Lew Tolstoi Eine Ehe in Briefen |Kita Morio Das Haus Nire |Günter
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Lew Tolstoi Eine Ehe in Briefen |Kita Morio Das Haus Nire |Günter
Nr. 9 | 31. Oktober 2010 Lew Tolstoi Eine Ehe in Briefen | Kita Morio Das Haus Nire | Günter Grass Grimms Wörter | Tom Rachman Die Unperfekten | Claude Lanzmann Der patagonische Hase | Pavel Kohout im Porträt | Peer Steinbrück Unterm Strich | Weitere Rezensionen zu Ayse Kulin, Sebastian Haffner, Reinhold Messner, Jimmy Carter und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese Lesen neu erleben Handlich, praktisch, günstig: der neue OYO eBook-Reader Neu! <wm>10CAsNsjY0MDAx1QWSZkaGAHB685EPAAAA</wm> <wm>10CEWKOw6AMAzFTtToJST9kBHKVDEA4gSImftPVCwM9mK35kb4mOp61M0ZUAvdUditGEmKnkUImnrkLGCMbKysZRD_7zDNYQcW4ATTc90vMuE4UF0AAAA=</wm> 189.- nur CHF Mit buch.ch in die Zukunft des mobilen Lesens. Der OYO eBook-Reader vereint attraktives Design und neueste Technologie – und das zu einem unschlagbaren Preis. Überzeugen Sie sich: www.buch.ch www.buch.ch Inhalt Über den Wellenschlag der Weltliteratur Lew Tolstoi (Seite 16). Illustration von André Carrilho Vor genau 100 Jahren starb Lew Tolstoi im Bahnwärterhäuschen von Astapowo, gut 100 Kilometer südlich von Moskau. Der Dichterfürst war geflüchtet – vor weltlichem Luxus, vor dem Ruhm, vor seiner Frau. Um in Stille und Einsamkeit seine letzten Tage zu verbringen. Der nun auf Deutsch veröffentlichte Briefwechsel zwischen Lew und Sofja Tolstoi erlaubt einen Einblick in das schwierige Eheleben des grossen Russen (Seite 16). Tolstois Werk hallt immer noch nach: Davon zeugen etwa die kompakte, gut gestaltete Ausstellung im Zürcher Strauhof (bis 28. 11.) ebenso wie der neue Familienroman «Freiheit» von Jonathan Franzen, dessen Protagonistin Patty Berglund sich in die Abgeschiedenheit verzieht, um «Krieg und Frieden» zu lesen. Zum Ozean der Weltliteratur gehört natürlich auch das Werk Thomas Manns. Sein Epochengemälde «Buddenbrooks» hat den japanischen Schriftsteller Kita Morio ganz direkt inspiriert, wie Manfred Papst an dessen neu übersetztem Buch «Das Haus Nire» aufzeigt (Seite 4). Und Spuren von Thomas Mann finden sich im begeisternden Roman des argentinischen Autorenpaars Ocampo/Bioy Casares (Seite 9). «Globalisiert» ist inzwischen auch die Beilage «Bücher am Sonntag»: Es gibt sie für Abonnenten neu als EPaper. Womit sie ab Erscheinungs tag auch dort im Originallayout zu lesen ist, wo sie bisher nicht tages aktuell erhältlich war (mehr unter: www.nzzglobal.ch). Urs Rauber Belletristik Kurzkritiken Sachbuch 4 15 Helmut Birkhan: Magie im Mittelalter Nr. 9 | 31. Oktober 2010 Lew Tolstoi Eine Ehe in Briefen | Kita Morio Das Haus Nire | Günter Grass Grimms Wörter | Tom Rachman Die Unperfekten | Claude Lanzmann Der patagonische Hase | Pavel Kohout im Porträt | Peer Steinbrück Unterm Strich | Weitere Rezensionen zu Ayse Kulin, Sebastian Haffner, Reinhold Messner, Jimmy Carter und anderen | Charles Lewinsky Zitatenlese 6 Kita Morio: Das Haus Nire Von Manfred Papst 8 9 Von Klara Obermüller Von Geneviève Lüscher Mathias Morgenthaler: Beruf und Berufung 19 Patricia Clough: Emin Pascha, Herr von Äquatoria Von Gerhard Mack Volker Reinhardt: Kleine Geschichte der Schweiz 20 Bernhard Pörksen, Wolfgang Krischke: Die Casting-Gesellschaft Von Manfred Koch Sybille Oetliker: Standhaft – rechtlos Yann Martel: Ein Hemd des 20. Jahrhunderts Von Marli Feldvoss Nadav Kander: Yangtze – The Long River 7 18 Claude Lanzmann: Der patagonische Hase. Erinnerungen Günter Grass: Grimms Wörter Tom Rachman: Die Unperfekten Von Sacha Verna Silvina Ocampo, Adolfo Bioy Casares: Der Hass der Liebenden Von Bruno Steiger 10 Ayse Kulin: Der schmale Pfad Von Susanne Schanda 11 Herman Koch: Angerichtet Von Simone von Büren Von Kathrin MeierRust Von Christoph Plate Von Urs Rauber Von Daniel Puntas Bernet Jürgen Peter Schmied: Sebastian Haffner. Eine Biographie Von Gabriela Weiss Di Spirito Von Urs Bitterli Sachbuch 21 Peer Steinbrück: Unterm Strich 16 Lew Tolstoj, Sofja Tolstaja: Eine Ehe in Briefen Lew Tolstoi: Krieg und Frieden Ulrich Schmid: Lew Tolstoi 22 Adrian Knoepfli: Im Zeichen der Sonne Von Gerd Kolbe Von Gabriela Weiss Di Spirito Reinhold Messner: On Top Von Andreas Tobler Von Mylène Jacquemart 23 Hermann Lübbe im Gespräch Von Urs Rauber Anton Corbijn: Inside The American Kurzkritiken Belletristik Von Christian Jungen 11 Georges Hyvernaud: Haut und Knochen Von Regula Freuler 24 Olaf B. Rader: Friedrich II. Alfried Wieczorek u. a.: Die Staufer und Italien Von Manfred Papst 25 Ernst Horst: Nur keine Sentimentalitäten Von Regula Freuler 26 Peter Gemeinhardt: Die Heiligen Georges Simenon: Die Verlobung des Monsieur Hire Von Geneviève Lüscher Von Thomas Köster Steven Uhly: Mein Leben in Aspik Von Peter Durtschi Jorge Luis Borges: Ein ewiger Traum Von Manfred Papst Das amerikanische Buch Jimmy Carter: White House Diary Von Andreas Mink Porträt 12 Pavel Kohout, Schriftsteller Agenda DPA / KEYSTONE Der Dissident Von Urs Rauber Kolumne 15 Charles Lewinsky Das Zitat von Antoine de SaintExupéry Die türkische Autorin Ayse Kulin («Der schmale Pfad») zu Gast an der diesjährigen Buchmesse Frankfurt. 27 Hans Traxler: Ich, Gott und die Welt Von Manfred Papst Bestseller Oktober 2010 Belletristik und Sachbuch Agenda November 2010 Veranstaltungshinweise Chefredaktion Felix E. Müller (fem.) Redaktion Urs Rauber (ura.) (Leitung), Regula Freuler (ruf.), Geneviève Lüscher (glü.), Kathrin MeierRust (kmr.), Manfred Papst (pap.) Ständige Mitarbeit Urs Altermatt, Urs Bitterli, Andreas Isenschmid, Manfred Koch, Gunhild Kübler, Charles Lewinsky, Beatrix Mesmer, Andreas Mink, Klara Obermüller, Angelika Overath, Stefan Zweifel Produktion Eveline Roth, Hans Peter Hösli (ArtDirector), Patrizia Trebbi (Bildredaktion), Monika Werth (Layout), Bettina Keller, Rita Pescatore (Korrektorat) Adresse NZZ am Sonntag, «Bücher am Sonntag», Postfach, 8021 Zürich. Telefon 044 258 11 11, Fax 044 261 70 70, EMail: [email protected] 31. Oktober 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 3 Belletristik Roman Mit dem Familien und Epochenroman «Das Haus Nire» von Kita Morio liegt endlich ein Hauptwerk der modernen japanischen Literatur in deutscher Sprache vor Buddenbrooks in Tokio Kita Morio: Das Haus Nire. Aus dem Japanischen von Otto Putz. Nachwort von Eduard Klopfenstein. JapanEdition im BeBraVerlag, Berlin 2010. 988 Seiten, Fr. 53.90. Von Manfred Papst Uferlos ist der Ozean der Weltliteratur. Wer sich auf ihn hinauswagt, kann immer wieder Neues entdecken. Zum Beispiel diesen fast tausendseitigen Fa milien und Epochenroman aus Japan, der in der Originalsprache erstmals 1964 erschienen ist, aber erst jetzt ins Deut sche übersetzt wurde, während er im englischen Sprachraum längst ein Be griff ist und auch in anderen europäi schen Sprachen vorliegt. Er bietet alles, Kita Morio Kita Morio wurde am 1. Mai 1927 als Saito Sokichi in Tokio geboren. Der Schulbesuch wurde durch die für alle Schüler obligatorische Arbeit in Rüstungsbetrieben unterbrochen. Beim Luftangriff auf Tokio vom 25. Mai 1945 ging das Haus der Familie in Aoyama in Flammen auf. Als junger Mann las Kita Morio Shakespeare, Goethe, Dostojewski, Nietzsche und Thomas Mann. Er studierte Medizin, arbeitete in der Psychiatrie und als Schiffsarzt. 1960 schaffte er mit den «Aufzeichnungen über die Seefahrten des Doktor Manbo» den Durchbruch als Schriftsteller. 1964 erschien der Roman «Das Haus Nire», der bis heute als sein Meisterwerk gilt. Seither hat er zahlreiche Bücher veröffentlicht. Auf Deutsch sind nur wenige Texte bekannt. 4 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Oktober 2010 was man von einem grossen Roman er wartet: Liebe und Tod, eine spannende Handlung, ein reiches Arsenal an Figu ren und Schicksalen, das facettenreiche Bild einer Epoche und einer Gesell schaft im Umbruch. Sein Autor ist 1927 geboren und hiess ursprünglich Saito Sokichi. Als Schrift steller legte er sich das Pseudonym Kita Morio zu. Er hat Romane, Erzählungen, Märchen verfasst und grosse Teile der Welt bereist. Bereits 1960 wurde ihm der AgutawaPreis verliehen, die höchs te Auszeichnung für japanische Schrift steller, 1976/77 wurde er mit einer fünf zehnbändigen Werkausgabe gewürdigt. In den 1990er Jahren hat er eine vierbän dige Biografie seines berühmten Vaters Saito Mokichi vorgelegt, der als Arzt eine psychiatrische Klinik leitete und gleichzeitig einer der bekanntesten Tan kaDichter seiner Zeit war. Gleichwohl wissen wir hierzulande fast nichts von Kita Morio. Das könnte sich jetzt ändern. Denn nach jahrelangen Vorarbeiten publiziert der tapfere kleine BeBraVerlag in Ber lin Kita Morios Opus magnum in einer gut lesbaren, mit Glossar und kundigem Nachwort versehenen Übersetzung. «Das Haus Nire» behandelt in seinem Kern die Jahre 1918 bis 1946, erfasst in Rückblenden auch die Zeit seit 1904. Er umspannt, ganz ähnlich wie Thomas Manns Roman «Buddenbrooks» (1901), der die Zeit von 1835 bis 1877 abdeckte, gut vier Jahrzehnte, wenn auch nicht vier, sondern nur drei Generationen. Der Vergleich mit dem genialen ers ten Roman des Lübecker Erzählers wird hier nicht leichtfertig gezogen. Kita Morio verehrte Thomas Mann schon als junger Mann über alles und eiferte ihm nach. Sein Pseudonym spielt auf den Protagonisten der Novelle «Tonio Krö ger» an, in dem er sein eigenes fragiles Wesen umrissen sah. Und der Roman titel «Nireke no hitohibo» nimmt ganz bewusst den japanischen Titel der «Buddenbrooks» auf. Kita Morio kam in seinem Werk immer wieder auf Thomas Mann zurück. Das Lübecker Geburts haus des Nobelpreisträgers besuchte er ebenso wie das Grab in Kilchberg. Autobiografisch geprägt Wie die «Buddenbrooks» ist «Das Haus Nire» stark autobiografisch geprägt. Im Zentrum seines erstes Teils steht Kita Morios Grossvater Saito Kiichi (1861– 1928), der im Roman Nire Kiichiro heisst. Er ist ein Mann, der aus der tiefs ten Provinz im Nordosten Japans stammt, am Ende der MejiZeit in Tokio Medizin studiert, sich in Deutschland auf dem Gebiet der Psychiatrie weiter bildet und nach seiner Rückkehr eine psychiatrische Klinik eröffnet. Er ist ein so intelligenter wie wendiger und gräbt sich in das Projekt einer umfassen den Psychiatriegeschichte, für die er vor allem deutsche Quellenwerke herbei schaffen lässt. Mit Nire Tetsukichi hat Kita Morio ein höchst kritisches, von der Lebenswirklichkeit des erfolgrei chen Arztes und Dichters Saito Mokichi weit abweichendes Bild seines Vaters geschaffen. In der dritten Generation setzt sich der Niedergang fort: Einige ihrer Vertreter sind gesundheitlich an geschlagen oder körperlich versehrt. Immerhin finden sie sich in ihrem glanz losen Leben einigermassen zurecht. Sich selbst porträtiert Kita Morio in der Figur des Nire Shuji, der Züge von Hanno Buddenbrook trägt. MILLER / INTERFOTO Spiel mit Zitat und Montage manchmal auch windiger Mensch: einer, der sich zum allmächtigen Patriarchen entwickelt und dennoch etwas von einem Hochstapler hat. Seine Klinik be steht aus einer prachtvollen, mit Säulen geschmückten Fassade und ärmlichen rückwärtigen Räumen: Er schummelt beim Spielen, trinkt unentwegt eine Bordeaux genannte rote Limonade und verheiratet seine Kinder mit der glei chen eigensinnigen Willkür, mit der er die von ihm selbst zusammengebrauten Medizinen verschreibt. Aber er hat Er folg und wird weithin geachtet. Kita Morio schildert diesen skurrilen Tyran nen, der als Parlamentarier vorüber gehend eine zweite (und finanziell rui nöse) Karriere macht, mit genüsslichem Spott, aber auch mit unverkennbarer Sympathie, während er andere Figuren, etwa Nire Kiichiros anmassende Frau oder seine egoistische Tochter Ryuko, mit sarkastischer Schärfe behandelt. Der Grossvater ist eine typische, mit unerschütterlichem Optimismus ausge stattete Gründerzeitfigur, die auch Schicksalsschläge wie einen verheeren den Brand in der Klinik zu überwinden versteht. Die zweite Generation ist ihm gegenüber von unsichererem, auch dunklerem Naturell. Sie kann sein Werk nicht mit der gleichen spielerischen Un ternehmungslust durch die Fährnisse der Epoche führen. Nire Tetsukichi, der in die Familie adoptierte Schwieger sohn, führt den Klinikbetrieb ohne echte Begeisterung weiter. Er entfremdet sich seiner Frau und seinen Kindern und ver Der japanische Autor Kita Morio entwirft ein Sittenbild Japans in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Shiba-Tempel in Tokio, 1920er Jahre. Anders als bei Thomas Mann, wo der Niedergang der Familie Buddenbrook mit ästhetischer Verfeinerung, Dekadenz und Lebensuntüchtigkeit einhergeht, lässt Kita Morio die Vertreter seiner zweiten und dritten Generation einfach in der Normalität landen: Sie sind mit telmässige Begabungen ohne besonde ren Ehrgeiz. Was hier den Verfall der Familie herbeiführt, sind in erster Linie äussere Einwirkungen: Wirtschaftskri sen, Naturkatastrophen und der Krieg. Wie Thomas Mann liebt Kita Morio das Spiel mit Zitat und Montage, wie er verfügt er über eine Vielzahl von Ton fällen. Lebhafte Dialoge stehen neben Exkursen in die Geschichte der Psycho pathologie und Medizin. Die Sprache der Politik und Rechtsprechung wird ebenso vorgeführt wie jene der Tages zeitungen. Einen besonderen Reiz als Zeitroman gewinnt das Werk durch die perspektivischen Wechsel: So erleben wir die japanischen Kriegsereignisse der Epoche so, wie sie der zum Studium in Deutschland weilende Nire Tetsuki chi in Deutschland mitbekommt, und umgekehrt sehen wir die Ereignisse des Ersten und Zweiten Weltkriegs, die Um wälzungen in Wien und München so, wie verschiedene Romanfiguren sie in Japan wahrnehmen. Aus kaleidoskopisch zusammenge fügten Details, die Kita Morio akribisch recherchiert hat, nicht zuletzt in Ge sprächen mit älteren Familienmitglie dern, aber auch durch Archivstudien, ersteht das Panorama einer Epoche. Es lebt von der Exaktheit des Autors eben so wie von seinem erzählerischen Schwung. Etwas unterscheidet den fern östlichen Erzähler allerdings von sei nem norddeutschen Idol: Bei Thomas Mann ist die Ironie das allgegenwärtige Stilprinzip. Das ist bei Kita Morio nicht so. Er hat zwar eine ausgeprägte humo ristische Ader. So lässt er seinen Patriar chen in dem Moment sterben, als dieser das Gelände für eine neue Klinik aus misst. Aber der Gestus des uneigentli chen Sprechens, des steten Verweisens auf die Doppelbödigkeit und Ambiva lenz des gerade so elegant Gesagten, ist seine Sache nicht. Er steht in der Tradi tion der grossen realistischen Erzähler des 19. Jahrhunderts. Mit ihren Stilmit teln hat er den ersten Roman des Bür gertums in Japan geschaffen. l 31. Oktober 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 5 Belletristik Roman Der kanadische Erfolgsautor Yann Martel führt den Leser in ein Spiegelkabinett – ein ungewöhnliches Buch über den Holocaust Der doppelte Henry Yann Martel: Ein Hemd des 20. Jahrhunderts. Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele KempfAllié. S. Fischer, Frankfurt 2010. 224 Seiten, Fr. 31.90. Von Marli Feldvoss Yann Martel, 1963 in Spanien geboren, geht in seinem neuen Roman gleich in medias res. Da wird nicht lange gefa ckelt. Erfolgsautor Henry muss die bitte re Pille schlucken, dass sein neuestes Buch vom Verleger in der Luft zerrissen wird. Fragen wie: Wo soll es ausgelegt werden, in der Literatur oder der Sach buchabteilung? Wo soll der Barcode an gebracht werden? Und worum geht es überhaupt in Ihrem Buch? sind der To desstoss für das in fünf langen Jahren erarbeitete zweiteilige Werk, das Roman und Essay (zum gleichen Thema) in einem Band vereint. Dass man sich über den Inhalt «Neue Darstellungsmöglich keiten des Holocaust» in die Haare gera ten kann, ist seit Adorno eine Binsen wahrheit. Der Autor zieht nach dieser niederschmetternden Erfahrung die Konsequenzen, verabschiedet sich vom Schriftstellerberuf, reist zurück nach Kanada und zieht mit seiner Frau Sarah in irgendeine anonyme Grossstadt, wo er ein neues Leben beginnt. Bereits seinem preisgekrönten Best sellerroman «Schiffbruch mit Tiger» (2001) hatte Yann Martel Betrachtungen über dessen Autor vorangestellt, der nun zur Hauptfigur des Romans avan ciert und eine selbstreferenzielle Ebene bestreitet. Das tragische Schicksal des Autors klingt allerdings wie eine vor Entlang des Jangtse China verliert seine Kultur Menschen treffen sich am Flussufer zum sonntäglichen Picknick. Ein Bootsfahrer schaut ihnen zu. Das könnte eine Idylle sein, wie sie in der Literatur vieler Sprachen besungen wird. Hier muss sich der Augenblick des Friedens gegen eine unwirtliche Umgebung durchsetzen. Die Menschen sitzen im chinesischen Chongqing unter riesigen Pfeilern, eine Hochstrasse führt über den Rand des Jangtse-Flusses. Die dunstige Atmosphäre erzählt ebenso von der Verschmutzung der Umwelt wie die braune Farbe des Wassers. 186 Städte liegen an der Lebensader Chinas, die Hälfte des Abwassers des ganzen Landes wird in sie geleitet, sie gilt als der grösste Verschmutzer des 6 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Oktober 2010 Pazifiks. Nadav Kander ist 2006 und 2007 von der Mündung des Jangtse 6500 Kilometer stromaufwärts bis zu seiner Quelle in der Provinz Sichuan gereist und hat die Veränderungen fotografiert, welche die schnelle Industrialisierung des Landes herbeiführt. Wohnblocks, Strassen und Fabrikanlagen verdrängen die historische Bebauung der Ufer. Der Fluss wurde dem 1961 in Israel geborenen Südafrikaner mit Wohnsitz in London zur Metapher für ein Land, dessen Menschen die Verbindung zu ihrer Tradition verlieren. Gerhard Mack Nadav Kander: Yangtze – The Long River. Hatje Cantz, Ostfildern 2010. 188 Seiten, 77 Farbabb., Fr. 81.90. weggenommene Rezeption, die bei einem HolocaustBuch kritischer auszu fallen droht als bei einer vergleichswei se harmlosen Tierfabel über einen ben galischen Tiger. Yann Martel spielt mit Verrätselungen und Spiegelungen von Anfang an. In «Ein Hemd des 20. Jahr hunderts» führt er seine Leser in ein re gelrechtes Spiegelkabinett, in dem es nicht nur einen, sondern gleich zwei Henrys gibt, wo sich nicht nur eine wei tere, sondern unzählige Erzählebenen auftun – darunter ein Theaterstück, das sich unter dem Titel «Beatrice und Ver gil» (so auch der englische Originaltitel des Romans) durch das ganze Werk schlängelt. Und wenn man die «Göttli che Komödie» aufschlägt und im ersten Gesang den dunklen Wald betritt, fällt einem sofort auf, dass auch dort die wil den Tiere ihr Unwesen treiben. Ohne allzu viel vom Inhalt zu verra ten, sei festgestellt, dass der Autor sich mit einer ganzen Reihe von Tierfabeln wie Orwells «Animal Farm», Flauberts «Legende von Sankt Julian dem Gast freien» und zweifellos auch Art Spiegel mans Comic «Maus. Die Geschichte eines Überlebenden» auseinanderge setzt haben muss. Kurzum: «Ein Hemd des 20. Jahrhunderts» ist eine Allegorie, in der Beatrice zum Esel und Vergil zu einem roten Brüllaffen gemacht und beide zu Führern durch die Hölle ernannt werden. Und die Story? Da kommt man nicht umhin, insgeheim wieder an die Londo ner Verlegerrunde zu denken, die den Spitzfindigkeiten ihres Erfolgsautors zu folgen nicht bereit war. Es geht um Henry und Henry, um besagten Autor und einen Tierpräparator, die durch einen Leserbrief – eher einen Hilferuf – zusammenfinden. Auf diese Weise macht Henry I Bekanntschaft mit der seltsamen Erscheinung von Henry II samt Werkstatt, die sich in einer abgele genen Strasse mit der Hausnummer 1933 befindet und deren Schaufenster mit einem drei Meter hohen Okapi in einem Diorama dekoriert ist. Die Auseinandersetzung mit dem fachmännischen und zugleich geheim nisvollen Treiben von Henry II, der nicht nur in die Details des Präparierens einführt, sondern sich auch als Hobby schriftsteller erweist und besagtes The aterstück verfasst, wird den Rest des Romans bestreiten. Die Spannung, die von dieser merkwürdigen Begegnung ausgeht und das Buch mit seinem stets in Andeutungen wach gehaltenen Sub text zu einer spannenden Lektüre macht, wird bis zum bitteren, ja kathartischen Ende durchgehalten – eine beachtliche Erzählleistung. Einerseits. Aber über die Frage, ob sich der Autor Yann Martel mit dieser Allegorie wirk lich das grosse Lob verdient, eine ange messene fiktionale Aufarbeitung des Holocaust geliefert zu haben, ist mit Sicherheit noch nicht das letzte Wort gefallen. l Literatur Günter Grass schreibt ein Loblied auf die Gebrüder Grimm, die im 19. Jahrhundert mit ihrem monumentalen Werk ein Lesebuch für das deutsche Volk schaffen wollten Zwei Wörternarren sowie ein Prediger in der Wüste unentbehrlichen Vokal: «Gerne sage ich Elritze, ergehe mich unter Eschen und Eichen, erinnere mich beim Entenessen an einst gegessene Enten, ecke Buchsei ten Eselsohren …» Dieses freie Sprachassoziieren führt, drittens, zu Erzählungen aus dem Leben des Günter Grass. Von C ist es nicht weit nach Calcutta, wohin er sich flüchtete, «nachdem mein Roman ‹Die Rättin› vom Chor der Critiker wie vormals Cas sandra abgestraft worden war». Der Artikel «Einheit» erinnert ihn an seine «Rede eines vaterlandslosen Gesellen» im Jahr der (in seinen Augen misslunge nen) deutschen Wiedervereinigung. Günter Grass: Grimms Wörter. Eine Liebeserklärung. Steidl, Göttingen 2010. 365 Seiten, Fr. 43.50. Von Manfred Koch Spiel mit Begriffen So gesehen ist Grass’ neues Buch nicht nur, wie der Untertitel besagt, «eine Lie beserklärung» an die Grimms und ihre Wörter, sondern auch eine Danksagung für wunderbaren Beistand in der eige nen Schriftstellerlaufbahn. Daraus erge ben sich die drei Themenbereiche des Buchs. Grass erzählt, erstens, die Le bensgeschichte der Grimms ab jenem Schicksalsjahr 1838, in dem sie den un möglichen Verlagsauftrag annahmen, zu zweit – ohne jegliche staatliche Hilfe – ein deutsches Wörterbuch zu erarbei ten. Sie kamen bekanntlich nur bis zum F. Wilhelm, der sich von vornherein auf das D konzentriert hatte, starb akkurat nach Vollendung «seines» Buchstabens Gekränkter Autor VOLK / LAIF Es sollte ein wissenschaftliches Monu ment und zugleich ein Lesebuch fürs ganze Volk werden. In der Einleitung zum Ersten Band des «Deutschen Wör terbuchs» («A – Biermolke», 1858) stellt Jacob Grimm sich vor, wie von nun an die deutsche Familie regelmässig am Tisch zusammenkommen und «mit An dacht» das neue Werk studieren könne: «warum sollte sich nicht der vater ein paar wörter ausheben und sie abends mit den knaben durchgehend zugleich ihre sprachgabe prüfen und die eigne anfrischen? die mutter würde gern zu hören.» In dieser Wunschvorstellung war der Lutherbibel ein ernsthafter Konkurrent erstanden: das Wörterbuch als Heilige Schrift der Nation! Zur Familienbibel hat es das Grimm sche Riesenwerk schon aus praktischen Gründen nicht gebracht, es gibt aber Menschen, die es tatsächlich wie ein Andachtsbrevier lesen: die Schriftstel ler. Denn Wörter sind ihr Handwerks zeug und ihre Droge. Eine «heillose Sucht» war es, so Günter Grass, die Jacob und Wilhelm «wortvernarrt Wör ter klauben, Silben zählen, die Sprache nach ihrem Herkommen befragen, Laut verschiebungen nachschmecken und verdeckten Doppelsinn entblössen» liess. Dass Grass diese Sucht nur zu gut kennt, kann man sich denken. Einen «Riesenaufwand an Wörterlust» be scheinigten ihm schon die Rezensenten der «Blechtrommel», das barocke Schwelgen in Wortkaskaden, deren Material dem Deutsch verschiedenster Regionen und Zeiten entstammt, ist ein Hauptcharakteristikum seines Stils. im Dezember 1859, Jacob knapp vier Jahre später nach Abschluss des Artikels «Frucht». Da Grass als Biograf nicht brav chronologisch, sondern alphabe tisch vorgeht, die Geschichte der Grimms am Leitfaden ihrer Wörter nacherzählt, ist, zweitens, über weite Strecken die deutsche Sprache mit ihren wechselnden Schicksalen die eigentli che Protagonistin. Aus den Grimmschen Einträgen zu Begriffen wie «Arbeit», «Freiheit», «Friede» entwickelt Grass deutsche Kulturgeschichte. Dann aber spielt er auch einfach mit den Lauten und Wörtern. Jacob Grimms seltsame Aversion gegen das E – ein «matter Laut», der sich im neueren Deutsch hässlich ausgebreitet habe – inspiriert ihn zu einer vergnügten Eloge auf den Günter Grass vor seinem Ferienhaus in Dänemark (2004). In diesen autobiografischen Abschnit ten ist Grass vor allem gekränkt. Sie sind, zum Nachteil des Buchs, eine neu erliche Selbstanpreisung seiner poli tischmoralischen Unantastbarkeit. Denn er hatte ja, nachdem er einmal von seiner jugendlichen NSBegeisterung kuriert war, in all den öffentlichen De batten, an denen er sich beteiligte, immer recht. Das scheint Grass’ tiefe Überzeugung zu sein. Aber – so heisst es wiederholt – niemand wollte auf ihn hören! Als sei ihm dieser Kindertrotz bei der Niederschrift selbst ein wenig peinlich geworden, greift Grass am Ende zum Stilmittel der karikierenden Über treibung: «Verschrien als Rechthaber, Besserwisser, Moralapostel, sehe ich mich, bespuckt und verhöhnt und miss achtet, wie vormals der biblische Sün denbock, der belastet mit der Men schenkinder schuldhaftem Tun in die Wüste geschickt wurde, wo gut predi gen ist.» Auch dieser Flirt mit der Selbstironie kann indessen nicht verde cken, dass die Lebenserinnerungen tat sächlich durch einen fragwürdigen Ecce HomoGestus geprägt sind. Wie viel anmutiger wirkt der Text hingegen, wo Grass den umgekehrten Weg einschlägt und die Vorteile des SichkleinMachens erläutert! Das Stich wort heisst «Daumen»: der «Aussen seiter im Volk der Finger», abseits ste hend, zu kurz geraten und doch der intelligente Chef, ohne den dem Hand verbund kein Griff gelingen will. Wil helm Grimms Märchenerzählung vom «Däumling» gab Grass einst die Idee ein, seinen vorsätzlichen Zwerg Oskar Matzerath zu erschaffen, der die Gros sen durch Schlauheit und eine gewaltige Stimme düpiert. Ein wenig mehr Matze rathsches Schelmentum hätte auch die sem Buch gutgetan. Meint der Autor vielleicht das, wenn er seufzt: «Ach, Oskar, wäre ich doch wie du/ein Däum ling geblieben.» l 31. Oktober 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 7 Belletristik Roman Tom Rachmans Début ist ein Abgesang auf den traditionellen Journalismus Vom Leben und Sterben einer Zeitung Tom Rachman: Die Unperfekten. Aus dem Englischen von Pieke Biermann. dtv premium, München 2010. 400 Seiten, Fr. 24.90. Das Buch ist tot, es lebe der Kindle! Die Zeitung ist tot, es lebe das iPad! Papier war gestern, Pixel sind heute und morgen. Weshalb also kommt jemand auf die Idee, einen Roman über ein Druckerzeugnis zu verfassen, das die Kids des 21. Jahrhunderts nur noch als vergilbtes Stopfmaterial aus Kisten mit Weihnachtsschmuck kennen? 400 gebundene Seiten über das Schicksal eines internationalen Blattes und dessen Mitarbeiter? Genau das hat Tom Rachman getan. Das Début des 34-jährigen Briten handelt von einem Berufsstand, der in seiner bis anhin bekannten Form vom Aussterben bedroht ist, und von einem Medium, für das dasselbe gilt. Die Zeitung im Mittelpunkt von «Die Unperfekten» trägt keinen Namen. Ihre Redaktionszentrale befindet sich in Rom, und sie erscheint täglich auf Englisch. Rachman erzählt seine Geschichte in Geschichten. Genauer: in elf Kapiteln, von denen jedes einem einzelnen Angestellten gewidmet ist. Jedes Kapitel ziert eine Schlagzeile sowie die Stellenbeschreibung der betreffenden Person. Zum Beispiel: «‹Neue Studie: Europäer sind faul›, Hardy Benjamin, Reporterin Wirtschaft/Finanzen» oder «‹Bagdad: 76 Tote bei Bombenanschlägen›, Craig Menzies, Nachrichtenchef». Jedes dieser Porträts könnte für sich alleine stehen. Dazu enthält es am Ende jeweils Passagen, in denen nach und nach die Biografie der Zeitung selber aufgerollt wird – von ihrer Gründung durch einen etwas mysteriösen Unternehmer im Jahr 1954 bis zu ihrer Schliessung 2007. Diese Teile heben sich von den übrigen deutlich ab, sowohl optisch durch Schrägschrift als auch durch ihre protokollarische Trockenheit. Ein Hauch Gostalgie Von der ungewohnten und durchaus ansprechenden Konstruktion des Romans einmal abgesehen, erweist sich Tom Rachman als ziemlich konventioneller Erzähler. Es geht ums Ich-du-und-wiralle-Zusammen. Um den Chefkorrektor Herman Cohen, der seine Kollegen mit seinem immer länger werdenden Stilführer tyrannisiert, dessen Pingeligkeit jedoch der romantischen Verliebtheit und Genussfreude weicht, kaum hat er die Schwelle seines Zuhauses überschritten. Rachman beschreibt die Schwierigkeiten des blutigen Anfängers Winston Cheung, der sich in Kairo als 8 � NZZ am Sonntag � 31. Oktober 2010 GUEORGUI PINKHASSOV / MAGNUM PHOTOS Von Sacha Verna Korrespondent versucht, und die Einsamkeit der Textredakteurin Ruby Zaga, die sich jeden Silvester in einem anderen Römer Hotel einquartiert und so tut, als wäre sie eine stressgeplagte amerikanische Geschäftsfrau auf Durchreise. Besonders gelungen ist «Der Kalte Krieg ist aus, ein heisser Tag fängt an». In diesem Kapitel stellt Rachman zum ersten und einzigen Mal eine Leserin der Zeitung vor. Und was für eine Leserin! Ornella de Monterecchi liest das Blatt seit 1979 vollständig, von vorne bis hinten wie ein Buch. Allerdings ist sie mit ihrer Lektüre am 23. April 1994 stecken geblieben. Sämtliche Ausgaben, die seither erschienen sind, stapeln sich bei ihr in den Schränken. Über «Mandela vor Wahlsieg in Südafrika» und «Selbstmord: Grunge-Rocker Cobain wird Ikone» kommt Ornella nicht hinaus. Die Gründe dafür enthüllt Rachman langsam und kunstgerecht wie in einem Mini-Krimi, und ein wahrhaft blutiges Drama eröffnet sich einem da. Stets machen Rachmans Figuren eine kleine Entwicklung durch. Hier ruiniert eine Affäre eine Ehe, die keine war, da gelangt jemand zu einer späten Einsicht. Es ist reizvoll, wie präzis Rachman die Selbstwahrnehmung seiner Akteure inszeniert, um sie später zu kontrastieren und dieselben Akteure aus der Perspektive anderer zu schildern. Den Roman durchzieht erwartungsgemäss ein Hauch von Nostalgie. Rachman versagt sich jegliche Spekulationen über die Zukunft des Mediums Zeitung oder der Presse an sich. Seine Zeitung Die Welt der Zeitungsmacher ist im Roman des jungen Briten Tom Rachman treffend gezeichnet. verfügt nicht einmal über eine anständige Internetseite. «Die Unperfekten» ist ein Abgesang auf den traditionellen Journalismus und auf die Zunft der Zyniker, deren grösste Sorge bei einer akuten Staatskrise darin besteht, wie sie kurz vor dem Abschluss noch einen Fünfzig-Zeiler darüber mit einem spritzigen Titel auf die Frontseite hieven sollen. Rachman beherrscht den Redaktionsjargon perfekt. Die Tonarten, die er wählt, passen zu den Individuen, die sie anschlagen. Sie wirken so ungekünstelt und unverkrampft wie der Roman. Ionventionell erzählt Gleichwohl fehlt den «Unperfekten» das gewisse Etwas. Nun spricht es immer eher gegen den Rezensenten, wenn dieser dem Autor vorhält, was er nicht versucht hat, bloss weil es an dem, was er versucht hat, nichts auszusetzen gibt. Dennoch: Tom Rachman schreibt über das sich wandelnde Geschäft mit der Realität. Wäre das nicht eine Gelegenheit gewesen, mit diesem Thema mit den Mitteln der Literatur stilistisch und inhaltlich ein wenig zu spielen? Mehr zu wagen als nur ein einigermassen originelles Experiment mit Bauelementen? Rachman webt wie so viele andere am Zottelteppich der Zwischenmenschlichkeiten. Dabei beschränkt er sich auf eine elegante Imitation der Wirklichkeit, die unterhaltsam ist und stellenweise richtig anrührend – die aber trotzdem oder eben deshalb von ein bisschen weniger Analogie und mehr Pixeln profitiert hätte. � Roman Mysteriöser Mordfall wächst zur klassischen Horrorgeschichte aus – ein Meisterwerk der modernen südamerikanischen Literatur Plötzlich stehen sie im Sumpf Soie pirate Geschichte und Stoffkreationen der Firma Abraham Die Zürcher Seidenfirma Abraham war bedeutender Lieferant der Pariser Modehäuser der Nachkriegszeit. Weltstars trugen die von Yves Saint Laurent und anderen geschaffenen Kleider, deren Seidenstoffe Abraham entworfen hatte. Mit einer Fülle an Stoffmotiven, Modefotografien und Dokumenten aus dem Firmenarchiv erzählt dieses aufwendig gestaltete Buch erstmals die Geschichte der Firma, die einst inkognito die Laufstege beherrschte. Die Publikation begleitet die Sonderausstellung Soie pirate.Textilarchiv Abraham Zürich im Landesmuseum Zürich (ab 22. Oktober 2010). 2 Bände, gebunden in Schuber, total 424 Seiten 644 farbige und sw Abbildungen, 24 x 30,5 cm ISBN 978-3-85881-311-4, sFr. 99.– | E 79.– Abgelegene Küste in Argentinien: Schauplatz eines Horrorromans des Schriftstellerpaars Ocampo/Bioy Casares. GEOTOP BILDARCHIV Kaum hat sich Dr. Humberto Huberman an den Tisch gesetzt, um seine Ge schichte über den Mord in Bosque del Mar zu Papier zu bringen, findet er sich schon mittendrin im Geschehen. Mit Hilfe von Tee, Honigtoast und ein paar Arsenkügelchen phantasiert er sich in das abgelegene Hotel an der argenti nischen Atlantikküste zurück, wo er einst die Arbeit an einem Filmdrehbuch zu vollenden gedachte. Wie in einem Film nimmt sich die kleine Strandszene aus, zu deren Zeuge Hubermann schon an seinem zweiten Tag am Meer wird. Aus den Gesprächen der Badenden schliesst er, dass es sich um Gäste seines Hotels handelt. Eine der Stimmen kommt ihm bekannt vor; es muss sich um seine ehemalige Patientin Mary Gutiérrez handeln, ihres Zeichens Übersetzerin von Kriminalromanen und ebenso arsenabhängig wie er selbst. Sie ist es, die einige Tage darauf mit Strych nin vergiftet wird. In aller gebotenen Zurückhaltung beteiligt sich Huberman an der Suche nach Marys Mörder, «reu mütig und errötend» muss er sich am Schluss seines Berichts eingestehen, dass er über Mutmassungen nie hinaus gekommen ist. Von allerlei kruden Spekulationen lebt dieses Buch ebenso wie von der lie bevoll ironischen Beschreibung der handelnden Personen. Höchst eindrück lich etwa die «zerzauste» Gestalt einer «Stenotypistin» genannten Hausgehilfin, die immer mal wieder aus irgendeinem dunklen Winkel tritt und die Fliegen klatsche schwingt. Nicht minder dubios der Knabe Miguel, Neffe der Hotelinha ber, der, wenn er nicht gerade im Keller <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0MLWwNAAAFU5AOA8AAAA=</wm> <wm>10CEWKsQ6AIAwFv4jmtaFQ7Ig4EQc1foFx9v8niYvDLXfXuyvho7b1aJszEDUw1MrwRUlyci5CWfOIbALGxMpRYJb8v0Odww4swAmm57pfGWVvdV0AAAA=</wm> www.scheidegger-spiess.ch Von Bruno Steiger unversehens Sumpf, der Boden ein eklig wabernder Teppich aus ineinander ver schlungenen Krebsen. Dr. Hubermans gelehrter Kommentar zu dem Phänomen kann als kennzeichnend für die Tonlage des Romans gelten: «Das Schlimme an einem solchen Schauspiel ist, dass man sich später in seiner Hölle erneut mit ihm konfrontiert sieht.» Silvina Ocampo (1903–1993) und Adolfo Bioy Casares (1914–1999) gehö ren zusammen mit Jorge Luis Borges zu den bedeutendsten Vertretern der ar gentinischen Moderne. Ocampo tat sich vornehmlich als Verfasserin von phantas tischen Geschichten hervor, während Bioy Casares mit seinem Roman «Morels Erfindung» zu Weltruhm gelangte. Die beiden waren dreiundfünzig Jahre mit einander verheiratet, das vorliegende Buch ist als ihre einzige Gemeinschafts arbeit in die Literaturgeschichte einge gangen. Es ist ein rundum begeisterndes, in seiner Art einzig dastehendes erzäh lerisches Kabinettstück, das so ziemlich alles, was heute an Spannungsliteratur herumgeboten wird, ganz weit hinter sich lässt. l Kunst I Fotografie I Architektur von Petra StrienBourmer. Nachwort von Heinrich Steinfest. Manesse, München 2010. 188 Seiten, Fr. 33.90. einen Albatros einbalsamiert, sich in ein gestrandetes Segelboot mit Namen «Joseph K.» verkriecht. Der Roman überrascht immer wieder mit unerwarteten, nur surreal zu nen nenden Wendungen des Handlungsver laufs. So entpuppt sich etwa Atuel, Ver lobter von Marys Schwester Emilia und lange Zeit Hauptverdächtiger, plötzlich als ein Kriminalinspektor namens At well. Erklärt wird der Namenswechsel mit keinem Wort. An Klärungen über haupt scheint in dem Hotel keiner wirk lich interessiert, die Gespräche drehen sich vornehmlich um Bücher. Noch das windigste Indiz wird sogleich in den Rahmen eines Zitats aus der Weltlitera tur gestellt, darin kommen Victor Hugo und Thomas Mann ebenso zu Ehren wie der Krimiautor Michael Innes. Was sich über weite Strecken wie eine brillante Vorwegnahme postmo dernen Erzählens liest, erhält zusehends den Charakter einer klassischen Horror geschichte. Aus dem von einem Sand sturm umtobten Hotel bricht man auf, um in den Dünen nach dem möglichen Täter zu suchen. Aus Sand wird dabei Scheidegger & Spiess Silvina Ocampo, Adolfo Bioy Casares: Der Hass der Liebenden. Aus dem Spanischen 31. Oktober 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 9 Belletristik Roman Geschichte einer türkisch-kurdischen Frauenfreundschaft voller politischer Fallgruben Religion bringt Unglück Ayse Kulin: Der schmale Pfad. Aus dem Türkischen von Angelika GillitzAcar und Angelika Hoch. Unionsverlag, Zürich 2010. 282 Seiten, Fr. 30.90. Als Mädchen in einem ostanatolischen Dorf hiessen sie Nevo und Zelo und waren unzertrennlich, bis Nevo mit ihrer Familie fortzog. Erst 30 Jahre spä ter begegnen sie sich wieder, die tür kische Journalistin Nevra Tuna, die mit einem spektakulären Interview im Ge fängnis ihre angeschlagene Karriere ret ten will, und die Kurdin Zeliha Bora, die dort wegen Separatismus ihre Haftstrafe absitzt. Wie die Namen haben sich auch die Frauen verändert. Welten trennen sie nun, die Abgründe des türkischkur dischen Konflikts. Nevra gibt sich nicht sofort zu erkennen. Mit scharfer Kritik am Freiheitskampf der Kurden provo ziert sie Zeliha, bis diese das Gespräch wütend abbricht und zur Tür geht. Erst dann sagt sie wie einst als Kind: «Geh nicht, Zelo, bitte geh nicht!» Nun er kennt auch Zeliha ihre verlorene Freun din wieder. Mit Tränen in den Augen umarmen sie sich. In den acht Stunden, die sie gemein sam in einem Besucherraum des Ge fängnisses verbringen, lassen sie Erin nerungen aufsteigen, erzählen sich, was sie seit ihrer Trennung erlebten und was aus ihnen geworden ist. Dabei öffnet sich ein weites Panorama weiblicher Le benswelten, das die Differenzen in der türkischen Gesellschaft spiegelt. Hier ein Mädchen aus einem kurdischen Stamm in Ostanatolien, das mit ihrem Freund durchbrennt, als es mit einem alten Mann verheiratet werden soll. Dort eine junge Türkin, die studiert, eine Familie gründet und nach einigen Jahren ihren Mann verlässt – aus Lange weile. Nevra versucht, ihre Freundin vom politischen Freiheitskampf abzu bringen und für die konkreten Probleme der kurdischen Frauen zu engagieren: «Denk doch nur mal an all die in schwar ze Carsafs gehüllten Frauen und Mäd chen, die aufgrund von Ignoranz und religiösem Wahn in ihren Häusern ver sauern, ohne je richtig zu leben.» Zwei Freundinnen finden sich Hin und wieder erinnert sich Nevra daran, dass sie für ein Interview gekom men ist, doch das Wiedersehen mit der einstigen Freundin drängt alles in den Hintergrund. In Rückblicken kommt mehrmals Zelihas Grossvater zu Wort, der den beiden Mädchen stundenlang Geschichten erzählte, etwa von der ur sprünglichen türkischkurdischen Ge meinschaft, aber auch von den inner kurdischen religiösen Spaltungen. Er wusste schon damals: «Für das meiste Unglück der Menschen ist die Religion verantwortlich.» 10 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Oktober 2010 WOLFGANG KUNZ Von Susanne Schanda Erst unzertrennliche Freundinnen, später politische Aktivistinnen ihrer verfeindeten Völker; Ayse Kulins Roman spielt in Ostanatolien. Am Ende des Tages hat Nevra nur die Geschichte von Cengiz auf ihrem Recor der. Cengiz, der junge Kurde, der weder mit der Religion noch mit dem Kurden tum etwas zu tun haben wollte, der un schuldig in die Hände der Polizei geriet, als Terrorist verdächtigt, fast zu Tode gefoltert wurde. Nach seiner Entlassung ging er voll Bitterkeit und Hass in die Berge und verschrieb sich dem bewaff neten kurdischen Separatismus. Nevra ist erschüttert von dieser Geschichte, doch sie kennt auch die andere Seite, die Opfer des kurdischen Terrorismus. Bei allem Verständnis für die Wut der Kur den hält sie deren Kampf für falsch. Obwohl der türkischkurdische Kon flikt eine prominente Rolle spielt, ist dieser Roman doch im Innersten getrie ben von der individuellen Erfahrung einer Freundschaft, die von Anfang an spielerisch, in kindlicher Unschuld die Gräben von Sprache und Kultur über wunden hat. Diese Freundschaft nicht im Schlagabtausch der Tagespolitik ver enden zu lassen, darum ringen die bei den Protagonistinnen bei ihrer Begeg nung im Gefängnis. Die Autorin Ayse Kulin, 1941 in Istan bul geboren, studierte Literaturwissen schaften und arbeitete als Reporterin, Redaktorin und Produzentin für Fernse hen, Werbespots und Kinofilme. Als Journalistin plante sie, eine Biografie über die inhaftierte kurdische Men schenrechtlerin Leyla Zana zu schrei ben. Das Projekt scheiterte daran, dass Zana die Autorin nicht empfangen wollte. Kein Wunder, dass «Der schmale Pfad» bei seinem Erscheinen 2005 in der Türkei vielen als Schlüsselroman über die prominente Aktivistin gilt. Spartanisches Setting Die Romanfigur Zeliha wurde wie Leyla Zana als Teenager mit einem viel älteren Mann verheiratet. Durch ihn politisiert, liess sie sich später ins Parlament wäh len. Wegen ihres Engagements für die kurdischen Rechte wurde ihre parla mentarische Immunität aufgehoben und sie wegen Landesverrats und Unterstüt zung einer terroristischen Organisation verurteilt. Die Parallelen sind frappant. Doch die Autorin Ayse Kulin betont, dass Zeliha und Nevra fiktive Figuren seien. Der Roman funktioniert auch ohne die Folie der realen Person Leyla Zana. Kulin ist eine hervorragende Er zählerin, die ein denkbar einfaches Set ting für ihre Geschichte gewählt hat: Zwei Personen verbringen zusammen acht Stunden in einem kahlen Gefäng nisraum. Dramatisch brechen hier Liebe, Schmerz und Trauer auf. Im bewaffneten Kurdenkonflikt in der Türkei sind in den letzten 25 Jahren mehr als 43 000 Menschen getötet wor den. Ayse Kulin behauptet nicht, ein Re zept für die Lösung des Konflikts zu kennen, aber sie erprobt in ihrem Roman einen Weg jenseits von Gewalt und Ge gengewalt. Und sie weiss: Es ist ein schmaler Pfad. l Roman Herman Koch zwingt uns zum Überdenken moralischer Standpunkte Das Handy wird Zeuge Kurzkritiken Belletristik Georges Hyvernaud: Haut und Knochen. Roman. Deutsch von Julia Schoch. Suhrkamp, Berlin 2010. 112 Seiten, Fr. 20.50. Georges Simenon: Die Verlobung des Monsieur Hire. Roman. Deutsch von Linde Birk. Diogenes, Zürich 2010. 173 S., Fr. 16.–. Ist die Würde genommen, bleibt nichts übrig als Haut und Knochen. Der Ich Erzähler von Georges Hyvernauds auto biografischem Kurzroman, der 1949 er schienen ist und von der Öffentlichkeit kaum beachtet wurde, kam wie sein Autor in deutsche Kriegsgefangenschaft und kehrt fünf Jahre später zurück. Jetzt sitzt er zu Tisch mit Verwandten, die Anekdoten hören wollen. «Da ist es, an wesend, schwer, klar, ein strotzendes und fettes Glück.» Doch es ist nicht seins. In bisweilen wütenden Sätzen analysiert er, wie das alte Leben nicht mehr passt. Es ist verstellt durch die De mütigung (am schlimmsten war für ihn, sich gemeinschaftlich entleeren zu müs sen). Doppelt hart ist die Rückkehr, weil der Protagonist kein Held ist. Er resi gniert, so wie sich der Autor nach einem zweiten literarischen Misserfolg ins Schulwesen zurückgezogen hatte. Regula Freuler Diogenes doppelt nach: Nachdem der Verlag 2008/9 sämtliche 75 MaigretRo mane von Georges Simenon neu heraus gegeben hat, in revidierten Überset zungen, beginnt er nun mit einer auf 50 Bände angelegten Auswahl der «Non Maigrets». SimenonKenner schätzen diese Romane seit je höher ein als die Bücher um den brummigen Kommissar. Meist handelt es sich ebenfalls um Kri mis, aber die Textur ist dichter, die Fi guren und Fälle sind überraschender, es herrscht nicht das Gesetz der Serie. Die 50 Romane erscheinen in chronolo gischer Reihenfolge ihrer Niederschrift; den Anfang macht deshalb «Die Verlo bung des Monsieur Hire» (1933), die pa ckende Geschichte einer Obsession, die Patrice Leconte 1989 mit Michel Blanc und Sandrine Bonnaire verfilmte. Zwei Bände pro Monat sollen fortan erschei nen. Freude herrscht. Manfred Papst Steven Uhly: Mein Leben in Aspik. Roman. Secession, Zürich/Berlin 2010. 266 Seiten, Fr. 34.90. Jorge Luis Borges: Ein ewiger Traum. Deutsch von Gisbert Haefs. Hanser, München 2010. 294 Seiten, Fr. 32.90. Dieser Débutroman irritiert vom Titel blatt an: Ein Leben in Sülze? Igitt. Er amüsiert, stimmt nachdenklich. Steven Uhly, ein Münchner mit bengalischen und spanischen Wurzeln, zeichnet eine deutschdeutsche Biografie nach. Sein Protagonist ist die Frucht eines Porno Drehs, schwängert unabsichtlich (ma nuell) seine eigene Grossmutter und seine Schwägerin in spe, wird zum Zu hälter und nennt sich nach einem Zu sammenbruch Steven Uhly: der Wil helm Meister einer Lost Generation. Über die Jahre versucht er herauszufin den, was Dichtung, was Wahrheit ist in seiner komplizierten Familie. «Meine Oma hat nie einen Hehl aus ihren Ge fühlen gemacht», lautet der erste Satz. Am Ende schreibt er sein Leben auf und beginnt: «Meine Oma hat stets einen Hehl aus ihren Gefühlen gemacht.» Ein ungemein zeitgenössischer Entwick lungsroman. Regula Freuler Dass Jorge Luis Borges (1899–1986) der grösste Autor der argentinischen Litera tur und wie Kafka, Joyce und Proust eine exemplarische Figur der Moderne war, steht ausser Frage. Seit Jahrzehnten be müht sich der HanserVerlag nachhaltig um das Werk des blinden Sehers. Eine zwölfbändige Werkausgabe legt Zeugnis davon ab. Die Essays des Erzählers, Lyri kers und Denkers gelten als Zentrum seines Werks. Sehr willkommen ist des halb ein Band, der bisher ungehobene Schätze des Meisters ans Licht fördert: Der BorgesKenner Gisbert Haefs hat aus dem Nachlass etliche Texte ausge wählt, die Borges nicht in die kano nische Ausgabe seiner Werke aufgenom men haben wollte, die aber gleichwohl höchst lesenswert sind. Sie handeln von Joyce und Jünger, Edgar Wallace und Chesterton, dem Zauber des Lateins, tausend anderen Dingen und – im Herz stück – vom Borges’ eigenem Leben. Manfred Papst Herman Koch: Angerichtet. Aus dem Niederländischen von Heike Baryga. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010. 320 Seiten, Fr. 30.50. DDP-IMAGES Von Simone von Büren Zwei Fünfzehnjährige legen sich auf dem Heimweg von einer Party mit einer Obdachlosen an, die vor einem Banko maten liegt. Was als Provokation be ginnt, eskaliert zur Gewalttat, welche die Jungen mit dem Handy aufzeichnen. Die Obdachlose kommt ums Leben, die brutalen Aufnahmen gelangen ins Netz und von dort in die Medien. Keiner er kennt die Täter – bis auf die Eltern. Das ist der Ausgangspunkt von Her man Kochs gefeiertem neuem Roman «Angerichtet». Was man anfangs auf grund eines nicht näher beschriebenen, aber offensichtlich verstörenden Han dyVideos nur erahnt, erschliesst sich häppchenweise zwischen Champagner und Smalltalk im Luxusrestaurant, in dem sich die Eltern der Täter – zwei Brüder und ihre Frauen – treffen, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Zum Erzähler macht der niederlän dische Autor den jüngeren Bruder Paul, dessen locker sarkastischer Stimme man sich vorerst getrost anvertraut. Die Tischgespräche und Pauls Beobach tungen, die Koch ebenso sorgfältig be schreibt wie der Maître d’hôtel die Ge richte, zeigen bald, dass die Eltern ziem lich unterschiedliche Vorstellungen von elterlicher Verantwortung haben und entsprechend verschiedene Strategien in der heiklen Situation ihrer Söhne. Der Roman beginnt leichtfüssig, ent wickelt aber einen düsteren Thriller Charakter dadurch, dass Paul aggressive Neigungen an den Tag zu legen und be unruhigende Geständnisse zu machen beginnt, welche die Tat seines Sohnes in ein neues Licht rücken. Durch diesen immer suspekteren Er zähler, der uns auch Informa tionen vorenthält, zwingt uns Koch, unseren eigenen moralischen Standpunkt zu überdenken. Macht man sich zum Kompli zen, wenn man Fragen «aus einem starken Be dürfnis nach Unkennt nis heraus» erst gar nicht stellt? Bis wohin gilt es, das eigene Kind zu schützen, und wo wird der Schutz zum Ver rat – am Kind, an der Ge sellschaft, an sich selbst? Was tut man aus Eigennutz, was dem Kind zuliebe und was aus Prinzip? l 31. Oktober 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 11 Porträt Der tschechische Dramatiker Pavel Kohout schildert in seinen Memoiren, wie er vom Kommunisten zum Wortführer des Prager Frühlings und dann zum kritischen EUBürger wurde. Urs Rauber hat ihn in Prag getroffen Der Dissident Am SmetanaQuai 2 in Prag, gegenüber dem Nationaltheater, liegt das Café Slavia. Seit 150 Jahren gehen hier Schauspieler, Musiker und Literaten ein und aus, finden im ArtdécoAm biente Inspiration und eine gute Bistroküche. «Zum ersten Mal kam ich mit 9 Jahren hierher, als ich mit meinem Vater das Begräbnis von Präsident Masaryk erlebte», erzählt Pavel Ko hout. Jahrzehnte später sei im Lokal sein Roman «Die Henkerin» entstanden. Seine dritte Frau Jelena studierte im Obergeschoss des gleichen Gebäudes an der Filmhochschule. «Beim War ten auf sie habe ich hier geschrieben.» Der tschechische Autor Pavel Kohout, ein Mann mit wachen, blaugrauen Augen und schlohweissem Haar, formuliert druckreif – auf Deutsch. Die Sprache, die er als Schüler gelernt und nach der Besetzung seines Landes durch Hitler 1938 verdrängt hatte, eignete er sich im Exil in Österreich ab 1979 erneut an: mit dem Wörterbuch und eiserner Disziplin. Seine gegen 30 Theaterstücke und über ein Dutzend Romane schrieb Kohout auf Tschechisch, seine Essays und Filmdrehbücher auf Deutsch. Der Schriftsteller kommt gerade von seinem Sommerhaus in Sázava, 50 Kilometer östlich von Prag – «ein Bauhaus, so alt wie ich, aus Pavel Kohout Pavel Kohout, 1928 in Prag geboren, wurde international bekannt als Schriftsteller und Dramatiker. Als einer der Wortführer des Prager Frühlings von 1968 wurde er aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen und über 20 Jahre totgeschwiegen. Er war Mitverfasser der Charta 77 und wurde 1979 ausgebürgert. Nach der samtenen Revolution 1989 kehrte er in sein Land zurück. Zu seinen bekanntesten Werken gehören: «August August, August» (1967), «Aus dem Tagebuch eines Konterrevolutionärs» (1969), «Die Henkerin» (1978), «Wo der Hund begraben liegt» (1987) und «Die Schlinge» (2008). Seine Autobiografie «Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel» ist soeben auf Deutsch erschienen (Osburg, 564 S., Fr. 39.90). 12 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Oktober 2010 Beton und Glas. Dort verbringe ich jeden Som mer». Nach dem Interview mit dem Journalis ten aus Zürich steht heute Nachmittag ein Be such bei seinem Prager Verleger auf dem Pro gramm. Dann ein Nachtessen mit dem Regis seur seiner Filme. Und morgen fährt Kohout nach Wien. Er lebe im Auto und im Zug. Was hält einen 82Jährigen, der morgens um acht seinen Tag beginnt und kaum vor Mitter nacht zu Bett kommt, derart auf Trab? «Ich warte immer noch auf Alterserscheinungen», Über 20 Jahre lang war der «Gedankenverbrecher» der Liebling der Polizei. Seine Staatssicherheitsakte, die er nach der Wende einsah, umfasst gegen 10 000 Seiten. entgegnet Kohout, wie aus der Pistole geschos sen, «leider sind sie noch nicht eingetreten.» So pendelt er zwischen seiner Absteige in Wien, seiner Wohnung in Prag und seiner klei nen «Taschenvilla» in Sázava. Und reist zu Le sungen in viele Städte der Welt. Pavel Kohout und seine Frau Jelena besitzen die doppelte Staatsbürgerschaft: «Wir wählen in Tschechien und Österreich, zahlen aber nur Steuern in Österreich. In Wien steht man nicht dauernd mit einem Bein im Gefängnis.» In Tschechien sei das Steuersystem noch jung und chaotisch, und Probleme mit den Behörden wolle er keine mehr. Früher war er, der «Gedan kenverbrecher», über 20 Jahre lang der Liebling der Polizei. Seine Staatssicherheitsakte, die er nach der Wende einsehen konnte, umfasst gegen 10 000 Seiten. In seinen Erinnerungen nennt er die Stasi das «Ministerium für Liebe». Sarkastischer Humor und Schwejksche Schlag fertigkeit zeichnen Pavel Kohout aus. Braun und schwer fliesst draussen die Mol dau. Und träge quält sich der Autoverkehr an diesem verhangenen Vormittag unter den Fens tern vorbei. Das «Slavia» ist erst zur Hälfte be setzt. Vor uns auf dem Tisch liegen die beiden tschechischen Originalbände von Kohouts Bio grafie. «War das mein Leben?» heisst der tsche chische Titel. War es das, Ihr Leben? Pavel Ko hout lacht kurz. Das frage er sich auch. Ab und zu komme es ihm unwahrscheinlich vor. Doch sein Leben sei überprüfbar. «Dank ihrer älteren Meistgespielter Bühnenautor, Wortführer des Prager Frühlings, Exponent der Charta 77, Gründer des Theaterfestivals deutscher Sprache: Pavel Kohout (82) im Café Slavia in Prag (September 2010). SVEN DÖRING /AGENTUR FOCUS Werke haben Schriftsteller das Pech, dass man ihre Entwicklung vom Idioten bis zur eventuell reiferen Person verfolgen kann.» Auch die Ge heimdienstAkten geben sein Leben wieder – «in den Kommentaren ziemlich blöd, aber in den Tatsachen korrekt». Der disziplinierte Geistesarbeiter Kohout führt seit 1954 ein Tagebuch, das mir später am Tag seine Frau Jelena in der Wohnung zeigen wird, die nur 300 Schritte vom Café Slavia ent fernt liegt. Es sind über 50 gebundene A5Hefte. Mit einem Kurzeintrag für jeden Tag des Jahres: Datum, Ort, zwei, drei Sätze zu Personen, Er eignissen und Erlebnissen. Die Schrift gut les bar, akkurat geführt. «Früher hatte er einen Vorrat an leeren Tagebüchern, jetzt hat er nur noch zwei», erzählt Jelena, die an ihrer Zigaret te zieht, «dann – glaubt er – wird er sterben.» Meistgespielter Autor Kohouts Autobiografie mit dem deutschen Titel «Mein tolles Leben mit Hitler, Stalin und Havel» führt den Leser in mäandernder Form zu den wichtigsten Stationen seiner Vita, über raschungsreich, durchzogen von Selbstironie. Seine künstlerische und politische Entwicklung spiegelt sich im literarischen Werk. Der Text ist ebenso von philosophischer Weitsicht, wie er bedeutende Auseinandersetzungen der europäi schen Intellektuellen der sechziger bis neunzi ger Jahre wiedergibt. Während Kohout spricht, funkelt an seinem linken Ringfinger ein kleiner Amethyst, ein Erbstück seines Vaters. Der 1928 in Prag geborene Autor hat viele Rollen gespielt. War idealistischer Kommunist in den fünfziger Jahren. Meistgespielter tsche chischer Dramatiker – «das bin ich bis heute, der einzige Konkurrent ist Václav Havel, aber der war dazu noch Staatspräsident». Dann Wortführer des Prager Frühlings ab 1967. Eine Dekade später Exponent der Charta 77 zusam men mit Václav Havel, Jirí Hájek, Ludvík Va culík und anderen. In den Achtzigern unbeque mer tschechischer Autor im Exil. Und nach seiner Heimkehr Gründer des Prager Theater festivals deutscher Sprache im Jahr 1996. Welche dieser Rollen mag er besonders? Welche hätte er lieber getilgt aus der Biografie? «Alles hat natürlich einen logischen Zusam menhang», erläutert Kohout und erzählt aus seinem Leben im Alter zwischen 10 und 40 Jah ren. Wenn man Schriftsteller sei, sei man immer links: «Man steht auf der Seite der Geächteten, der Schwachen und wird nicht zum Trouba dour der Reichen.» Dabei sei es aber zu diesem «Denkfehler» gekommen, der ideologische Wurzeln habe: Nach Weltwirtschaftskrise, Krieg und Niederlage des Nationalsozialismus habe man dankbar auf etwas Neues gesetzt: den Kommunismus. Auch im Westen unbequem «Erst einige Jahre später haben wir begriffen: Das war der Weg vom Teufel zum Beelzebub.» Doch vorerst kam es zum Prager Frühling 1968. In der Kommunistischen Partei hätten sich Hunderttausende von Menschen versammelt, die es gut meinten. Sie gewannen in der kor rumpierten Partei für kurze Zeit die Oberhand. «Das war – wenn Sie mich fragen – die ent scheidende Zeit. Die Phase, in der ich den Feh ler langsam, aber sicher abzustreifen und zu verstehen begann.» Seither habe er nie mehr etwas Böses verbrochen. Nach dem Ausschluss aus der KP ging er den Weg des Dissenses, des Widerstandes. So weit bis er auch im Exil einsam dastand, mit ein paar Kollegen, als sich die linke Szene Westeuropas (Claus Peymann, Peter O. Chotjewitz, Fritz Raddatz u. a.) von ihnen abwandte, weil sich die tschechischen Dissidenten gegen die Verharm losung des realen Sozialismus wehrten. «Wir 31. Oktober 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 13 störten ihre Träume», redet Kohout sich ins Feuer, «sie waren so blöd wie wir Jahre zuvor und hatten nicht den Mut, sich davon zu über zeugen, was hier lief.» Zum Eklat kam es an den deutschdeutschen Friedensgesprächen in Berlin im März 1986, als Pavel Kohout auftrat und die Blindheit westli cher Kollegen vor den totalitären Tendenzen des Sozialismus geisselte. «Die Primadonna Susan Sontag verliess bereits nach den ersten Sätzen den Saal», schreibt er in seinen Memoi ren. Sie und viele westliche Kollegen hätten ve hement die aggressive Politik Washingtons ge genüber dem friedliebenden Moskau verurteilt, aber sich geweigert, für den verhafteten Václav Havel ein gutes Wort einzulegen. In der Folge wurden Kohouts Stücke auch im Westen boykottiert. In Österreich drohte der Gewerkschaftsbund mit der Kündigung seiner 200 Abos, wenn das Wiener Volkstheater nicht seine Dramen absetze. «Wir waren zum zwei ten Mal Ausgestossene – nach dem Sozialismus nun in der freien Gesellschaft.» Versteht sich Pavel Kohout heute noch als Linker? Sicher, er habe die Trennlinie von links nach rechts nie überschritten, entgegnet er leidenschaftlich. Er habe immer die Sozialdemokratie gewählt: «Bis auf die letzten Wahlen im Mai 2010 – da habe ich, weil die Partei eine so katastrophale Politik gemacht hat, eine andere linke Kraft gewählt.» Archiv in die Schweiz gerettet Inzwischen hat die Sonne ein Loch in die Ne beldecke gerissen. Der Blick geht vom «Slavia» über die Moldau hinweg zur Prager Burg hin auf. Gut sichtbar ist in der Ferne das imposante Eckhaus am HradschinPlatz 1. Dort, wo früher die Schweizer Botschaft ihren Sitz hatte, lebte in den sechziger und siebziger Jahren auch Pavel Kohout. «Ich habe vier Schweizer Botschafter erlebt: Der letzte war Walter Jäggi. Wenn er jeweils von unserem Aussenminister gerügt wurde, dass er sich mit Havel, Kohout oder anderen treffe, hat er diesem erklärt: Wissen Sie, Herr Minister, wäh rend meiner Arbeitszeit bin ich Schweizer Bot schafter, in der Freizeit aber freier Schweizer Bürger, der treffen kann, wen er will .» Bei Nacht und Nebel trugen Jäggi und Kohout im Jahr 1977, kurz bevor der dissidente Autor aus seiner Woh nung geworfen wurde, sein Archiv in den Bot schaftskeller. Von dort transportierte Jäggi das Material in die Schweiz, um es vollständig zu ret ten. «Walter war ein grossartiger Mann. Als ich von der Stasi bewacht wurde, hat er uns einmal in Sázava mit seinem grossen Wagen mit Schweizer Standarte besucht und drei Tage bei uns ge wohnt. Unsere Bewacher waren sternsverrückt, weil sie nicht wussten, was tun, wenn sich der Schweizer Botschafter in ein belagertes Haus einquartierte.» Noch heute freut er sich diebisch über das Schnippchen, das sie der Staatsmacht geschlagen hatten. Im Gespräch wie aus der umfangreichen Au tobiografie wird klar, wie stark dieser tschechi sche Autor mit der Schweiz verbunden ist. Als im August 1968 russische Panzer den Prager Frühling niederwalzten, waren Pavel und Jelena gerade auf Urlaub in Italien. Günter Grass lud die beiden sofort zur Lagebesprechung in sein «Der Prager Frühling 1968 war die entscheidende Zeit. Die Phase, in der ich den Fehler langsam, aber sicher abzustreifen und zu verstehen begann.» 14 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Oktober 2010 OLDRICH SKACHA Porträt Die Stasi schrieb vom «süssen Leben» der Dissidenten: Jelena und Pavel Kohouts Neujahrskarte für 1977. Haus in Gordevio im Tessin ein. Dort waren auch Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt, die ihnen zum Asyl in der Schweiz verhelfen woll ten. Doch das tschechische Künstlerpaar dräng te zurück in die Heimat. All seine Prosarechte jedoch übergab Pavel Kohout dem Luzerner Verlag C. J. Bucher. So wurde Luzern, wo er heute noch manche Freunde besitzt, für ihn zur «Hauptstadt der verbotenen Literatur». Und in Zürich lebt bis heute Kohouts ältere Tochter Katerina, eine erfolgreiche Managerin. Zum «tollen Leben» des Pavel Kohout gehört auch die Freundschaft mit Václav Havel. Als dieser nach der samtenen Revolution im De zember 1989 zum Staatspräsidenten gewählt wurde, bot er Kohout den Posten des Kulturmi nisters an. Doch Kohout winkte ab mit der Be gründung: «Willst du wirklich, Václav, dass man in zwei Monaten unter deinem Balkon auf der Burg meine alten Verse aus den fünfziger Jahren rezitiert?» Nein, sagt mein Gegenüber im Café Slavia und schüttelt den Kopf. Eine staatliche Rolle habe er nicht mehr ausüben wollen: «Das war meine bürgerliche Reue für den Denkfehler aus den fünfziger Jahren.» Die Beziehung zwischen den beiden Litera ten kühlte sich etwas ab, als Havel Präsident wurde. Die Macht, auch wenn sie eine kleine ist, entfremdet die Menschen. Havel, von dem alle immer etwas wollten, fand Ruhe eigentlich nur noch bei seinen Bodyguards, mit denen er sich unbefangen über Fussball unterhalten konnte. «Ich bekam den Präsidenten, den ich schätze», resümiert Kohout, «und verlor den Menschen, den ich liebte.» Doch der gegensei tige Respekt sei geblieben. Heute regiert eine bürgerlichliberale Koali tion das Land, an der Spitze steht Staatspräsi dent Václav Klaus. Ihm ist Kohout in herzlicher Abneigung verbunden: «Er mag mich nicht, ich ihn nicht, aber wir benehmen uns höflich zuei nander.» Klaus’ skeptische Stimme innerhalb der EU hingegen findet er richtig. Befreundet ist Kohout mit Aussenminister Karel Schwar zenberg, dieser sonderbaren «Mischung aus Herzlichkeit, Intelligenz und Verrücktheit». Er sei gerne bereit, sagt er, diese bürgerlichlibera le Koalition vier Jahre loyal zu unterstützen. Sie arbeite einstweilen sehr gut und versuche, die schlimmsten Exzesse wie Korruption und Schuldenanhäufung zu korrigieren. «Ich liebe die Demokratie», schwärmt Ko hout, «sie ist voller Nachteile: Sie ist ungerecht, sie ist langsam, sie ist blind – aber sie ermög licht uns, bei den Wahlen alle vier Jahre das po litische Leben auf den Kopf zu stellen!» Eben seien von 200 Abgeordneten 120 neu ins Parla ment gewählt worden. «Es war eine Revolution – ich bin absolut zufrieden.» Der Lärmpegel ist inzwischen angeschwol len. Das Café Slavia hat sich gefüllt. Nun er scheint auch Kohouts Frau Jelena zum Essen mit dem jungen Dackel Barbar. Dieser be schnuppert freudig den Gast. Kohout bestellt drei Wiener Würstel, eines davon verzehrt seine Frau, die sich im Übrigen mit einem Glas Merlot und einem Becherovka, dem kleinen Kräuterschnaps, begnügt. Der Hund erhält von der Bedienung ein Becken Wasser hingestellt. Dramatischer Abgang Als ich am frühen Nachmittag mit dem Ehepaar Kohout das Café Slavia verlasse, erleben wir einen kurzen Schreckensmoment. Wir über queren die NarodniStrasse; Jelena geht mit Da ckel Barbar ein paar Schritte voraus – als Pavel Kohout neben mir plötzlich der Länge nach auf das Kopfsteinpflaster schlägt, gestolpert über eine kaum sichtbare Schwelle. Die Aktentasche springt auf, der Schlüsselbund aus der Hose. Nach zwei, drei Sekunden rappelt sich der Ge fallene auf, sucht seine Sachen zusammen – und streckt mir wortlos die linke Hand entgegen. Der Ringfinger oberhalb des Amethysts scheint abgeknickt: käsigweiss zeigt das obere Finger glied in die verkehrte Richtung. Verwundert kramt der 82Jährige sein Handy hervor, tippt die Nummer seines Arztes ein und organisiert sich Hilfe. «Lassen Sie ihn», sagt Jelena, die ein paar Meter entfernt steht und sich die anatomi sche Abnormität nicht ansehen mag, «er macht das schon.» Wir rufen ein Taxi – und nach we niger als zehn Minuten ist der Patient unter wegs zur Notfallstation. So wird der geplante anschliessende Besuch in der Wohnung des Schriftstellers zum Zwiege spräch mit seiner Ehefrau, die charmant Kaffee und Kekse aufträgt. Alle 20 Minuten unterbro chen von einem Handyanruf über den weiteren Fortgang in der Notfallabteilung eines Prager Spitals. Bis nach knapp drei Stunden der Banda gierte wieder auftaucht. Guten Mutes, doch mit dem starken Wunsch, nun einen Wodka zu trin ken. Der Finger sei nicht ganz gebrochen, stellte man fest. Den väterlichen Ring von 1914 jedoch musste man aufschneiden. «Wissen Sie», sagt Kohout zum Besucher aus der Schweiz, «Sie haben es mit einem Dramatiker zu tun.» l Kolumne Charles Lewinskys Zitatenlese GAËTAN BALLY / KEYSTONE Kinder müssen mit Erwachsenen sehr viel Nachsicht haben. Charles Lewinsky, 64, ist Schriftsteller, Radio- und TV-Autor und lebt in Frankreich. Seine Adventsparodie «Der Teufel in der Weihnachtsnacht» ist bei Nagel & Kimche neu aufgelegt worden. Kurzkritiken Sachbuch Helmut Birkhan: Magie im Mittelalter. C. H. Beck, München 2010. 206 Seiten, Fr. 20.50. Mathias Morgenthaler: Beruf und Berufung. Interviews. Zytglogge, Oberhofen 2010. 350 Seiten, Fr. 36.–. Im modernen Kulturkontext ist Magie und Aberglaube alles, was im Wider spruch zur christlichen Lehre, zum Er kenntnisstand der Naturwissenschaften und zur menschlichen Vernunft steht. Im Mittelalter war das nicht so einfach. Der Glaube an Hexen und Zauberer be herrschte das gesamte damalige Welt bild. Helmut Birkhan, Spezialist für Sprach und Religionswissenschaften in Wien, stellt die Denkmuster zusammen, die den mittelalterlichen Menschen dazu bewegten, sein eigenes Leben und das seiner Mitmenschen zu beeinflus sen. Birkhans Beispiele beschränken sich nicht auf das Mittelalter, er ent nimmt sie auch unserem Alltag. Und das macht das Büchlein so spannend, denn noch immer sind Aberglaube und Magie allgegenwärtig. Wer hat nicht schon in Rom eine Münze in die Fontana di Trevi geworfen oder jemandem für eine Prü fung die Daumen gedrückt? Geneviève Lüscher Menschen erzählen, was sie in ihrem Beruf tun und warum ihnen gefällt, was sie tun – ein scheinbar ganz anspruchs loses Projekt. Und doch führen diese Interviews von verschiedensten Seiten immer wieder ins Zentrum jener ge heimnisvollen Passung eines bestimm ten Menschen mit einem Interesse oder einer Tätigkeit, die wir dann Berufung nennen. Unternehmer, Künstler, Thera peuten, der Scherenschneider oder die ZenLehrerin – Mathias Morgenthaler hat 12 Jahre lang jede Woche ein Interview für den Stellenanzeiger des «Bund» ge führt. Rund 70 dieser Gespräche sind nun als Buch erschienen. Mal erfahren wir Sachliches, mal Persönliches, fast immer sind es Erkenntnisse, die langer Erfahrung entspringen. Etwa wenn Peter Bichsel erklärt, dass uns nicht unsere Fähigkeiten, sondern unsere Unfähig keiten den Weg weisen und er nur schreibe, weil er es nicht könne. Kathrin Meier-Rust Volker Reinhardt: Kleine Geschichte der Schweiz. C. H. Beck, München 2010. 176 Seiten, Fr. 25.90. Sybille Oetliker: Standhaft – rechtlos. Frauen im besetzten Palästina. eFeF-Verlag, Wettingen 2010. 221 Seiten, Fr. 29.–. Zeitgleich mit der neuen Schweizer Ge schichte von Thomas Maissen ist Volker Reinhardts Band zum gleichen Thema, der bereits 2006 erschienen ist, in einer erweiterten und aktualisierten Fassung neu aufgelegt worden. Reinhardt ist Pro fessor für Schweizer Geschichte an der Universität Freiburg. Knapp und kennt nisreich portioniert er seinen Überblick in 14 Kapitel, die den aktuellen For schungsstand wiedergeben: vom pro duktiven Mythos «Apfelschuss und Ty rannenmord» bis zum – etwas kurz gera tenen – Schlusskapitel «Allein in Euro pa?». Das handliche Büchlein enthält eine Zeittafel, Karten und Abbildungen. Es kommt dem neu erwachten Interesse an einer nationalen Geschichte jenseits nationalstaatlicher Überhöhungen und Beschränkungen entgegen. Stellenweise wünschte man sich etwas mehr «Erzäh lung» als nur trockene Darlegung. Urs Rauber Im Buch berichten 14 Frauen aus ihrem Leben im Westjordanland, in Gaza, wie es ist, daran gehindert zu werden, alltäg liche Dinge machen zu können: nach Jerusalem oder ans Meer zu reisen, Fe rien zu machen, spazieren zu gehen. Die Geschichten der Frauen, die die Journa listin Sybille Oetliker als Korresponden tin in Jerusalem getroffen hat, erzählen von Hoffnung, Widerstandswillen, Resi gnation. Was den Frauen bleibt, sind ihre Träume. «Ich möchte nur einen Tag deinen Pass haben und mich als freier Mensch fühlen», sagt die 39jährige Abla Khatib, die seit ihrer Geburt im Flüchtlingslager von Jenin wohnt. Es ist jene Frau, die ihren 12jährigen Sohn durch einen israelischen Angriff verlo ren hat. Seine Organe leben weiter in vier israelischen Kindern – mit Zustim mung der Eltern. Ein Lichtblick im end losen Konflikt Israel–Palästina. Gabriela Weiss Di Spirito Antoine de Saint-Exupéry Nein, Sie müssen nicht gleich losren nen. Lesen Sie die Seite ruhig zu Ende. Sie haben noch Zeit. Auch wenn Ihr Lieblingsenkel bald Geburtstag hat und Sie jetzt endlich wissen, was Sie ihm schenken wollen. Weil der Kleine doch so gern liest. Aber das Buch erscheint erst in zwei Wochen. Sie brauchen keine Angst haben, dass es gleich ausverkauft sein könnte. Die Startauflage beträgt eine halbe Million. Macht bei einem Buch preis von 17 $ 99 … grummel, grummel, murmel, murmel, schreibe neun, behal te eins … eine ganze Menge Knete. Nicht genug, um das USHaushaltsdefi zit zu sanieren, aber immerhin. Dabei könnte der Autor einen klei nen Zustupf zum Defizit gut gebrau chen. Er heisst nämlich Obama. Ja, der amerikanische Präsident hat wieder mal ein Buch verfasst. Diesmal keine wahlkampftaugliche Autobiogra fie, sondern ein Kinderbuch. «Of Thee I Sing» heisst es, und er hat es für seine Töchter geschrieben. Die haben sich zwar einen neuen iPod gewünscht, aber man kann nicht alles haben. Bei selbstgebastelten Geschenken empfiehlt es sich, Begeisterung zu heu cheln. Das gilt für glismete Socken, Clownmasken aus Salzteig und ganz besonders für Bücher. Schliesslich hat sich da jemand tagelang hingesetzt und beim Denken eine ganze Schachtel Bleistifte zerkaut. Oder als moderner Mensch die Tastatur seines Computers. Das Verfassen von Kinderbüchern ist im Moment angesagt. Kinder sind ja fast so populär wie Pandabären. Madonna hat ein Kinderbuch ge schrieben. John Travolta ebenfalls. Und Nena sowieso. Ich werde mir Obamas Beitrag zu dieser Serie ersparen. Ich bin ja kein Kind mehr. Dafür habe ich in einer schlaflosen Nacht darüber nachgedacht, welche Titel wir wohl zu erwarten haben, wenn auch die Schweizer Promis auf den Trend aufspringen. Die Redaktion von «Bücher am Sonntag» hat mir ihr Trendoskop ge liehen, und so kann ich Ihnen heute schon ganz exklusiv die drei Toptitel aus der eidgenössischen KinderBest sellerliste von übermorgen nennen: HansRudolf Merz: «Mein Freund Ghadhafi: neue Märchen aus tausend undeiner Nacht». Roger Federer: «Wie man Zwillinge bekommt: Das Geheimnis des zweiten Aufschlags». Und natürlich Christoph Blocher: «Mein erster Anker und anderes See mannsgarn». Drei Bücher, die unter keinem Weih nachtsbaum fehlen dürfen. 31. Oktober 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 15 Sachbuch Russische Literatur Der Briefwechsel zwischen Lew Tolstoi und seiner Frau Sofja gibt Einblick in das schwierige Eheleben und zeigt die Radikalisierung des adligen Schriftstellers Schlachtenmaler und Ehekrieger Lew Tolstoj, Sofja Tolstaja: Eine Ehe in Briefen. Herausgegeben und aus dem Russischen übersetzt von Ursula Keller und Natalja Sharandak. Insel, Berlin 2010. 494 Seiten, Fr. 34.90. Lew Tolstoi: Krieg und Frieden. Aus dem Russischen übersetzt und kommentiert von Barbara Conrad. Hanser, München 2010. 2288 Seiten, Fr. 81.90. Ulrich Schmid: Lew Tolstoi. C. H. Beck, München 2010. 125 Seiten, Fr. 14.50. Von Andreas Tobler Sein Brustkorb hob und senkte sich. Sein Herz schlug und schlug – und dann nicht mehr: Lew Tolstoi war tot. Der Tod des 82Jährigen, der mit «Krieg und Frieden» und dem Roman «Anna Karenina» Weltruhm erlangt hatte, war ein Medienereignis – nicht zuletzt wegen der dramatischen Vor fälle in seinen letzten Lebenstagen: «Tolstoi seit 10. Oktober verschwun den», meldete die «New York Times» am 12. November 1910 und lieferte von nun an täglich neue Meldungen. «Tols toi wurde gefunden. Seine Frau beging Selbstmordversuch.» – «Tolstoi schwer krank. Weiterreise unmöglich.» – «Tols toi geht es besser. Seine Frau ist bei ihm.» – «Tolstoi im Delirium.» Drei Lew Tolstoi Lew Tolstoi wurde 1828 in eines der ältesten Adelsgeschlechter Russlands hineingeboren. Mit «Krieg und Frieden» (1868), dem Roman «Anna Karenina» (1878) und seinen Schriften zu lebensphilosophischen Fragen avancierte er zum berühmtesten Russen seiner Zeit. Mit seinen Schriften geriet er in Konflikt mit der zaristischen Obrigkeit, er wurde aus der orthodoxen Kirche ausgeschlossen. Als er im Oktober 1910 sein Wohnhaus fluchtartig verliess, erkrankte er an einer Lungenentzündung. Tolstoi starb am 20. November 1910 im Bahnwärterhäuschen von Astapowo – umlagert von der ihn verfolgenden Weltpresse. 16 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Oktober 2010 Tage später, am 20. November 1910, war Tolstoi tot. Hundert Jahre nach Tolstois Tod kann man anhand des Briefwechsels zwi schen dem Schriftsteller und seiner Gat tin das Eheleben der Tolstois Revue pas sieren lassen und lesend ergründen, warum er am Ende seines Lebens flucht artig das Landgut seiner Familie ver liess, wo er geboren wurde, und seiner Frau jenen Brief hinterliess, in dem er ihr nach fast fünfzig Jahren Ehe mitteil te, er halte das Leben «in diesen Verhält nissen des Luxus» nicht mehr länger aus und gehe nun fort aus dem weltlichen Leben, um in Zurückgezogenheit und Stille seine letzten Tage zu verbringen. Idealerweise liest man den Brief wechsel zusammen mit der Biografie Sofja Tolstajas («Ein Leben an der Seite Tolstojs»), die das Herausgeber und Übersetzerinnenduo Ursula Keller und Natalja Sharandak letztes Jahr veröffent lichte. Dann erhält man Einblick in eine Ehe, in der die 16 Jahre jüngere Sofja An drejewna von seiner sexuellen Erfah rung und Begierde überfordert ist und in der er sich als rabiater Patriarch gebär det, der für die Emanzipation nur Ver achtung übrig hat: Als Sofja Tolstaja nach der schweren Geburt des fünften Kindes nicht mehr schwanger werden wollte, drohte er mit der Trennung und nötigt damit seine Frau zu insgesamt sechzehn Schwangerschaften. Überzeugter Pazifist Neben den Kindern – dreizehn kamen lebend zur Welt, acht erreichten das Er wachsenenalter – ist eines der wichtigen Themen der frühen Briefe das literari sche Werk des Mannes, für das Sofja An drejewna bereitwillig ihre eigenen lite rarischen Ambitionen zurückstellte. Wiederholt erkundigte sie sich in ihren Briefen nach «unserem Heiligsten», dem monumentalen Epos «Krieg und Frieden», an dem Tolstoi nur gerade fünf Jahre lang, von 1863 bis 1868, gear beitet haben will. In langen Nächten schrieb sie das schwer entzifferbare Ma nuskript ihres Mannes mehrfach ins Reine: «Sobald ich mich zum Schreiben niedersetze, werde ich in eine poetische Welt getragen, und es scheint mir manchmal, dass nicht nur Dein Roman besonders gut ist, sondern dass auch ich besonders klug bin.» Aus Tolstois Brie fen dieser Zeit erfahren wir von seinem Besuch in Borodino, wohin er 1867 ge reist war, um die Szenen der blutigen Schlacht von 1812 so zu schildern, «wie es noch nicht dagewesen ist». Tatsächlich gehört die Darstellung der Schlacht von Borodino zu den be eindruckendsten Szenen, in denen Tols toi – seit der Teilnahme am Krimkrieg ein überzeugter Pazifist – die Schrecken des Krieges zeigen kann: «Alles», was Fürst Andrej Bolkonski im Lazarett von Borodino um sich erblickt, «ver schwamm zu einem allgemeinen Ein druck von nacktem, blutverschmiertem menschlichem Körper». Sieben Jahre zuvor, in der Schlacht von Austerlitz, hatte sich Bolkonski noch mit der Hoff nung in den Krieg gestürzt, dass er «endlich zum ersten Mal all das zeigen» kann, was er zu leisten vermag. Doch in der Schlachtenwelt von «Krieg und Frieden» gibt es keinen Platz für Hel dentum, was Tolstoi auch durch seinen antiheroischen Stil zum Ausdruck bringt, den Barbara Conrad in ihrer Neuübersetzung sehr gut einfängt. Schon bald liegt Bolkonski scheinbar tödlich verwundet auf dem Schlachtfeld von Austerlitz und macht in einem Nah toderlebnis seinen religiösen Privatfrie den. «Über ihm war nichts mehr ausser dem Himmel – dem hohen Himmel […] mit ruhig über ihn hingleitenden grauen Wolken. Wie still, ruhig und feierlich ist es doch, überhaupt nicht so, wie es war als ich lief , dachte Fürst Andrej […] Wie konnte ich denn früher diesen hohen Himmel nicht sehen? […] Nichts, ausser ihm ist da nichts. Aber nicht ein mal das ist, nichts ist ausser Stille, Ruhe. Gott sei Dank! .» Nichts als Gott und der Himmel über dem gefallenen Soldaten? Bolkonski be findet sich noch immer in der Rücken lage, als sich Napoleon über ihn beugt: «Voilà une belle mort.» Tolstoi setzt in seinem Schlachten und Sittengemälde alles daran, Napoleon als zynischen Machtmenschen darzustellen und zu RUE DES ARCHIVES / TAL / SZ PHOTO demonstrieren, dass es nicht Feldherren wie dieser sind, die das Geschick der Völker und den Verlauf der Geschichte bestimmen. Dazu greift Tolstoi im Epi log zu einem Vergleich mit einer Ham melherde, in der eines der Tiere gemäs tet wird und bald doppelt so dick ist wie die anderen. Dass dieser fettgepolsterte Hammel für Fleisch getötet wird, muss den anderen Tieren «als verblüffende Kombination von Genialität mit einer ganzen Reihe von ungewöhnlichen Zu fälligkeiten erscheinen». In der Ge schichte gibt es nach Tolstoi also weder Zufall noch Genies. Die Jahre, in denen Tolstoi an seinen grossen Erzählwerken arbeitete, gehör ten für Sofja Andrejewna zu den glück Die Idylle trügt. Das Ehepaar Sofja und Lew Tolstoi hatte sich mit den Jahren auseinandergelebt (undatiertes Bild). lichsten ihrer Ehe. Nach Abschluss des Romans «Anna Karenina», der 1878 er schien, durchlebte Tolstoi jedoch eine schwere Krise, nach der er das einfache Leben zu predigen begann, sich von allem Besitz freimachte und in seinen religiös weltanschaulichen Schriften der Gesell schaft, der Kirche, dem Staat, der Kunst und der Sexualität den Kampf ansagte. Entfremdung der Eheleute In seiner kompakten, unbedingt lesens werten TolstoiBiografie legt Ulrich Schmid mit überzeugenden Argumenten dar, dass diese «Wende» nicht als eine prinzipielle, sondern vielmehr als eine Radikalisierung bereits früher gefasster Ansichten zu verstehen ist. In der Ehe führte Tolstois Radikalisie rung zu schwerwiegenden Konflikten. «Wusstest Du denn früher nicht, dass es Hunger gibt, Krankheit, Unglück und schlechte Menschen?», fragt Sofja in einem ihrer Briefe und versucht ihn zur Räson zu bringen: «Es gibt auch Freude, Gesundheit, Glück und gute Menschen. Gott muss Dir helfen, was kann ich denn tun?» Zu tun gab es genug: Sofja Andre jewna verwaltete fortan das Landgut und kümmerte sich um die Finanzen, für die sich ihr Mann nicht mehr interes sierte. «Ich kann – sei nicht böse, mein Herz – diesen Gelddingen absolut keine Wichtigkeit beimessen.» Eine Entfrem dung nahm ihren Lauf, die schliesslich zu Tolstois Flucht führte. l 31. Oktober 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 17 Sachbuch Memoiren Der französische Journalist und Filmemacher Claude Lanzmann schreibt über sein Leben, sein Lieben und über seine Leistung Er fasste die Shoah in Bilder Claude Lanzmann: Der patagonische Hase. Erinnerungen. Rowohlt, Reinbek 2010. 544 Seiten, Fr. 37.90. Von Klara Obermüller Viel hatte nicht gefehlt, und Simone de Beauvoir wäre schon Anfang der fünfziger Jahre in den Schweizer Alpen ums Leben gekommen. Von Zermatt aus war sie zum Theodulpass aufgebrochen, in Espadrilles, ohne Sonnenschutz und ohne Proviant, und nur mit Hilfe der italienischen Bergwacht heil wieder heruntergekommen. Der Mann an ihrer Seite damals: Claude Lanzmann, Journalist und Filmemacher und von 1952 bis 1959 ihr Liebhaber. Genauer: ihr «sechster Mann», wie er selbst in seinen Erinnerungen mit «Stolz und Entsetzen» vermerkt. Die Szene im Hochgebirge ist symptomatisch, nicht nur für Simone de Beauvoir, sondern mehr noch für Claude Lanzmann, dessen Leben von Leichtsinn, Wagemut und Selbstüberschätzung geprägt war, aber auch von der Angst, zu versagen und andere damit in Gefahr zu bringen. In einer höchst unkonventionellen und gänzlich areligiösen jüdischen Familie aufgewachsen, schloss Lanzmann sich früh der Résistance an, studierte nach dem Krieg Philosophie in Tübingen, war Lektor an der Freien Universität in Berlin, schrieb als Journalist für «France Soir» und «Elle», leitete Sartres Revue «Les Temps Modernes», engagierte sich für die Unabhängigkeit Algeriens und wandte sich schliesslich dem Film zu. Mit «Shoah», seinem dokumentarischen Monumentalwerk über die Vernichtung der Juden in Europa, ist er in die Zeit- und in die Filmgeschichte eingegangen. Heute ist Claude Lanzmann 85 Jahre alt, hält Rückschau und schmiedet gleichzeitig Pläne. Denn trotz seines hohen Alters ist er «von der Welt weder übersättigt noch ermattet, und hundert Leben würden mich nicht müde machen», wie er in seinen soeben auf Deutsch erschienenen Memoiren auftrumpfend schreibt. Oder besser: sagt. Denn die Erinnerungen sind nicht geschrieben, sondern diktiert. Und das merkt man. Lanzmann erzählt weitschweifig, bisweilen geschwätzig. Er verliert sich im Anekdotischen und weicht immer wieder von der Chronologie ab, was die Lektüre nicht eben einfach macht. Wirklich schlimm ist das allerdings nicht. Denn Claude Lanzmanns Erinnerungen kreisen ohnehin stets um das Eine, und das ist er selbst: sein Leben, sein Lieben, seine Leistung. Was immer er anpackte im Verlauf der Jahre, er war immer der Erste, der Beste, der Grösste, 18 � NZZ am Sonntag � 31. Oktober 2010 HADJ / SIPA Ireisen um sich selbst der Einzige. Schade eigentlich. Denn dieser Mann hat durchaus einiges vorzuweisen, worauf er stolz sein darf. Nicht zuletzt seinen über neunstündigen Dokumentarfilm «Shoah», in dem es ihm gelungen war, allein durch Gespräche das Grauen des Holocaust bis hart an die Grenze zwischen Leben und Tod nachvollziehbar zu machen. Die Passagen über das jahrelange Ringen mit diesem Stoff gehören denn auch zu den interessantesten des ganzen umfangreichen Buches, und die Leistung des Films ist durch keine Eitelkeiten, Beschönigungen und Selbststilisierungen zu schmälern. Zentrales Thema des dokumentarischen Werks, so betont Lanzmann, sei der Tod und nicht wie in anderen Holocaust-Filmen das Überleben gewesen, und die ganz grosse Schwierigkeit habe folglich darin bestanden, die nicht existierenden Bilder aus den Gaskammern durch Zeugenaussagen zu ersetzen. Nur so konnte er dem Unmöglichen, das er anstrebte, nahekommen: Tote über Tote reden zu lassen. Den Beginn der Dreharbeiten beschreibt er mit den Worten: «Ich fühlte mich am Fusse einer schreckenerregenden, unerforschten Nordwand, deren Gipfel unsichtbar, von undurchdringlichen Wolken verhüllt war.» Und es war ihm bewusst, dass ihn diesmal keine Bergwacht vor dem möglichen Absturz bewahren würde. Bei der Lektüre von Lanzmanns Lebenserinnerungn wird deutlich, dass der «Shoah»-Regisseur Claude Lanzmann (links) mit dem Autor des gleichnamigen Buches Marek Halter (ganz rechts) in Auschwitz am 27. Januar 2005. Tod – «die letzten Minuten der Verurteilten», wie er einmal gesteht – die eigentliche Obsession dieses so vitalen, lebenshungrigen und geltungssüchtigen Mannes war. Ihr setzte er die reine Gegenwart unreflektierter Lebendigkeit entgegen, die er in jenem Hasen verkörpert sah, der ihm auf einer Fahrt durch Patagonien unversehens vors Auto gelaufen war. So viel zu dem etwas kryptischen Titel des Buches, der sich im Verlauf der Lektüre in seiner existenziellen Bedeutung erschliesst. Jsrael blieb ihm fremd Leider besteht das Buch aber nicht nur aus tiefschürfenden Passagen, sondern wartet vielmehr mit einer Fülle von Nebensächlichkeiten und einigen Peinlichkeiten auf. Spannend sind Lanzmanns Reiseeindrücke aus Nordkorea und China, berührend die Geschichten seiner aus allen Teilen Osteuropas nach Frankreich eingewanderten Familie und ganz besonders lesenswert natürlich die Erinnerungen an seine Freundschaft mit Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir oder auch die Reflexionen über sein zwiespältiges Verhältnis zu dem stets als brüderlich und zugleich fremd empfundenen Israel. Auf diese relevanten Erfahrungen hätte der Autor sich beschränken sollen. Die langfädigen Schilderungen akademischer Querelen, fliegerischer Heldentaten und jugendlicher Bordellbesuche hätte man ihm dafür gerne geschenkt. � Kolonialgeschichte Wie der jüdische Arzt Emin Pascha aus Schlesien zum britischen Gouverneur im Süden des Sudan wurde Patricia Clough: Emin Pascha, Herr von Äquatoria. Ein exzentrischer deutscher Arzt und der Wettlauf um Afrika. DVA, München 2010. 336 Seiten, Fr. 38.90. Von Christoph Plate Es gab eine Zeit, so um 1890, da kannte in Mitteleuropa fast jedes Kind diesen exotischen Namen: Emin Pascha. Damals war der als Eduard Schnitzer geborene Arzt, Naturkundler, Arabist und Menschenfreund in Ostafrika verschollen. Jahrelang wurde nach dem Mann gesucht, der als Jude zum Christentum konvertierte und später wahrscheinlich Muslim wurde. Zwar wusste man, wo sich der Gouverneur der Provinz Äquatoria aufhielt. Aber man konnte weder aus Khartum noch aus Kampala zu ihm gelangen. Henry Morton Stanley, der schon den Missionar David Livingstone mit den Worten «Dr. Livingstone, I presume» entdeckt hatte, suchte auf einer langen Expedition durch die Urwälder des Kongo nach dem wundersamen Pascha. Nachdem er den Kontinent von West nach Ost mit Trägern aus Sansibar durchquert hatte, fand er ihn am Albertsee, dort, wo heute Uganda und KongoKinshasa aneinandergrenzen. Dieser 1840 geborene Schlesier war von innerer Unruhe getrieben: Er praktizierte als Arzt auf dem Balkan und trat in die Dienste des osmanischen Reiches. Auf Umwegen, die zu jenen Zeiten Jahre dauern konnten, kam er nach Lado und Wadelai. Diese Aussenposten der Briten gehörten damals zum Süden des Sudan, heute ist die Gegend Staatsgebiet von Uganda. Der arabische Herrscher im 1600 Kilometer nördlich gelegenen Khartum machte den merkwürdigen Deutschen, der Türkisch und Arabisch sprach, zum Gouverneur der Provinz Äquatoria. Der Statthalter legte Vorräte an Elfenbein an, er organisierte die Nutzung der reichen Böden Äquatorias. Und er wartete manchmal Jahre auf ein Schiff aus Khartum, das ihm naturkundliche Fachzeitschriften, Post, Munition und Rotwein bringen würde. Die britische Autorin Patricia Clough, die lange als Deutschland-Korrespondentin der «Times» und des «Independent» gearbeitet hat, erzählt die Geschichte, die seit «Generationen auf den Dachböden der Vergangenheit» geschlummert habe. In der Tat ist dieser Pascha der faszinierendste und rätselhafteste unter den Entdeckern Afrikas. Eben weil sein Leben nicht gradlinig verlief, weil es Brüche in der Biografie gab, bis hin zu seiner Ermordung im Alter von 52 Jahren im Kongo. Pascha war kein brutaler Eroberer wie der Deutsche Carl Peters und kein Raffzahn wie Henry Morton Stanley. Er wurde nach den Jahrzehnten, in denen er nicht ein einziges Mal in Europa war, irgendwann ein Teil des exotischen Ganzen, das er verwalten sollte. Seine Lethargie und Entscheidungsschwäche schienen wie Malariaschübe über ihn zu kommen, abgelöst von Tatendrang und weisen strategischen Entscheidungen. Seine Beobachtungen blieben die eines Europäers: «24. Dezember 1891: Wieder einmal Alles betrunken. Hyänen graben unsere Todten aus, bis jetzt drei! Eine Menge Geier anwesend.» Seine eigenen Loyalitäten schwankten ebenfalls: Kaum hatte ihn der Brite Stanley nach Bagamoyo geschafft, ins Hauptquartier AUS: CARL PETERS, DIE DEUTSCHE EMIN PASCHA EXPEDITION. HAMBURG/BRAUNSCHWEIG, 1907 Kampf um Einfluss in Afrika Die beiden deutschen Entdecker Emin Pascha (links) und Carl Peters begegnen sich 1889 in Mpwapwa (heute Tansania). von Deutsch-Ostafrika, erklärte er sich bereit, dem Land seiner Geburt zu dienen. Die Königin in London war verschnupft, Stanley verbittert. Dabei ging es dem fürchterlich kurzsichtigen Pascha nur darum, nicht mehr nach Europa zurückkehren zu müssen. Derweil liess er kistenweise Aufzeichnungen und ausgestopfte Vögel nach Deutschland schaffen. Clough erzählt von seiner anrührenden Fürsorge für seine Tochter Ferida, die er mit einer später verstorbenen Abessinerin hatte. Rätselhaft bleibt, warum Clough in einem Buch über Pascha derart ausführlich über den deutschen Eroberer Carl Peters schreibt. Dessen später von den Nationalsozialisten glorifizierte blutige Geschichte ist für jene Paschas zweitrangig. Auch gibt es einige lässliche inhaltliche und historische Fehler im Text. Trotzdem: grossartig, wie Clough Kolonialgeschichte als Krimi nacherzählt. � neuerscheinungen bei hier + jetzt Schweizer Geschichte auf den Punkt gebracht Aluminium für die ganze Welt Geschichte der Schweiz Im Zeichen der Sonne Licht und Schatten über der Alusuisse 1930–2010 Thomas Maissen 336 S., 13 Abb., gebunden, 2.Auflage, Fr.38.–, € 24.80 Adrian Knoepfli 320 S., 222 Abb., gebunden Fr.88.–, € 58.80 hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH Postfach, ch-5405 Baden, Tel. +41 56 470 03 00, Fax +41 56 470 03 04 Bestellungen per E-Mail: [email protected] Frauen (und Männer) am Berg <wm>10CAsNsjY0MDAx1TU0MjC3NAMATw9hlw8AAAA=</wm> <wm>10CEXKMQ6AMAwEwRfFugs4lnEJoYooAPECRM3_KxANxVazrYUKvsa67HUNAr0mZpiXUFfJpkHPYlpeZJdBDDQSTsQ_p3FKGzADByj3eT0GWx8_XAAAAA==</wm> Früh los Im Gespräch mit Bergsteigerinnen über siebzig Patricia Purtschert 358 S., 87 Abb., gebunden, Fr.42.–, € 29.80 Der Mensch als Sammler Sammlerglück Warum sammelt der Mensch? Hg. Ulrich Halder 104 S., 44 Abb., gebunden Fr.48.–, € 32.80 www.hierundjetzt.ch 31. Oktober 2010 � NZZ am Sonntag � 19 Sachbuch Mediengesellschaft Warum entblössen sich Menschen vor einem Millionenpublikum gerne selbst? Ein neues Buch liefert Antworten Wenn Intimes öffentlich wird Bernhard Pörksen, Wolfgang Krischke (Hrsg.): Die Casting-Gesellschaft. Die Sucht nach Aufmerksamkeit und das Tribunal der Medien. Herbert von Halem, Köln 2010. 352 Seiten, Fr. 27.90. Menschen essen KänguruHoden und baden in Kakerlaken, sie lassen sich an den Beinen aufhängen und singen dazu Arien, sie gewähren einem Millionenpu blikum bei einer LiveDarmspiegelung einen Blick in ihr Innerstes. In Casting Shows wie «Germany’s Next Topmo del» oder RealityTVFormaten wie «Big Brother» wird, so die Haltung eines kul turell beflissenen Publikums, die unters te Stufe der Dekadenz regelmässig un terboten. Nichts scheint den Machern heilig, um die zeitgenössische Version von Brot und Spielen auf die Spitze zu treiben. Doch warum lassen die Kandi daten so etwas zu? Wie funktioniert das Zusammenspiel zwischen menschlicher Sehnsucht nach Aufmerksamkeit und der kommerziellen Medienfabrik? Wie gehen Menschen mit dem aus den Shows resultierenden gesellschaftlichen Zwang zur Selbstinszenierung um? Diesen Fragen gingen der deutsche Professor für Medienwissenschaft Bern hard Pörksen und der Linguist Wolfgang Krischke zusammen mit 25 Journalis musStudenten der Universität Tübin gen nach. Das Resultat vieler ausführli cher Interviews mit Exponenten der MARTIN MEISSNER / AP Von Daniel Puntas Bernet Junge Frauen stürmen zur öffentlichen Bewerbung für Heidi Klums Casting-Show (Düsseldorf, Dez. 2008). Branche liegt nun als Buch vor – und wirft einen schonungslosen Blick auf die Mechanismen von CastingShows. Die Erkenntnisse sind zwar nicht neu: Für die Warholschen 15 Minuten Berühmt heit sind Kandidaten zu vielem bereit, und die Zuschauer ergötzen sich an Inti mitäten, Vulgaritäten und an der Stupi dität, welche diese Kandidaten in pseu dorealen und inszeniertauthentischen Situationen teilweise von sich geben. Bereichernd ist die unterschiedliche Perspektive der Interviewten. Bildungs minister, Radiomacher, Politjournalis ten, PRBerater, Musikproduzenten und CastingKandidaten kommen zu Wort und zementieren letztlich die Erkennt nis: CastingShows sind das perfekte Perpetuum mobile, das sich aus dem Rohstoff Mensch nährt und ebendiesem Geschichten liefert, die seine eigenen sind oder sein könnten, was ihn gerade deshalb als Zuschauer bei der Stange hält. Erstaunlich ist, mit welcher Kälte und welchem Zynismus das Geschäft zum Teil reflektiert wird. «Casting Biografie Sebastian Haffner zählte zu den erfolgreichsten historischen Publizisten Deutschlands Intellektueller Akrobat Jürgen Peter Schmied: Sebastian Haffner. Eine Biographie. C. H. Beck, München 2010. 683 Seiten, Fr. 43.50. Von Urs Bitterli Sebastian Haffner ist mit seinen «An merkungen zu Hitler» berühmt gewor den. Als das Buch 1978 erschien, gab es zwar bereits eine unübersehbare Litera tur zum Thema; was aber fehlte, war eine kurze, auf das Wesentliche gerich tete Gesamtdarstellung. Genau das lie ferte Haffner; er stellte die richtigen Fra gen an die Geschichte und fand plausi ble Antworten. Auch formulierte er mit einer Sprache, die sich keine Pointe ent gehen liess – was die Fachhistoriker irri tierte, andere Leser aber begeisterte. Nun war der Autor populär, und seine weiteren Bücher fanden Anklang. Als man 2002 posthum Haffners wohl wich tigstes Buch, seine Jugenderinnerungen unter dem Titel «Geschichte eines 20 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Oktober 2010 Deutschen», herausgab, wurde es zum Bestseller. Zum Leben und Schaffen des deutsch britischen Autors sind bereits mehrere Studien erschienen. Die nun vorliegen de Biografie von Jürgen Peter Schmied wird man als die abschliessende be zeichnen. Schmied zog erstmals Haff ners Nachlass bei, nahm Einblick in die Tagebücher, und seine Werkinterpreta tionen sind durchwegs überzeugend. Sebastian Haffner wurde im Jahre 1907 als Sohn des Schulrektors Louis Pretzel in Berlin geboren; sein Pseudo nym Haffner wählte er später im engli schen Exil, um zurückgebliebene Ange hörige nicht zu gefährden. Er durchlief mit Ehrgeiz die Schulen und studierte die Rechte. Daneben schrieb er Zei tungsartikel in der Art von Tucholsky und Joseph Roth. Als Hitler 1933 die Macht antrat, entschloss sich Haffner zur Emigration und schied auf eigenen Wunsch aus dem Reichsjustizdienst aus. Mit seiner jüdischen Freundin und spä teren Ehefrau reiste er 1938 nach Lon don. Hier eignete sich Haffner eine per fekte Kenntnis des Englischen an, schrieb ein erfolgreiches Buch über die deutschen Zustände unter dem Titel «Germany: Jekyll and Hyde» und trat 1942 ins Redaktionsteam des renom mierten «Observer» ein. Jürgen Peter Schmied bezeichnet die Zeitspanne von 1938 bis 1945 als «rasan te Karriere» und schildert anschaulich, wie Haffner zum «aussenpolitischen Vordenker» der Zeitung aufstieg. Bis 1961 arbeitete Haffner für den «Obser ver», kommentierte Tagesereignisse und die grosse internationale Politik, be sprach Bücher, schrieb Reisereportagen. Er unterstützte eine Politik der Stärke gegenüber der Sowjetunion, trat für die Einigung Europas ein, begrüsste den MarshallPlan, die Gründung der Nato und die Wiederbewaffnung Deutsch lands – und wann immer er sich äusser te, tat er dies mit leidenschaftlichem Engagement, einer Neigung zur Provo Wirtschaft Der ehemalige deutsche Finanzminister plädiert für den Ausgleich zwischen funktionierenden Märkten und starkem Staat kation und einer nicht immer überzeu genden Radikalität des Urteils. «Sein Leser zu sein», schreibt Schmied, «war eine aufregende Angele genheit.» Dies galt auch in den Jahren, als er nach Deutschland zurückkehrte und zuerst für «Die Welt» und dann, nach einem brüsken Positionswechsel, für die Illustrierte «Stern» zu arbeiten begann. Nun wurde der Kalte Krieger zu einem leidenschaftlichen Befürworter der neuen Ostpolitik Willy Brandts, so lidarisierte sich mit der Studentenbewe gung und verbarg nicht seine Sympathi en für Rudi Dutschke und Mao Zedong. Schmieds Biografie folgt allen politi schen Stellungnahmen, allen Ein und Ausfällen des «intellektuellen Akroba ten» Haffner mit geduldiger Sorgfalt, und es gelingt ihm, ein glaubwürdiges Porträt einer Journalistenpersönlichkeit zu zeichnen, die noch in ihren impulsi ven Fehleinschätzungen fasziniert. l Urs Bitterli ist emeritierter Professor für neuere Geschichte an der Uni Zürich. Peer Steinbrück: Unterm Strich. Hoffmann und Campe, Hamburg 2010. 480 Seiten, Fr. 40.50. Von Gerd Kolbe Peer Steinbrück, der ehemalige deut sche Finanzminister, hat sein erstes Buch geschrieben, und er ist stolz dar auf, kein «Erinnerungsbuch» vorgelegt zu haben. Vergleichsweise kurz hält er sich mit der globalen Banken und Finanzkrise auf. Er analysiert die Lage der Weltwirtschaft und blickt in die Zu kunft. Damit entfernt sich Peer Stein brück wohltuend von der üblichen politischen Literatur, die doch häu fig nur der eigenen Rechtfertigung dient. Es macht den sonst so bissigen Kritiker, der keinen seiner Wider sacher schont, sogar sympa thisch, dass er eigene Fehler eingesteht. So habe er in seinen frühe ren Ämtern im Bundes land NordrheinWest falen und später auch im Berliner Finanzministerium die Situation der mit den Kantonal banken in der Schweiz vergleichbaren Landes banken falsch einge schätzt. Von ihnen, hält er fest, gehe «das grösste nach wie vor verbleibende Systemrisiko» für die deutsche Bankenwelt aus. Mit den Managern geht er indes scharf ins Gericht. Die Ent stehung der Finanz marktkrise, schreibt Steinbrück, habe «mit dem Versagen von Eliten, einer unanständigen Berei cherungsmentalität und dem Verlust von Mass und Mitte zu tun». Die Ursachen und Folgen der Krise ver letzten das Gerechtig keitsempfinden vieler Menschen. Eben darin ADOLPH PRESS Shows sind Kapitalismus pur: Der Mensch funktioniert gleichzeitig als Ware und als Konsument», sagt Imke Antjen, Besitzerin einer CastingAgen tur und Lieferantin für Sendungen, die immer krasser werden: «Früher hat es noch gereicht, wenn man 19 war und schwanger. Heute muss man – über spitzt gesagt – 14 sein und möglichst vom eigenen Vater geschwängert.» Für Helmut Thoma, der dank Sex und Boulevard den Privatsender RTL an die Quotenspitze brachte, sind Dieter Boh lens Demütigungen in «Deutschland sucht den Superstar», welche die menschliche Würde mit Füssen treten, kein Problem: «Jeder Kandidat kann ma chen, wie er will. Wenn seine Auffas sung von Würde so weit runtergeht, bitte. Dann hat er eben keine.» Und der Medienexperte Norbert Bolz sagt: «Wer sich zu einem Casting anmeldet, weiss, dass er sich mit Haut und Haar der In szenierung verkauft. Die Menschenwür de gibt man an der Garderobe ab.» Trotzdem haben CastingShows stei gende Quoten, und deshalb befinden wir uns – so die These des Buches – auf dem Weg in eine CastingGesellschaft, in der Image und Ich unauflösbar verschmel zen. Der Kampf um Aufmerksamkeit ist Alltag geworden, beschränkt sich nicht mehr nur auf Prominente, Politiker und Medienprofis. Angefeuert von dieser Kultur der permanenten Selbstdarstel lung, einer «Rüstungsspirale im Kampf um Beachtung», durchzieht Casting zu nehmend unser Leben. l Steinbrücks Freude an drastischen Sprachbildern sieht er Gefahren für die Politik. Stein brück spricht von der Ablösung des Pri mats der Politik durch den Primat der Ökonomie. In vielen Führungsetagen fehle der Sinn für die integrative Funk tion von Parteien und von parlamenta rischen Prozessen. Hoffen auf die USA Fast könnte man meinen, er trauere ver gangenen Zeiten nach, wenn er ausführt, mit der Implosion des realen Sozialis mus vor 20 Jahren sei ein ideologisches Widerlager entfallen. «Die Systemkon kurrenz hatte den westlich geprägten Kapitalismus seinerzeit so weit diszipli niert, dass er sein hässliches Gesicht re gelmässig einem Lifting unterziehen musste.» Steinbrück beschreibt die Verschie bung der ökonomischen Gewichte in der Welt. Er prognostiziert und wünscht sich zugleich, die USA würden eine wirtschaftliche und militärische Macht bleiben. Er sieht jedoch die Gefahr, dass die enormen Defizite in Staatshaushalt, Leistungsbilanz und auf privaten Kon ten die zukünftigen Handlungsspielräu me Amerikas dramatisch einschränken. Die Vereinigten Staaten und China hät ten sich in eine gegenseitige Abhängig keit begeben, die eindeutig zulasten Amerikas gehe. Zugleich beobachtet er, dass aus der Sicht Chinas der westliche liberale Kapitalismus versagt, während sich das chinesische Modell eines «Staatskapitalismus mit Politbüro» in der Krise bewährt habe. Wenig diplomatisch Jeder ausser den Linken in der eigenen Partei, denen Pragmatiker mit Sinn für Freiheit immer schon verdächtig waren, kommt nach der Lektüre des Buches zu dem Schluss, Peer Steinbrück sei und wolle Sozialdemokrat bleiben. Nirgends wird dies so deutlich wie bei seinen Be mühungen um den Nachweis, dass man beides brauche, funktionsfähige Märkte und einen handlungsfähigen Staat. Der gefrässige Staat ist für Steinbrück ein Ammenmärchen, der Mythos vom Hochsteuerland Deutschland ebenso. Da werde der Bürger doch nur mit Steu ersenkungsAnkündigungen wie der Esel mit der Mohrrübe in die Wahllokale gelockt. Zum Steuerstreit mit der Schweiz er fährt der Leser wenig. Seine «Schweizer Attacken» seien wohl einer überschäu menden Freude an Bildern und lautma lerischen Namen entsprungen, schreibt er. «Den diplomatischen Gepflogenhei ten entsprachen sie sicher nicht.» Wer will, kann darin gar eine Entschuldigung erkennen. l Peer Steinbrück an der Bertelsmann-Gala in Berlin, 25. September 2008. 31. Oktober 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 21 Sachbuch Firmenporträt Die Monografie über Alusuisse ist auch ein Stück Wirtschaftsgeschichte Schweizer Erfolgskonzern Adrian Knoepfli: Im Zeichen der Sonne. Licht und Schatten über der Alusuisse 1930 bis 2010. Hier + Jetzt, Baden 2010. 320 Seiten, Fr. 88.–. Gegen zwei Kilogramm wiegt die Unternehmensgeschichte der Alusuisse. Die Chronologie der gewichtigen Schweizer Firma beginnt 1888 mit der Gründung der Aluminium-Industrie-Aktiengesellschaft, der AIAG, in Neuhausen (SH). Der Journalist und Wirtschaftshistoriker Adrian Knoepfli beginnt sein Werk über die AIAG indes erst mit dem Jahr 1930, als die Wirtschaftskrise die Welt beherrschte. Zu ihren «besten» Zeiten beschäftigte die Alusuisse weltweit 45 080 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, davon knapp 20 Prozent in der Schweiz, wo sie vor allem im Wallis stark vertreten war. Die Bedeutung, die der Industriekonzern hatte, zeigt sich auch in der Besetzung des Verwaltungsrats: Mit Felix W. Schulthess, Präsident der damaligen Kreditanstalt, mit Niklaus Senn, Präsident der Schweizerischen Bankgesellschaft, sowie mit Rainer E. Gut war dort jahrelang die Schweizer Wirtschaftselite vertreten. So wie das in anderen grossen Konzernen der Fall war und immer noch ist. Diese Creme der Wirtschaft schaffte es über all die Jahre allerdings nicht, dem Unternehmen eine nachhaltige Zukunft zu sichern. Heute bleibt von Alusuisse in der Schweiz als selbständige Erfolgsgeschichte nur die Chemie-Perle Lonza übrig, mit 2,7 Milliarden Franken Umsatz und über 8000 Angestellten. Deren Übernahme durch die Alusuisse 1974 wertet der Autor denn auch als den «gewichtigsten und erfolgreichsten RENE RITLER / KEYSTONE Von Gabriela Weiss Di Spirito Giessofen in der Aluhütte Steg (VS), eines Werks der Algroup (November 1999). Schritt» im Bestreben der Alusuisse, durch Diversifikation die Abhängigkeit von der Aluminiumkonjunktur zu verringern. Die Diversifikation wurde gut 20 Jahre später wieder rückgängig gemacht. Damals traten der Financier Martin Ebner und der Unternehmer und Politiker Christoph Blocher in den Konzern ein – und damit auch das Shareholder-Value-Denken. Mit Sergio Marchionne, der zu dieser Zeit die Alusuisse (damals: Algroup) führte, war die Geschichte des Schweizer Industriekonzerns um einen illustren Namen reicher. Das Buch ist gespickt mit Details zur Aluminiumbranche, mit Hintergründen und Grafiken, es ist abgefasst in nüchternem Ton, nur selten wertend. Viel Platz haben aber auch Aperçus in Text und Bild. Anhand der Alusuisse-Geschichte zeigen sich alle Facetten des Wirtschaftens: Wo früher Kartelle gang und gäbe waren, machte sich ein rigideres Wettbewerbsrecht breit. Wo heute ein Unternehmen kritisiert wird, wenn es Zulieferer für Kriegsmaterial ist, wurde dies früher kaum hinterfragt. Die Facetten zeigen sich auch in den Aufschwüngen und Krisen, in (gescheiterten) Fusionen und Machtkämpfen. Und auch Bilanzierungstricks und mangelhafte Corporate Governance sind so alt wie die Wirtschaft selber: Als es Alusuisse zu Beginn der 1980er Jahre schlecht ging, aktivierten deren Chefs kurzum die Bauxit-Abbaurechte im australischen Gove mit 700 Millionen Franken auf der Aktivseite. Dies, obwohl drei Bankenvertreter im Verwaltungsrat sassen. Später wurde diese Aktivierung wieder rückgängig gemacht. Jahrelang konnte sich der damalige als selbstherrlich beschriebene Präsident Emanuel R. Meyer an der Spitze halten – bis es 1986, als der Konzern faktisch pleite war, zum Putsch kam. Rainer E. Gut, damaliger SKA-Präsident, erklärte schon zuvor seinen (nach dem Putsch widerrufenen) Rücktritt aus dem Verwaltungsrat, weil er die Strategie nicht mehr mittragen wollte. Nach dem Verkauf durch Ebner/Blocher landete Alusuisse 2007 zusammen mit ihrer kanadischen Mutter Alcan beim britischen Bergbauriesen Rio Tinto, der das Buch finanziert hat. Was neben der Lonza von den einstigen Schweizer Werken überlebt hat, ist heute in alle Winde zerstreut: Sie gehören zu Novelis, Amcor, Schweiter oder dem US-Finanzinvestor Apollo, der daran ist, mit der Division Engineered Products auch Presswerk und Giesserei im Wallis zu übernehmen. � Alpinismus Bergsteigerinnen erobern die Achttausender. Reinhold Messner widmet ihnen ein Buch Frauen im 1Y. Himmel Reinhold Messner: On Top. Frauen ganz oben. Malik, München 2010. 304 Seiten, Fr. 30.50. Von Mylène Jacquemart Am 27. April 2010 stand die Südkoreanerin Oh Eun-Sun auf dem Gipfel der Annapurna. Sie gilt damit als erste Frau, der es gelungen ist, alle 14 Achttausender zu besteigen. Mit dem Ende dieses zuletzt heftig ausgetragenen Wettkampfs unter den besten Höhenbergsteigerinnen der Welt greift Reinhold Messner in seinem neusten Werk die Aktualität auf. Der Mann, der als Erster die Gipfel aller Achttausender erklommen hat, wirft einen kritischen Blick auf 22 � NZZ am Sonntag � 31. Oktober 2010 das Tun und den Werdegang der Frauen im Alpinismus. Die Geschichte begann schon früh, als Frau noch Rock trug und ihren Mann bebestenfalls an den Fuss des Berges be Schickgleitete. Es werden interessante Schick sale ausgebreitet: Von Damen, die gegen ihren Willen auf den Gipfel getragen Pioniewurden, und von solchen, die als Pionie rinnen eine letzte Männerbastion zu stürmen begannen. Frau und Mann sind überam Berg ebenbürtig, ist Messner über Schranzeugt und weist Kritiker in die Schran ken. Die Gleichberechtigung am Berg ist aber nicht nur eine sportliche, sondern betrifft auch die harschen Kritiken und Diskussionen über Stil, Moral und Ethik am Berg. Einfacher haben es die Frauen jedenfalls nicht. Viele Seiten widmet Messner den heutigen Spitzenbergsteigerinnen. Oh EdurEun-Sun, Gerlinde Kaltenbrunner, Edur Abenne Pasaban, Nives Meroi und ihre Aben Buteuer sind das tragende Element des Bu ches. Nicht ganz vergessen, aber etwas unstrukturiert eingeflochten, erhalten Eiskletterinauch die besten Fels- und Eiskletterin genen eine Lobeshymne. Während die ge sachlischichtlichen Rückblicke und die sachli chen Reportagen leicht zu lesen sind, philostolpert man immer wieder über philo sophische Passagen, die eher zu lange geraten sind. Die angehäuften Zitate zu Beginn jedes Kapitels wirken ebenso Kawenig überzeugend wie die beiden Ka persönlipitel, in denen Messner seinen persönli Himalaja-Tourischen Unmut über den Himalaja-Touris mus ausbreitet. � Philosophie Ein Sammelband mit Interviews bringt das Denken des Zürcher Ordinarius Hermann Lübbe auf den Punkt Wahrheitssuche bei der Güggeli-Rösti Hermann Lübbe im Gespräch. Zehn Interviews mit Hermann Lübbe. Wilhelm Fink, München 2010. 222 Seiten, Fr. 37.90. Von Urs Rauber Die in diesem Band versammelten zehn Interviews mit dem Philosophen Hermann Lübbe sind mit einer Ausnahme alle im letzten Jahrzehnt entstanden und werden von Lübbe selbst eingeleitet. «Die alte Publikationsform des Gesprächs breitet sich wieder aus», schreibt der Autor im Vorwort. Ihm behagt offensichtlich diese journalistische Gattung, bei der man sich kurz fassen, aufs Wesentliche konzentrieren und dann in zwei, drei Sätzen zur Quintessenz vorstossen müsse. Der 1926 geborene Hermann Lübbe pflegt eine ältlich anmutende, kantige Sprache und liebt die scharfe Begrifflichkeit. Er lehrte von 1971 bis zu seiner Emeritierung 1991 als Ordinarius für Philosophie und Politische Theorie an der Universität Zürich. Zuvor war er Professor an den Universitäten Erlangen, Hamburg, Köln, Münster und Bielefeld gewesen und von 1966 bis 1970 Staatssekretär für Hochschulwesen in Nordrhein-Westfalen. Auch hat er einige Jahre die Deutsche Gesellschaft für Philosophie präsidiert. Lübbe, der sich als konservativen Philosophen mit liberalem Weltbild bezeichnet, war lange Jahre Mitglied der SPD, genauer: ihres antimarxistischen Flügels, bis er sich nach einer Auseinandersetzung mit Gerhard Schröder Ende der achtziger Jahre von der Partei trenn- 2010 INTRODUCTION ANTON CORBIJN / SCHIRMER/MOSEL Auf dem Filmset George Clooney übt Italianit] Der holländische Starfotograf Anton Corbijn hatte während der Dreharbeiten zu seinem zweiten Spielfilm «The American» stets seinen Fotoapparat dabei. Er hat atmosphärische, grobkörnig-raue Bilder von seinen Schauspielern und der süditalienischen Region Abruzzen gemacht, in welcher sein Thriller spielt. Die obige Aufnahme zeigt George Clooney, der einen von Gewissensbissen gepiesackten Killer verkörpert, nach dem Dreh einer Verfolgungsjagd auf einer Vespa. In handgeschriebenen Kommentaren erläutert Corbijn, wie er die Americana-Ästhetik von Edward Hopper und Wim Wenders auf Italien über- trug, etwa in jener Szene, die in der Bar einer Tankstelle spielt. Corbijn verrät auch, dass exakt am 6. April 2009, als er Clooney in Missouri das Drehbuch gab, ein Erdbeben die Stadt L’Aquila verwüstete, die er als Hauptschauplatz vorgesehen hatte. «Inside The American» ist eine Liebeserklärung an die Abruzzen und ermöglicht einen Blick hinter die Kulissen eines Hollywooddrehs. Der Bildband ist gelungener als der Film selber, in dem viele Italianità-Vignetten allzu klischiert erscheinen. Christian Jungen Anton Corbijn: Inside The American. Schirmer/ Mosel, München 2010. 160 Seiten, Fr. 74.–. te. Eines seiner Lieblingsthemen ist denn auch die Auseinandersetzung mit den 68ern, denen er «Gegenaufklärung», Ideologisierung und Fanatisierung vorwirft. Er nennt die damalige Studentenbewegung eine «Bewegung der mentalen Instant-Heilung», die mit totalitären Mitteln die Demokratie auszuhebeln versuche. Als Reaktion darauf gründete Lübbe zusammen mit anderen Hochschullehrern 1970 den «Bund Freiheit der Wissenschaft». Es wäre allerdings verkürzt, in Lübbe nur den politisch streitbaren und streitfreudigen Antipoden der Progressiven zu sehen. Er setzt sich ebenso differenziert mit Philosophen wie Martin Heidegger, Theodor Adorno, Max Horkheimer, Ernst Bloch und Carl Schmitt auseinander. Und er wehrt sich vehement gegen vorschnelle Etikettierungen: «Alles oder nichts – nach diesem Modus lassen sich die Reflexionen, Expressionen und Optionen bedeutender Leute nicht rezipieren.» Lübbe kritisiert das «Laster des Moralismus», der sich erlaube, bei missliebigen Meinungen die Person in Zweifel zu ziehen statt sich auf die Sachauseinandersetzung zu beziehen. Anderseits hebt er die Bedeutung der Zuversicht hervor, einer Lebenshaltung, die die individuelle Handlungskraft stärke. Natürlich kommt im Buch auch seine Mitgliedschaft bei der NSDAP zur Sprache, der er als 18-Jähriger «Pimpf» – ähnlich wie Günter Grass und andere Flakhelfer – kurz vor Kriegsende 1945 noch beigetreten war. Das letzte und längste Gespräche im Buch – es erstreckt sich über 90 von insgesamt 220 Seiten – wurde an drei Tagen im Winter 2005/06 geführt. In seinem Zweitwohnsitz bei Münster stellte sich der Wissenschafter den Fragen einer philosophischen Online-Zeitschrift. Das Gespräch mit dem Titel «Über Gott und die Welt» gibt in populärer und leicht verständlicher Form umfassenden Einblick in sein Denken und Leben. Da geht es neben Philosophischem auch munter um das Alter, die SPD, den Historikerstreit. Um deutsche Tugenden und Anfälligkeiten (etwa die Lust zu jammern). Um Fernsehkonsum und Sport: Seit 40 Jahren nämlich wandert Lübbe regelmässig, oft mehrere Stunden am Tag. Das beschere ihm Glück, erfrische seinen Tag und mache ihn geistig fit. Nicht alles in diesem fast wörtlich niedergeschriebenen Interview muss man wissen. Dass Frau Lübbe den Gästen eine verdorbene Suppe serviert oder die Interviewer mit Lübbe im nahen Mövenpick eine Schweizer «GüggeliRösti» (was immer das sein mag) essen, ist zwar erheiternd, aber ziemlich unerheblich. So schwanken diese Texte in Form und Gehalt, ermöglichen aber gerade deswegen auch einem Laienpublikum den Zugang zu einem bedeutenden Philosophen der Zeit. � 31. Oktober 2010 � NZZ am Sonntag � 23 Sachbuch Geschichte Das Adelsgeschlecht der Staufer wird dieses Jahr mit etlichen Publikationen gefeiert Auf dem deutschen Kaiserthron sass ein Sizilianer flicht die zahllosen Legenden, die den Herrscher schon zu Lebzeiten umrankten, in den Text ein. Der Blick von Süden ist Rader dabei ein zentrales Anliegen, denn «die Sozialisierung Friedrichs erfolgte auf Sizilien». Der Herrscher stellte laut Rader seine politischen Entscheidungen stets in den Dienst seines Königreichs in Italien, nicht Deutschlands, wo er fast nie gewesen war. Olaf B. Rader: Friedrich II. Der Sizilianer auf dem Kaiserthron. C. H. Beck, München 2010. 592 Seiten, Fr. 43.50. Alfried Wieczorek u. a. (Hrsg.): Die Staufer und Italien. Essayband zur Ausstellung in Mannheim. Theiss, Stuttgart 2010. Mit Katalog im Schuber, 800 S., Fr. 84.90. Von Geneviève Lüscher Iein MultikultiFIaiser Schon der Einstieg packt. Wir fangen nicht bei der Geburt Friedrichs an, sondern mitten im 2. Weltkrieg in Palermo. Im Juli 1943 erhielt der deutsche Marinekommandant in Italien von Göring den Befehl, die beiden mächtigen Sarkophage im Dom von Palermo vor den Alliierten in Sicherheit zu bringen. Die Särge enthielten die Gebeine Friedrichs II. und seines Vaters Heinrich VI. Göring wusste, dass der Besitz von Toten die Herrschaft der Lebenden legitimiert. Deswegen balgten sich die Generäle um die Leiche Alexanders des Grossen, deswegen haben die Sowjets Lenin sofort einbalsamiert. In Palermo waren Pat24 � NZZ am Sonntag � 31. Oktober 2010 Lespektierter Jslam ALINARI / INTERFOTO Das deutsche Stauferjahr 2010 neigt sich bereits dem Ende zu. Wissenschaftliche Tagungen, eine grosse kulturhistorische Ausstellung in Mannheim (bis 20. Februar 2011) und etliche Bücher feiern eines der bedeutendsten und einflussreichsten Adelsgeschlechter des hohen Mittelalters. Die Staufer, die ihren Namen von dem am Nordrand der Schwäbischen Alb gelegenen Berg Hohenstaufen ableiten, haben im 12. und 13. Jahrhundert die Entwicklung des römisch-deutschen Reiches, Italiens und ganz Europas entscheidend geprägt. Warum gerade das 2010 als Gedenkjahr ausgewählt wurde, war den zahlreichen Einleitungen, Epilogen und ministerialen Grussworten nicht zu entnehmen. Zu den beiden wichtigsten Vertretern des Staufergeschlechts zählen Friedrich I. Barbarossa (1122–1190) und sein Enkel Friedrich II. (1196–1250), dem Geschichte und Mythos gleich mehrere Beinamen verpasst haben. Der passendste ist wohl «Stupor Mundi» – das Staunen der Welt. Das noch heute anhält. Fast 600 Seiten lang staunt die Leserin über das schillernde Leben dieses deutschen Kaisers, der doch eigentlich ein Sizilianer war. Dem Historiker Olaf B. Rader ist ein hervorragendes Sachbuch gelungen: ein Standardwerk über das Mittelalter im Allgemeinen und eine Biografie über Friedrich II. im Besonderen. Rader schreibt nicht nur für Sachverständige gewinnbringend, er schafft es auch, interessierten Laien eine längst vergangene Epoche leicht und farbenfroh nahezubringen. Friedrich II. (1196–1250) schrieb auch Bücher. In seinem Werk über die Falknerei stellte er sich selber dar (Miniatur, um 1220/1250). tons Panzer schneller, und die beiden Staufer blieben, wo sie waren. An den Sarkophagen pilgern heute Touristen und unverbesserliche Staufertreue vorbei. Friedrich gilt als Führerfigur, als Symbol eines goldenen Zeitalters und mutiert heute gar zu einer Art Multikulti-Kaiser, der zwischen Christentum und Islam vermittelt und Europa geeint haben soll. Das dem nicht so ist, kann man in Raders Biografie nachlesen. Der Autor gliedert seinen Stoff in drei grosse Überkapitel: Herrschaften, Leidenschaften, Feindschaften. In personifizierten Unterkapiteln wie «Der Liebhaber», «Der Bauherr», «Der Falkner» beschreibt Olaf Rader verschiedene Aspekte aus dem Leben des Kaisers und geht dabei nahe an seine Figur heran. Er zitiert fleissig aus den Quellen und Der heute hervorgehobenen angeblichen Islamfreundlichkeit Friedrichs II. erteilt Rader eine klare Absage. Die Sarazenen auf Sizilien wurden keineswegs bevorzugt, sie waren Untertanen und bekamen die gleichen Grausamkeiten zu spüren wie andere auch. Aber Friedrich vermied es klugerweise, sich dem Orient zu verschliessen; seiner Kenntnis der fremden Sitten und Gebräuche verdankte er die kampflose Einnahme von Jerusalem. Er respektierte nämlich seinen muslimischen Widersacher und verhandelte auf orientalische Art wochenlang mit ihm, statt ihn einfach zu überrumpeln. Raders Buch schliesst mit einem umfangreichen Anhang und ist üppig, aber nur kleinformatig und schwarz-weiss illustriert. Wer es gerne grösser und bunter hätte, der möge zum gewichtigen Essayband greifen, der neben dem Katalog zur Stauferausstellung in Mannheim erschienen ist: Die Bebilderung ist hervorragend. Hier sieht man die vielen herrlichen Buchminiaturen in Farbe, kann das Castel del Monte, das grandiose Bauwerk Friedrichs II., in der kargen apulischen Landschaft betrachten oder den berühmten Krönungsmantel Rogers II. mit der Kufi-Inschrift in Rot-Gold bewundern. Das Buch umfasst die gesamte Stauferzeit und versammelt Texte hochkarätiger Wissenschafter aus ganz Europa. Aber es richtet sich, obwohl als Begleitband zu einer Ausstellung konzipiert, an eine intellektuelle Leserschaft und verfehlt damit klar sein Zielpublikum. Die beitragenden Fachleute konnten sich – mit Ausnahmen – nicht zu einem allgemein verständlichen Inhalt und Stil durchringen. Schon im Vorwort stolpert man über Blickachsen, Innovationsräume, Inventionen, Antagonismen und Deutungsmuster. Kunsthistorisch Interessierte werden mit dem Sammelwerk noch am ehesten auf ihre Kosten kommen, sind doch mehrere Essays den staufischen Kaiserdomen in Speyer, Mainz und Worms, den Pfalzen an Rhein, Main und Neckar sowie den Kastellen in Italien gewidmet. Allerdings sollten sie sich in Begriffen wie Akanthusblattkapitellen, Rundbogenblenden und Perlstäben gut auskennen … � Comic Mit viel Sprachwitz hat die Kunsthistorikerin Erika Fuchs uns Entenhausen nahegebracht Ernst Horst: Nur keine Sentimentalitäten. Wie Dr. Erika Fuchs Entenhausen nach Deutschland verlegte. Blessing, Berlin 2010. 384 Seiten, Fr. 38.90. Von Thomas Köster Erika Fuchs war so etwas wie der Daniel Düsentrieb der Übersetzerzunft. Als sie 1951 den Auftrag erhielt, die Geschichten der Mickey-Mouse-Hefte ins Deutsche zu übertragen, setzte die promovierte Kunsthistorikerin vor allem bei den Erzählungen rund um Donald Duck von Anfang an nicht auf Werktreue, sondern auf sprachlich überbordende Erfindungskraft – und gab damit dem in Entenhausen umbenannten Duckburg des Disney-Zeichners Carl Barks weit über zwanzig Jahre lang mit dichterischer Freiheit ein eigenes Gepräge. Wie Ernst Horst in seinem überaus lesenswerten Band aufzeigt, war es dabei vor allem Fuchs’ Ziel, die als Schund verschrienen Comics aus Amerika pädagogisch wertvoller, aber auch komischer und bissiger zu machen. Dass sie dabei nie mit dem erhobenen Zeigefinger hantierte, sondern lieber mit teilweise intertextuellem, für jugendliche Leser wohl nicht immer zu entschlüsselndem Witz, illustriert das Buch anhand von vierfarbigen Bildbeispielen, die der Autor gekonnt mit seinem Fliesstext verwoben hat. Dort kann man sehen, wie kunstvoll Fuchs auf den zeitgenössischen Musikund Buchmarkt anzuspielen verstand – etwa, wenn sie durch den blossen Hinweis auf die Gruppe 47 die nicht nur physiognomische, sondern auch psychologische Ähnlichkeit zwischen einer schnauzbärtigen Comicfigur und Günter Grass herausarbeitete –, oder eben auf das klassische literarische Zitat. So legte die gebildete Übersetzerin den aufmüpfigen Neffen Tick, Trick und Track schon einmal den abgewandelten Rütli-Schwur aus Schillers «Wilhelm Tell» in den Mund («Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns waschen und Gefahr») und ironisierte ihren Hang zum Bildungsbürgerlichen immer wieder – beispielsweise in der prosaischen Replik eines Panzerknackers auf die lyrischen Anwandlungen eines Verbrecherkollegen angesichts herannahender Geldtransporter: «Werd nicht poetisch, Ede, die Pinke kommt.» Es ist ein Verdienst von Horsts Buch, diesen Sprachwitz im Vergleich mit dem fast immer öder klingenden Originaltext sichtbar gemacht zu haben. So zeigt sich, wie stark Erika Fuchs das raumund zeitlose Universum Entenhausens und sein durch Alliterationen geprägtes Personal auch im Rückgriff auf deutsche, österreichische oder Schweizer Dialekte schuf – und dabei die im Vergleich zu den USA ganz andere Lebenswirklichkeit der fünfziger bis siebziger Jahre im deutschsprachigen Raum mit einbezog. Da mutieren Hamburger oder Sodaschaumgetränke in Sprechblasen völlig glaubwürdig zu Obsttörtchen und «5 Doppelportionen Erdbeereis» – obwohl die Wirklichkeit der Bilder offensichtlich etwas ganz anderes erzählt. Gelungen ist das Buch dort, wo es die verborgenen Sprachschichten der Über- Vortrag und Buchvorstellung Wilhelm Schmid Die Liebe neu erfinden <wm>10CEXKIQ6AMBBE0RN1Mzvp0paVpagGAYQTEDT3VxAM4ueZ37ub4Ku2ZW-rKxAZAFVGt2LCNLgWSrJXkIRiVIuZOafo_x3qFDZgBg6o3Of1ABtpcStdAAAA</wm> Samstag, 6. November, 15.30 Uhr Suhrkamp www.suhrkamp.de Weitere Informationen unter www.lebenskunstphilosophie.de DPA / KEYSTONE Daniel Düsentrieb der Übersetzer Erika Fuchs (1906– 2005) schuf mit ihren Übersetzungen der Mickey-Mouse-Hefte eine genuin neue Welt. Hier 1994 in München. setzungen offenlegt. Weniger gelungen argumentiert es ausgerechnet an jenen Stellen, an denen der Autor Fuchs erbsenzählerisch «dumme Fehler» nachzuweisen sucht, wohl auch, um die eigene unverhohlene Bewunderung zu erden – etwa in jener Szene, in der Donald Duck prahlerisch Blumennamen aufzählt, darunter neben Löwenmaul, Rittersporn und Feuermohn auch Hahnenklee: Letzteres eben «keine Blume, sondern ein Stadtteil von Goslar im Harz». Dabei offenbaren gerade derlei scheinbar sinnlose, ausschliesslich dem Sprachklang und der Logik des Metaphernraums der Sprechblase verpflichtete Kapriolen die grosse, weit über die reine Übersetzung hinausweisende, «danieldüsentriebische» Fuchssche Kunst – eine Kunst, die das Buch über weite Strecken überaus klug und vergnüglich offenlegt. � Im Rahmen des Jubiläumssymposions »Heilkunst und Gesundheitsmarkt« <wm>10CAsNsjY0MDAx0jUwMDQ0MgEAoyXznQ8AAAA=</wm> Bezirksspital Affoltern Sonnenbergstrasse 27 8910 Affoltern am Albis Von der Lebenskunst im Umgang mit Anderen 399 S. Geb. Fr. 30.50 31. Oktober 2010 � NZZ am Sonntag � 25 Sachbuch Kirchengeschichte Heiligenverehrung von den antiken Märtyrern bis zu Papst Johannes Paul II. Zeugen einer besseren Welt Peter Gemeinhardt: Die Heiligen. Von den frühchristlichen Märtyrern bis zur Gegenwart. BeckReihe Band 2498. C. H. Beck, München 2010. 128 Seiten, Fr. 14.50. Von Peter Durtschi Als der polnische Papst Johannes Paul II. 2005in Rom starb,wardasstarke Medien interesse vom Schlagwort «santo subito» – sofort heilig – begleitet. Ein Verfahren, über das eine römische Kongregation und zuletzt der amtierende Papst befin den, nahm seinen Lauf: Bevor es zur Seligsprechung kommt, muss nach dem Tod des Kandidaten ein konkretes Wun der – meistens sind dies medizinisch nicht erklärbare Heilungen – vorliegen. Die Heiligsprechung erfordert ein weite res, erst nach der Seligsprechung notifi ziertes Wunder. Nun gibt es aber keine trennscharfe Definition von Heiligkeit, schreibt Peter Gemeinhardt, seit 2007 Professor für Kirchengeschichte an der GeorgAugust Universität in Göttingen. Und Heiligkeit ist auch nicht auf den Bereich des Chris tentums beschränkt. Dort aber gilt grundsätzlich die ganze Gemeinschaft als heilig; heilig sind aber auch einzelne Menschen, in denen Gott wirkt. In der Spätantike waren das Men schen, die öffentlich Zeugnis – grie chisch «martyrion» – für Christus abge legt haben, obwohl dies zum Tod führen konnte. Märtyrer waren als Vorbilder und als Fürbitter für die noch Lebenden populär. Immer mehr galten nach dem Ende der Christenverfolgung im 4. Jahr hundert Frauen und Männer aufgrund ihrer vorbildlichen Lebensführung als «sanctus». Ihre Leiber wurden in Kirchen über führt. Weil ab dem Frühmittelalter kein Altar ohne Reliquien sein sollte, musste man die relativ wenigen Leiber auf mög lichst viele Orte verteilen. Die reformatorische Kritik richtete sich gegen die Anrufung der Heiligen um Hilfe, sei doch Jesus Christus der einzige Mittler zwischen Gott und den Menschen. Der evangelische Theologe Peter Gemeinhardt geht in seiner leicht lesbaren Darstellung auch der Frage nach, inwiefern Heiligenverehrung als ökumenisches Projekt wahrgenommen werden könne. Gerade die Märtyrer scheinen dafür einen Ansatzpunkt zu bieten: So ge denkt beispielsweise eine katholische Laiengemeinschaft in Rom des Protes tanten Dietrich Bonhoeffer, während Pater Maximilian Kolbe, der in Ausch witz anstelle eines Familienvaters in den Tod ging, auch in evangelischen Kreisen als ein Beispiel christlicher Selbstlosig keit gilt. l Das amerikanische Buch «Helmut Schmidt, bitte Klappe halten!» Wie Carter in seiner Einführung zu «White House Diary» schreibt, hat er seine Amtshandlungen nahezu täglich handschriftlich oder mit einem Ton band protokolliert. Als er 1981, von 26 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 31. Oktober 2010 ULRICH BAATZ / LAIF positiven Rezension die Fähigkeit des MarineVeteranen zu schonungsloser Selbstanalyse. Carter räumt unter anderem «übermässig autokratisches Verhalten» ein. Aber natürlich nutzt der Altpräsident diese Publikation auch zur Pflege seiner eigenen Le gende, wenn er beispielsweise einen FallschirmjägerOberst aus Georgia zitiert, der ihm in der Irankrise Nerven stärke und eine Haltung «hart wie die Lippen eines Spechtes» attestiert. Ronald Reagan geschlagen, Washington verlassen musste, hatte Carter 5000 Seiten dieser Aufzeichnungen im Ge päck, die er nun seiner «Präsidenten Bibliothek» übergeben hat. Das Buch präsentiert ein Viertel der Protokolle und ist neben einem bilanzierenden Nachwort von Anmerkungen zu einzel nen Einträgen durchsetzt. In diesen lässt Carter mitunter seiner von Kriti kern beklagten Neigung zu Selbst gerechtigkeit und Schulmeisterei freien Lauf. Doch der Leser findet sich meist auf Carters Seite, wenn dieser etwa sei nem immer noch deutlichen Ärger über Ted Kennedy Ausdruck gibt, der eine sachgerechte Reform des Gesundheits wesens aus reinem Egoismus blockierte. Weltwirtschaftsgipfel in Bonn am 1. 1. 1978, mit (von links) Giulio Andreotti, Takeo Fukuda, Jimmy Carter, Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing. Autor Jimmy Carter (unten). AP Der USPräsident schickt einen Ver trauten nach Bonn, um den Amerikakritischen Bundeskanzler Helmut Schmidt aufzufordern, «end lich die Klappe zu halten». Seinem in nenpolitischen Herausforderer Ted Kennedy lässt der Mann im Weis sen Haus mitteilen, er werde ihm im Vorwahlkampf «den Arsch versohlen»: Wer Jimmy Carter als glücklosen Präsidenten oder danach als frommen Kämpfer für die Menschenrechte ein gestuft hat, blättert in dem nun erschie nenen Tagebuch über seine Jahre im Oval Office von Überraschung zu Überraschung. White House Diary (Farrar, Straus, Giroux 2010, 570 Seiten) zeigt den Erdnussfarmer aus Georgia als kühlen Taktiker, aber auch als kampflustigen Tatmenschen, der etwa im Gegensatz zu Barack Obama Gesetzesvorhaben wie die Rückgabe des Panamakanals bis ins Detail gestal tet und dann bei deren Durchsetzung im Kongress die Regie übernimmt. Doch daneben findet Carter immer wieder Zeit für Violinkonzerte seiner jüngsten Tochter Amy. Der Leser versteht rasch, dass der inzwischen 86Jährige in seiner Familie und seinem Glauben die Kraft fand, seine schier unüberschaubaren Amtspflichten ziel strebig anzugehen. Dass er letztlich an der Zerrissenheit seiner Partei und der Unnachgiebigkeit von Ayatollah Khomeini in der iranischen Geiselkrise gescheitert ist, mindert den Wert des Tagebuches nicht. Doch Carter hat sich weder damals noch heute selbst von Kritik verschont. So lobt die «New York Times» in einer Obwohl sich wichtige Ereignisse wie die israelischägyptischen Friedens gespräche und das Geiseldrama haut nah verfolgen lassen, ermüdet die Lektüre des Tagebuches rasch, da die Einträge notwendigerweise von Thema zu Thema springen. In kurzen Zügen genossen, wirkt das Tagebuch jedoch erstaunlich anregend, bietet es doch ungeschönte Einblicke in Carters Entscheidungsfindung und in seine Beurteilung von Mitarbeitern und Poli tikern. Über die meist nur wenige Absätze langen Einträge wird dann all mählich die eigentliche Herausforde rung der Präsidentschaft greifbar: Letztlich ist der Mann im Oval Office für seine Entscheidungen allein verant wortlich. Dies schafft Distanz selbst zu engsten Mitarbeitern wie dem Sicher heitsberater Zbigniew Brzezinski. Vermutlich genoss Carter deshalb hei tere Momente umso mehr, an denen es im Tagebuch nicht mangelt. So protokollierte der Präsident stolz, wie er den Besuch einer bayerischen Trachtenkapelle nutzte, um mit seiner Frau Rosalynn eine flotte Polka auf das Parkett des Weissen Hauses zu legen. l Von Andreas Mink Agenda Agenda November 10 Cartoon Freche Bildergedichte Basel Freitag, 12., bis Sonntag, 14. November BuchBasel – Buch und Literaturfestival. Verleihung Schweizer Buchpreis am 14.11. Eintritt: Fr. 16.–/40.–. Messeplatz, Halle 4.1. Info: www.buchbasel.ch. Dienstag, 23. November, 19 Uhr Katharina Hacker: Die Erdbeeren von Antons Mutter. Lesung, Fr. 15.–. Literatur haus, Barfüssergasse 3, Tel. o61 261 29 50. Bern Mittwoch, 10. November, 20 Uhr Marianne Vogel Kopp: Der Spur nach. Lesung mit Musik. Nydeggkirche, Nydegghof 2, Tel. 031 351 62 34. Dienstag, 16. November, 19 Uhr «Die Stimme sanft, die Schühchen rot / Die Sünde hasst er auf den Tod», lesen wir bei Hans Traxler zu Papst Benedikt XVI. Der aus Westböhmen stammende Künstler legt auch mit 81 Jahren ein munteres Werk ums andere vor. Traxler hat als Mitglied der Neuen Frankfurter Schule für «Pardon» und «Titanic» gewirkt; seine Cartoons erschienen in den Magazinen der «Zeit», der «Frankfurter Allgemeinen» und der «Süddeutschen Zeitung». Daneben zeichnete, schrieb und illustrierte er über fünfzig Bücher. Seine zwanzig neuen, in einem Sommerurlaub entstandenen Gedichte hat Traxler mit 217 kongenialen farbigen Zeichnungen illustriert. Ein so lustiges wie freches Nachwort, das Peter Arno, den langjährigen Cartoonisten des «New Yorker», gegen Alberto Giacometti in Stellung bringt, ergänzt den schön gestalteten Band. Manfred Papst Hans Traxler: Ich, Gott und die Welt. Neue Bildergedichte. Reclam, Stuttgart 2010. 128 Seiten, Fr. 30.50. Sachbuch 1 Bastei Lübbe. 1024 Seiten, Fr. 40.50. 2 Jung und Jung. 320 Seiten, Fr. 33.50. 3 Diogenes. 240 Seiten, Fr. 29.90. 4 Goldmann. 416 Seiten, Fr. 30.50. 5 Diogenes. 416 Seiten, Fr. 38.90. 6 Wunderlich. 320 Seiten, Fr. 27.50. 7 Rowohlt. 736 Seiten, Fr. 33.90. 8 DTV. 460 Seiten, Fr. 22.90. 9 Diogenes. 320 Seiten, Fr. 34.90. 10 Scherz. 303 Seiten, Fr. 21.90. 1 List. 220 Seiten, Fr. 33.90. 2 Droemer/Knaur. 304 Seiten, Fr. 25.90. 3 Bibliographisches Institut. 280 Seiten, Fr. 32.90. 4 Giger. 221 Seiten, Fr. 36.90. 5 DVA. 464 Seiten, Fr. 38.90. 6 Hier + Jetzt. 336 Seiten, Fr. 38.–. 7 Orell Füssli. 320 Seiten, Fr. 39.90. 8 Kiepenheuer & Witsch. 256 Seiten, Fr. 23.50. 9 Piper. 432 Seiten, Fr. 30.50. AT. 192 Seiten, Fr. 49.90. 10 Hansjörg Schneider: Hunkeler und die Augen des Ödipus. Joy Fielding: Das Verhängnis. Ian McEwan: Solar. Ildikó von Kürthy: Endlich! Jonathan Franzen: Freiheit. Jussi Adler-Olsen: Schändung. Martin Suter: Der Koch. Tommy Jaud: Hummeldumm. Federica de Cesco: Die goldene Kriegerin. Lesung und Kindermatinee (ab 11 Jahren) mit Frühstücksbuffet, Fr. 10.–/25.–. Kornhausbibliothek, Kornhausplatz 18. Reservation: Tel. 031 327 10 10. Mittwoch, 3. November, 20 Uhr Belletristik Melinda Nadj Abonji: Tauben fliegen auf. Sonntag, 21. November, 10 Uhr Zürich Bestseller Oktober 2010 Ken Follett: Sturz der Titanen. Lu Min und Fan Wen. Lesung und Gespräch mit jungen chinesischen Auto ren, Fr. 15.–. Progr, Spichergasse 4, [email protected]. Natascha Kampusch: 3096 Tage. Rhonda Byrne: The Power. Guinness World Records 2011. Pascal Voggenhuber: Entdecke deine Sensitivität. Thilo Sarrazin: Deutschland schafft sich ab. Thomas Maissen: Geschichte der Schweiz. Daniel Ammann: King of Oil. Michael Mittermeier: Achtung Baby! Ronald Reng: Robert Enke. Annemarie Wildeisen: Das grosse Buch vom Fleischgaren. Erhebung Media Control im Auftrag des SBVV; 19. 10. 2010. Preise laut Angaben von www.buch.ch. Doron Rabinovici: Andernorts. Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro. Literaturhaus, Limmatquai 62, Tel. 044 254 50 00. Mittwoch, 10. November, 19.30 Uhr Rolf Dobelli: Massimo Marini. Lesung und Gespräch. Polybuchhandlung Science City, WolfgangPauliStrasse 14, Tel. 044 632 42 89. Mittwoch, 10. November, 20 Uhr Marcelo Figueras: Der Spion der Zeit. Lesung, Fr. 18. inkl. Apéro. Literaturhaus (siehe oben). Montag, 22. November, 20 Uhr Maile Meloy: Tochter einer Familie. Lesung, Fr. 18.– inkl. Apéro. Literaturhaus (s. oben). Mittwoch, 24. November, 19.30 Uhr Alberto Nessi: Nächste Woche, viel leicht. Lesung. Zentrum Karl der Grosse, Kirchgasse 14, Tel. 044 266 85 00. Bücher am Sonntag Nr. 10 erscheint am 28. 11. 2010 Weitere Exemplare der Literaturbeilage «Bücher am Sonntag» können bestellt werden per Fax 044 258 13 60 oder E-Mail [email protected]. Oder sind – solange Vorrat – beim Kundendienst der NZZ, Falkenstrasse 11, 8001 Zürich, erhältlich. 31. Oktober 2010 ❘ NZZ am Sonntag ❘ 27 PICTUREBALE Mittwoch, 3. November, 20 Uhr Hansjörg Schneider: Hunkeler und die Augen des Ödipus. Lesung, Fr. 12.–. Thalia, Freie Strasse 32, Tel. 061 264 26 55. <wm>10CAsNsjY0MDAx1TWwtDA2NQMAxCLlRQ8AAAA=</wm> <wm>10CEXKMRJAMBBA0RMl83djSWxJVEaBcQKjdv-K0Sj-q_48u0W-hrrsdXWBxgIlJ2vdisXkWfVVUFGEnmwobdP5f4ZhDBtMcCDxPq8HFoeajVkAAAA=</wm>