LAG Impulspapier

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LAG Impulspapier
Impulse für ein behindertenpolitisches
Gesamtkonzept
Diskussionspapier
der Landes-Arbeitsgemeinschaft der freien
Wohlfahrtsverbände Schleswig-Holstein e.V.
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Weitere Informationen zu diesem Diskussionspapier:
Geschäftsstelle der LAG
Dänische Straße 17
24103 Kiel
Telefon: 0431-33 60 75
Gestaltung/Satz: Nicola Paustian, Diakonisches Werk Schleswig-Holstein
Bild © panthermedia.net
Dezember 2007
Inhalt
1. Warum ein Gesamtkonzept ?
Seite 4
Paradigmenwechsel in der Politik
Wachsender Bedarf
Die tägliche Praxis
2. Was bedeutet Inklusion?
Seite 5
Ein Weg in die Zukunft
In der Mitte der Gesellschaft
Von Missverständnissen und Ängsten
Gemeinsam Neues gestalten mit Kommunen, Land und Bund
Hindernisse für ein behindertenpolitisches Gesamtkonzept
3. Was braucht ein Gesamtkonzept?
Seite 7
Ein einheitliches Verfahren
Inklusiv-Kommunen
Arbeit am Gemeinwesen
Die Bürger beteiligen
Teilhaben heißt mitbestimmen
Ungehindert selbst bestimmen
Flexibilität bei den Leistungen
Frei von Barrieren
4. Wie lässt sich das Gesamtkonzept umsetzen?
Seite 12
Ziele vereinbaren
Feststellung des Bedarfs
Arbeiten
Wohnen
Bedingungen für den Wandel
5. Konstruktiv und selbst bestimmt
die Richtung wechseln
Seite 16
Eine konstruktive Diskussion
Eine Entscheidung der Betroffenen
Jetzt die Richtung wechseln
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Impulse für ein behindertenpolitisches Gesamtkonzept
Diskussionspapier
der Landes-Arbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtsverbände
Schleswig-Holstein e.V.
1. Warum ein Gesamtkonzept?
Paradigmenwechsel in der Politik
Die Politik für Menschen mit Behinderungen steht seit der Einführung des SGB IX und
seinem Grundsatz der echten Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am
gesellschaftlichen Leben vor einem Paradigmenwechsel. Bisher orientierten sich die
politischen Konzepte im Wesentlichen an zwei Prinzipien: Das Leben von Menschen mit
Behinderungen zu normalisieren und sie so weit wie möglich in die Gesellschaft zu
integrieren. In den vergangenen Jahren entwickelten sich neue Ansätze für das
Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung. Unter Schlagworten wie
„Empowerment“, „Partizipation“ oder „Inklusion“ finden sie Einzug in die Arbeit mit und für
Menschen mit Behinderungen. Insbesondere die Leitidee der „Inklusion“ führt dabei für
Beteiligte und Betroffenen zu einem Wechsel der Perspektiven.
Wachsender Bedarf
Gleichzeitig ist die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderungen in die politische
Diskussion geraten. Die Gründe dafür liegen im wachsenden Bedarf an Hilfen für Menschen
mit Behinderungen und den damit verbundenen Kosten. Die Zahl der Menschen, die
Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe haben, ist deutlich gestiegen. Menschen
mit Behinderungen werden heute genauso alt wie Menschen ohne Behinderungen. Erstmals
seit Ende des Nationalsozialismus erreicht damit die Bevölkerungsgruppe der Menschen mit
Behinderungen natürliche Altersgrenzen, die sich auch Dank verbesserter psychosozialer
Versorgung und medizinischem Fortschritt nach hinten verschieben. Die
bundesrepublikanische Gesellschaft und in ihrem Auftrag die öffentliche Hand –
insbesondere die Sozialhilfeträger – sind also herausgefordert, auch in Zukunft die
Eingliederungshilfen für eine wachsende Bevölkerungsgruppe zu finanzieren.
Die tägliche Praxis
Seit mehr als 100 Jahren setzen sich die Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege für
Menschen ein, die in ihrer Gesellschaft benachteiligt werden. Dieses Engagement gilt
insbesondere auch für Menschen mit Behinderungen in Schleswig-Holstein. In den
vergangenen 30 Jahren sind hier im Einvernehmen mit Politik und Verwaltung, auf der
Grundlage geltender Gesetze und in gemeinsamer Verantwortung mit Land und Kommunen
Strukturen geschaffen worden, die Menschen mit Behinderungen betreuen, begleiten und
fördern. Diesen Dienst an den Menschen erbringen die Einrichtungen der freien
Wohlfahrtspflege im engen Dialog mit den Betroffenen, unter Berücksichtigung ihrer
Wünsche wie ihrer individuellen Lebensplanungen und auf qualitativ hohem Niveau.
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2. Was bedeutet Inklusion?
Ein Weg in die Zukunft
Dass viele Menschen mit Behinderungen bis heute nicht in der Mitte der Gesellschaft
angekommen sind, weiß kaum jemand besser als die Betroffenen selbst und die
Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege. Die Verbände in Schleswig-Holstein begrüßen
deshalb das sozialpolitische Konzept der Inklusion und wollen die zur Erreichung des Zieles
notwendigen Prozesse offensiv vorantreiben. Denn eine Gesellschaft, die alle einschließt, ist
eine starke Bürgergesellschaft. Es gilt also Wege zu finden, die nicht nur Menschen mit
Behinderungen, sondern ebenso die Politik, die Verwaltung und alle Bürger einer Kommune
verpflichten, ihre Gemeinde so zu gestalten, dass jeder uneingeschränkt am Leben der
Gemeinschaft teilhaben kann. Der erste Schritt zur Inklusion ist die Beteiligung aller am
Prozess der politischen Meinungsbildung.
Die Wohlfahrtspflege in Schleswig-Holstein plädiert deshalb dafür, die individuellen
Interessen der Menschen mit Behinderungen in diesem Prozess des Wandels zu klären, ihre
Bedürfnisse wahrzunehmen und in der Gegenwart wie in der Zukunft zu sichern. Darüber
hinaus gilt es, gemeinsame Interessen der Menschen mit Behinderungen zu identifizieren
und mögliche Synergien zu nutzen.
In der Mitte der Gesellschaft
Behinderung entsteht aus persönlichen Einschränkungen und aus gesellschaftlichen
Barrieren. Menschen werden behindert, wenn ihnen der Zugang zum gesellschaftlichen
Leben und zum Arbeitsleben versagt wird. Das Konzept der Inklusion formuliert ein klares
Ziel: Auch Menschen mit Behinderungen sollen die Chance haben, in vollem Umfang an
allen gesellschaftlichen Aktivitäten teilzunehmen. Ausgrenzungen – weder gewollte noch
ungewollte – darf die Gemeinschaft der Bürger nicht mehr zulassen. Voraussetzung für die
Verwirklichung dieses Konzeptes ist es, Menschen mit Behinderungen die notwendige
Unterstützung für ihre gesellschaftliche Teilhabe zukommen zu lassen.
Es kann daher zukünftig nicht mehr allein um die Eingliederung von Menschen mit
Behinderungen in die Gesellschaft gehen oder um die Normalisierung eines Lebens mit
Behinderungen. Auf dem Weg zur Inklusiv-Gesellschaft muss sich die Gesellschaft vielmehr
selber wandeln. Für Menschen mit geistigen, körperlichen und seelischen Behinderungen
geht es dabei in erster Linie um die Wahrung und Durchsetzung ihrer Bürgerrechte und die
Sicherung ihrer materiellen Grundlagen für ein selbst bestimmtes Leben. Mitunter brauchen
sie aber auch individuelle Hilfestellungen, um am gesellschaftlichen Leben überhaupt
teilnehmen zu können.
Für jene die helfen bedeutet dies, sie müssen ihre vom Gesetzgeber bisher gewollte
Beschränkung auf die Behindertenhilfe aufgeben und sich in die Mitte der Gesellschaft
begeben. Das bedeutet: Mitsprache bei allen relevanten politischen und gesellschaftlichen
Entscheidungen. Denn es gilt, gemeinsam mit den Betroffenen deren Interessen
durchzusetzen und die Voraussetzungen für ihre volle Teilhabe zu schaffen.
In vielen Nachbarländern Deutschlands ist dieser gesellschaftliche Wandel bereits weit
fortgeschritten; Antidiskriminierungsgesetze, der Ausgleich von Nachteilen und Konzepte wie
Inklusion sind hier schon staatliche Ordnungsprinzipien. Mit einer Vielzahl gesetzlicher
Initiativen seit der Ergänzung des Artikel 3 GG (v. a. Gleichstellungs- und
Antidiskriminierungsgesetzgebung, SGB IX) sind zwar auch in Deutschland inzwischen
wesentliche Voraussetzungen geschaffen. Ihre Umsetzung wirft jedoch noch Probleme auf.
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Von Missverständnissen und Ängsten
Noch wird das Konzept einer Inklusiv-Gesellschaft nicht überall verstanden. Es schürt sogar
Ängste und artet zuweilen in Zynismus aus. Wer Missverständnissen vorbeugen will, sollte
aufklären, erklären und klare Positionen beziehen. Unter keinen Umständen darf der
sinnvolle Inklusions-Ansatz missbraucht werden, um Leistungen zu kürzen oder Standards
zu senken. Auch der Aufbau eines künstlichen Gegensatzpaares von Selbstbestimmung auf
der einen und Fürsorge auf der anderen Seite schafft wenig Vertrauen. Das Gegenteil von
Selbstbestimmung ist Fremdbestimmung. Fürsorge hingegen ist humanitäre Verpflichtung.
Die gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ist
gesetzlicher Auftrag. Ohne Selbstbestimmung ist Teilhabe nicht möglich. Ohne Fürsorge ist
ein Gemeinwesen, das allen Menschen offen steht, nicht denkbar. Damit Menschen mit
Behinderungen diese Offenheit für sich und die Gemeinschaft nutzen können, müssen sie
materiell abgesichert sein, gesellschaftlich akzeptiert und den Zugriff auf die hierfür
notwendigen Unterstützungsleistungen haben.
Gemeinsam Neues gestalten mit Kommunen, Land und Bund
Einerseits begrüßen die Verbände der freien Wohlfahrtspflege, dass die Eingliederungshilfe
in die Hände der Kommunen gelegt worden ist. Diese Hilfen kommen nun aus einer Hand
und die Kommunen übernehmen eine größere Verantwortung. Andererseits hat das
Bundesland Schleswig-Holstein damit die Möglichkeit abgegeben, auf den
Veränderungsprozess in Richtung einer Inklusiv-Gesellschaft gestaltend und steuernd
einzuwirken.
Für die freie Wohlfahrtspflege bleibt es unerlässlich, dass Qualität und Quantität der
Leistungen für Menschen mit Behinderung landeseinheitlich geregelt sind. Die Einsetzung
des im Ausführungsgesetz zum SGB XII vorgesehenen Gemeinsamen Ausschusses oder
eines anderen vergleichbaren Gremiums halten die Wohlfahrtsverbände deshalb für
unverzichtbar. Gleichzeitig fordern sie eine verbindliche und vertraglich festgelegte
Teilnahme der Verbände der freien Wohlfahrt und der Selbsthilfe entweder am
Gemeinsamen Ausschuss (Gesetzesänderung) oder zum Beispiel an einem
Eingliederungshilfeausschuss analog zum Jugendhilfeausschuss.
Die Weiterentwicklung und Ausgestaltung der Behindertenhilfe ist eine umfassende Aufgabe.
Alle Beteiligten müssen hier partnerschaftlich eingebunden sein. Es widerspricht dem
Grundsatz der Inklusion, wenn diese Aufgabe allein der kommunalen Verwaltungsebene
überlassen wird. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob es im Interesse der Menschen mit
Behinderungen ist, das Wissen und die Erfahrungen aus vielen Jahrzehnten Behindertenhilfe
auszugrenzen. Nur eine Beteiligung der Verbände kann sicherstellen, dass das Konzept der
Inklusion realisiert wird, Entscheidungen nicht nach Haushaltslage getroffen, neue Vorgaben
wie zum Beispiel das Träger übergreifende Persönliche Budget abgestimmt und verlässliche
Verträge aufgesetzt werden. Auf diesem Weg gewinnen die Menschen mit Behinderungen
Planungs- und Rechtssicherheit und erhalten sich zum Beispiel auch spezialisierte,
überregionale Einrichtungen.
Die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe als wesentlichen Bestandteil eines neuen
behindertenpolitischen Gesamtkonzepts und die Realisierung von uneingeschränkter
Teilhabe für Menschen mit Behinderungen sind nicht ohne die Bundespolitik denkbar. Auch
hier fordern verschiedene Fachverbände seit langem ein bundeseinheitliches Konzept. Im
Land Schleswig-Holstein können Vorschläge entwickelt und abgestimmt werden, die über
Bundestag und Bundesrat in den Gesetzgebungsprozess einfließen.
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Hindernisse für ein behindertenpolitisches Gesamtkonzept
Ein behindertenpolitisches Gesamtkonzept würde den Konvergenzansatz des SGB IX
konsequent fortsetzen. Der Anspruch ist allerdings hoch, denn seit Inkrafttreten des SGB IX
sind die Probleme bei der Umsetzung bekanntermaßen groß.
Die Sozialhilfeträger ignorieren die Vorgaben des SGB IX, weil sie noch immer den Vorrang
allgemeiner Versicherungsleistungen proklamieren. Das gilt insbesondere für die Leistungen
der Pflegeversicherung. Dabei haben Gesetzgeber und Rechtsprechung immer wieder die
unterschiedliche Funktion dieser Hilfen und die gleichberechtigte Stellung der
Eingliederungshilfe gegenüber den Pflegeleistungen klargestellt.
Nach wie vor werden insbesondere Menschen mit komplexer Behinderung und hohem
Unterstützungsbedarf auf nicht bedarfsgerechte SGB XI-Pflegeeinrichtungen verwiesen.
Gleichzeitig werden komplette Einrichtungen oder Teile von ihnen aus der
Eingliederungshilfe in die Pflegeversicherung überführt.
Damit Menschen mit Behinderungen uneingeschränkt an allen gesellschaftlichen Aktivitäten
teilhaben können, müssen sie die gleichen Teilhabechancen haben wie Menschen ohne
erkennbare Behinderungen. Die Einführung eines Leistungsgesetzes für behinderte
Menschen ist deshalb erforderlich. Neben dem Grundsatz der einkommensunabhängigen
Bedarfsdeckung muss hier auch der Grundsatz der Individualisierung verankert werden.
Denn erst durch die gesetzliche Berücksichtigung besonderer behinderungsbedingter
Bedürfnisse würde eine gleichberechtigte Ausgangslage für alle Menschen bei der Teilhabe
am gesellschaftlichen Leben geschaffen.
Die Bundesregierung hat in der Vergangenheit an verschiedenen Punkten der sozialen
Sicherung Änderungen vorgenommen, die zum Teil negative Auswirkungen auf die
Versorgungssituation und die Leistungen für Menschen mit Behinderung haben (etwa SGB
V, SGB XI). Der selbst gesetzte Anspruch, sich dabei an einem Gesamtkonzept zu
orientieren, wurde bislang nicht eingelöst.
3. Was braucht ein Gesamtkonzept?
Die Landes-Arbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtsverbände Schleswig-Holstein
hat acht Anforderungen an ein behindertenpolitisches Gesamtkonzept formuliert.
I.
Ein einheitliches Verfahren
Das Gesetz beschreibt Behinderung als einen komplexen Prozess körperlicher,
seelischer oder geistiger Besonderheiten eines Menschen, die im
Zusammenhang mit vielfältigen Faktoren seiner Umgebung stehen. Behinderung
ist also nicht mit Instrumenten feststellbar, wie dies etwa bei Krankheiten mit Hilfe
des internationalen Diagnoseschlüssel ICD 10 geschieht. Nach § 2 SGB IX hilft
bei der Feststellung von „Behinderungen im Sinne des Gesetzes“ die von der
Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelte Internationale Klassifikation der
Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). Die Leitgedanken der
ICF-Klassifikation machen klar, dass nicht mehr individuell vorhandene,
gesundheitliche Probleme (Schädigungen und Funktionseinschränkungen) als
Behinderung angesehen werden können. Vielmehr gilt nach WHO heute als
Behinderung, wenn die Interaktion zwischen einem Individuum und seiner
materiellen und sozialen Umwelt gestört oder nicht entwickelt ist.
Dieses mehrdimensionale ICF-System ist bisher noch nicht zu einem
funktionierenden Instrument für die medizinische, berufliche und soziale
Rehabilitation weiterentwickelt worden. Dies zu tun wäre eine anspruchsvolle
Aufgabe. Denn ein geeignetes Verfahren zur Feststellung von Behinderung und
dem damit verbundenen Teilhabebedarf muss zum einen die individuelle
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Situation des Menschen beleuchten. Zum anderen aber auch die Welt, in der er
lebt und die dort vorhandenen oder fehlenden Möglichkeiten zur Teilhabe am
gesellschaftlichen Leben.
Auf die Notwendigkeit eines solchen einheitlichen Verfahrens haben die
Wohlfahrts- und Fachverbände in den vergangenen Jahren wiederholt
hingewiesen. Bereits im September 2006 wurde der Landespolitik deshalb ein
gemeinsames Positionspapier der Wohlfahrtsverbände vorgelegt. Es schlägt ein
einheitliches Verfahren vor, das den Bedarf für die Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben ermittelt. Für die Menschen mit Behinderungen ist die Feststellung ihres
Bedarfs von zentraler Bedeutung; aus ihm lassen sich die Leistungsansprüche
ableiten.
Ist dieses Verfahren einheitlich, dann können von Region zu Region höchst
unterschiedliche Bedarfsfeststellungen bei ein und derselben Person nicht mehr
vorkommen. Die Entscheidungen der Verwaltung werden transparent und für die
Betroffenen überprüfbar. Rechtssicherheit ist für alle Beteiligten die Folge. Denn
das Verfahren wird mit einer gerichtlich überprüfbaren Entscheidung des
Leistungsträgers (Verwaltungsakt) beendet und enthält nachvollziehbare
Aussagen zum Bedarf an Fremdverantwortung und ihrer Regelung.
II.
Inklusiv-Kommunen
Die Kommunalisierung der Eingliederungshilfe hat dazu geführt, dass heute alle
Leistungen aus einer Hand erbracht werden. Die örtliche Entscheidungsebene
wurde gestärkt. Doch es reicht nicht, den Kommunen nur die organisatorischen
und finanziellen Zuständigkeiten zu übertragen. Auch die Strukturen und
Auffassungen in den Kommunen müssen sich im Sinne der neuen
Aufgabenstellung grundlegend wandeln. Im Rahmen eines Inklusions-Konzeptes
werden gesonderte Welten, in denen Menschen mit Behinderungen bisher leben
und arbeiten, allmählich verschwinden. Deshalb sind Konzepte gefragt, die den
sozialen Raum einer Kommune derart gestalten, dass Menschen mit und ohne
Behinderungen dort uneingeschränkt gemeinsam leben können und Zugang zu
Wohnraum, Arbeit, Kultur und Bildung erhalten. Ähnlich wie in Schweden müssen
die Kommunen – unabhängig von der Finanzierungsfrage – diesen Anspruch
gewährleisten und gesetzlich garantieren.
In einer Inklusiv-Kommune haben alle Menschen gleichberechtigten Zugang zu
kommunalen Dienstleistungen. Mehr noch: Sie werden bereits im Vorfeld bei der
Planung, Gewährung und Weiterentwicklung ihrer Dienstleistungen
miteinbezogen. Und dies gilt auch für Menschen mit schweren Behinderungen,
die einen hohen Bedarf an Hilfe und Unterstützung haben. Um ihre Rechte und
die volle Teilhabe am gesellschaftlichen Leben wahrzunehmen, brauchen sie den
Zugang zu umfassenden und ambulanten Dienstleistungen der Gemeinde.
Der Grundsatz „ambulant vor stationär“ ist zwar in der sozialhilfefinanzierten
Eingliederungshilfe gesetzlich geregelt, in der derzeitigen Praxis aber nicht
durchgängig realisiert. Die regionalen Unterschiede sind zum Teil gravierend. Mit
Sicherheit könnten weitaus mehr Menschen mit Behinderung mit ambulanten
Dienstleistungen unterstützt werden, als dies heute der Fall ist. Solange sich aber
leistungsrechtliche Zuständigkeiten, die sachgerechte Ausstattung ambulanter
Systeme und die Behindertenfreundlichkeit von Kommune zu Kommune
unterscheiden, werden sich auch die ambulanten Angebote auf höchst
unterschiedlichem Niveau bewegen. Die Folge ist, dass die Leistungen für
Menschen mit Behinderungen sich nicht nur an ihrem individuellen Bedarf
orientieren, sondern auch an der Behindertenkultur der jeweiligen Kommune und
dem gerade vorhandenen Angebot an Einrichtungen und Dienstleistungen.
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Bei schwer und mehrfach behinderten Menschen erfolgt in der Regel ein fast
automatischer Verweis auf die stationäre Hilfe. Dabei ist dieser Automatismus
keineswegs sachlich begründet. Die Schwere der Behinderung ist weder unter
rechtlichen, fachlichen noch ökonomischen Gesichtspunkten ein zwingendes
Argument für die Zuordnung zur einen oder anderen Form der Hilfe. Deshalb stellt
das Sozialhilferecht auch nicht auf dieses Kriterium ab, sondern erlaubt je nach
Lage des Einzelfalles eine stationäre Hilfe dann, wenn ambulante Hilfe nicht zur
Bedarfsdeckung führt. Dabei spielen …
• das individuelle Ausmaß und Erscheinungsbild des Hilfebedarfs,
• die vor Ort gegebenen Möglichkeiten zum bedarfsgerechten Arrangement von
Hilfen und
• vor allem die Fähigkeit der Betroffenen zur eigenverantwortlichen Nutzung
solcher Hilfeangebote
… die entscheidende Rolle. Zu berücksichtigen ist hier insbesondere das
Wunsch- und Wahlrecht der betroffenen Menschen.
III.
Arbeit am Gemeinwesen
Die Hilfen müssen zu den Menschen kommen, nicht die Menschen zu den Hilfen.
Mit Behinderungen in einer Kommune zu leben, bedeutet in kleinen Einheiten,
allein oder auch in einer Einrichtung zu wohnen. Und dabei Unterstützung zu
erhalten, die auf die Bedürfnisse des Einzelnen zugeschnitten ist. Vor allem aber
bedeutet es Wahlmöglichkeiten zu haben und den Zugang zu Bildung,
Beschäftigung und zum sozialen wie kulturellen Leben in der Gemeinde.
Um dieses Ziel zu erreichen, müssen Strukturen für die Arbeit am Gemeinwesen
aufgebaut und finanziert werden. Wesentlich dabei ist die Stärkung von
Selbstvertretungs- und Selbsthilfeorganisationen, die Vernetzung bereits
vorhandener Angebote (trägerübergreifend), der Auf- und Ausbau von
niedrigschwelligen Hilfen wie Begegnungsstätten und von Beratungsstellen, die in
den vergangenen Jahren eher gekürzt und abgebaut wurden. Zu dieser
Entwicklung wesentlich beitragen kann der Auf- und Ausbau einer starken
Beteiligungskultur (Runde Tische, Beiräte, Beauftragte, AGs nach § 4 SGB XII…).
Das Gemeinwesen hat die Verantwortung, diese notwendigen Dienstleistungen
zu entwickeln und bereitzustellen. Erst dann wird die Behindertenhilfe ein Teil der
kommunalen Infrastruktur sein und sich nicht mehr nur auf den sozialen Bereich
beschränken.
IV.
Die Bürger beteiligen
Die Kommunen sind aufgefordert, verschiedenste Formen öffentlicher, privater
und ehrenamtlicher Unterstützungen zu entwickeln, zu mobilisieren und zu
koordinieren. Erst wenn sich die Bürger einer Kommune an der Gestaltung ihres
Gemeinwesens beteiligen, erst wenn sie Menschen mit Behinderungen als
Nachbarn, Arbeitskollegen und beim gemeinsamen Theaterbesuch akzeptieren,
erst dann ist die gesellschaftliche Teilhabe aller Menschen am Leben der
Gemeinschaft gewährleistet.
Auf diesen Wandel im Bewusstsein müssen die Menschen vorbereitet werden.
Vor allem die sozialen Regeldienste müssen sich gegenüber Menschen mit
Behinderung öffnen und ihnen den Zugang zu ihren Dienstleistungen
ermöglichen. Die Spezialdienste müssen ihrerseits stärker mit den Regeldiensten
kooperieren.
V.
Teilhaben heißt mitbestimmen
Im SGB IX wird mit Partizipation die umfassende beziehungsweise aktive
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beschrieben. Dies bedeutet nicht nur, in
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Kommunen mit barrierefreier Infrastruktur zu leben. Es heißt vielmehr auch, dass
Menschen mit Behinderungen dort, wo sie von Entscheidungen betroffen sind, ein
Recht auf Mitbestimmung haben und ausüben.
Diese Mitbestimmung wird das Verhältnis von Professionellen und Betroffenen
verändern. Beide Seiten werden dabei neue Positionen einnehmen müssen. Die
Professionellen werden sich viel stärker als bisher in partnerschaftliche
Verhandlungsprozesse mit den Menschen mit Behinderungen begeben. Die
Menschen mit Behinderungen müssen ihre Mitbestimmungsrechte nutzen und zu
stärkerem eigenverantwortlichem Handeln finden.
Mitbestimmungsmöglichkeiten zeichnen sich auf folgenden Ebenen ab:
•
•
•
•
VI.
Stärkere Beteiligung des Menschen mit Behinderung an dem
Teilhabebedarfsfeststellungsverfahren.
Stärkere Beteiligung bei der Gestaltung von Einrichtungen, bei der Planung
von Maßnahmen, etc.
Stärkere Beteiligung an kommunalpolitischen Planungen und Entscheidungen
(z. B. kommunaler Behindertenbeirat oder Behindertenbeauftragter).
Stärkere Beteiligung bei der Kontrolle von Dienstleistungen (z. B.
Nutzerkontrolle).
Ungehindert selbst bestimmen
Neben der Partizipation ist die Selbstbestimmung ein zentraler Wert der
Inklusions-Kultur. Selbstbestimmung heißt, ein eigenes Leben zu führen und auf
wichtige Entscheidungen Einfluss zu nehmen. Um Menschen mit Behinderungen
in größere Selbstbestimmung zu führen, ist mitunter ein unterstützendes
Management erforderlich. Damit würde auch der Gedanke des Wunsch- und
Wahlrechtes Realität werden, der seit 2001 im SGB IX verankert ist.
In diesem Zusammenhang sieht die freie Wohlfahrtspflege in Schleswig-Holstein
die Notwendigkeit, dass bei einer zunehmenden ambulanten Betreuung auch von
geistig oder seelisch behinderten Menschen der Lebensunterhalt hinreichend
gesichert bleibt. Eine vernünftige wirtschaftliche Lebensführung unter den
derzeitigen Bedingungen der Sozialhilfe kann bei Menschen mit Behinderung
weder vorausgesetzt noch in jedem Fall dauerhaft erreicht werden.
Es ist nicht im Sinne der Betroffenen, bedarfsdeckende Leistungen im Bereich
der Eingliederungshilfen zu erhalten und gleichzeitig beim Lebensunterhalt in die
Unterversorgung zu rutschen. Genau diese Unterversorgung droht aber nach
dem Außerkrafttreten des BSHG. Denn besondere Bedürfnisse behinderter
Menschen können nicht mehr – wie früher üblich – durch einmalige Leistungen
aufgefangen werden. Dies bedeutet für die Betroffenen eine massive
Verschlechterung ihrer Lebenssituation. Den Zugang zu Einmalhilfen wieder zu
eröffnen, ist deshalb ein wichtiger Beitrag, Menschen mit Behinderungen den
Weg zu Selbstbestimmung und gleichberechtigter Teilhabe zu bereiten.
VII.
Flexibilität bei den Leistungen
Für die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe im Sinne eines InklusionsKonzeptes ist die Durchlässigkeit der Leistungsformen von großer Bedeutung.
Die bisherige Einteilung der Leistungen in „ambulant“, „teilstationär“ und
„stationär“ sollte insbesondere im Bereich des Wohnens einer größeren
Flexibilität weichen.
Eine Leistung muss sich stets am konkreten Bedarf eines Menschen orientieren.
Fließende Übergänge oder auch nur die teilweise Nutzung von stationären
Angeboten (nicht gleichzusetzen mit der Einführung von Regionalbudgets)
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können hier zu individuellen Lösungen führen. Damit diese flexiblen
Leistungsangebote nicht an Hindernissen wie Belegungszahlen,
Investitionsförderung oder politischen Finanzierungsvoraussetzungen scheitern,
sollten gemeinsam Lösungen erarbeitet werden (Verweis zu diesem
Themenkomplex auf die Ausführungen des Deutschen Vereins).
Bei individuellen und flexiblen Angeboten muss nicht jede Leistung durch hoch
qualifizierte Fachkräfte angeboten werden. Die Verbände begrüßen die
zunehmende Anerkennung und Wertschätzung ehrenamtlichen Engagements.
Sie betonen jedoch, dass die Voraussetzung für ein längerfristiges und
verlässliches Funktionieren von ehren- und nebenamtlicher Unterstützung die
Beratung, Qualifizierung, Koordination dieser engagierten Menschen ist. Hierfür
wiederum müssen (hauptamtliches) Personal und Finanzen eingeplant werden –
ebenso wie für die Absicherung der Leistungen beim Ausfall von ehren- oder
nebenamtlichen Kräften.
Stationäre und ambulante Hilfen sind in den Regionen höchst unterschiedlich
verteilt. Der Anteil ambulanter Hilfen am gesamten Versorgungsangebot lässt
sich nach Ansicht der Wohlfahrtsverbände deutlich steigern. Allerdings sollte
darauf geachtet werden, dass in jeder Region sowohl ambulante wie auch
stationäre Angebote vorhanden sind.
In vielen Fällen ist ambulante Hilfe für Menschen mit Behinderung die attraktivere
Form der Unterstützung. Aufgrund der steigenden Nachfrage und dem
gleichzeitigen Bemühen die durchschnittlichen Fallkosten zu begrenzen,
empfiehlt sich ebenfalls die Stärkung ambulanter Angebote. Die Verbände teilen
jedoch nicht die Auffassung, dass mit der steigenden Nachfrage nach ambulanten
Hilfen in jedem Einzelfall zwangsläufig Kosteneinsparungen verbunden sind. Dies
würde lediglich dann eintreten, wenn ambulante Leistungen Menschen mit hohem
Unterstützungsbedarf verschlossen blieben. Eine andere Kostenverteilung kann
jedoch die Träger der Eingliederungshilfe entlasten. Eine Überführung stationärer
in ambulante Hilfeformen mit der automatischen Verknüpfung von
Budgetbegrenzungen oder Sparerordnungen durch die Kostenträger verbietet
sich. Das würde dem Einzelfall nicht gerecht werden und bei den Betroffenen,
ihren Angehörigen und den betreuenden Mitarbeitern Ängste und Abwehr
auslösen. Menschen mit Behinderungen benötigen wie andere Menschen auch
gerade in Veränderungsprozessen Sicherheit und Unterstützung.
Die Unterscheidung, ob ein Leistungsangebot „stationär“ oder „ambulant“ ist, ist
für Menschen mit Behinderungen in der Regel nicht relevant. Es kann deshalb
erforderlich werden, die mit dem Vorhalten stationärer Infrastruktur verbundenen
Kosten greifbar und so weit wie möglich bausteinförmig addierbar zu machen. Die
bisher untrennbare Verbindung von „Hotelleistungen“ mit behindertengerechten
Angeboten muss im Rahmen einer solchen Entwicklung kein zwingendes
Kennzeichen stationärer (fremd verantworteter) Hilfe mehr sein. Sie wird aber
auch weiterhin vorkommen müssen etwa als Angebot für schwerst und mehrfach
behinderte Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf. Das Verfahren, mit dem
der Hilfebedarf, die entsprechenden Leistungen und der Verantwortliche für deren
Sicherung festzustellen ist, wird diesen Punkt gesondert zu berücksichtigen
haben. Wenn sich hier Lösungen ergeben, würde mit dem Wegfall der
Vollversorgung in stationären Einrichtungen auch die besondere Form der
Kostenbeteiligung von Menschen mit Behinderungen durch Heranziehung ihres
gesamten Einkommens (§ 88 SGB XII) entfallen.
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VIII.
Frei von Barrieren
Eine Kommune, die ihr gesellschaftliches Leben allen Menschen öffnet, verfügt
über keinerlei materielle oder immaterielle Barrieren mehr (Umsetzung bereits
vorhandener rechtlicher Vorgaben). Dies gilt für die gesamte bauliche
Infrastruktur der Gemeinde wie auch für die Planung und Förderung von
barrierefreien und bezahlbaren Wohnungen. Die Öffnung verlangt aber auch ein
Vorgehen, dass alle Politik- und Gesellschaftsbereiche erfasst, damit Menschen
mit Behinderungen in allen relevanten Zusammenhängen und Rollen am Leben
der Kommune teilhaben können.
Erste Schritte in diese Richtung sind:
•
•
•
•
der konsequente Abbau von baulichen und sozialen Barrieren in der
kommunalen Infrastruktur,
die konsequente Entwicklung einer trägerübergreifenden regionalen
Bedarfsermittlung und Angebotsplanung unter Einbeziehung der Menschen
mit Behinderung und ihrer Vertrauenspersonen,
die Förderung ambulanter Angebote und betreuter Wohnmöglichkeiten und
die Schaffung ergänzender Begegnungs- und Beratungsmöglichkeiten.
4. Wie lässt sich das Gesamtkonzept umsetzen?
Um ein behindertenpolitisches Gesamtkonzept im Rahmen einer neuen Inklusions-Kultur
umzusetzen, müssen unter anderem die folgenden Eckpunkte in der Arbeit mit und für
Menschen mit Behinderungen realisiert werden. Sie sollten in Schleswig-Holstein
gegebenenfalls auf der Basis von Zielvereinbarungen modellhaft erprobt werden.
Ziele vereinbaren
I.
Freie Wohlfahrtspflege, Kommunen und das Land Schleswig-Holstein
vereinbaren auf der Grundlage gemeinsamer Leitlinien und Ziele verbindliche
Absprachen (Zielvereinbarungen) zur Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe
für Menschen mit Behinderungen in Schleswig-Holstein.
II.
Auf der Grundlage des Inklusions-Konzeptes sollen folgende Ziele erreicht
werden:
•
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•
•
Die Ausgestaltung personenorientierter statt institutionenorientierter
Leistungen und Ansprüche.
Die Stärkung des Wunsch- und Wahlrechtes der Menschen mit
Behinderungen.
Die Sicherung der Qualität der Leistungen und der Leistungserbringung
(einschließlich der Qualität der Arbeitsbedingungen).
Die Begrenzung des Kostenanstiegs.
Vereinfachung des Zugangs (Beantragung, Begutachtung, Abklärung von
Zuständigkeiten und Teilhabebedarf) zu Leistungsträger-übergreifenden
Hilfen.
Diese Zielvereinbarungen beziehen sich auf modellhafte Maßnahmen zur Weiterentwicklung
der Leistungen. Sie legen die von den jeweiligen Partnern zu erledigenden Aufgaben,
Zeitpläne, das Monitoring, die Kriterien zur Zielerreichung und weiteres fest.
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Feststellung des Bedarfs
Land, Kommunen und Verbände verpflichten sich, gemeinsam auf ICF-Basis Eckpunkte zur
Vereinheitlichung des Hilfeplanverfahrens zu entwickeln.
Arbeiten
Im Bereich Arbeit und Werkstätten ist eine Reihe von Maßnahmen möglich. Die Positionen
der Verbände der Wohlfahrtspflege bewegen sich hier derzeit zwischen zwei Polen, die
unten dargestellt werden.
Position A:
I.
Teilhabeplanung
Es wird modellhaft ein Verfahren zur Teilhabeplanung entwickelt und erprobt. In das
Verfahren sind alle (insbesondere die vorrangigen) Rehabilitationsträger
miteinbezogen und kooperieren mit den Leistungserbringern (Hilfeplankonferenz).
Das Verfahren wird mit anerkannten Instrumenten zur Erfassung des
Teilhabebedarfes und zur Qualitätssicherung durchgeführt. An dem Verfahren ist eine
koordinierende Bezugsperson beteiligt.
II.
Eingangsverfahren
Es werden Modelle zur Durchführung des Eingangsverfahrens außerhalb der
Werkstatt erprobt.
III.
Flexible Formen der Werkstattleistung
Berufsbildungsbereich außerhalb der Werkstatt unter Nutzung des allgemeinen
Arbeitsmarktes oder Mischformen wie Werkstattplätze in Betrieben des allgemeinen
Arbeitsmarktes. Joint Ventures zwischen Werkstätten und Unternehmen
(gemeinsame Produktionsstätten). Entwicklung neuer Arbeitsangebote (z.B.
subventionierte Leistungen für das Gemeinwesen) alternativ zum ersten
Arbeitsmarkt.
IV.
Übergang Werkstatt – Arbeitsmarkt
Ziel ist es, die bundesweit durchschnittliche Integrationsquote von 0,24 Prozent in
Schleswig-Holstein deutlich zu steigern. Benchmarking der Integrationsquoten der
Werkstätten. Budget für Arbeit (Modell Rheinland-Pfalz). Kooperationsmodelle WfbM
– Integrationsfachdienst. Integrationskonzepte in Zusammenarbeit mit
Sozialhilfeträger – ArGe. Sicherung der Nachhaltigkeit der Beschäftigung auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt (z.B. durch Arbeitsassistenz und berufliche Begleitung).
V.
Alternative Formen zur Werkstatt
Vergleichbare Leistungen zur Werkstatt im Arbeitsmarkt ausgestalten (unterstützte
Beschäftigung). Individuelle Berufsplanung, Erstellung eines Fähigkeitsprofils,
Erprobung in Praktika, Arbeitsplatzsuche, Arbeitsplatzanalyse und Anpassung,
Qualifizierung am Arbeitsplatz. Langfristige Nachsorge, Begleitung und bei Bedarf
Kristenintervention.
VI.
Vernetzung
Es werden regionale Entwicklungspartnerschaften unter Einbeziehung aller
Leistungsträger, Leistungserbringer, Kooperationspartnern aus der Wirtschaft
begründet (analog zu Equal). Regionale Zentren zur Teilhabe am Arbeitsleben. In
enger Kooperation mit Servicestellen, gebildet aus Leistungsträgern und
Leistungserbringern (Werkstätten, Integrationsfachdiensten,
Rehabilitationseinrichtungen), in Kooperation mit Partnern aus der Wirtschaft können
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Aufgaben der Beratung und Information, der Teilhabeplanung, der Beratung von
Budgetnehmern, der Organisation integrierter Leistungen erbracht werden.
Einbindung von Betriebsärzten und Ergotherapeuten in das Netzwerk zur
Optimierung der Arbeitsplatzgestaltung und Förderung von Ressourcen der
Beschäftigten.
Position B:
zu II. Eingangsverfahren
Da das Eingangverfahren gem. § 40 SGB IX i. V. m. § 3 Werkstättenverordnung
integraler Bestandteil der Werkstattleistung ist, kann es als diagnostisches Verfahren
aufgrund der gesetzlichen Zielsetzung (s.u.) nicht außerhalb der Werkstatt
durchgeführt werden.
zu III. Flexible Formen der Werkstattleistung
Der Berufsbildungsbereich ist gem. § 40 SGB IX i. V. m. § 4 Werkstättenverordnung
integraler Bestandteil der Werkstattleistung. Berufliche Bildung und Arbeitsbereich
können durch den Träger der Werkstatt im Rahmen der Werkstattleistung mit
geeigneten Kooperationspartnern auch außerhalb der Werkstatt durchgeführt
werden. Und zwar: unter Nutzung des ersten Arbeitsmarktes oder in Mischformen wie
etwa Werkstattplätzen in Betrieben des ersten Arbeitsmarktes. Joint Ventures
zwischen Werkstätten und Unternehmen (gemeinsame Produktionsstätten) sind
ebenso denkbar wie die Entwicklung neuer Arbeitsangebote (z.B. subventionierte
Leistungen für das Gemeinwesen) als Alternative zum ersten Arbeitsmarkt. Zur
Begleitung und Betreuung von Werkstattbeschäftigten in diesen Angebotsformen
können besonders geeignete Fachkräfte von der Werkstatt beschäftigt werden.
Menschen mit Behinderungen, die im Rahmen der oben erwähnten Angebote zum
Beispiel zeitweise als Beschäftigte im ersten Arbeitsmarkt tätig sind, müssen die
Möglichkeit erhalten, zu einer Beschäftigung im Rahmen des arbeitnehmerähnlichen
Rechtsverhältnisses in eine Werkstatt zurückzukehren.
Wohnen
Schaffung begünstigender Rahmenbedingungen für eine bedarfsgerechte ambulante
Betreuung behinderter Menschen. Aufgabe der zuständigen Sozialhilfeträger und der
Kommunen ist es, begünstigende Rahmenbedingungen für den Ausbau ambulanter Hilfen
für behinderte Menschen zu schaffen. Auch ist von ihnen Sorge zu tragen, dass diese Hilfen
von Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen auch akzeptiert werden. Dazu
gehören unter anderen:
•
Individuelle und langfristige Leistungssicherheit.
•
Verlässliche und auskömmliche Finanzierung ambulanter Leistungen.
•
Wohnortintegrierte Versorgungsangebote.
•
Niedrigschwelliege und quartiersintegrierte Unterstützungsleistungen wie
Beratungs- und Begegnungsmöglichkeiten sowie die Sicherung von
Krisendiensten.
•
Die Absicherung wohnprojektgebundener Hilfen wie mobile
Hausmeisterdienste, mobile Haushaltshilfen u.v.a.m.
•
Barrierefreiheit in Bezug auf öffentliche Wege, öffentliche Verkehrsmittel,
öffentliche wie privatgewerblich genutzte Gebäude, etc.
•
Genaue umwelt- und sozialraumbezogene Analysen von Risiken und
Gefährdungspotentialen sowie entsprechende Präventionsmaßnahmen.
•
Die Nutzbarkeit der gesamten Gemeindeinfrastruktur für Menschen mit
Behinderungen (z. B. Schwimmbäder und Sportstätten, Freizeiteinrichtungen,
Kulturangebote).
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•
Eine regionale Angebotsplanung und eine Versorgungsverpflichtungsklärung
der Kommune.
Bedingungen für den Wandel
Auch Dienste und Einrichtungen stellt eine solche Veränderung des Systems vor erhebliche
Herausforderungen. Damit der Wandel gelingt, sind jene Bedingungen umzusetzen, die eine
Neuorientierung fördern (z. B. Strukturhilfen und Anreizprogramme).
I.
Aufhebung der Trennungen zwischen ambulant und stationär
Es werden Modelle erprobt, Angebote im Verbund auszugestalten und dabei die
Trennung von ambulanten, teilstationären und stationären Leistungen aufzuheben.
Dies schließt auch die Weiterentwicklung von Angeboten zur Tagesstrukturierung mit
ein. Es werden Modelle zur Ermittlung von Hilfebedarfsgruppen erprobt und im
Kontext des Landesrahmenvertrages SGB XII von den Vertragspartnern im Sinne
differenzierterer, modularer Leistungen fortentwickelt.
II.
Umwandlung stationärer Plätze
Nach vorheriger Absprache mit den Wohlfahrtsverbänden werden Modelle erprobt,
wie stationäre Plätze in ambulante Betreuungsformen umgewandelt werden können.
Eine Trennung von Unterkunft, Verpflegung/Versorgung und Betreuung (Art und
Umfang) wird umgesetzt. Dazu gehört auch die Klärung, wie mit den
Investitionskosten umgegangen wird.
III.
Budgetfinanzierungen
Es werden alternative Finanzierungsformen erprobt, die eine höhere Flexibilität
ermöglichen.
IV.
Leistungen aus einer Hand
Der Sozialhilfeträger wird alleiniger gesetzlich bestimmter Beauftragter der
Rehabilitationsträger (Teilhabe-Agentur), um eine Leistungsgewährung aus einer
Hand gegenüber den leistungsberechtigten Menschen sicherzustellen. Es ist möglich,
dass einer der im SGB IX aufgeführten Rehabilitationsträger als gesetzlich
Beauftragter der anderen Träger bestimmt wird. Dies sollte nach Auffassung der
Wohlfahrtspflege der Rehabilitationsträger mit dem inhaltlich umfassendsten und
nachhaltigsten Leistungsauftrag und der umfassendsten Erfahrung sein. Er
erbringt die eigenen wie die grundsätzlich in fremder Verantwortung stehenden
Leistungen aus einer Hand und erhält von den vertretenen Leistungsträgern im Zuge
eines möglichst einfach zu haltenden Abrechnungsverfahrens eine pauschale
Kostenerstattung. Im Bereich der Krankenhilfe, die die gesetzlichen Kassen für den
Sozialhilfeträger erbringen, wird dies seit 2004 praktiziert und scheint problemlos
zu funktionieren.
Die Einführung eines Leistungsgesetzes für Menschen mit Behinderungen ist
notwendig. Ohne ein solches Leistungsgesetz ist die Bestimmung eines einzigen
Leistungsträgers als allein zuständigem Träger für alle Rehabilitations- und
Teilhabeleistungen nicht möglich. Die Verbände in Schleswig-Holstein machen sich
für eine entsprechende Bundesratsinitiative des Landes Schleswig-Holstein stark.
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5. Konstruktiv und selbst bestimmt die Richtung wechseln
Eine konstruktive Diskussion
Die Verbände der Wohlfahrtspflege wünschen sich eine konstruktive Diskussion auf dem
Wege zu einem behindertenpolitischen Gesamtkonzept im Sinne des Inklusions-Gedankens.
Die derzeitige, in vielerlei Hinsicht nicht befriedigende Situation des Systems von
Unterstützungs- und Hilfeangeboten ist das Ergebnis gesellschaftlicher, politischer und
gesetzlicher Weichenstellungen aus der Vergangenheit. Auf Basis dieser Entscheidungen ist
von den Sozialleistungsträgern und den freien Wohlfahrtsverbänden das gegenwärtige
System erarbeitet worden.
Eine Weiterentwicklung dieses Systems, seine stärkere Fokussierung auf die individuellen
Interessen der Menschen und der Ausbau ambulanter Angebote kann nicht allein von den
Diensten und Einrichtungen geleistet werden. Gesellschaftspolitische und leistungsrechtliche
Grundlagen sind dafür zu schaffen. Die Menschen mit Behinderungen, ihre
Vertrauenspersonen und Angehörigen müssen an diesem Prozess beteiligt werden.
Eine Entscheidung der Betroffenen
Der Umbau des Systems hat unmittelbare Auswirkungen auf jene Menschen, die derzeit in
stationären Einrichtungen leben. Ihnen auch mit Anreizen die Möglichkeit zu eröffnen, in
Zukunft sicher und mit der notwendigen Unterstützung außerhalb dieser Einrichtungen zu
leben, ist von zentraler Bedeutung. Gleichzeitig sind aber auch die Entscheidungen von
Menschen zu akzeptieren, die nach vielen Jahren weiterhin ein Leben in ihrer Einrichtung
vorziehen.
Wohlverstandene, nicht eingrenzende Fürsorge wird auch weiterhin für Menschen mit
Behinderungen notwendig sein. Einige von ihnen sind in Lebensabschnitten oder in
bestimmten Lebenssituationen als Gestalter eines selbständigen und selbst verantworteten
Lebens überfordert. Für andere gilt dies sogar ein Leben lang. Gleichwohl ist mit geeigneter
und sensibler Unterstützung häufig mehr an Selbstbestimmung und selbst verantworteter
Gestaltung möglich, als oft angenommen wird. Für diese Menschen trägt der fürsorgende
Sozialstaat die Verantwortung. Seine Aufgabe ist es, ihnen ein Leben in Achtung und Würde
in der Gemeinschaft mit allen Bürgern zu garantieren und ihnen die notwendigen Leistungen
zur Teilhabe an der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen.
Jetzt die Richtung wechseln
Das in Deutschland noch neue, in anderen Ländern seit langem praktizierte Konzept der
Inklusion weist über die gegenwärtigen Normalisierungs-, Selbstbestimmungs- und
Integrationskonzepte weit hinaus. Es ist der Anknüpfungspunkt für eine notwendige
gesamtgesellschaftliche Entwicklung in Deutschland. Denn Inklusion bedeutet:
•
die gesellschaftlichen Gegebenheiten zu betrachten,
•
Behinderungen mit neuen Augen zu sehen und
•
einen schwerwiegenden Richtungswechsel in der Sozial- und Rehabilitationspolitik
zu vollziehen.
Die neue Richtung betrachtet nicht mehr die Menschen mit ihren Beeinträchtigungen als
Ausgangspunkt für Diagnosen und Interventionen. Die neue Richtung betrachtet die
gesellschaftlichen Strukturen und Barrieren, die Menschen ausgrenzen oder behindern.
Inklusion bedeutet deshalb, die Strukturen zu verändern, die Barrieren zu beseitigen, damit
jeder Mensch in der Mitte der Gesellschaft seinen Platz findet. Um diesen Wechsel der
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Perspektive und der Richtung zu meistern, sind Bund, Länder und Kommunen aufgefordert,
die Akzeptanz für eine Gesellschaft, die alle einschließt, nachhaltig zu fördern.
Die Verbände der Wohlfahrtspflege stellen sich mit ihren Vorschlägen konstruktiv diesem
Dialog.
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