespräch mit Turina, die die Schule verlassen möchte:
„Wenn Sie aufgeben, dann hab´ ich zugelassen, daß Sie aufgeben. Dann hab´ ich
selbst aufgegeben“. Wir vermuteten, daß vor allem diese unterschwelligen Handlungsmotive der Figur – die Suche nach einer Identität, der Wunsch, Verantwortung
zu übernehmen und eine Stellung in der Gesellschaft zu finden - Jugendliche ansprechen und ihre Sympathien auf sich lenken würde.
Das letzte Kriterium für die Auswahl, ein „strittiges“ Maß an Gewalt, erfüllt „Der
Prinzipal“ zunächst rein formal: Der Film hat der FSK zweimal vorgelegen und nur
unter Schnittauflagen die beantragte 16er-Freigabe erhalten. Die Ausnahmegenehmigung für eine Fernsehausstrahlung wurde nur für die spätere Plazierung im Hauptabendprogramm ab 21.30 Uhr erteilt.
„Der Prinzipal“ enthält aber nicht nur Gewaltdarstellungen, sondern macht Gewalt,
den Machtkampf zwischen Rick und Viktor, selbst zum Thema. Der Konflikt wird
zugunsten des Schuldirektors entschieden, während der jugendliche Kontrahent im
Gefängnis endet. Damit diese dramaturgische Konstruktion funktionieren kann, wird
die Figur des Direktors als zentrale Identifikationsfigur aufgebaut, deren gewalttätige
Handlungen durch verschiedene Faktoren relativiert werden:
Zum einen agiert Rick im Sinne der herrschenden Autorität. Seine Rolle als Direktor
der Schule legitimiert ihn – im Prinzip – „durchzugreifen“, etwas gegen die chaotischen Verhältnisse zu unternehmen, Ordnung zu stiften. Während er zu Beginn noch
– ganz Schuldirektor – die Polizei einschalten möchte oder mit Schulverweisen
droht, greift er bald zum Mittel physischer Gewalt, was zunächst im Widerspruch zu
seiner Rolle steht. Mit seinem Verhalten eckt er an, - vor allem an der bequemen
Lehrerschaft, aber auch an der engagierten Lehrerin Ms. Orozco, die seine Methoden
ablehnt („Ich lehne es ab, was Sie hier einführen. Sie halten sich für sehr stark, fahren Sie zur Hölle“). Zum anderen erscheinen diese Methoden durch die völlig überzeichneten Verhältnisse an der Schule gerechtfertigt, die Gewalt, die Rick entgegengebracht wird, kennzeichnet seine Gewalttaten als Notwehrhandlungen. Darüber
hinaus hat Rick mit seinem Verhalten Erfolg, kann nicht nur die skeptische Ms. Orozco vor einer Vergewaltigung bewahren und den Bandenführer Viktor ins Gefäng9
nis bringen, sondern am Ende selbstbewußt auf seine neu gefundene Identität verweisen: „Ich bin der Rektor, kapiert?“
Unter Jugendschutzgesichtspunkten ist es vor allem diese Konstruktion - die vom
Erfolg gekrönte Gewalthandlung einer Identifikationsfigur – die mit Blick auf ein
jugendliches Zielpublikum als problematisch angesehen wird.
3.
Die Gruppe der Jugendlichen
3.1.
Festlegung der Altersgruppe
Im Hinblick auf das ausgewählte Filmbeispiel und seiner Ausstrahlungszeit im Fernsehen galt unser Interesse der Altersgruppe der 12- bis 16jährigen Jungen und Mädchen. Die jüngeren Kinder und Jugendlichen dieser Altersgruppe sind durch die
FSK-Freigabe „ab 16 Jahren“ von einer Vorführung des Films im Kino – theoretisch - zwar ausgeschlossen, kommen als potentielle Zuschauer bei einer Fernsehausstrahlung um 21.30 Uhr jedoch in Betracht. Nach den FSF-Prüfgrundsätzen sind für
das Hauptabendprogramm (20.00 - 22.00 Uhr) „die Voraussetzungen zu berücksichtigen, die jüngere Jugendliche (12 bis 16 Jahre) für die Wahrnehmung und Verarbeitung von Fernsehinhalten haben“ (§ 21 Abs. 2).
Wir entschieden uns für die Durchführung des Projektes mit Jugendlichen im Alter
von ca. 14 Jahren. Angesichts der FSK-Freigabe und der relativ späten Ausstrahlungszeit im Fernsehen kam die Gruppe der 12- und 13jährigen nicht in Betracht. Die
Durchführung des Projektes mit 14jährigen hielten wir vor allem für vertretbar, weil
durch die Interviews im Anschluß an die Filmvorführung, die Diskussion in der
Gruppe und insbesondere durch die medienpraktischen Übungen eine ausreichende
Bearbeitung des Films gewährleistet schien.
3.2.
Kontaktaufnahme
Ein Projektmitarbeiter arbeitet als Erzieher an der Walter-Gropius-Gesamtschule in
Berlin und ermöglichte die Kontaktaufnahme und Zusammenarbeit mit Schülerinnen
und Schülern der dortigen 8. Jahrgangsstufe. Das Einzugsgebiet dieser Gesamtschule
ist die Gropiusstadt in Berlin Neukölln, ein Bezirk, dessen Sozialstruktur durch niedrige Einkommensgruppen, einen hohen Ausländeranteil und eine überdurchschnittliche Arbeitslosenquote geprägt ist. Der Bildungsstand der Eltern der befragten SchülerInnen liegt mehrheitlich unterhalb der allgemeinen Hochschulreife.
Besonderen Wert legten wir darauf, eine gleiche Anzahl an Jungen und Mädchen
einzuladen, da uns interessierte, inwieweit in der Mediennutzung und -wahrnehmung
der Jugendlichen geschlechtsspezifische Unterschiede zu beobachten sind.
Die Auswahl der TeilnehmerInnen erfolgte in Absprache mit den TutorInnen und
pädagogischen MitarbeiterInnen dieses Jahrgangs, die einschätzen sollten, welche
SchülerInnen an einem solchen Projekt Interesse und Spaß haben könnten.5 18
5
An der Walter-Gropius-Schule gibt es pro Jahrgang vier Klassen , so daß prinzipiell ca. 120 SchülerInnen für eine Projektteilnahme zur Auswahl standen. Durch einen an alle Jugendlichen gerichteten Teilnahmeaufruf hätten wir, unserer Ansicht
nach, zu viele SchülerInnen enttäuschen müssen.
10
SchülerInnen im Alter von (Ende) 13 bis 15 Jahren wurden ausgewählt. Ihre Teilnahme ließen wir durch die Eltern schriftlich genehmigen.
3.3.
Voraussetzungen der Altersgruppe
Die Einschätzung möglicher Film- oder Fernsehwirkungen geschieht grundsätzlich
mit Blick auf bestimmte Zuschauergruppen. Es ist davon auszugehen, daß es keine
eindeutigen Wirkungen oder Aussagen gibt, die sich für alle ZuschauerInnen gleichermaßen aus einer Filmgeschichte ableiten lassen, denn die „Bedeutung eines medialen Textes ergibt sich erst in seiner Nutzung durch die Zuschauer ... Zwar bietet
der Film- oder Fernsehtext Kausalzusammenhänge an, doch die eigentliche Geschichte entsteht im Kopf des Zuschauers“ (Mikos 1996, S. 57).
Will man sich dieser Bedeutung annähern, die eine Mediengeschichte für ein bestimmtes Zielpublikum haben kann, ist zu berücksichtigen, daß Menschen – je nach
ihren persönlichen Erfahrungen und Bedürfnissen - thematisch voreingenommen an
Geschichten herangehen. „Mediengeschichten [werden] unter einer subjektiven Perspektive betrachtet“, sie werden „von dem jeweiligen Rezipienten zu seinem eigenen
Thema in Beziehung gesetzt“ (Charlton / Neumann 1990, S. 103). Diese thematische
Voreingenommenheit ergibt sich aus der allgemeinen Lebenssituation der Rezipienten, aus Phantasien, Wünschen und Problemen, die in einem bestimmten Lebensabschnitt besonders relevant sind. Neben aktuellen Befindlichkeiten oder individuellen
Problemlagen sind es daher besonders Entwicklungsthemen, die in diesem Sinne
handlungsleitend sein können, d.h. die Wahrnehmung und Verarbeitung von Medieninhalten steuern.
Bei der Begutachtung von Sendungen und der Einschätzung möglicher Einflüsse auf
eine bestimmte Zuschauergruppe ist also zu fragen, in welchem Entwicklungsabschnitt die jeweilige Altersgruppe sich befindet, welche alterstypischen Probleme sie
beschäftigt und als „besondere Voraussetzungen für die Wahrnehmung und Verarbeitung von Fernsehinhalten“ (§ 21 Abs. 2 FSF-Prüfgrundsätze) berücksichtigt werden müssen. Darüber hinaus ist am konkreten Filmbeispiel zu prüfen, inwieweit die
erzählte Geschichte handlungsleitende Themen anbietet, die für diese Altersgruppe
eine besondere Bedeutung haben könnten.
In der Spanne zwischen 12 und 16 Jahren findet eine Reihe von tiefgreifenden Veränderungen in der Entwicklung der Jungen und Mädchen statt. In diesem Zeitraum
durchlaufen die Jugendlichen die Phase der Pubertät, die neben der geschlechtlichen
Entwicklung in hohem Maße mit dem Aufbau und der Festigung einer Identität verbunden ist. Das Verhalten gegenüber dem anderen Geschlecht, die Abgrenzung der
„eigenen“ Gruppe gegen „die Anderen“, ideologische Perspektiven und Vorbilder
gewinnen in diesem Lebensabschnitt an Bedeutung (vgl. Erikson 1979).
Auf der einen Seite sind Jugendliche in diesem Alter in der Lage, die Dramaturgie
eines Films nachzuvollziehen, filmische Gestaltungsmittel und Ironie zu erkennen
und Ängste durch den guten Ausgang der Konfliktsituation abzubauen. Sie besitzen
bereits relativ gefestigte Verhaltensgrundmuster und Einstellungen, die nicht ohne
weiteres durch Medieninhalte veränderbar sind. Die Unterscheidungsfähigkeit zwischen eigener Realität und der Film- und Fernsehwelt ist so weit fortgeschritten, daß
eine einseitige Orientierung an Figuren oder Handlungsmustern eher unwahrschein11
lich ist. Auf der anderen Seite ist davon auszugehen, daß die Jugendlichen sich allmählich vom Elternhaus lösen und für alternative Wertvorstellungen und Lebensweisen - und hier auch für (Teil-) Angebote und Modelle aus Filmen und Fernsehsendungen - durchaus empfänglich sind.
Besonderes Augenmerk ist bei dieser Altersgruppe daher auf die Gesamtaussage
eines Films zu richten, z.B. darauf, ob Gewalt von Identifikationsfiguren ausgeübt
und als erfolgreiches Mittel der Konfliktlösung propagiert wird. Einzelne Gewaltszenen sollten zurückhaltend inszeniert sein und, da der Film möglicherweise nicht als
Ganzes gesehen wird, auch isoliert kein Verhaltensmodell aufweisen, in dem die
Gewalthandlung filmintern positiv bewertet wird (vgl. von Gottberg 1995).
Bei der Begründung der Auswahl des Filmbeispiels (2.3.) haben wir auf diese Problematik bereits hingewiesen. Die von dem Schuldirektor Rick ausgehende Gewalt ist
für ein jugendliches Zielpublikum insofern strittig, als sie durch verschiedene Faktoren gerechtfertigt wird. Der sympathische Rick hat mit seinem Verhalten Erfolg, und
die Gesamtaussage des Films, daß der Zweck die Mittel heilige, könnte damit Gewalt
als attraktives Konfliktlösungsmodell erscheinen lassen.
Bezogen auf die Frage nach handlungsleitenden Themen, die der Film 14jährigen
Jugendlichen anbietet, haben wir - ebenfalls unter 2.3. - die zahlreichen Bezüge zur
Lebenswelt Jugendlicher aufgezeigt, die ihnen Anknüpfungspunkte für ihre eigenen
Erfahrungen und Probleme liefern können. Mediengeschichten stellen symbolisches
Material bereit, sie werden benutzt, „um sich selbst im Spiegel gesellschaftlichen
Handelns [zu] entdecken“ (Charlton / Neumann 1990, S. 110). In diesem Zusammenhang haben wir die Attraktivität der Figur Ricks betont. Wir vermuteten, daß
seine persönliche Entwicklung – von der Unfähigkeit, gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen über die Suche nach einer Identität und dem Wunsch, sich durchzusetzen bis hin zur „erfolgreichen“ Bewältigung der Situation - Jugendlichen ein
solches handlungsleitendes Thema anbieten könnte. Da Rick Probleme und Themen
durchlebt, die entwicklungspsychologisch für die Jugendphase bedeutsam sind, gingen wir davon aus, daß diese Figur – zumindest männliche Jugendliche - zur Identifikation einladen würde.
Der Schwerpunkt unserer Befragung lag daher auf der Figur des Schuldirektors bzw.
auf der Frage, wie die Jugendlichen sein Verhalten im Gesamtzusammenhang bewerten und welche Aussage des Films in bezug auf Gewalt sich für sie ergibt. Bei
allen Fragen richtete sich unser Interesse darauf, inwieweit geschlechtsspezifische
Unterschiede in der Beurteilung erkennbar würden.
12
Teil 2:
Ablauf des Projektes
1.
Einstieg
Das Projekt wurde an drei aufeinanderfolgenden Tagen mit jeweils einer Gruppe von
sechs Jugendlichen durchgeführt. Wir hielten eine Anzahl von sechs SchülerInnen
pro Tag für angemessen, um mit der Gruppe effektiv arbeiten zu können und zu gewährleisten, daß Einzelne mit ihren Vorstellungen nicht `untergehen´. An allen drei
Tagen wurden die SchülerInnen morgens von ihrer Schule abgeholt und zur FSF
begleitet.
Nach der Begrüßung zeigten wir den Jugendlichen die Einrichtung und berichteten
von der Arbeit der FSF. Die Schülerinnen und Schüler hatten einige Fragen, vor allem auch zur FSK, die ihnen aus eigener Erfahrung mit Kinofilmen, für die sie „noch
nicht alt genug“ sind, eher ein Begriff war. Informationen darüber, wie diese verschiedenen Einrichtungen arbeiten und wer die Prüferinnen und Prüfer sind, lieferten
den Einstieg in das Thema „Jugendmedienschutz“.
Nach diesen einführenden Informationen besprachen wir den Tagesablauf. Im Hinblick auf den Mediensteckbrief und vor allem die Einzelinterviews, denen die meisten aufgeregt entgegensahen, war es wichtig, hervorzuheben, daß es auf unsere Fragen keine „richtigen“ bzw. „falschen“ Antworten geben könne, sondern daß jede und
jeder eine ganz persönliche Meinung haben könne, die für uns besonders interessant
sei. Die Jugendlichen sollten nicht das Gefühl haben, uns durch ihre Antworten „etwas recht machen“ zu müssen.
2.
Der Mediensteckbrief
Um etwas über die unterschiedlichen Voraussetzungen der Jugendlichen im Bereich
der Medienerfahrungen und -gewohnheiten und über ihre Vorlieben und Abneigungen zu erfahren, baten wir sie, einen vorbereiteten Mediensteckbrief auszufüllen
(siehe Anhang).
Zur allgemeinen Auflockerung begannen wir damit, uns gegenseitig mit einer Polaroidkamera zu fotografieren, um ein erstes „Bild“ voneinander zu erhalten, das jeweils auf die erste Seite des Steckbriefes geheftet wurde. Viele Fragen waren so aufbereitet, daß mit der Beantwortung eine Grafik entsteht, die auffällige Aspekte, Gemeinsamkeiten und Unterschiede „auf den ersten Blick“ erkennen läßt. Die einzelnen
Mediensteckbriefe wurden an die Wand geheftet und von allen betrachtet. Es gab
Kommentare, Lacher und Gespräche - der Mediensteckbrief diente damit auch dem
näheren Kennenlernen aller Beteiligten in bezug auf ihre Mediennutzung.
Die Fragen bezogen sich auf die Nutzung verschiedener Medien und die jeweilige
Nutzungsdauer, auf Präferenzen bei Filmen und Fernsehsendungen und auf Gewaltdarstellungen im Fernsehen bzw. angstauslösende Szenen (vgl. Anhang).
13
3.
Filmvorführung und Interview
Nach der Bearbeitung des Mediensteckbriefes sahen die jeweils sechs Jugendlichen
gemeinsam den Film „Der Prinzipal“. Da der Film allen noch präsent sein sollte und
wir auch etwas über die ersten Eindrücke erfahren wollten, wurden die Einzelinterviews direkt im Anschluß an die Filmvorführung in einem separaten Raum durchgeführt. Sie dauerten jeweils ca. 10 Minuten. Die Reihenfolge der Interviewten ergab
sich nach dem Zufallsprinzip. Parallel dazu erfolgte mit den Übrigen die Einführung
in die Videotechnik.
Die Interviewfragen bezogen sich auf die ersten Eindrücke vom Film, auf die handelnden Personen, vor allem auf die Figur des Schuldirektors Rick, auf das Gewaltpotential des Films bzw. auf das allgemeine Gewaltverständnis der Jugendlichen in
bezug auf Filme und Fernsehsendungen und auf die Einschätzung der dargestellten
Situation als real bzw. fiktiv. Daneben stellten wir Fragen zu den allgemeinen Medienerfahrungen der Jugendlichen und zu ihren Vorlieben hinsichtlich Filmen und
Fernsehsendungen.
Das Muster des Fragebogens ist im Anhang nachzulesen. Die Auswahl bzw. Abfolge
der Fragen erfolgte je nach Gesprächsverlauf und Gesprächsbereitschaft der Jugendlichen unterschiedlich.
4.
Praktische Medienarbeit
Die Phase der praktischen Medienarbeit begann während der Einzelinterviews und
setzte sich am Nachmittag fort. Entsprechend unserer Zielvorstellungen konzentrierten wir uns auf drei Schwerpunkte: die Vermittlung eines Grundverständnisses der
Videotechnik, filmischer Gestaltungsmittel und ihrer Wirkung und die Anwendung
der erworbenen Kenntnisse in praktischen Übungen.
Der erste Schritt bestand in einer kurzen Einführung in die Videotechnik. In den zwei
Stunden, die uns hierfür zur Verfügung standen, beschränkten wir uns auf die Erklärung der Grundbausteine einer Videoeinheit (Kamera, Rekorder, Fernseher, Videokassette, Stativ, Mikrophon), Ton- und Beleuchtungstechnik wurden nur angeschnitten. Wir erklärten, wie ein Film oder Fernsehbild entsteht und wie es bearbeitet werden kann. Die Jugendlichen erhielten anschließend sofort die Möglichkeit, selbst mit
der Technik zu arbeiten. Bei diesen ersten eigenen Übungen sollten neben der Fertigkeit, mit der Gerätschaft umzugehen, die ersten wesentlichen bildgestalterischen
Aspekte vermittelt werden. So wurden die verschiedenen Einstellungsgrößen und
Kamerabewegungen gezeigt und erprobt.
Um zu verdeutlichen, daß ein Film aus mehreren Einzelbildern besteht und wie mit
einfachen Mitteln ein interessanter filmischer Effekt bzw. Trick erzeugt werden
kann, probierten wir gemeinsam den `Stopptrick´ aus. Dabei wird nach der Aufnahme einer Szene die Kamera ausgeschaltet. Sie wird erst wieder eingeschaltet, nachdem die Szene verändert wurde. Die Kamera muß hierzu auf einem Stativ befestigt
sein. Auf diese Weise lassen sich ruckartige Bewegungen erzeugen und z.B. Gegenstände oder Personen ins Bild „zaubern“. Die Jungen und Mädchen erkannten,
wie aufwendig es ist, eine Filmszene zu drehen, weil sie sich aus vielen einzelnen
Bildern und verschiedenen Einstellungen zusammensetzt. Sie erfuhren, wie unter14
schiedlich eine Szene bzw. eine Aussage mit recht einfachen Mitteln gestaltet werden kann.
Um diese ersten Einsichten in bezug auf filmische Mittel zu vertiefen, besprachen
wir im Anschluß die verschiedenen Filmgenres und deren `typische´ Erzählweisen.
Im Vordergrund stand die Frage, wie in den jeweiligen Genres Spannung erzeugt
wird. In der Phantasie lösten wir verschiedene Szenen in Einzeleinstellungen auf und
überlegten, welche zusätzlichen Mittel wie Ton (Musik, Geräusche, Sprache), Licht
oder verschiedene Montageformen die Spannung der jeweiligen Szenen steigern
könnten (z.B. Verfolgungsjagd / Actionfilm; Duell / Western; Cliffhanger / Familienserie; Jagd auf ein unheimliches Wesen / Horrorfilm etc.). Zur Verdeutlichung
zeigten wir abschließend einige Beispielsequenzen, die wir im Hinblick auf die verwandten spannungssteigernden Mittel näher betrachteten.
Am Nachmittag konnten die Mädchen und Jungen in einer Gemeinschaftsarbeit ein
kurzes eigenes Video drehen, wobei angesichts der knapp bemessenen Zeit nur kurze
Szenen umgesetzt werden konnten. Die Ideen hierzu erarbeiteten sich die Jugendlichen selbst. Es wurden sowohl fiktive Situationen dargestellt als auch dokumentarische Themen gewählt: So drehte eine Gruppe eine Verfolgungsjagd, die damit endete, daß sich der Verfolgte plötzlich - durch einen Stopptrick - in Luft auflöste. Eine
andere Gruppe interviewte Besucher eines Biergartens und fragte sie nach ihrer Meinung zu Altersfreigaben für Filme bzw. bestimmten Sendezeiten für Fernsehsendungen. Einige Jugendliche besuchten verschiedene Reisebüros, um herauszufinden,
welches Urlaubsziel Reiseveranstalter selbst bevorzugen, und eine Mädchengruppe
verfilmte einige Sketche.
Insgesamt wurde deutlich, daß die einzelnen Gruppen die am Vormittag erworbenen
Kenntnisse sofort anwendeteten und großes Geschick bei der filmischen Umsetzung
ihrer Ideen bewiesen. Zum einen mußten - da in der FSF keine Endbearbeitungstechnik zur Verfügung steht - sämtliche Szenen und Interviews so aufgenommen werden,
daß das Videoband ohne Nachbearbeitung vorführbar war. Dies führte dazu, daß sich
die Gruppen vorher auf die einzelnen Einstellungen und ihre Abfolge einigen und
verschiedene Möglichkeiten, die Szene aufzulösen, diskutieren mußten. Auf diese
Weise wurde der gedankliche Prozeß des Zerlegens einer Szene in ihre Bestandteile
praktisch nachvollzogen. Auch einige der besprochenen spannungssteigernden Mittel
kamen zum Einsatz. Daß die Wirkung dieser Mittel vom Filminhalt, also der konkreten Geschichte, abhängt, wurde vor allem deutlich, als die Jugendlichen mit verschiedenen Gestaltungsweisen experimentierten und feststellten, daß beispielsweise
ein schneller Einstellungswechsel allein nicht ausreicht, um Spannung zu erzeugen.
Am Ende des Veranstaltungstages wurden die Beiträge vorgeführt und besprochen.
Während der Auswertung der selbstgedrehten Szenen und des gesamten Veranstaltungstages wurde deutlich, daß vor allem der praktische Teil den Jugendlichen sehr
großen Spaß gemacht hat.
15
Teil 3:
Auswertung des Projektes
1.
Der Mediensteckbrief
1.1.
Nutzung verschiedener Medien
Die Palette der Medien, die die von uns befragten Mädchen und Jungen täglich nutzen, ist breit. Genannt wurden alle auf dem Mediensteckbrief zur Auswahl stehenden
Medien, also Radio, CD-Player, Kassettendeck, Walkman, Bücher, Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehen, Videorekorder, Computer und Telespiele. Innerhalb dieser Medienpalette nimmt das Fernsehen eine herausragende Rolle ein. Nur einige Mädchen
geben es als selten genutztes Medium an, für die meisten Jugendlichen stellt das
Fernsehen - häufig in Verbindung mit dem Videorekorder - die Nr.1 im Medienalltag
dar.
Als häufig genutztes Medium neben dem Fernsehen geben die meisten Jungen den
Computer an, die Mädchen bevorzugen hingegen Bücher, Zeitschriften und mitunter
das Radio. Über eine eigene Musikanlage inklusive CD-Player und Kassettendeck
verfügten fast alle Jugendlichen. Dementsprechend häufig werden diese Medien auch
genutzt.
1.2.
Fernsehnutzung
Nach ihrer eigenen Einschätzung haben die Mädchen etwas früher begonnen fernzusehen (im Alter von vier bis fünf Jahren ) als die Jungen (im Alter von fünf Jahren).
Die Angaben zum täglichen Fernsehkonsum variierten erheblich, sie lagen zwischen
einer Stunde (Angabe eines Mädchens) und acht Stunden (Angabe eines Jungen).
Diese beiden extremen Angaben erklären den großen Unterschied in der durchschnittlichen täglichen Fernsehnutzung zwischen der Gruppe der Mädchen (ca. 3,2
Stunden) und der Gruppe der Jungen (ca. 4,2 Stunden). Klammert man die beiden
Extremwerte aus, liegt die tägliche Nutzungsdauer bei beiden Geschlechtern im
Durchschnitt bei ca. 3,5 Stunden.
Im Hinblick auf beliebte Genres und Sendungen zeichnete sich ein breites Spektrum
ab, wobei große Unterschiede zwischen den Präferenzen der Mädchen und der Jungen deutlich wurden. Actionfilme, Komödien, Daily Soaps und Musiksendungen
wurden von den Jugendlichen insgesamt am häufigsten genannt, aber ausschließlich
Komödien (z.B. „Die nackte Kanone 33 1/3“, „Werner“) werden von Mädchen und
Jungen gleichermaßen gern gemocht.
Daneben gaben ausschließlich die Mädchen vor allem Daily Soaps (z.B. „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“, „Alle unter einem Dach“), den Musiksender VIVA und Jugendfilme und -magazine (z.B. „La Boum - Die Fete“, „Bravo-TV“) als ihre Lieblingsprogramme an. Die Jungen nannten demgegenüber vor allem actionorientierte
Filme und Komödien (z.B. „Stirb langsam“, „Filme mit Arnold Schwarzenegger“,
„Indiana Jones“, „Bud Spencer-Filme“) und Science Fiction (z.B. Space 2063“,
„Back to the Future“, „Alien“).
16
1.3.
Gewalt im Fernsehen und ängstigende Situationen
Auf die Frage, was für sie Gewaltdarstellungen im Fernsehen bzw. verschiedene
Gewaltformen sind, nannten viele Jugendliche – Mädchen wie Jungen - zunächst
Schießereien und Messerstechereien. Darüber hinaus gingen die Mädchen eher auf
verschiedene Grade der Gewaltanwendung ein (z.B. Anschreien, Einschüchterung,
Drohung, Erpressung, Entführung, Vergewaltigung, Mord), die Gewaltform „Vergewaltigung“ wurde von fast allen Mädchen genannt. Die Jungen gaben insgesamt
weniger graduelle Abstufungen an, gingen aber auf verschiedene Tötungsarten (z.B.
erschießen, erdrosseln, köpfen) und Waffenarten ein (z.B. Pistolen, Raketenwerfer,
Schlagringe, Schwerter, Peitsche, Sprengstoff). Ein Junge gab an, in fast jedem Film
und jeder Fernsehsendung Gewalt wahrzunehmen, z.B. auch in „Tom & Jerry“.
Bei der Frage nach ängstigenden Szenen erklärten einige Jungen, früher bei bestimmten Filmen Angst gehabt zu haben (z.B. „vor Außerirdischen“, „nach Krimis“),
heute ein solches Gefühl jedoch nicht mehr zu kennen. Andere Jungen gaben als
ängstigende Szenen „Schreckeffekte“ in Filmen und drastische Gewaltdarstellungen
an (z.B. wenn „die Leute auf brutalste Weise gefoltert oder getötet werden“; „wenn
eine Horrorfigur einen Menschen packt, ihn schlägt und dann die Eingeweide rausnimmt, - und das bei lebendigem Leibe“).
Die Mädchen stuften vor allem solche Szenen als ängstigend ein, in denen Wehrlose
einer Gewalttat zum Opfer fallen. Sie gaben z.B. an, Angst zu haben „bei der Ermordung kleiner Kinder in Filmen“, „wenn jemand in Filmen hinterrücks erschreckt
wird“, „wenn Tiere erschossen werden“ oder „wenn ein ‘guter’ Mensch stirbt“.
1.4
Zusammenfassung
Die Auswertung der Mediensteckbriefe deutet geschlechtsspezifische Unterschiede
im Hinblick auf Genrepräferenzen und die Wahrnehmung von Gewaltdarstellungen
an: Komödien werden von Jungen wie Mädchen gleichermaßen gemocht, die Jungen
geben daneben actionorientierte Programme und Science Fiction an, die Mädchen
Daily Soaps, Musik- und Jugendprogramme. Im Erleben von Gewaltdarstellungen
nennen die Mädchen verschiedene Grade personaler Gewalt, die moralische Kategorien implizieren, während die Jungen - indem sie auf verschiedene Tötungsarten,
Waffen und Werkzeuge verweisen - technische Kategorien betonen.
Auf diese Unterschiede zwischen den Geschlechtern in Mediennutzungsgewohnheiten und –motiven und im Umgang mit bzw. im Erleben von bestimmten Medieninhalten werden wir in der Auswertung der Einzelinterviews näher eingehen. Neben
der Frage nach geschlechtsspezifischen Ausprägungen – z.B. im Erleben von Angst
bzw. Spannung oder in der persönlichen `Gewaltschwelle´ - wird auch danach zu
fragen sein, inwieweit die Antworten geschlechterübergreifende Merkmale andeuten.
In diesem Zusammenhang werden wir auch einige Ergebbnisse der geschlechtsspezifischen Rezeptionsforschung vorstellen und diskutieren.
17
2.
Das Interview
2.1.
Gewalt, Spannung und Angst
Welche Eindrücke haben die Jugendlichen von dem Film? Nennen sie bestimmte
Szenen, die sie in besonderer Erinnerung behalten haben? Welchen Stellenwert
kommt in diesem Zusammenhang den Gewaltszenen des Films zu? Empfinden sie
den Film insgesamt als spannend oder sind sie „härtere Kost“ gewohnt, so daß sie
sich eher langweilen? Vor allem ging es uns darum zu erfahren, inwieweit Gewaltszenen noch als spannend im Sinne von angenehm und positiv erlebt und ab wann
etwas als zu brutal, angstauslösend oder abstoßend empfunden wird. Gibt es in der
Gruppe eine gemeinsame „Angstschwelle“?
2.1.1.
Die Handlung des Films - Der erste Eindruck
Die Einzelinterviews wurden direkt im Anschluß an die Filmvorführung durchgeführt. Wir wollten erfahren, welche Eindrücke die Jugendlichen direkt nach dem gemeinsamen Anschauen des Films beschäftigten. Welche Handlungselemente heben
sie bei einer Erzählung des Filminhaltes hervor? Wie beurteilen sie den Film spontan
und welche Erfahrungen mit Filmen und Fernsehsendungen bringen sie in ihr Urteil
ein?
Wir baten die Jugendlichen zu schildern, was sie einer anderen Person, beispielsweise einem Freund oder einer Freundin, von diesem Film erzählen würden, wie „Der
Prinzipal“ ihnen gefallen hat und ob sie ihn anderen empfehlen könnten.
„Ein Lehrer, der in die Schule Ruhe und Ordnung gebracht hat“
Die Mehrheit der Gruppe gab zunächst den Inhalt des Films in kurzen Sätzen, wie
den folgenden, wieder:
„Es ging um eine Schule, die sehr viel Gewalt hatte. Und da kam ein Lehrer als Direktor,
der in die Schule Ruhe und Ordnung gebracht hat. Zum Schluß war die Schule normal.“
(Daniela)
„Der Film handelt von einem Direktor, der an eine neue Schule reinkommt und der dort
alles umkehren will“. (Marco)
„Ein Film, der in Amerika spielt, im Schwarzenviertel, wo die Schwarzen leben, wo kaum
Ordnung herrscht, nur Gewalt.“ (Carl)
„Actionfilm, Krimi und Drama“
Andere SchülerInnen kennzeichneten den Film über den Bezug zu anderen Filmerfahrungen, indem sie ihn bestimmten Genres zuordneten oder ihn mit Filmen, die
eine ähnliche Geschichte erzählen, verglichen:
„So ´ne Mischung zwischen Actionfilm, Krimi und einem Drama. Kann man jetzt nicht so
genau sagen, was das genau war. Es ging darum, daß ein ehemaliger Lehrer immer in Kneipen rumhing und ab und zu randaliert hat, dann als Direktor von so einer berüchtigten
Schule in ein Schwarzenviertel engagiert wurde und der dann eben die Schule säubern
mußte.“ (Benjamin)
18
„Den Film würde ich als spannenden Actionfilm beschreiben. Er ist für Jugendliche genau
richtig, es ist nicht zu viel Gewalt drin. Da ist eine Schule, da mußte ein Lehrer hin, von
einem Stadtteil in einen anderen, weil er sonst seinen Job verloren hätte. Er hat da einen Job
gekriegt als Direktor. Und er meint, er übernimmt den Job und macht aus dem Laden eine
Schule. Dann hat er es den Schülern gezeigt, wo es langgeht.“ (Sven)
„Sowas wie „Dangerous Minds“. So ein Drama. Daß jemand versucht, Jugendliche in der
Schule zu erziehen.“ (Fabian)
„Ein bißchen brutal und ähnlich wie „Dangerous Minds“.“ (Agnes)
„Vielleicht lernt sie daraus etwas“
Den meisten Jugendlichen gefiel der Film. Doch nur einige begründeten ihre Bewertung und verwiesen auf die Konstruktion der Geschichte oder auf die Gesamtaussage, die z.T. als eine pädagogische empfunden wurde. Eine generelle Empfehlung
für andere Jugendliche wollten die wenigsten aussprechen.
„Ich würde ihnen ersteinmal sagen, daß der Film mir doch sehr gut gefallen hat, weil es
nicht nur Prügeleien oder sowas gab. Er hatte auch noch einen anderen Hintergrund. Ich
fand den sehr interesssant.“ (Tristan)
„Die Logik der Geschichte war o.k., hat mir gut gefallen.“ (Sascha)
„Es kommt auf die Freundin an, ob ich den Film empfehle. Wenn sie auch gern Lehrer anmacht, rumschreit und rummeckert, dann ist dieser Film genau richtig. Vielleicht lernt sie
daraus etwas.“ (Jennifer)
„Ich würde ihn einigen empfehlen, nicht allen. Einigen würde er gefallen, anderen nicht.“
(Alexander)
„Ist schon gut der Film. Müßte die Person aber selber entscheiden, ob sie den Film sehen
will oder nicht.“ (Daniela)
„Ich würde ihn nicht direkt empfehlen, nur für solche Leute, die damit Probleme haben.
Meistens gewinnt ja das Gute im Film. Im richtigen Leben kriegt man nicht die, die verantwortlich sind. Die Helden sollten auch mal eine aufs Maul bekommen.“ (Andreas)
„Das hat jeder einen eigenen Geschmack. Man kann ihn sich angucken. Mir hat er gefallen.
Er war so ähnlich wie „Dangerous Minds“.“ (Jasmin)
2.1.2.
Welche Szenen werden besonders erinnert?
Uns interessierte, ob die Jugendlichen in ihrer Bewertung des Films bestimmte Szenen hervorheben, an die sie sich besonders erinnern. Wie nehmen sie die Gewaltszenen wahr? Bleiben sie besonders im Gedächtnis haften, werden sie als dramaturgisch
notwendig und spannungserzeugend betrachtet?
„Wo der Typ mit dem Kopf durch die Fensterscheibe ...“
Danach befragt, welche Szene des Films ihnen besonders gut im Gedächtnis geblieben sei, erinnerten sich fast alle Jugendlichen an Szenen, in denen Gewalt gegenüber
positiv besetzten Identifikationsfiguren ausgeübt wird. Daß sich die Aufmerksamkeit
vor allem auf diese Szenen und die Überraschungseffekte des Films richtet, zeigte
sich bereits während der Filmvorführungen, wo die SchülerInnen sich während dramaturgisch „ruhigeren“ Handlungsabläufen verstärkt unterhielten oder andere Dinge
im Raum betrachteten.
19
„Als sie ihm [dem Direktor] das Handtuch über den Kopf gehalten haben und ihn zusammengeschlagen haben, das fand ich ... uäh.“ (Sascha)
„Vielleicht die eine Szene, wo der Typ mit dem Kopf durch die Fensterscheibe geknallt ist.
Das hat mich schon irgendwie gerührt.“ (Jasmin)
„Die besonderen Szenen bleiben im Kopf“
Vereinzelt wurden aber auch Szenen hervorgehoben, die - wie ein Junge auf den
Punkt brachte - als außergewöhnlich und „besonders“ erlebt werden:
„Die brutalen Szenen bleiben im Kopf - und die besonderen, z.B. der kleine Junge, der nicht
lesen konnte.“ (Alexander)
„Wie der Direktor geschaut hat, als die Schüler sein kaputtes Motorrad wieder ganz gemacht hatten.“ (Andreas)
„Am Anfang mit dem Porsche, wo er den Baseballschläger genommen und alles zerdeppert
hat.“ (Fabian)
„Ich wurde auch schon mal belästigt von Jungs“
Den Mädchen war die Szene, in der eine Lehrerin fast vergewaltigt wird, besonders
im Gedächtnis geblieben. Vergewaltigungen werden in der Regel von Männern gegenüber Frauen verübt, so daß Mädchen von vornherein solche Szenen aus der Opferperspektive betrachten und besonders eindringlich erleben. Reale Ängste, Opfer
einer Vergewaltigung zu werden bzw. reale Erlebnisse als Opfer sexueller Gewalt
oder Belästigung, scheinen diese Eindringlichkeit zu verstärken.
„Die Szene, wo die Lehrerin vergewaltigt wurde, das ist das einzige, was ich mir behalten
habe.“ (Alexandra)
„Vielleicht die Szene mit der Vergewaltigung. Ich hätte mir nie gedacht, daß Schüler so was
machen könnten. So schlimme Typen, hab ich gedacht, gibt es nicht. Ein bißchen aufgeregt
war ich bei der Szene, weil ich auch schon mal von Jungs in der Schule belästigt wurde. Und
wenn ich das sehe, will ich, daß das keinem anderen passiert.“ (Jennifer)
„Das war ziemlich gut gemacht“
Viele Jugendliche, vor allem die Jungen, empfanden einzelne Szenen oder den ganzen Film als aufregend und spannend. Diese Spannung war für die meisten auszuhalten, weil sie offenbar „Filme wie diesen“ gewohnt zu sein scheinen. Aus der Erfahrung mit vergleichbaren Filmen ergeben sich der positiv erlebte `Kitzel´ bei überraschenden Momenten oder konkrete Erwartungen an das, was einen „gut gemachten“ Streifen ausmacht.
„Kurz vor dem Schluß, da haben alle möglichen Ghettogangster den Lehrer im Duschraum
gejagt, das ist mir gut in Erinnerung geblieben, das war ziemlich gut gemacht.“ (Benjamin)
„Ja, die Szene, wo die durch die Dusche rennen. Du weißt nie, wo sie sind. Ich mag dabei
die Überraschungseffekte.“ (Andreas)
„Ein paar Actionszenen haben mir gut gefallen, - da, wo der mit dem Motorrad ins Haus
reingefahren ist, um der Frau zu helfen. Sowas kennt man auch aus anderen Filmen.“ (Tristan)
„Ich hab´ immer auf den Überraschungseffekt gewartet, wann es nun endlich losgeht.“ (Fabian)
20
„War zwar spannend, aber nicht so spannend. Es gab mal auf SAT 1 so einen Film, der war
spannender, da konnte man nicht aufhören zu gucken, da wollte man einfach weitergucken.
Bei dem hier hätte ich schon leicht rausgehen können und sagen:’ Na ja...!’ Der Film war
nicht so schlecht, aber keiner, der so ganz gut ist.“ (Carl)
„Der erste Schreck, wo man nicht weiß, was passiert, war ziemlich groß. Er war mittelmäßig spannend.“ (Jasmin)
„Der Prinzipal“ enthält zahlreiche Gewaltszenen, die als dramaturgische Höhepunkte
inszeniert sind. Sympathiefiguren werden bedroht oder geraten in vermeintlich ausweglose Situationen. Formal wird dies durch gestalterische Mittel wie hohe Schnittfrequenz, Überraschungseffekte und Musik unterstützt.
Die ersten Äußerungen zu den Gewaltszenen des Films machten deutlich, daß die
Einschätzung auf der Grundlage bisheriger Erfahrungen mit Filmen allgemein bzw.
dem Actiongenre im speziellen geschieht, so daß die Bewertung grundsätzlich individuell unterschiedlich ausfällt. Auffällig war jedoch die unterschiedliche Einschätzung der Mädchen und der Jungen.
Uns interessierte daher der individuelle Erfahrungshintergrund. Wir wollten etwas
über das allgemeine Gewaltverständnis in bezug auf Filme und Fernsehsendungen
erfahren und vor allem, bis zu welcher Schwelle bestimmte Szenen als spannend
bzw. ab wann etwas als zu brutal oder angstauslösend empfunden wird.
2.1.3.
Ein „Gewaltfilm“?
Um uns dem allgemeinen Gewaltverständnis der Jugendlichen im Hinblick auf Filme
und Fernsehsendungen zu nähern, baten wir sie zu beschreiben, was sie unter einem
„Gewaltfilm“ verstehen.6
„Morden und Blut“
Fast ausschließlich wurden zunächst drastische Formen personaler Gewalt genannt,
die einen solchen Film ausmachen, z.T. spielte zusätzlich eine Rolle, ob die Folgen
der Gewalttaten im Film sichtbar sind.
„Wenn es richtig Schlag auf Schlag geht, wenn sie einen verhauen, erschießen, ermorden.
Morden und Blut.“ (Sascha)
„“Natural Born Killers“, da hab ich mal ´nen Ausschnitt gesehen, das ist ein Gewaltfilm, wo
man richtig sieht, wie er zusammengeschlagen wird...“ (Andreas)
„Da wo sie schießen, das ist ja normal, auch in jeder Komödie. Richtig schlagen, wo man
sehen kann wie die sterben, das ist Gewalt, finde ich.“ (Carl)
„Wenn man fünfmal in den Kopf geschossen wird“
Der entscheidende Gradmesser für den Übergang vom spannenden Actionfilm zum
„Gewaltfilm“ war für die meisten Jugendlichen die Häufigkeit der Gewalttaten. Offensichtlich bedarf es eines gewissen Quantums an gewalthaltigen Szenen, um einen
6
Die Konstruktion des Genres „Gewaltfilm“ ermöglichte die Annäherung an den individuellen Gewaltbegriff der Jugendlichen und ihrer persönlichen Schwelle zur Bewertung eines Films als generell gewaltzentriert. Das Konstrukt „Gewaltfilm“
zwingt allerdings zur Definition eines neuen Genres, etwa in Abgrenzung zum bekannten Actiongenre. Insofern erklärt sich der
Schwerpunkt der Antworten auf Formen extremer Gewalt und drastischen Darstellungen.
21
Film als `Gewaltfilm´ zu klassifizieren. Für manche Jugendlichen müssen die Gewaltszenen derart im Vordergrund stehen, daß eine Handlung nicht mehr erkennbar
ist. Nach ihrem Verständnis zeichnet sich ein `Gewaltfilm´ durch den Wegfall von
Handlung aus.
„Gewaltfilm? Wenn es dann eigentlich nur um Gewalt geht. Da war irgendwie jetzt so ein
Film im Kino, hab’ ich mir nicht angeguckt, da ging es nur um Gewalt. Keine richtige Story,
es ging da nur um Abschlachten.“ (Benjamin)
„Wo nur zusammengeschlagen wird, ohne Handlung.“ (Andreas)
„Wenn´s wirklich nur um Mord und Totschlag, um Banden, Vergewaltigungen und Krieg
geht.“ (Nadine)
„Wenn´s um Bandenkriege oder Raubüberfälle geht. Im kleinen Rahmen finde ich das noch
witzig, aber dann...“. (Alexander)
„Wo nur aufeinander eingeschlagen wird, gekloppt wird und töten und so.“ (Nicole).
„Da wo jeder Zweite ermordet wird, das ist für mich ein richtiger Gewaltfilm. Wenn die
Gewalt ziemlich viel gezeigt wird.“ (Fabian)
„Erschießen. Jede zwei Minuten wird jemand erschossen oder erstochen, erschlagen.“
(Marco)
„Wenn man richtig zusammengeschlagen wird, wenn man fünfmal in den Kopf geschossen
wird oder so, dann ist das schon Gewalt.“ (Beatrice)
„Die Straße ist härter“
Auf die realen Gewalterfahrungen, die das Verständnis von einem `Gewaltfilm´ mitbestimmen, kam nur ein Jugendlicher zu sprechen:
„Film kann man nicht mit der Realität vergleichen. Mit Gewalt. Gewalt auf der Straße ist
viel erschreckender als im Film. Dieser Film hat mit Gewalt zu tun. In dem Sinne, ein Gewaltfilm ist es schon, aber die Straße ist härter.“ (Sven)
„Es gibt noch schlimmere“
Vor diesem Hintergrund versteht es sich, daß „Der Prinzipal“ von der Mehrheit nicht
als „Gewaltfilm“ eingestuft wurde, obwohl viele Jugendliche einzelne Szenen des
Films durchaus als gewalthaltig begriffen. Nach ihrem Verständnis werden in einem
„Gewaltfilm“ die Gewaltszenen einfach aneinandergereiht, was einige aus ihrer Erfahrung mit anderen Filmen zu kennen, die meisten jedoch in Abgrenzung zu bekannten Filmen eher zu konstruieren schienen. In einem Actionfilm wie „Der Prinzipal“ stehen demgegenüber die Handlung und die positive Auflösung des Konfliktes
im Vordergrund.
„Nicht richtig Gewaltfilm. Es waren jetzt schon ein paar Szenen drin, aber die standen jetzt
nicht so im Vordergrund. Ein Gewaltfilm war es nicht richtig.“ (Benjamin)
„Es gibt noch schlimmere. Dieser handelt noch von Problemen, die manche Schüler mit der
Gewalt haben, und woanders passiert nur Gewalt.“ (Marco)
„Teils ja. Bei diesem Film gab es ja wenigstens noch ein Happy End.“ (Nadine)
„Dieser Film hatte ein paar Szenen, in denen war schon ganz schön Gewalt drin. Z.B. wo
einer von oben an den Beinen an einem Seil durch eine Fensterscheibe durchkam. Oder wo
zum Schluß dem einen Jungen in den Kopf geschossen wurde. Sowas ist schon Gewalt. Er
war auch teilweise ein Gewaltfilm. Es waren schon härtere Szenen vorhanden, aber sonst ist
er nicht so sehr schlimm gewesen.“ (Tristan)
22
„Das kann man auch anders machen“
Bei den Mädchen schien die Schwelle zum „Gewaltfilm“ deutlich niedriger zu liegen
als bei den Jungen. Dies mag zum einen darauf zurückzuführen sein, daß die Mädchen im Vergleich über weniger Erfahrungen mit dem Genre verfügen, da einige
angaben, „ so etwas“ nicht häufig zu sehen. Die Mädchen könnten aber auch geringere Hemmungen haben, den Film „Der Prinzipal“ als „Gewaltfilm“ einzustufen, weil
sie damit keine Schwäche verbinden und nicht damit kokettieren müssen, „Härteres“
gewohnt zu sein.
Drei Mädchen kennzeichneten den Film als „Gewaltfilm“, drei andere verstanden
Gewalt auch als dramaturgisches Element, das zur Spannungserzeugung nicht unbedingt erforderlich ist bzw. Spannung sogar ausschließen kann. Was verstanden die
Mädchen unter einem „Gewaltfilm“?
„Der zum Beispiel, der gerade lief. Wenn ich ehrlich bin, gucke ich sowas nicht sehr oft.“
(Daniela)
„Wie der ungefähr. So mit Waffen und sowas. Mit Messern und Drogenhandel, alles sowas.“
(Agnes)
„Dieser war ja eigentlich auch ganz hart von der Gewalt, wie er runtergehangen hat und so.
Eigentlich ist das schon ein Gewaltfilm. Wo er ihn zum Schluß in den Kopf geschossen hat.
Das ist alles Gewalt.“ (Beatrice)
„So einer wie den, den wir vorhin gesehen haben, weil da sehr viel Gewalt vorkam. Damit er
spannend ist, das kann man auch anders machen.“ (Stephanie)
„Mischung aus Spannung und Gewaltfilm, war halt nicht nur Gewalt.“ (Nicole)
„Ja, so halb. Da ist mehr Gewalt drin, aber auch so ein bißchen Spannung. Ein bißchen
Gewaltfilm.“ (Jasmin)
2.1.4.
Die „Angstschwelle“
Um zu erfahren, wie weit Spannung noch als angenehm und positiv erlebt und ab
wann etwas als zu brutal, angstauslösend oder abstoßend empfunden wird, fragten
wir die Jugendlichen nach Sequenzen in diesem Film, aber auch allgemein nach Filmen, bei denen sie Angst hatten. Erwartungsgemäß war diese persönliche „Angstschwelle“ innerhalb der Gruppe sehr unterschiedlich.
„Ich dachte schon, daß er sie abstechen wird“
Einige Jugendliche gaben zu, bei diesem Film Angst gehabt zu haben, und nannten
die zuvor auch als spannend beschriebenen Szenen, in denen positive Figuren massiv
bedroht wurden.
„Angst hatte ich, als der Junge an den Beinen gefesselt und durch die Fernsterscheibe geschmissen wurde. Da hatte ich Angst, daß er umgekommen ist. Und als der Schüler die Lehrerin versucht hat zu vergewaltigen, und zum Schluß, als es diesen Kampf gab mit dem Lehrer.“ (Alexander)
„Wo sie [die Lehrerin] auf dem Tisch lag, dachte ich schon, daß er sie abstechen wird. Ich
würde da nicht gerade gern auf dem Tisch liegen.“ (Alexandra)
23
„Weil ich ja die Logik verstanden habe“
Manche Jugendlichen räumten generell Angstgefühle beim Anschauen eines Films
ein, empfanden bei diesem Film ein solches Gefühl aber nicht, was sie darauf zurückführten, die Konstruktion des Films verstanden bzw. das Fiktive der Handlung
erkannt zu haben. Es spielte dabei für sie eine Rolle, inwieweit die dargestellte Gewalt in eine logisch nachvollziehbare Handlung eingebunden ist bzw. der Film als
„gut gemachter“ erkennbar war.
„Bei der Vergewaltigungsszene hatte ich keine Angst, weil ich ja wußte, daß das nur ein
Film ist.“ (Nadine)
„Angst hatte ich nicht, weil ich ja die Logik verstanden habe.“ (Sascha)
„Angst - das war früher einmal“
Die meisten Jugendlichen wollten sich ein Gefühl der Angst in ihrem Alter jedoch
nicht mehr eingestehen. Starke Spannung innerhalb eines Films bereitet ihnen Vergnügen, für die Entwicklung von Angstgefühlen sind sie ihrer Ansicht nach inzwischen zu alt.
„Das [Angst] war früher einmal, da konnte ich danach nicht mehr richtig schlafen.“ (Tristan)
„Ne.“ [ lächelt abfällig und schüttelt mit dem Kopf ] (Andreas)
„Früher ja, jetzt nicht mehr so.“ (Daniela)
„Ja, früher, mit zehn oder so, da konnte ich keine Krimis sehen. Dann konnte ich nicht mehr
einschlafen.“ (Carl)
„Bei einem Film hat´s mich gegruselt...“
Die früheren Angsterfahrungen im Zusammenhang mit Filmen oder Fernsehsendungen sind individuell sehr unterschiedlich, beruhen jedoch häufig auf dem An- bzw.
Mitsehen eines Films, der sich an ältere Jugendliche und Erwachsene richtet. Deutlich wurde, daß der Filmtitel, aber auch einzelne Szenen, vor allem drastische Gewaltszenen sowie Einzelheiten der Rezeptionssituation gut erinnert werden.
„Früher habe ich einmal „Friedhof der Kuscheltiere“ geguckt, da war ich 10 oder 11 Jahre
alt. Bis zur Hälfte. Einmal und nie wieder.“ (Daniela)
„Die Fliege“, den hab ich aus meinem Gedächtnis gestrichen. (Sascha)
„Damals [bei einem Gruselfilm] ist einem bei Schweißarbeiten die Hand abgefallen und der
dreht sich ins Bild, und da sieht man einen Stümmel, den Stumpf, und da hab ich mich umgedreht und Angst gehabt. Ich konnte nicht einschlafen...“ (Fabian)
„Bei „V und die Außerirdischen“ hatte ich etwas Angst. Die haben immer weiße Mäuse
gegessen. Ich hatte Angst, daß ich auch weiße Mäuse essen muß.“ (Marco)
„Bei einem Film hat´s mich gegruselt: „Freddys Nightmare“. Ich hab das mit meinem Bruder gesehen. Er mußte dann weg, und ich hab´ ihn alleine weitergesehen. Da gab´s Szenen...“. [schüttelt sich] (Andreas)
„Ja, ich hatte mal irgendsoeinen Film, der lief im Fernsehen um 20.15 Uhr, den habe ich mit
meinem Vater gesehen, der war mir dann doch ein bißchen zu viel. Ich weiß nicht mehr, wie
der hieß. Aber da gab es am Anfang gleich fünf Tote, und dann mitten im Film war er nochmal blutig und so ein total blöder Schluß. Das war mir dann doch zuviel. Das war vor zwei
Jahren. Da war ich fast 13.“ (Benjamin)
24
2.1.5
Zusammenfassung: Gewalt, Spannung und Angst
Bereits bei den Antworten der Jugendlichen auf die Fragen, wie „Der Prinzipal“ ihnen gefallen hat, was sie von dem Film erzählen und ob sie ihn weiterempfehlen
würden, fällt auf, daß besonders die Jungen je nach ihrer Gewichtung der Fragen
erstaunlich präzise Genrezuordnungen und Kurzzusammenfassungen formulieren.
Diese Beobachtung untermauert die Aussagen der Jugendlichen im Mediensteckbrief
bezüglich ihrer Lieblingsfilme und -genres. Da die Jungen ohnehin öfter und lieber
actionorientierte Filme rezipieren, können sie deren Inhalte routinierter in Worte fassen, wobei sie das Muster des Genres mit den Begriffen „Spannung“ und „Action“
betonen. Die Mädchen heben demgegenüber den Inhalt des Films hervor, z.B. durch
den Vergleich mit „Dangerous Minds“. Sie verfügen offensichtlich nicht über ausgeprägte Genrekenntnisse und antworten teilweise unsicherer. Einige von ihnen beantworten von den gestellten Fragen lediglich die, ob sie „Der Prinzipal“ weiter empfehlen würden, und verhalten sich hierbei eher ausweichend und unentschlossen.
Von fast allen Schülerinnen und Schülern wird auf die Frage, an welche Szene sie
sich besonders gut erinnern können, eine Gewaltszene beschrieben. Sobald eine
Wertung in die Antwort einfließt, sind wieder deutliche Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen festzustellen. Während die Jungen die entsprechenden Szenen mit
Begeisterung schildern und bewerten, was durch Zusätze wie „das war gut gemacht“,
„spannend“ oder sogar „lustig“ deutlich wird, sind die Mädchen eher zurückhaltend.
Sie bewerten die betreffenden Szenen teilweise als „schlimm“ oder vorsichtiger als
„nicht gerade schön“. Besonders bei der Erwähnung der Vergewaltigungsszene wirken einige im Vergleich zu den Jungen geradezu betroffen und ängstlich. Ein Mädchen erinnerte sich sogar ausschließlich an die Vergewaltigungsszene, die lediglich
von einem Jungen – auf die Frage nach ängstigenden Szenen im Film - genannt wird.
Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern in Mediennutzungsgewohnheiten und
–motiven und im Umgang mit bzw. im Erleben von bestimmten Medieninhalten sind
wichtiges Ergebnis – und häufig Ansatzpunkt – geschlechtsspezifischer Rezeptionsforschung. Renate Luca beispielsweise stellt in bezug auf Horror- und Gewaltvideos
fest, daß männliche Jugendliche diese Genres bevorzugen (vgl. Luca 1991; 1993)
und kommt zu dem Ergebnis, daß „nicht Jugendliche als solche, sondern immer Jungen oder Mädchen fernsehen“ (Luca 1991, S. 113).7
Die Vorliebe männlicher Jugendlicher für gewaltorientierte Genres wird damit begründet, daß bei der überwiegenden Zahl der Filme die Helden, die gewaltsam sich
oder anderen zu ihrem Recht verhelfen, Männer sind und „Mädchen und Frauen weniger Lust auf eben diese massenhaft verbreiteten Männerbilder haben“ (a.a.O., S.
116). „Die meisten Filme in Videotheken oder im täglichen Fernsehprogramm sind
jedoch Produkte männlicher Phantasien von Kampf und Krieg ... Männer sind die
(Film-)Helden, sei es im Guten wie im Bösen. Der Kampf zwischen den Verkörperungen dieser beiden Prinzipien findet fast immer in der Außenwelt statt“ (Büttner
7
Die Kategorisierung als Horror- und Gewaltvideo ist in dem Zusammenhang der Untersuchung allerdings fragwürdig. Bei den ausgewählten Filmbeispielen – „Blutiger Sommer - Das Camp des Grauens“ und „Das Grauen kommt um 10“ –
handelt es sich nicht um reine Videoproduktionen, sondern um Kinofilme, die von der FSK mit „freigegeben ab 16 Jahren“
gekennzeichnet worden sind. Auch wenn der erste Film die Autorin „vom Schauplatz der Handlung her an den bekannten
indizierten Horrofilm Freitag der 13.“ erinnert (Luca 1996, S. 16), ist damit eine Vergleichbarkeit der Filme in bezug auf ihr
Gewaltpotential nicht hinreichend begründet.
25
1990, S. 37). Da dieser Kampf grundsätzliche Probleme des Mann-Seins verbildliche, wie sich „außerhalb der Familie den ´Gefahren´ des Alltags(-dschungels) aussetzen“ zu müssen (a.a.O., S. 38), entsprechen derartige Filme eher der männlichen
Vorstellung von Auseinandersetzung mit der Welt als der weiblichen, die auf die
Innenwelt der Beziehungen gerichtet sei.
Ähnlich argumentieren Elisabeth Klaus und Jutta Röser (1996), deren Ansatz Maya
Götz in ihrem Beitrag über Serienvorlieben von Mädchen und Jungen ausführt (vgl.
Götz 1997). Demnach knüpfen die von männlichen und weiblichen Jugendlichen
bevorzugten Angebote an ihren jeweiligen Kommunikationsstil an. Dem weiblichen
Kommunikationskonzept von „Interaktion / Beziehung / Gemeinschaft“ wird das
männliche von „Aktion / Besonderung [das Herausstellen der eigenen Fähigkeiten,
das Demonstrieren von Überlegenheit] / Sieg“ gegenübergestellt (a.a.O., S. 28ff.).
Nach einer Analyse der Nutzungsdaten arbeitet Götz heraus, daß sich „eine prinzipielle geschlechtsspezifische Präferenz, in Abhängigkeit zu bestimmten Grundstrukturen von Sendungen“ (Götz 1997, S. 28) wie den vorherrschenden Kommunikationsstilen andeutet. Dies trifft vor allem für die Mädchen zu: Es scheint eher
„Mädchen-“ als „Jungenserien“ zu geben, also Angebote, die besonders die Mädchen
ansprechen. Auf der anderen Seite findet sich selbst „bei den Serien, die scheinbar
deutlich „Mädchen-“ bzw. „Jungenserien“ zu sein scheinen, wie Unsere kleine Farm
oder Space 2063 ... immer auch ein nicht zu unterschätzender Anteil des anderen
Geschlechtes unter den Zuschauenden“ (a.a.O., S. 30). Dies deutet darauf hin, daß
die Kategorie „Geschlecht“ in bezug auf Medienpräferenzen zwar ein wichtiger
Faktor, nicht jedoch alleiniger Erklärungsansatz sein kann.
Götz schließt mit der Überlegung, daß Medienpräferenzen sich möglicherweise über
– zwar nicht geschlechterunabhängige aber –übergreifende – Cluster wie „Stile“ erschließen lassen, denn „was Serien zu „Mädchen-“ oder „Jungenserien“ macht ... ist
weniger eindeutig die Nutzung der Angebote als der Diskurs, der die Bipolarität als
Grundkonstante voraussetzt“ (ebda.).
Es erschien uns wichtig, diese Überlegungen auszuführen, um einer voreiligen Interpretation der Angaben im Mediensteckbrief und der Interviewaussagen entgegenzuwirken. Wenn sich hier auch Tendenzen einer geschlechtsspezifischen Orientierung
in Genrevorlieben ausmachen lassen, ist eine eindeutige Zuordnung ganzer Genres
zu entweder einem oder dem anderen Geschlecht auf Grundlage dieser Aussagen
sicher nicht zulässig. Die von den Mädchen mehrfach und von den Jungen kein einziges Mal genannte Daily Soap „Alle unter einem Dach“ beispielsweise erreicht bei
männlichen Jugendlichen einen Marktanteil von 43,3% (a.a.O., S. 28).
Berücksicht man diese Nutzungszahlen scheinen männliche Jugendliche diese – oder
andere – beziehungsbetonte Sendungen also durchaus zu rezipieren, sie aber nicht als
ihre Favoriten anzusehen bzw. anzugeben. Daß die Jungen derartige Sendungen nicht
erwähnen, könnte schließlich auch darauf zurückzuführen sein, daß sie ihre Antworten entsprechend der Erwartungen an ihre Rolle formulieren. Obwohl sich für den
umgekehrten Fall – z.B. Nennung einer beliebten Actionsendung seitens eines Mädchens – in den Mediensteckbriefen und Gesprächen weniger Beispiele finden lassen,
erscheint es mit Blick auf die angeführten Daten zur Seriennutzung sinnvoll, nicht
von einer eindeutigen Genreverteilung entlang der Geschlechtergrenze auszugehen,
durchaus aber von einer unterschiedlichen Faszination, die bestimmte Genres für
Jungen und Mädchen haben. Diese liegt selbstverständlich auch in gesellschaftlichen
Zuschreibungen begründet, beispielsweise in dem Image von der „moralischen Gut26
artigkeit der Frau“, das dazu führen kann, daß Mädchen ihre Aggressivität verdrängen (vgl. Luca 1991, S. 115). Angesichts veränderter Frauen- und Männerbilder –
auch in den Medien - und einer Vielzahl alternativer Lebensentwürfe sollte jedoch
auch gefragt werden, inwieweit sich für Mädchen und Jungen Sinnangebote und Orientierungsmöglichkeiten zwischen den Extrempolen „männlich“ und „weiblich“ ergeben können. Für zukünftige Studien wäre in diesem Zusammenhang beispielsweise interessant, auf welche Aspekte beziehungs- und actionbetonter Genres sich die
Aufmerksamkeit männlicher und weiblicher Jugendlicher richtet und inwieweit
mögliche Unterschiede von anderen Faktoren, z.B. dem sozialen Status oder dem
Bildungsstand, beeinflußt werden.8
Neben Unterschieden in der Nutzungshäufigkeit der Genres werden in verschiedenen
Studien auch unterschiedliche Erlebensweisen von Mädchen und Jungen festgestellt.
Zeichnungen, die Jungen und Mädchen nach Betrachten eines Horrorfilmes erstellt
haben, deuten auf „Erlebnisqualitäten von Machtlosigkeit bis hin zur Ohnmacht“ bei
den Mädchen (Luca 1991, S. 138). Sie schienen sich eher mit den Opfern zu identifizieren, während die Jungen die Taten in den Vordergrund stellten, die Mordwerkzeuge nannten oder sich auf die Filmdramaturgie bezogen. Demnach bestehen weniger Unterschiede in der Häufigkeit von Aggressionsphantasien, sondern vielmehr in
der Häufigkeit von Angstphantasien: „Es liegt nahe, daß Bilder von Vergewaltigungen, Verfolgungen und Verstümmelungen bei Mädchen eher gesellschaftlich bedingte Ängste reproduzieren als bei Jungen. Die Inhalte der Filme bilden sich im
Erleben der Jugendlichen entsprechend ihrer gesellschaftlichen Geschlechtsrolle ab“
(a.a.O., S. 137f.).
Zu ähnlichen Ergebnissen kommen Jutta Röser und Claudia Kroll (1995) in ihrer
Befragung erwachsener Zuschauerinnen und Zuschauer. Frauen geben eher an, Bedrohungsgefühle vor dem Bildschirm zu kennen, Gewaltdarstellungen sind für sie
meist eine Frage der Angst. Erklärt wird dies mit der geschlechtsbezogenen Inszenierung der Gewaltszenen, die reale weibliche Ängste aktivieren. Gewaltdarstellungen
im Fernsehen könnten diese realen Bedrohungsgefühle und das Gefühl von Hilflosigkeit von Frauen daher verstärken.
Auf derartige Unterschiede in der Wahrnehmung und im Erleben von Gewalt deuten
auch die Antworten im Mediensteckbrief und in den Interviews. Jungen wie Mädchen nennen zunächst zwar Messerstechereien und Schießereien als Gewaltformen,
darüber hinaus geben die Jungen aber eher Tötungs- und Waffenarten, die Mädchen
verschiedene Grade der Gewaltanwendung an. Gefühle der Angst verlagern die Jungen entweder in die Vergangenheit oder sie betonen Aspekte, die sich aus der Handlung oder der Dramaturgie eines Films ergeben, wie „Schreckeffekte“, „Horrorfiguren“ oder drastische Gewaltdarstellungen. Demgegenüber richten die Mädchen ihren
Blick eher auf wehrlose Opfer und empfinden Angst, wenn z.B. kleine Kinder, Tiere
oder `gute´ Menschen bedroht werden.
Besonders auffällig ist der Unterschied bei der Wahrnehmung der Vergewaltigungsszene, auf die fast alle Mädchen eingehen, während nur ein Junge sie nennt. Die me8
Der Frage, was männliche und weibliche Jungendliche an Actionfilmen fasziniert und inwieweit sich Unterschiede
in bezug auf den Bildungsstand ergeben geht Monika Reimitz (1987) am Beispiel von „Rambo“ und Rocky“ nach. Befragt
wurden allerdings nur zwei männliche Jugendliche, die das Gymnasium besuchten, sowie zwei männliche und eine weibliche
Jugendliche aus sozialen Brennpunkten. Die Ergebnisse – die Jungen bevorzugen die „Rambo“-Figur, sind fasziniert vom
Einzelkämpfertum und „identifizieren sich ... mit dem zunächst verkannten bzw. gequälten und als underdog behandelten
Helden, der es später allen heimzahlt“ (S. 50); das Mädchen bevorzugt „Rocky“ und betont die „Mischung aus `Gefühl und
Härte´“ sowie die „gute Behandlung, die Rocky seiner Frau zukommen läßt“ (S. 55) – sind daher nicht verallgemeinerbar (vgl.
Reimitz 1987).
27
diale Darstellung weiblicher Opfer wird offensichtlich von Frauen anders und besonders intensiv empfunden.
Dies dürfte vor allem in bezug auf Darstellungen zum Tragen kommen, die Wirklichkeitsbereiche abbilden, welche in der Realität geschlechtsspezifisch ausgeprägt
sind. „Das Phänomen „Gewalt“, der Umgang damit und die Erscheinungsformen von
Gewalt in unserer Gesellschaft zeigen deutlich geschlechtsspezifische Prägungen“
(Luca 1996, S. 13). Dementsprechend bilden sich die „Inhalte der Filme ... im Erleben der Jugendlichen entsprechend ihrer Geschlechtsrolle ab“ (a.a.O., S. 16).
Wie wenig die Jungen sich in die Situation des Vergewaltigtwerdens hineinversetzen
können bzw. dieser Situation Bedeutung beimessen, zeigt besonders die Aussage
eines Jungen zu einer späteren Interviewfrage. Er hält die Lehrerin, die nach der versuchten Vergewaltigung die Schule verläßt, schlicht für feige.
28
2.2.
Gewalt im Handlungskontext
2.2.1.
Identifikation mit den Figuren des Films
Um mit den Jugendlichen darüber ins Gespräch zu kommen, inwieweit der Film für
sie attraktive Identifikationsangebote bietet und welche Interpretationsmöglichkeiten
er in bezug auf die handelnden Protagonisten zuläßt, befragten wir sie zunächst danach, welche Personen aus dem Film ihnen besonders sympathisch bzw. unsympathisch erschienen.
„Der Typ, der nur Gewalt im Kopf hat“
Recht eindeutig benannten sie den im Film negativ besetzten Bandenführer Victor als
äußerst unsympathisch.
„Der eine von der Gang, der Anführer, der hat mir überhaupt nicht gefallen. Der paßte gut
für die Rolle, aber der war mir richtig unsympathisch.“ (Tristan)
„Bei Leuten, die selbst in einer Bande sind, kann das vorkommen, daß die ihn gutfinden,
muß aber nicht passieren.“ (Jasmin)
„Der ist ein Typ, der nur Gewalt im Kopf hat. Er denkt, er ist der King, er könnte bestimmen,
was er macht und was die Lehrer machen.“ (Sven)
„Ich hab´ eher auf die Nebendarsteller geguckt“
Demgegenüber war die Palette der Sympathieträger wesentlich breiter gefächert. Auf
die Frage, welche Personen den Jugendlichen sympathisch erschienen, wurde jede
positiv besetzte Figur mehrfach genannt, auch wenn sie nur sehr kurz im Film vorkam. Die Schülerinnen und Schüler nahmen auch die Randfiguren der Filmhandlung
sehr genau wahr und verfolgten ihr Verhalten und ihre Absichten aufmerksam.
Als interessant und sympathisch erwiesen sich Figuren, wenn sie sich hilfsbereit gegenüber Schwächeren bzw. mutig gegenüber Stärkeren zeigten, aber dabei nicht frei
waren von eigenen Schwächen und sich Verletzlichkeit oder Ängste zugestehen
konnten.
Beispiele hierfür sind der Mann vom Wachdienst, der sich „raushalten“ möchte, sich
letztlich aber doch verantwortlich fühlt; der kleine Junge, der nicht lesen kann; der
einsichtige Bandenaussteiger Emil, der von seinen ehemaligen Freunden fürchterlich
zugerichtet wird und die Lehrerin Ms. Orozco, die nur knapp einer Vergewaltigung
durch einen Schüler entgeht, erst ihren Dienst an der Schule wieder aufnimmt und
sich schließlich doch an einer anderen Schule bewirbt. Nur ein Schüler (!) beurteilte
ihr Verhalten als unsympathisch.
„Ich habe eher auf die Nebendarsteller geguckt. Der Direktor war auch ganz gut, aber ich
hab die anderen besser gefunden.“ (Fabian)
„Der Aufpasser hat mir gefallen. Einerseits will er sich raushalten, auf der anderen Seite
mischt er sich ein.“ (Sascha)
„Den kleinen Jungen, der noch lesen gelernt hatte, fand ich sympathisch. Man hat mitbekommen, wie andere Macht darüber haben können, einen niederzumachen. Fand ich toll,
wie er sich dagegen gewehrt hat.“ (Nicole)
„Der kleine Junge, der dem Direktor am Schluß mit dem Baseballschläger geholfen hatte,
den fand ich sehr sympathisch.“ (Jennifer)
29
„Den einen Dicken [Emil] fand ich ganz niedlich ... Also den fand ich sehr mutig. Wenn ich
von so einem Bandenchef bedroht werden würde, würde ich auch lieber meinen Mund halten, bevor ich auch dran bin.“ (Nadine)
„Er [Emil] war ja auch bei der Bande von Victor mit bei, bloß, es tat ihm hinterher leid.“
(Sven)
„Die eine Lehrerin, die angegriffen wurde und dann doch wieder an die Schule kam.“ (Nicole)
„Die [Lehrerin] war feige. Die anderen sind ja auch nicht gegangen. Der Direktor z.B. hat
ja schließlich eine Morddrohung bekommen.“ (Carl)
„Der da die Hauptrolle hatte, der war sympathisch“
Die Figur des Schuldirektors Rick wird im Film als zentrale positive Identifikationsfigur aufgebaut. Der Direktor möchte das Beste für seine Schule und wendet sich
gegen die dort herrschenden Verhältnisse, wodurch auch die von ihm ausgehende
Gewalt relativiert wird. Dieser Zusammenhang war maßgeblich für die 16erFreigabe des Films durch die FSK. Die Schnittauflagen, an die die Freigabe gekoppelt wurde, beziehen sich ausnahmslos auf Szenen, in denen die Gewalt von dem
Schuldirektor Rick ausgeht. Durch diese Schnitte - so die FSK - „werden einige Gewaltszenen erträglicher gemacht, so daß die Identifikation mit dem ´nur das Gute
wollenden´ Lehrer überwiegen und stärker hervortreten“ würde.
Immerhin die Hälfte der Jugendlichen fand die Person des Direktors zunächst interessant oder sympathisch, bezog sich z.T. aber auf die Rolle oder den Schauspieler.
„Den Lehrer fand ich sehr gut, also den Direktor.“ (Agnes)
„Ja, den Lehrer fand ich ganz nett. Wie er sich da so aufgespielt hat, fand ich interessant.“
(Beatrice)
„Mir war der Direktor, der da die Hauptrolle hatte, sehr sympathisch, weil der gut reagiert
hat. Das haben die im Film gut gemacht, so daß er die Rolle, die er im Film hatte, gut ausgenutzt hat.“ (Tristan)
„Der James Belushi, der den Direktor spielt, der ist sehr gut, der hat sehr viele Witze hinter.“ (Sven)
2.2.2.
Das Verhalten des Direktors
Das Verhalten des Schuldirektors Rick ist insofern ambivalent, als es den Konflikt
zwischen Mißbilligung und gleichzeitiger Anwendung von Gewalt widerspiegelt. Er
handelt in Notwehr und schlägt erst zurück, als ihm Gewalt entgegengebracht wird.
Das FSF-Gutachten macht deutlich, daß diese Konstruktion - die Legitimierung des
gewalttätigen Handelns durch eine Notwehrsituation - in vielen Actionfilmen als eine
gängige Alibifunktion benutzt wird, um Gewalttaten und Brutalitäten zu präsentieren.
Im Falle des „Prinzipal“ relativiere jedoch der dramaturgische Kontext dieses problematische Verhalten, d.h. der außer Kontrolle geratene Schulalltag und die Gesamtaussage des Films, die sich eindeutig gegen Gewalt wendet. Oberflächlich betrachtet
präsentiere der Film zwar einseitig an Gewalt orientierte Konfliktlösungsmuster, die
klare Unterscheidung zwischen „guten“ und „bösen“ Gewaltanwendungen, zwischen
Deeskalation und Eskalation gewährleiste jedoch die notwendige moralische Orientierung im Filmgeschehen.
30
Wie nehmen Jugendliche diese Konstruktion wahr? Wie beurteilen sie den Schuldirektor Rick als Identifikationsfigur und sein gewalttätiges Verhalten im Gesamtkontext? Erscheint die von Rick ausgehende Gewalt als Notwehrmaßnahme in einer
ausweglosen Situation, oder gibt es Handlungsalternativen? Richtet sich die Gesamtaussage des Films für die Jugendlichen eindeutig gegen Gewalt?
Bei der Beurteilung von Ricks Verhalten gab es unterschiedliche Ansichten.
„Was er gemacht hat, war schon o.k.“
Viele erkannten die Maßnahmen des Direktors als Notwendigkeit, die durch die Zustände gerechtfertigt werden, und unterschieden deutlich zwischen „guter“ und „böser“ Gewalt:
„Der eine Schüler hat ja alle geschlagen, das war schon Gewalt. Aber was der Lehrer gemacht hat, der hat ja auch manchmal geschlagen, das war o.k.“ (Jennifer)
„Er dreht ein bißchen zu schnell durch, aber ansonsten hat er eine gute Einstellung vom
Denken her. Indem er da Ordnung reingebracht hat, hat er den Schülern ja auch geholfen,
obwohl die das nicht so gesehen haben. Aber trotzdem hat es ihnen geholfen.“ (Nicole)
„Er hat eigentlich alles richtig gemacht.“ (Alexander)
„Er wollte ja Vertrauen zu den Schülern aufbauen, und er wollte ja auch den Schülern helfen, damit sie gut in der Schule werden. Aber die wollten das nicht annehmen.“ (Beatrice)
„Er hat sich am Anfang nicht so richtig zurechtgefunden in der Schule, weil er es nicht gewohnt war, mit solchen Schülern umzugehen.“ (Tristan)
„Alles, was er gemacht hat, war schon o.k. Er mußte die Schule von der Gewalt befreien. Er
wollte eine ordentliche Schule und nicht so einen Dreckshaufen. Er hat nur versucht, den
Leuten zu sagen, daß es eine ordentliche Schule wird und keine Schule für Jux und Tollerei.“
(Sven)
„Das darf ja eigentlich ein Direktor nicht machen“
Andere Jugendliche beurteilten das Verhalten Ricks eher ambivalent. Sie sahen die
Maßnahmen des Schuldirektors zwiegespalten und waren der Meinung, daß die Situation nicht in jedem Fall diese Mittel rechtfertigte:
„Der Direktor hatte verschiedene Seiten. Auf die eine Art war er sympathisch und auf die
andere Weise auch wieder nicht so besonders. Sympathisch z.B., wie er sich für andere eingesetzt hat, aber unsympathisch, weil er ja schnell jähzornig geworden ist und schnell
drauflosgehauen hat. Als er mit seinem Baseballschläger bewaffnet auf dem Motorrad gefahren ist, da sah er aus wie ein Schläger, wie: ‘Wer mir in die Quere kommt, dem haue ich
eine runter!’ Das fand ich dann doch ein bißchen übertrieben.“ (Benjamin)
„Ich fand es nicht so gut, daß er die Schüler zu einigen Sachen zwingt und ihnen droht.“
(Andreas)
„Daß er manchmal die Schüler geschlagen hat, fand ich nicht gut.“ (Jennifer)
„Wie er da auf den Jungen losgegangen ist, o.k., der hat ihm auch gedroht, aber das darf ja
eigentlich ein Direktor nicht machen, mit einem Baseballschläger auf den losgehen.“ (Daniela)
31
„Der sitzt nicht nur im Büro rum“
Viele der befragten Jugendlichen würden sich für ihre eigene Schule einen Direktor
wie Rick Latimer wünschen, da die bestehenden sozialen Probleme der eigenen
Schule, die sich jedoch von der Intensität nicht mit den im Film dargestellten vergleichen lassen, auf zwar gewaltvolle, aber effektive Art angegangen würden:
„Ich würde auch gern so einen Rektor an der Schule haben, weil bei uns rauchen schon die
Dritt- und Viertklässler - das sollte man verbieten.“ (Alexandra)
„Ja, ich finde den besser als so einen Krawattenhengst.“ (Fabian)
„Wir haben ja gar nicht so einen schlechten Direktor, aber wenn der bei uns wäre, wär´
auch nicht schlecht. Ich meine, er hat ja Ordnung in die Schule gebracht, und das ist schon
vernünftig.“ (Beatrice)
„Ja, der im Film ist besser. Der setzt sich richtig ein für Schule. Der sitzt nicht nur im Büro
rum und sagt: ‘Jetzt könnt ihr nach Hause gehen’.“ (Carl)
„Die Lehrer sind nicht so wie James Belushi, die reden einfach nur, die setzen das nicht in
Wirklichkeit um. Die sagen: ‘Das und das machst du jetzt!’ Aber James Belushi hat alles,
was er gesagt hat, auch zu Tatsachen gemacht. Der könnte an unserer Schule richtig aufräumen.“ (Sven)
„Ich möchte doch lieber einen Normalen haben, keinen Helden“
Für andere wäre Rick an der eigenen Schule keine Alternative zum momentanen
Direktor.
„Aber ich möchte doch lieber einen Normalen haben, keinen Helden.“ (Nadine)
„Ich möchte nicht so einen Direktor haben, weil er so schnell ausrastet. Und wenn er wütend
war, hat er auch Gewalt angewendet - das muß nicht sein.“ (Nicole)
„Ich würde eine Mischung nehmen. Aber wenn ich mich entscheiden muß, dann doch lieber
unseren.“ (Benjamin)
„Er hätte sich aus der Sache auch raushalten können“
Insgesamt zeigte die Mehrheit der Jugendlichen für die schwierige Lage des Direktors Verständnis. Bei der Frage nach Handlungsalternativen verwiesen viele darauf,
daß alle anderen, gewaltfreien Methoden im Film als mehrfach erprobt und gescheitert dargestellt wurden, die Situation für Rick also aussichtslos gewesen sei. Dementsprechend zogen die meisten als alternative „Lösungsmöglichkeit“ lediglich in Betracht, sich der Situation zu entziehen. Sie bewunderten Ricks Leistung und seinen
Mut, sich den Problemen an der Schule überhaupt zu stellen:
„Ich möchte seinen Job nicht haben, weil zusammenschlagen lassen, das ist nicht so mein
Ding. Ich würde das nicht machen, würde den Schwanz einziehen und mir eine andere Stelle
suchen. Er hätte sich aus der Sache auch raushalten können. Es hatten wahrscheinlich schon
andere Direktoren an dieser Schule probiert, die sind wahrscheinlich alle gescheitert.“ (Sascha)
„Er hätte einfach alles so liegenlassen können, ist ja nicht sein Ding.“ (Nadine)
„Ich glaube nicht [daß er anders hätte handeln können], weil er es nicht gewohnt war, so zu
handeln. Dieser Sicherheitsmann, der wußte ungefähr, wie man mit denen umgehen sollte,
aber der Direktor wußte überhaupt nicht, wie er darauf reagieren sollte.“ (Tristan)
32
„Sie haben den Direktor ja ganz alleine gelassen“
Es wurde nur eine Alternative zu Ricks Vorgehensweise angesprochen, die darauf
verweist, gemeinsam mit den anderen eine Lösung entwickeln zu können.
„Meiner Meinung nach hätten sich die anderen Lehrer, die an der Schule waren, mehr einsetzen müssen. Sie haben den Direktor ja ganz alleine gelassen.“ (Nicole)
„Ich hätte alle Lehrer und Sonstige, die da arbeiten, in einen Raum geholt und mal guckten,
wie die so drauf sind. Und dann hätte sich ja entschieden, was man machen kann. Aber
wahrscheinlich wäre ich gar nicht in so eine Schule gegangen.“ (Benjamin)
„Wie ein Film halt so ist ...“
Einige Jugendliche lösten sich bei der Bewertung von Ricks Verhalten von der Filmebene und verwiesen darauf, daß es sich bei dem Direktor nur um eine fiktive Filmfigur handele, die sie nur bedingt für realistisch halten:
„Der Direktor ist in dem Film überzogen dargestellt, die gibt´s nicht wirklich. So ein Powerman, der die Schule in Ordnung hält und so, is´ nich´. Die meisten würden sich auch nur
ins Lehrerzimmer setzen und Zeitung lesen. Aber ist schon schön, wie er das so hingekriegt
hat. Wie ein Film halt so ist.“ (Andreas)
„...er war so bißchen ein Angeber,... fühlte sich so wie ein Obercooler. Aber er hat´s ja ganz
gut gemeistert, seine Rolle. So ein Rektor, der immer gleich eingreift, Nachhilfe gibt usw.,
das ist zwar ganz nett, aber das würde wohl kein Rektor der Welt machen.“ (Sascha)
2.2.3.
Zusammenfassung: Gewalt im Handlungskontext
Aus den Antworten auf die Fragen zu den handelnden Personen im Film ließ sich
kaum eine Identifikation der Jugendlichen mit einer Figur herauskristallisieren.
Auf die Frage, ob sie sich in eine Person hätten hineinversetzen können, gaben die
Jugendlichen ausnahmslos eine verneinende Antwort oder bezogen sich auf früher
rezipierte Filme. In diesem Zusammenhang wurde beispielsweise Tom Cruise in
„Top Gun“ genannt oder auch „ein Film auf Premiere“, dessen Titel nicht erinnert
wurde. Nur in einigen Fällen ließen sich die Formulierungen der Jugendlichen meistens Antworten auf eine allgemeinere Frage - als Identifikation mit einer Filmfigur deuten, jedoch nicht mit dem Protagonisten. Gemeint sind hiermit Aussagen wie
„Hätte ich auch gemacht...“ oder „Ich wäre auf den Vorschlag eingegangen.“, wobei
die erste Äußerung von einem Mädchen stammt und sich auf Ms. Orozco bezieht, die
zweite von einem Jungen, der das Verhalten von Emile nachvollziehen kann. Ansonsten verteilen die Jugendlichen lediglich Sympathien und Antipathien und beurteilen auch die Handlungsweisen des positiv besetzten Schuldirektors Rick Latimer
sehr kritisch bezüglich seiner Gewaltanwendung und auffallend distanziert. Die Figur scheint mit zu vielen abzulehnenden Aspekten in Szene gesetzt zu sein, als daß
für die Jugendlichen eine Identifikation naheliegend wäre. Offensichtlich verhindert
die Rolle des Lehrers bzw. des Schuldirektors eine emotionale Nähe zu der Figur.
Diese Funktion Ricks scheint für die SchülerInnen (!) bedeutender zu sein als die
jugendlichen Attribute, die der Figur zugeschrieben werden.
33
Unter 2.3. haben wir die Auswahl des Filmes „Der Prinzipal“ mit Bezug auf den Ansatz der ´handlungsleitenden Themen´ begründet. Wir waren davon ausgegangen,
daß der Plot und vor allem die unterschwelligen Handlungsmotive der Hauptfigur
Jugendlichen Themen anbieten, die in ihrer Lebenssituation bedeutsam sind. Wir
vermuteten beispielsweise, daß Ricks Suche nach einer Identität, sein Wunsch, Verantwortung zu übernehmen und eine Stellung in der Gesellschaft zu finden oder seine Unfähigkeit, gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen die Aufmerksamkeit
und Sympathien Jugendlicher auf sich lenken und zur Identifikation anreizen würde.
In den Interviews zeigte sich, daß Rick zwar Sympathiefigur ist, was durch die dramaturgische Anlage des Films kaum verwundert, die Jugendlichen die Problematik
in Verbindung mit der Rolle eines Lehrers jedoch nicht auf ihr eigenes Leben übertragen. Im Film geht es um eine erwachsene Person, die selbstverschuldet durch (von
den Jugendlichen kritisierte) Gewalthandlungen an der Gesellschaft scheitert, an deren Rand gedrängt wird und diese Situation bewältigen muß. Die Handlung spielt
sich für den Protagonisten in einem ganz anderen Lebensabschnitt ab als dem der
Jugendlichen. Vor allem aber ist aus Perspektive der Schülerinnen und Schüler die
Person eines Lehrers in der Realität überwiegend mit Konflikten verbunden. Entsprechend kritisch beurteilen sie sein Verhalten, obwohl der Film dies nicht nahelegt.
2.3.
Bezug zur Realität
Der fehlende Bezug einer Filmhandlung zur Realität von Kindern und Jugendlichen
wird häufig als entlastend gewertet. Im Falle des „Prinzipal“ hält nach Meinung des
FSF-Ausschusses die „Darstellung der hoffnungslosen Realität amerikanischer Vorstädte dem Vergleich mit hiesigen Verhältnissen nicht stand“, so daß die „Möglichkeit zur Nachahmung und/ oder Glorifizierung dieser Realität ... für die hier lebenden
Jugendlichen weitgehend ausgeschlossen“ werden kann.
Wie bei der Beurteilung des Schuldirektors deutlich wurde, relativierten einige Jugendliche sein Verhalten, indem sie auf die Fiktionalität des Gesehenen verwiesen.
Uns interessierte daher, inwieweit die dargestellte Filmsituation eine Übertragung
auf die Lebensverhältnisse der Jugendlichen zuläßt. Zunächst wurde danach gefragt,
ob die Situationen im Film realistisch seien und reale Verhältnisse widerspiegeln
oder ob es sich um eine rein fiktive Geschichte handelt.
„Das ist ja in Amerika heute so“
Einige der Jugendlichen stuften die Geschichte als durchaus realistisch ein, verwiesen diese Realität aber in die USA. Mehrheitlich die Jungen waren der Auffassung,
daß die im Film geschilderten Verhältnisse in Amerika herrschen. Einige Mädchen
zweifelten schon eher am `dokumentarischen Charakter´ der Filmstory:
„Ja, das ist wahr, ich denke mir, daß das nach einem wahren Prinzip aufgebaut wurde. Das
ist ja in Amerika heute so, die Ghettos sind dort so. Dort laufen die in der Schule nicht mehr
nur mit Messern durch die Gegend, sondern haben hier, hier und hier [zeigt in den Hüftbereich] ´ne Kanone versteckt. Leider und Gottseidank war ich noch nie in Amerika.“ (Andreas)
„In Amerika, in einem Randbezirk im Schwarzenghetto, könnte das schon sein.“ (Benjamin)
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„Ja, das was im Film gezeigt wurde, gibt es. Es wurden ja mal Lehrer angegriffen von
Schülern, irgendwo in Berlin. Aber da war es nicht so schlimm. Im Film haben sie den Lehrer ja fast umgebracht. Da haben sie den Lehrer nur in den Rücken gestochen.“ (Carl)
„Ja, könnte ich mir vorstellen.“ (Jasmin)
„Könnte so vorgekommen sein. Also ich weiß es nicht, ich hab es noch nicht erlebt.“ (Nicole)
„Ich glaub nicht. So, daß man sich in die Haare kriegt oder mal einen schlägt, aber nicht,
daß man den fast umbringt oder so, das würde, glaube ich, nicht sein.“ (Beatrice)
„Nicht hier in Deutschland“
Fast alle Jungen und Mädchen meinten, daß die dargestellten Verhältnisse in
Deutschland nicht existieren:
„In Deutschland geht es nicht so chaotisch zu.“ (Sascha)
„Vielleicht in irgendeinem anderen Staat, aber nicht hier in Deutschland.“ (Nadine)
„Mal so eine kleine Klopperei oder Einzelkampf, das ist ja alltäglich, das gibt’s ja täglich
überall, aber nicht gleich abstechen und erschießen, das gibt es nicht bei uns in deutschen
Schulen.“ (Fabian)
„Nein, glaube ich nicht, kann ich mir nicht vorstellen.“ (Agnes)
„Wenn man nicht macht, was der Chef sagt, dann gibt´s Streß“
Einige der Jugendlichen räumten allerdings ein, daß ihnen einzelne Situationen im
Film bekannt vorkamen. Sie sahen - je nach ihrer persönlichen Erfahrung - wesentlich mehr Bezüge und Parallelen zur eigenen Lebenswelt:
„Wenn sich da welche prügeln, so Gangs untereinander, sowas gibt es bei uns an der Schule
auch, jetzt zwar nicht an der Schule, aber außerhalb. Bei den Gropius-Passagen, da rennen
auch ganz viele aus meiner Schule rum, da höre ich ab und zu, wie sich da welche geprügelt
haben und jemand überall blaue Flecken hatte. Sowas in der Art habe ich schon gehört.“
(Tristan)
„Ich kenne auch welche, die mit Drogen was machen. Banden gibt’s da auch. Beim Aussteigen passiert da einem auch das, was im Film passiert ist. Man kann ihn unterstützen, wenn
man sich mit anderen zusammentut.“ (Jasmin)
„Daß irgendjemand die rechte Hand hochbehalten möchte. Wenn man es nicht macht, was
der Chef sagt, dann gibt´s Streß. Ich mische mich da aber nicht ein. Ich bin lieber mittelmäßig.“ (Nadine)
Die Antworten bestätigen die Einschätzung des FSF-Ausschusses hinsichtlich der
Übertragbarkeit der Filmsituation auf die Lebenswelt der Jugendlichen. Für die
meisten ist die Filmgeschichte von der eigenen Realität weit entfernt, so daß es ihrer
Meinung nach vergleichbare Verhältnisse in Deutschland nicht gibt.
Einige Jugendliche sehen aber durchaus Bezüge und nennen konkrete Personen und
Orte in ihrer Umgebung, die sie mit den geschilderten Gewaltverhältnissen verbinden. Trotzdem ist für sie die Handlung insgesamt nicht übertragbar, was vor allem an
der Figur des Schuldirektors zu liegen scheint, dessen Verhalten sie eher kritisch
bewerten- z.B. „Daß er den Anwalt hat versucht zu schlagen, das fand ich nicht korrekt.“ (Nadine); „Nein, [der war mir nicht sympathisch – C.M.], ich kann aber nicht
erklären, warum.“ Jasmin. Daß die „Möglichkeit zur Nachahmung und/ oder Glorifi35
zierung dieser Realität“, wie der FSF-Ausschuß formuliert, auch für die Jugendlichen
ausgeschlossen werden kann, die Bezüge zu ihrer eigenen Lebenswelt sehen, scheint
also eher damit zusammenzuhängen, daß eine Identifikation mit dem Protagonisten
nicht stattfindet.
Interessant ist, daß einige Jugendliche das Gesehene als realistisch einstufen, dabei
aber auf die USA verweisen, wo sie die dargestellten Verhältnisse vermuten. Aus
manchen Äußerungen geht hervor, daß die USA für ein Land mit extrem hohem Gewaltaufkommen gehalten wird. Berücksichtigt man neben diesen Aussagen bezüglich
des Realitätsgehalts auch die Fernsehgewohnheiten der Jugendlichen, so fällt auf,
daß besonders diejenigen mit einem hohen täglichen Fernsehkonsum ab ca. drei
Stunden, unter ihnen wiederum besonders die Jungen, die angaben, gerne amerikanische Actionfilme zu sehen, die im „Prinzipal“ dargestellte Situation in amerikanischen Schulen für realistisch hielten.
Auf den Zusammenhang zwischen Gewaltstereotypen und Fernsehkonsum hat Jo
Groebel aufmerksam gemacht. Er hat Mediengewalt mit Kriminalitätsstatistiken verglichen und kommt zu folgendem Schluß: „Da besonders Actionfilme und Krimis zu
einem hohen Prozentsatz in Amerika produziert werden, wird hier ein besonders
stark gewaltbezogenes Bild eines anderen Landes gezeichnet. Zusammenfassend
kann also konstatiert werden, daß tatsächliche Gewalt bei aller Bedeutung, die sie
heute auch im Alltagsleben vielfach haben mag, immer noch sehr weit entfernt ist
von dem Bild, welches das Fernsehen den Zuschauern vermittelt.“ (Groebel 1994, S.
30)
2.4.
Alterseinstufung und Wirkungsvermutungen
Nach den Einzelinterviews fragten wir die Jugendlichen in der Gruppe nach ihrer
Meinung in bezug auf die Altersfreigabe des Films und einer möglichen zeitlichen
Plazierung im Fernsehprogramm. Über die von den Jugendlichen vorgenommene
Alterseinstufung wollten wir erfahren, wie sie selbst die Wirkungen des Films auf
Kinder und Jugendliche einschätzen.
Zunächst war festzustellen, daß die Jugendlichen sehr genaue, individuell sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber hatten, welcher Altersgruppe sie diesen Film zugänglich machen bzw. die Möglichkeit einer Ansicht verweigern würden.
„Für Kleine würd´ ich das nicht empfehlen, aber für unser Alter...“
Während vereinzelt keine Probleme darin gesehen wurden, den Film auch mit Jüngeren anzuschauen, empfand die überwiegende Mehrheit erst die eigene Altersgruppe
der 13- und 14jährigen als `alt genug´, um sich den Film anzusehen und auch zu verstehen. Für jüngere Altersgruppen - hier orientierten sich die meisten in ihrer Einschätzung an jüngeren Geschwistern - wurde er als problematisch angesehen.
Bis auf eine Schülerin, die den Film generell ablehnte, weil er ihr zu gewalthaltig
war, ging niemand in seiner Empfehlung bis an die Alterfreigabe der FSK (ab 16
Jahre) heran:
„Bei meinem 9jährigen Halbbruder hätte ich Bedenken, der zieht sich eh schon so krasse
Musik rein, jetzt in dem Alter. Ich versuche ihn schon immer zu bremsen.“ (Alexander)
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„Für kleine Jungen würde ich das zwar nicht empfehlen, aber für unser Alter, 13 / 14, finde
ich das schon ganz gut.“ (Fabian)
„Kommt darauf an, wie alt sie sind. Wenn die Geschwister jetzt 12 wären, dann dürften sie
ihn sehen. Mit 11 auch. Aber so 10 oder 9, dann nicht.“ (Benjamin)
„Mit meinen kleinen Geschwistern würde ich den Film nicht gucken [7 und 8 Jahre]. Aber
mit meiner Schwester, die könnte den Film schon gucken [12 Jahre]. Mit 13 oder 14 versteht
man erst den Sinn dieser Art von Filmen.“ (Sven)
„Ich denke, jeder hat schon mal solche Filme gesehen - ich hätte keine Probleme damit. Die
Grenze ist für mich so mit 5 bis 6 Jahren.“ (Nicole)
„Ich hätte keine Probleme, den mit Jüngeren zu sehen. Das ist mir egal. Wenn sie ihn gucken
wollen, sollen sie ihn gucken. O.k., sie dürften jetzt nicht so 6 Jahre alt sein oder 8. Aber
wenn sie schon 10 sind, dann können sie ihn schon gucken. Manche gucken mit 8 schon so
schlimme Filme und können danach schlafen. Das ist ja nicht bei jedem gleich.“ (Carl)
„Dann sagen die vielleicht gleich: `Ich werde dich ermorden´“
Bedenken im Hinblick auf jüngere Zuschauer hatten die meisten Jugendlichen angesichts der Gewaltszenen des Films. Sie waren der Ansicht, in ihren Medienerfahrungen und -kompetenzen und somit bei den Verarbeitungsmöglichkeiten von Medieneinflüssen den zwei bis drei Jahre Jüngeren so weit überlegen zu sein, daß sie Gewaltdarstellungen besser „verkraften und aushalten“ sowie entschärfend in einen
sinnvollen Handlungszusammenhang bringen können. Jüngere hingegen könnten der
Story des Films nicht folgen. Sie könnten durch einzelne Szenen geängstigt werden,
sich eine drastische Ausdrucksweise aneignen oder Gewalt als allgemeines Verhaltensmuster übernehmen:
„Einige Szenen waren dann schon ein bißchen zu kraß für Jüngere.“ (Benjamin)
„Der Film ist am Anfang so, daß ich sagen würde, das können sich auch noch Jüngere angucken, aber bei den Szenen, die später kommen, vielleicht nicht mehr. Das ist dann schon
ein bißchen sehr hart. Manche Sachen sollten sie sich dann nicht richtig genau angucken.“
(Tristan)
„Die sind noch nicht so reif dafür. Vielleicht kriegen die auch Angst dadurch, und dann
schlafen sie schlecht...“ (Beatrice)
„Die Kleineren haben andere Gedanken, Phantasien, wenn die dann angemacht werden,
dann sagen die vielleicht gleich:’Ich werde dich ermorden.’“. (Sascha)
„...ich würde nicht wollen, daß die ... das vielleicht dann irgenwann nachmachen. Meine
Schwester prügelt gerne, und ich möchte nicht, daß die auch so brutal wird.“ (Alexandra)
„Jüngeren würde ich ihn nicht zeigen, die lernen dann auch solche Ausdrücke.“ (Nadine)
„Meine Schwester würde den Film nicht begreifen. Sie würde nicht verstehen, worum es
darin geht.“ (Jasmin)
„Jüngere könnten vielleicht den anderen sympathisch finden“
Einige Jugendliche bewerteten nicht nur die gewalthaltigen Darstellungen des „Prinzipals“ als problematisch. Sie sahen die Gefahr, daß Jüngere sich mit den negativ
besetzten Figuren des Films identifizieren und Fiktion und Realität nicht trennen
könnten:
„Vielleicht finden sie das [Verhalten von Victor] cool, und dann benehmen sie sich auch
noch mehr in die Richtung, jetzt vom Umgang her.“ (Benjamin)
„Jüngere könnten vielleicht nicht den Helden, sondern den anderen sympathisch finden.“(Andreas).
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„Mein kleiner Bruder spinnt immer nach Filmen, und da würde ich sagen, nee, lieber nicht,
sonst denkt der sich auch noch solche Sachen aus. Er versucht dann sich in die Rolle von
Victor reinzuversetzen, daß er denkt, er ist der Boss.“ (Sven)
„Vielleicht denken die [jüngeren Kinder], das ist die Wahrheit. Es stimmt zwar auch zum
Teil, es ist ja so auch in den USA, aber eben nur zum Teil.“ (Tristan)
Die Einschätzung für eine zeitliche Plazierung im Programm fiel unterschiedlich aus:
Für eine Fernsehausstrahlung wurde von einigen SchülerInnen ein Ausstrahlungstermin zwischen 21.00 Uhr und 22.00 Uhr vorgeschlagen, am häufigsten jedoch
wurde 20.00 Uhr als angemessene Sendezeit betrachtet.
38
3.
Zusammenfassung und Schlußfolgerungen
In den Interviews zeigten sich deutliche Unterschiede zwischen den Äußerungen der
Jungen und denen der Mädchen. Zwar erwies sich die Fernsehnutzungsdauer als ungefähr gleich bei beiden Geschlechtern, doch tendieren die Vorlieben der Jungen
deutlich mehr zu Action- und gewalthaltigen Filmen. Ihnen scheint es sowohl in bezug auf den Film „Der Prinzipal“ als auch allgemein im Vergleich zu den Mädchen
wichtiger zu sein herauszustellen, daß die Rezeption derartiger Filme bei ihnen keine
Angst auslöst. Dies war höchstens „früher, als Kind“ der Fall.
Der gesehene Film wird von weit mehr Mädchen als Jungen als „Gewaltfilm“ klassifiziert. Jungen ordnen ihn nur zögernd diesem Begriff zu, bzw. sagen ausdrücklich,
es handle sich nicht um einen „Gewaltfilm“. Dies ist darauf zurückzuführen, daß die
Jungen eher vergleichbare Filme ansehen und an entsprechende Actioninszenierungen gewöhnt sind.
Bezüglich der im Film handelnden Personen waren sich alle Jugendlichen - mit leicht
unterschiedlichen Gewichtungen - einig: Der negativ besetzte Bandenführer wurde
als unsympathisch eingestuft, der Schuldirektor dagegen als sympathisch. Dessen
Verhalten wurde allerdings von vielen auch kritisch hinterfragt. Viele hoben hervor,
daß er in seiner Position eigentlich nicht das Recht zu bestimmten Handlungsweisen
habe. Auch Randfiguren der Filmhandlung fanden bei den Jugendlichen große Beachtung und wurden erinnert. Mit ihnen fand am ehesten eine Identifikation statt,
während sie mit dem Protagonisten Rick Latimer überraschenderweise ausblieb. Für
die Schülerinnen und Schüler standen nicht die jugendlichen Attribute und Handlungsmotive der Figur im Vordergrund, sondern die Rolle des Lehrers und Position
des Schuldirektors, die von der eigenen Realität weit entfernt sind.
Auf die Frage, an welche Szenen des Films sich die Jugendlichen am besten erinnern
können, wurden größtenteils solche beschrieben, bei den Gewalt gegen eine positive
Figur angewandt wurde. Besonders den Mädchen hatte sich die Vergewaltigungszene eingeprägt. Sie reagierten im Durchschnitt weit sensibler, betroffener und weniger
begeistert als die Jungen auf die Gewaltszenen in „Der Prinzipal“. Dieses Verhalten
läßt sich mit der bereits erwähnten geringeren Routine der Mädchen im Umgang mit
gewalthaltigen Filmen erklären, die wiederum aus einem geringen Interesse an den
meistens männlichen Helden resultiert, die kaum den Wünschen und Phantasien der
Mädchen entsprechen.
Viele Jugendliche waren der Meinung, der Film spiegele reale Verhältnisse in den
USA wider. Mehrheitlich die Jungen vertraten - anscheinend aufgrund der Vielzahl
der von ihnen bereits rezipierten amerikanischen Filme - diese Aussage, während die
Mädchen vorsichtiger urteilten. Einigkeit herrschte darüber, daß es solche Situationen im gezeigten Ausmaß in Deutschland nicht gebe.
Als eine angemessene Sendezeit für „Der Prinzipal“ im Fernsehen schlugen die
meisten Jugendlichen 20 Uhr vor. Sie waren der Meinung, daß der Film für ihre Altersgruppe der 13/14jährigen durchaus geeignet sei. Die Rezeption des Films durch
Jüngere befürworteten die wenigsten. Hier sahen sie die Gefahr, daß diese sich mit
der „falschen“ Person des Films identifizieren und diese nachahmen könnten. Außer-
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dem wurde befürchtet, die Jüngeren würden vielleicht wegen der Gewaltszenen im
Film nicht einschlafen können.
Selbstverständlich kann das von uns durchgeführte Projekt nicht als repräsentativ
betrachtet werden, dennoch ist es sinnvoll, die erzielten Ergebnisse besonders im
Zusammenhang mit der Filmprüfung als Diskussionsgrundlage zu benutzen.
„Der Prinzipal“ wurde von der FSK im Jahr 1988, von der FSF acht Jahre später geprüft. Der Film wurde von beiden Institutionen unter bestimmten Schnittauflagen für
die beantragten Sendezeiten freigegeben. Die Schnitte betrafen vor allem Szenen, in
denen der Protagonist ausgiebig Gewalt anwandte. Im FSK-Gutachten vom
19.01.1988 heißt es dazu: „Durch die folgenden Schnitte werden einige Gewaltszenen erträglicher gemacht, so daß die Identifikation mit dem ‘nur das Gute wollenden’
Lehrer überwiegen und stärker hervortreten würde.“ Dieser Satz wurde später von
der FSF übernommen. Man ging also davon aus, daß die jugendlichen Rezipienten
sich mit dem Protagonisten Rick Latimer identifizieren würden. Unsere Befragung
machte jedoch deutlich, daß dies keineswegs der Fall war. Sofern überhaupt eine
Identifikation stattfand, betraf diese einen Schüler oder aber in einem Fall die junge
Lehrerin, die fast vergewaltigt worden wäre. Diese Figuren waren den Jugendlichen
viel näher als der aus ihrer Perspektive „alte“ Lehrer, der sowohl in seiner Ehe als
auch bisher in seinem Beruf gescheitert ist.
Die Perspektive der Jugendlichen, aus der sie eine Filmhandlung betrachten – wie in
diesem Fall die Schülerperspektive – und ihre handlungsleitenden Themen bestimmen das Identifikationsverhalten der jungen Rezipienten. Für die Filmprüfung bedeutet dies, daß der positiv besetzte Protagonist trotz eindeutiger dramaturgischer
Anlage nicht unbedingt auch für Jugendliche die einzige oder die Hauptidentifikationsfigur sein muß. Im Gespräch mit Jugendlichen würden einige Filme möglicherweise in einem völlig anderen Licht erscheinen und seitens der Prüferinnen und Prüfer auch andere Maßnahmen erfordern.
Für die Filmpfüfung unter Jugendschutzgesichtspunkten kann es zunächst nur „die
Jugendlichen“ geben, nicht Jungen und Mädchen als separate Rezipientengruppen, so
daß Unterschiede in der Wahrnehmung zwischen Jungen und Mädchen kaum berücksichtigt werden können. Die Mädchen scheinen sich ohnehin selbständig „aus
der Affäre zu ziehen“, indem sie die weniger beliebten Actionfilme meiden. Berücksichtigt werden sollte aber die spezifisch weibliche Sichtweise auf Gewalthandlungen gegen Frauen, vor allem, wie im vorliegenden Fall, in Form von sexueller Gewalt, auf die die Mädchen sehr sensibel reagierten.
Zusammenfassend hat das Projekt rund um „Der Prinzipal“ zu interessanten Ergebnissen und Informationen geführt und neue Fragen bezüglich der Filmrezeption
durch Jugendliche aufgeworfen. Es animiert daher zu weiteren Studien dieser Art.
Von großem Interesse wäre es, bei zukünftigen Projekten mehr über die alltägliche
Rezeptionssituation, das Fernseh-Umfeld, der Jugendlichen zu erfahren. Werden
bestimmte Genres in Anwesenheit bestimmter Personen (Familie oder Peers) oder
meistens alleine gesehen? Über welche Filme findet unter den Jugendlichen ein
Austausch oder eine Diskussion statt? Inwieweit besteht eine Art Gruppendruck,
bestimmte Filme „angstfrei“ gesehen haben zu müssen, um in der Clique Beachtung
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zu finden? Besonders bei den Jungen deuten sich Motive wie das der „Mutprobe“
oder der „Angstlust“ vielfach an. Geeignete Fragestellungen zur alltäglichen Fernsehsituation könnten zukünftig in den Mediensteckbrief integriert werden, um sich
von den individuellen Antworten ausgehend den möglichen Rezeptionsmotiven im
Einzelinterview zu nähern.
Der Verlauf der beschriebenen Veranstaltungstage, das Interesse, mit dem die Jugendlichen bei der Sache waren, die Ergebnisse der Mediensteckbriefe und der Gespräche haben uns darin bestärkt, ähnliche Projekte für Kinder und Jugendliche regelmäßig anzubieten. Dabei hat sich die Verknüpfung von medienpraktischer Arbeit
und Gesprächen, in denen Gewalt in Film und Fernsehen zum Thema gemacht wird,
bewährt. Ziel ist es, zunehmend auch den direkten Kontakt zwischen Prüferinnen und
Prüfern und Kindern und Jugendlichen herzustellen. Ein Kennenlernen der jeweils
anderen Perspektive - die Wahrnehmungsweisen Jugendlicher und das Bild, das Erwachsene hiervon haben - wird auf beiden Seiten das Verständnis fördern.
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Literaturverzeichnis
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Mikos, Lothar: Die Geschichte im Kopf des Zuschauers. Struktur-funktionale Film- und
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Röser, Jutta / Kroll Claudia: Was Männer und Frauen vor dem Bildschirm erleben: Rezeption von Sexismus und Gewalt im Fernsehen. Studie im Auftrag des Ministeriums für die
Gleichstellung von Frau und Mann in Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf 1995.
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Anhang
Mediensteckbrief
Fragebogen
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