Lehrer und Ausbilder »Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort
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Lehrer und Ausbilder »Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort
Lehrer und Ausbilder »Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort« – Deutsch-Unterricht zwischen Selektion und Identitätsbildung Kai-Henrik Kühl »Deutsch ist für mich etwas, wo ich lerne, mit Leuten vernünftig zu kommunizieren, ohne mich lächerlich zu machen (z. B. später bei Bewerbungen) oder ungebildet rüberzukommen.« Diese vordergründig anmutende Auffassung eines Schülers einer 8. Gymnasialklasse liefert den idealen Ausgangspunkt für eine Standortbestimmung dessen, was das Fach Deutsch leisten muss und kann. Der Schüler betrachtet das Fach, charakteristisch für unsere Gegenwart, unter funktionalistischen Gesichtspunkten und verweist in diesem Zusammenhang auf die gesellschaftliche Selektionsfunktion (»Bewerbungen«) von Sprache als Indikator für die schwer messbare Größe ›Bildungsgrad‹. Die Haltung des Schülers demgegenüber ist eine defensive, vielleicht sogar furchtsame (»nicht lächerlich machen«), sodass es scheint, als erlebe er den Deutsch-Unterricht als steinigen und durch die Gesellschaft erzwungenen Weg in ein als hermetisch und verfestigt empfundenes System (Hochsprache), an dessen Ende er sich an einer sozialen Norm messen lassen muss. »Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort« – das lyrische Ich in Rilkes Gedicht fürchtet sich ebenso wie dieser Schüler vor einem in diesem Sinne indienstgenommenen und zur Konvention erstarrten menschlichen Wort, das das Wesen der Dinge in zudringlicher Anmaßung zu erfassen glaubt und damit das wunderbar-rätselhafte und ästhetisch-göttliche Wesentliche der Dinge zerstört. Was der Achtklässler fürchtet, wendet das Gedicht zu einer Kritik an dem, was der normorientiert-funktionalistische Zweig der Sprachwissenschaft anstrebt: das reine, wahre und daher allmächtige Deutsch. Nicht nur aus Empathie mit dem Achtklässler möchte man an dieser Stelle – wie Rilkes Gedicht – aufschreien: »Bleibt fern!« Der Aufruf zum Fernbleiben muss sich aber zunächst an jene Bildungsinstanzen richten, die eine fortwährende Standardisierung, Nivellierung und Operationalisierung des Unterrichts anstreben und dabei immer weiter den Raum für Kreativität verengen, für das ›Singen der Dinge‹, von dem Rilke spricht. Der Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2013, Jg. 60, ISSN 0418-9426 2013 V&R unipress GmbH, Gçttingen 231 Kai-Henrik Kühl Wunsch nach Messbarkeit, Vergleichbarkeit und Objektivität ist verständlich, doch sorgt er in seiner Zudringlichkeit für eine Vereinseitigung des Faches auf die messbaren und objektivierbaren Dinge. Im Bildungsgang des gegenwärtigen G8geplagten Schülers bleibt auf Grund der strukturellen Zwänge kaum noch Raum, dem ›Singen der Dinge‹ nachzuspüren und eigene, unbefangene Zugänge zur Sprache, Literatur und damit zur eigenen Kultur mit allen möglichen positiven Implikationen zu entwickeln. Denn die Auseinandersetzung mit Literatur ist doch nicht nur eine Auseinandersetzung mit einem antiquierten kulturellen Erbe, sondern für jeden Leser immer auch ein Selbstabgleich mit etwas Fremdem, mit Wertmaßstäben, mit Lebensentwürfen, mit großen menschlichen Krisen und Erfolgen und damit immer eine identitätsrelevante Erfahrung, deren Ergebnis nicht im Erwartungshorizont eines Abiturvorschlags zu erfassen ist. Vielleicht ist gerade das der entscheidende Punkt, der mich mit Rilke »warnen und wehren« lässt, denn ein zentraler Bildungsbeitrag des Faches Deutsch ist doch gerade die permanente Möglichkeit der Selbstdefinition in Auseinandersetzung mit einem sich erst durch die fortwährende Rezeption dynamisch entwickelnden (und daher nicht verstaubenden) kulturellen Erbe. Wäre es nicht eine Beschneidung kultureller Vielfalt, wenn wir auch noch die Kultur und Bildung um der Messbarkeit, Vergleichbarkeit und Objektivierung willen vollends dem ökonomischen Diktat unserer Zeit unterwerfen würden? Ja, ich plädiere für ein Reservatsrecht des Deutsch-Unterrichts. Er muss seiner gesellschaftlichen Selektionsfunktion im erforderlichen Rahmen genügen, so wie es für jeden literarischen Text auch einen Rahmen möglicher Deutungen gibt, doch muss er gerade aus Respekt vor der Schönheit seiner Gegenstände Rückzugsräume offerieren, die sich dem Zugriff der Normierer, Funktionalisten und Standardisierer entziehen. Der Weg, junge Menschen für Kultur zu begeistern, ist eben nicht, ihnen die Dinge mit dem Verweis auf ökonomisch-gesellschaftliche Belange zu entzaubern, sondern diese immer wieder zum »Singen« zu bringen, sodass Identitätsbildung und Lebendigkeit des kulturellen Erbes (das längst auch im TV oder Internet codiert ist) durch unser Fach symbiotisch erfahren werden können. Wer wird dann noch »ungebildet rüberkommen« wollen? Kai-Henrik Kühl unterrichtet Deutsch und Geschichte an der Kooperativen Gesamtschule Neustadt am Rübenberge. Email: [email protected]. 232 Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2013, Jg. 60, ISSN 0418-9426 2013 V&R unipress GmbH, Gçttingen Lehrer und Ausbilder – Von Freud und Leid des Zentralabiturs Von Freud und Leid des Zentralabiturs Pamela Meß »Warum Deutsch?« Nicht ich habe mir in den vergangenen zwei Jahren diese Frage gestellt, auch wenn ich am Ende Antworten darauf gefunden habe – vielmehr waren es meine Schüler1. In den letzten beiden Schuljahren führte ich zum ersten Mal eine Oberstufenklasse bis zum Abitur im Sommer 2012. Ich hatte das unzweifelhafte Vergnügen, meine Schüler in Deutsch als Kernfach und in Geschichte als Profilfach parallel zu unterrichten. Nun mögen manche Leidensgenossen an die vielen Korrekturen denken, doch hierin lag nicht die größte Herausforderung. Bei acht Schulstunden, die ich auf beide Fächer gleichmäßig verteilt mit der Klasse verbrachte, kam es je nach Themen- und Klausurlage vor, dass wir die Stundenverteilung flexibel gestalteten. Leider musste ich folgende Reaktion wahrnehmen: Bei jeder Ankündigung, am nächsten Tag Geschichte unterrichten zu wollen, entfachte ich zwar keine Begeisterungsstürme, aber ich kann behaupten, dass die Schüler so etwas wie Vorfreude empfanden. Stellte ich jedoch Deutschstunden in Aussicht, so lassen sich die Reaktionen auf die eingangs erwähnte Frage reduzieren: »Warum Deutsch?« Nun ist meine Frustration wegen dieser Frage sicherlich vorstellbar, zumal ich von mir selbst behaupten würde, beide Fächer mit der gleichen Hingabe und Begeisterung zu unterrichten… abgesehen vom Korrekturaufwand. Ich hätte auch sagen können: »Na gut, es liegt wohl an der Lerngruppe«, aber diese ›Unlust‹ auf Deutsch war nicht durchgängig vorhanden: Bei Themen, die ich selbst für den Unterricht auswählte, ließ z. B. Goethes Faust sie sich selbst fragen, »was die Welt im Innersten zusammenhält«, und wenn ich mit ihnen Auszüge aus Effi Briest las, bewiesen sie Ehrgeiz und hatten Freude daran, neue Kapitel im realistischen Stil zu verfassen. Was verursachte also die Phasen des Unmuts? Der Grund war mein Umgang mit der neuen Herausforderung an Kernfachlehrer: dem Zentralabitur. Konkret lauteten die Korridorthemen: »Naturlyrik in Romantik und Gegenwart« (12.1), »Gerhart Hauptmann, Die Ratten – Gesellschaftliche Umbrüche im Medium von Sprache und Literatur« (12.2) und »Franz Kafka, Der Prozess – Auf 1 Aufgrund der besseren Lesbarkeit verzichte ich auf die sprachliche Unterscheidung zwischen den Geschlechtern. Der Begriff ›Schüler‹ schließt die weibliche Form ›Schülerin‹ bzw. ›Schülerinnen‹ ein. Im Folgenden sind hiermit Schülerinnen und Schüler gemeint. Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2013, Jg. 60, ISSN 0418-9426 2013 V&R unipress GmbH, Gçttingen 233 Pamela Meß der Suche nach der eigenen Identität« (13.1). Das Thema »Das Problem literarischer Wertung« wurde parallel behandelt. Ich wollte Deutschlehrerin werden, um in meinen Schülern etwas aufzuwecken, das sie befähigen würde, selbstständig Doppelbödigkeiten aufzudecken, sei es in Texten oder in der Kommunikation mit anderen. Diese Doppelbödigkeiten zu entlarven, ›das, was gemeint ist‹, zu ›knacken‹, dafür haben mich meine eigenen Deutschlehrer begeistern können. Das wollte ich weitergeben. Doch leider musste ich feststellen, dass ich beim Unterrichten des ersten Korridorthemas kein Vertrauen mehr in meine eigenen Ideen und Planungen setzte, sondern fremdgesteuert ›Reader‹ aus Fortbildungsseminaren zur Naturlyrik abarbeitete, um meine Schüler gut genug auf die Prüfung vorzubereiten. Weil ich den Eindruck hatte, dass deren Verfasser viel besser als ich wissen, worauf es bei den Prüfungen ankommt, gab ich den darin enthaltenen Beispielen den Vorrang – jedoch stellten sie nicht meinen Zugang zu dem Thema dar. Ich büßte einen Teil meiner Authentizität als Lehrerin ein. Wie wichtig diese aber für den Lernerfolg der Schüler ist, wurde mir klar, als ich mich und meine Schüler dabei ertappte, wie wir Gedichte beinah als Steinbrüche benutzten, um die Motive herauszufiltern, die möglicherweise im Abitur relevant sein könnten: ›Teaching to the test‹. Und so ist es vielleicht zu erklären, warum sich meine Schüler in Geschichte mehr für den aufkommenden Nationalismus am Beispiel des deutsch-dänischen Konfliktes interessierten als für Naturlyrik im Fach Deutsch. Meine Begeisterung für die nächsten beiden Themen wäre möglicherweise auch größer gewesen, wenn ich Vor Sonnenaufgang und Die Verwandlung hätte behandeln können; aber statt über ministerielle Vorgaben zu klagen, entschloss ich mich, mir meine Authentizität zurückzuerobern. Kurzum: Ich habe wieder meinen eigenen Deutschunterricht gemacht. Das heißt, ich traute mich, eigenständig mit den Vorgaben umzugehen, meinen Zugang zu Hauptmann und Kafka zu finden, manches einfach wegzulassen. Das führte spätestens bei Der Prozess wiederum dazu, dass sich meine Schüler auch wieder selbsttätig mit den Themen auseinandersetzten – und bei den meisten verschwand die ›Unlust‹. Gelassenheit und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, etwas, das ältere Deutschkolleginnen und -kollegen sicherlich besitzen, waren mir und meinen Schülern oftmals die besseren Ratgeber als Unruhe vor dem, was da als Prüfung kommen möge, und die Aufforderung: »Wir müssen aber noch …« Um authentisch zu bleiben, Doppelbödigkeiten aufzudecken und Selbsttätigkeit aufwecken zu können: »Darum Deutsch«. Pamela Meß unterrichtet seit 2008 Deutsch und Geschichte am Gymnasium Altenholz. Email: [email protected]. 234 Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2013, Jg. 60, ISSN 0418-9426 2013 V&R unipress GmbH, Gçttingen Lehrer und Ausbilder – »Wir sind Papst« oder »So muss Technik« »Wir sind Papst« oder »So muss Technik«. Deutsch in der vorschulischen Erziehung Adeline Deiseroth … über diese Form von Kommunikation wundern wir uns kaum noch. Sie ist mittlerweile ein Bestandteil von Wissensvermittlung, dessen sich die Medien gerne bedienen. Andererseits wird diese Verstümmelung und Deformation der deutschen Sprache, die den medialen Umständen geschuldet ist, vielerorts beklagt. Anglizismen, Abkürzungen und Lautmalereien prägen heute verstärkt in weiten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens den Kommunikationsstil. Es ist eine Reduktion des Lebens auf vereinfachte Grundmuster. Das Leben bietet aber einen breiten Reichtum an Möglichkeiten, Dinge zu betrachten und zu beschreiben. Um dieser Vielfalt Ausdruck geben zu können, bedarf es eines differenzierten Mediums. Ein wesentliches Medium im kulturellen Austausch ist die Sprache. Sie ist die eindrucksvollste kognitive Fähigkeit des Menschen und damit unzertrennlich mit Bildung verbunden. Das pädagogische Fachpersonal in Krippen und Kindergärten ist die erste außerfamiliale Sozialisationsinstanz. Damit verbinden sich unter anderem ein wichtiger Bildungsauftrag und die anspruchsvolle Aufgabe, mit Hilfe einer differenzierten deutschen Sprache unsere kulturellen Werte genauso wie die von anderen Nationen zu vermitteln. Damit ist die Erzieherin maßgeblich an der Erziehung zur vorurteilsfreien Begegnung interkultureller Vielfalt beteiligt, ja zu ihr verpflichtet. Bezugnehmend auf den »Niedersächsischen Orientierungsplan für Bildung und Erziehung«, obliegt es der Erzieherin, Kinder in der deutschsprachigen Entwicklung zu fördern. Dazu benötigt sie fachlich fundiertes Wissen über den Verlauf sprachlicher Entwicklung und über die möglichen Ursachen von Sprachstörungen sowie Kenntnisse über vielfältige methodische Vermittlungsformen. Da der Spracherwerb ein bedeutungsvoller, nie endender Lernprozess ist, sind gerade Kinder im Elementarbereich auf gelungene Dialoge und sprachliche Anregungen angewiesen. In der Praxis sieht das so aus, dass die Erzieherin die Lernprozesse der Kinder sprachlich begleiten soll und darauf zu achten hat, dass Kinder ihre Erlebnisse und Gefühle sprachlich differenziert auszudrücken lernen. Es gilt, das Sprachverständnis und die Sprechfähigkeit zu fördern. Dabei kommt der Freude am Sprechen eine wichtige Bedeutung zu. Auch nimmt im Rahmen der Chancengleichheit die Erzieherin in frühkindlichen Bildungseinrichtungen eine zentrale Rolle als Vermittlerin der deutschen Sprache ein. Für Kinder aus bildungsfernen und fremdländischen Familien, die überwiegend einen restringierten Sprachcode vermittelt bekommen bzw. keine Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2013, Jg. 60, ISSN 0418-9426 2013 V&R unipress GmbH, Gçttingen 235 Adeline Deiseroth deutschen Sprachvorbilder haben, ist die Erzieherin das Sprachmodell per se. Durch sie sollen Kinder die deutsche Sprache insoweit beherrschen lernen, dass sie sich gut verständigen können, um sich in den darauf folgenden Bildungssystemen aktiv einbringen und weiterentwickeln zu können. Mit dieser Vorbildfunktion wird deutlich, dass die Erzieherin selbst über ein differenziertes, qualifiziertes deutsches Sprachvermögen verfügen muss. Damit sie dieser Verpflichtung nachkommen kann, sind literarische Kenntnisse und Erfahrungen, insbesondere in der Kinder- und Jugendliteratur, die sich am humanistischen Menschenbild orientieren, notwendig. Nur damit kann eine Realisierung des Bildungsauftrages gelingen. Kritisch zu sehen ist in diesem Kontext, dass es immer noch zu viele junge Menschen – vorwiegend Frauen – gibt, die diesen Beruf wählen, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass es sich hier um einen anspruchsvollen kommunikativen Beruf handelt, in dem die sprachliche Kompetenz eine beachtliche Funktion einnimmt. Noch heute ist der Beruf in unserer Gesellschaft mit dem Klischee belastet, »Erziehen kann doch jeder«. Auch wird ihm im Vergleich zur Mutterrolle oftmals seine eigentliche Professionalität abgesprochen. In der Ausbildung zur Erzieherin gibt es daher noch zu viele Bewerberinnen, die dem professionellen Anspruch nur eingeschränkt gerecht werden. Derzeit haben Krippe und Kindergarten in Deutschland als neu entdeckte Bildungseinrichtungen das gesellschaftliche Interesse gefunden. Es vollzieht sich damit ein Wandel vom ausgeprägten Betreuungsauftrag hin zum Bildungsauftrag. Leider wird dieser geforderte Bildungsauftrag von breiten Teilen der Gesellschaft als eine vorgezogene Verschulung interpretiert. Aber nicht das Lernen von Englisch und Chinesisch darf in der frühkindlichen Bildung im Vordergrund stehen, sondern die Förderung sozialer Kompetenzen und die fachliche Begleitung beim entdeckenden Lernen. Die Qualität der Sprachkompetenz des pädagogischen Personals ist dabei ein wesentlicher Faktor. Deutsch ist in unserer Kultur das grundlegende Verständigungsmittel und damit ist es der gemeinsame Nenner im Kommunikations- und Interaktionsprozess zwischen Kind und Erzieherin. Adeline Deiseroth arbeitet, nach siebenjähriger Tätigkeit als Erzieherin und anschließendem Studium der Erziehungswissenschaften in Göttingen, als Fachleiterin für Sozialpädagogik am Göttinger Studienseminar – Lehramt für Berufsbildende Schulen – und ist als Lehrkraft an den Berufsbildenden Schulen II – Osterode in der Ausbildung zur Erzieher/in tätig. Email: [email protected]. 236 Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2013, Jg. 60, ISSN 0418-9426 2013 V&R unipress GmbH, Gçttingen Lehrer und Ausbilder – Mein geliebtes Deutsch Mein geliebtes Deutsch Wolfgang Rzehak Schon am Anfang allen Denkens und Redens begann auch das Nachdenken über die Sprache. In Platons Kratylos-Dialog etwa unterhalten sich Kratylos, Hermogenes und Sokrates über die Herkunft der Wörter respektive ihre Bedeutung. Bekanntermaßen setzte sich Sokrates bevorzugt mit den Sophisten auseinander, die sich der vielfältigen Referenzen eines Wortes, der Wirkungsmächtigkeit von Sprache überhaupt bewusst waren. Für Weisheits-Lehrer, die auf Straßen und Marktplätzen ihr Geld verdienen mussten, hatte die Verwendung von Sprache rein pragmatische Funktion. Aus der Differenz zwischen der reinen Liebe zur Wahrheit und dem bewussteren Einsatz der sprachlichen Mittel ging letztlich die Abspaltung der Rhetorik von der Philosophie hervor. Wenn man Schülern nach zweieinhalbtausend Jahren immer noch ein Bewusstsein von Sprache und ihrer Wirkung in Form von ›rhetorischen Figuren‹ zu vermitteln versucht, dann steht damit fast ein abendländisches Projekt auf dem Spiel. Denn da lernt man nicht nur Grundsätzliches zur Form-Inhalt-Korrelation, sondern auch etwas über die Differenz von Zeichen und Bezeichnetem, gewinnt ein Gefühl für das uneigentliche Sprechen, kann die Funktionalität einer rhetorischen Figur aus dem Kontext erschließen und im Verbund mit anderen Stilmitteln die Intention ganzer Texte erfassen. So feit man Jugendliche nicht nur gegen die Einflüsterungen der Werbung, sondern auch gegen pathetisch-propagandistische Verdrehung. Wo das erlernte Instrumentarium systematisch zum Einsatz kommt, erschließen sich nicht nur die Auf- und Abwertungsstrategien politischer Rede, sondern auch die Verschleierungs- und Beschwichtigungstaktiken zeitgenössischer Konsumstrategen in einem euphemistisch-verharmlosenden Umfeld. Darüber hinaus werden eindimensional-apodiktische Fundamentalismen als ideologisch-überhöhte Verklärungsmuster entlarvt. Deutschunterricht ist also auch Aufklärungsarbeit par excellence. Er setzt die Kantische Aufforderung zum Selbstdenken in die Praxis um. Schon Sokrates ›lehrte‹ seine Schüler, indem er sie auf seinen in Frage stellenden Denk-Weg zwang: Deswegen ist es auch heute noch unerlässlich, Fragen zu stellen. Natürlich muss, wer die Kunst der Mäeutik, die sokratische Hebammenkunst, (sprich: den fragend-entwickelnden Unterricht) zielführend einsetzen will, die richtigen Fragen an der richtigen Stelle setzen. So kann aus einer Schulstunde, einer ›Deutschstunde‹, aus einer Stunde zur ›Pflichtlektüre‹ eine Sternstunde in Weltkundeunterrichtet werden. Wie allerdings soll ein Deutsch-Lehrer mit seinen Ansprüchen umgehen, angesichts der sprachlichen Defizite, die allerorten mit Händen zu greifen sind? Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2013, Jg. 60, ISSN 0418-9426 2013 V&R unipress GmbH, Gçttingen 237 Wolfgang Rzehak Spracherwerb findet vornehmlich in der Familie statt. Danach gilt es spielerisch, aber systematisch die Kenntnisse auszubauen, Sprachrichtigkeit einzuüben und ein Gespür für die eigenen Ausdrucksmöglichkeiten zu entwickeln – damit die Heranwachsenden jenes »tolle, lege« (Nimm und lies) später für sich als Welterschließungskonzept anzunehmen bereit sind. Nur wo anfangen, wenn man unvermittelt einer motivationsgeschwächten Schülerschar gegenübersteht? Vielleicht – mit Brechts Lob des Lernens: »Lerne das Abc, es genügt nicht, aber / […] Fang an! Du musst alles wissen.« Beruhigend, dass selbst der Dichter nicht um den didaktischen Fingerzeig herumkommt. In der Fortführung erhält man bei Brechts Fragen eines lesenden Arbeiters nicht nur einen Überblick über die Großtaten des Menschengeschlechts, sondern bekommt deren Hinter-Fragung gleich mitgeliefert. Schließlich, um bei Brecht zu bleiben: die Legende von der Entstehung des Buches Taoteking. Darin kann man nicht nur lernen, wer wen besiegt, sondern auch etwas erfahren über die Differenz zwischen der Welt der Politik und Wissenschaft auf der einen Seite respektive der Welt der Dichtung und Philosophie auf der anderen. Ganz abgesehen davon, dass der Grundtypus des Lehrers hier in seiner utopischen Ausformung als großer Weiser aufscheint. Wenn Faust im »Studierzimmer« den »Grundtext« aufschlägt, so wird damit nicht nur der Anfang der Welt, ihre Erschaffung durch den ›Logos‹ thematisiert, sondern es werden auch die Schwierigkeiten bei der Übertragung in »mein geliebtes Deutsch«, wie Goethe seinen Faust sagen lässt, angesprochen. In Hölderlins Hyperion heißt es unter dem Stichwort »So kam ich unter die Deutschen« ganz prosaisch: »Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker aber keine Menschen.« Vermutlich gibt es das Phänomen, dass es nurmehr Berufe, keine Menschen mehr gebe, auch in anderen Kulturen, Zeitzonen und Sprachen. Aber wo wurde der Verlust alles Geistigen, alles Menschlichen, so schön beklagt wie in diesem Stoßseufzer? Über alle Höhen des Denkens und Sprechens hinweg, trotz aller Verluste und Sprachkrisen darf konstatiert werden, dass das Deutsche im Horizont der Weltliteratur mit seinen mannigfachen Ausdrucks- und Spracherweiterungsmöglichkeiten ›Heimat‹ bedeutender ›Dichter und Denker‹ geworden ist. Folgt man dem Dichterphilosophen und brillanten Stilisten Nietzsche, so erweist sich das an der Latinität geschulte Deutsche – zumindest nimmt Nietzsche das für sich selbst in Anspruch – in seinen ästhetischen Potenzialen der alten Weltkultursprache als ebenbürtig: »In gewissen Sprachen ist Das, was hier [in der Horazischen Ode] erreicht ist, nicht einmal zu wollen. Dies Mosaik von Worten, wo jedes Wort als Klang, als Ort, als Begriff, nach rechts und links und über das Ganze hin seine Kraft ausströmt, dies minimum in Umfang und Zahl der Zeichen, dies damit erzielte maximum in der Energie der Zeichen…« (Vgl. Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung. Was ich den Alten verdanke) Das Hohelied auf die deutsche Sprache, nicht das Deutsche (!), mag dazu beitragen, die Kulturalität ihrer Sageweise zu dokumentieren: dass es möglich ist 238 Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2013, Jg. 60, ISSN 0418-9426 2013 V&R unipress GmbH, Gçttingen Lehrer und Ausbilder – Was ist Deutsch und wozu dient es? – und war, in dieser Hochsprache Dinge zu benennen, zu erfassen und zu beschreiben, die auf andere Art und Weise als in dieser Form und Gestalt, anders als so, nicht sagbar sind. Dr. Wolfgang Rzehak, Promotion über Musil und Nietzsche, Vorsitzender des Fachverbands Deutsch (Ba-Wü), Mitarbeit am Positionspapier des Germanistenverbands, JuryMitglied für die Verleihung des Friedrich-Preises. Email: [email protected]. Was ist Deutsch und wozu dient es? Deutschunterricht an berufsbildenden Schulen Cordula Häntzsch Richtet sich der Fokus auf das Unterrichtsfach Deutsch, ist anzunehmen, dass an allgemein bildende Schulen gedacht wird und somit vielschichtige Möglichkeiten offengelegt werden, um Ansatzpunkte zur Reflexion dieser Frage herauszustellen. Es handelt sich zweifelsohne um keine leicht zu beantwortende Frage, was sich wie folgt illustrieren lässt: Werden konkret zu benennende Kompetenzen vermittelt, die unter anderem deutschsprachige Literatur und deutsche Sprache als Dimensionen des Inhalts aufgreifen, oder stellen eben diese eigenständige Gegenstände des Faches und seiner Vermittlung dar? Dass es vor diesem Hintergrund zu kontroversen Diskussionen kommt, kann ohne Weiteres recherchiert werden und spricht für deren Brisanz – insbesondere für das Unterrichtsfach Deutsch an allgemein bildenden Schulen. Der Versuch einer Beschäftigung mit dem Fach an berufsbildenden Schulen erweist sich noch als weitaus schwieriger. Dies resultiert zum einen aus der Komplexität dieser Schulart an sich, da berufsbildende Schulen unterschiedliche Schulformen mit verschiedenen Bildungszielen unter einem Dach vereinen. Zum anderen besteht die Gefahr, den Stellenwert des Faches einerseits auf das Vermitteln praktischer und vor allem beruflich verwertbarer Fähigkeiten zu reduzieren. Andererseits wird es fachdidaktisch fundiert selten erforscht. Es wird eher mit Training für den Job verbunden und befindet sich am Rande der Forschung. An berufsbildenden Schulen kommt Deutsch aber eine hohe Relevanz zu. Dies ergibt sich nicht nur unter Berücksichtigung der Frage, welche Rolle deutschsprachige Literatur für Schülerinnen und Schüler beispielsweise in einer Berufsschule spielt und welche Lektüren sich in diesen Lerngruppen anbieten, Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2013, Jg. 60, ISSN 0418-9426 2013 V&R unipress GmbH, Gçttingen 239 Cordula Häntzsch sondern bereits aufgrund der unmittelbaren Konfrontation der Schülerinnen und Schüler mit vielseitigen Aspekten der deutschen Sprache etwa in Form von innerer Mehrsprachigkeit wie Fachsprache und Umgangssprache oder der Wahrnehmung von Sprache im beruflichen Alltag. Das Unterrichtsfach Deutsch greift gerade diese Gesichtspunkte auf. Des Weiteren ist es in einigen Schulformen berufsbildender Schulen – z. B. in Berufsfachschulen – notwendig, das Unterrichtsfach Deutsch mit mindestens befriedigender Leistung zu absolvieren, um einen allgemein bildenden Schulabschluss zu erwerben. Gerade vor dem Hintergrund überwiegend heterogener Lerngruppen in berufsbildenden Schulen geht es neben der Frage nach Gegenständen des Unterrichts ebenso um die Gestaltung differenzierender Lerngelegenheiten. So spielt nicht nur die äußere Differenzierung, die sich aufgrund der Schulformen ergibt, eine Rolle, sondern auch der Umgang mit Heterogenität innerhalb von Lerngruppen und somit ferner Aspekte der Binnendifferenzierung. Ein weiterer Punkt resultiert aus der Beachtung fachübergreifender Intentionen. Denn das Unterrichtsfach Deutsch wird als elementar angesehen, um in anderen Fächern und Lernbereichen erfolgreich zu lernen. So ist neben deren Anforderungen etwa in Form von fokussiertem Lesen oder präzisem Schreiben in anderen Fachbereichen ebenfalls der berufliche Schwerpunkt bei der Unterrichtsgestaltung zu berücksichtigen. Wechselseitige Einflüsse lassen sich nicht vermeiden. Richtet sich der Blick auf das Fach Deutsch im beruflichen Gymnasium, das zur allgemeinen Hochschulreife führt, so unterscheidet sich dessen Stellenwert nicht von dem in gymnasialen Oberstufen. Allerdings findet es unter anderen Voraussetzungen statt, da das berufliche Gymnasium z. B. nicht zwei, sondern drei Jahre Oberstufenarbeit vorsieht. Der Eintritt in Klasse 11 bedeutet, dass Schülerinnen und Schüler aus unterschiedlichen Schulformen mit ungleichen Vorkenntnissen und Erfahrungen aus ihrem Deutschunterricht zusammentreffen. Eine wesentliche Aufgabe ist es folglich, heterogene Lerngruppen mit Blick auf Anforderungen der allgemeinen Hochschulreife zu homogenisieren. Zusammenfassend lässt sich herausstellen, dass es das Unterrichtsfach Deutsch an berufsbildenden Schulen nicht gibt, sondern dass es als solches in einzelnen Schulformen unterrichtet wird, deren Aufgaben und Ziele erheblich voneinander abweichen. Es hat weder eine Randstellung noch sollte es sich in einem Training für den Arbeitsmarkt erschöpfen. So ergeben sich Fragen nach einer fundierten Basis, auf die unterrichtende Lehrkräfte zurückgreifen können. Diese lässt sich zwar aus Germanistik und Fachdidaktik generieren. Eine wissenschaftlich begründete Reflexion dessen, was Deutsch im Kontext berufsbildender Schulen ist und künftig sein soll, bleibt dennoch eigenständig zu leisten. Cordula Häntzsch unterrichtet Deutsch sowie Wirtschaft und Verwaltung an der berufsbildenden Schule BBS Alfeld (Leine). Email: [email protected]. 240 Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 3/2013, Jg. 60, ISSN 0418-9426 2013 V&R unipress GmbH, Gçttingen