reha ist keine kur

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reha ist keine kur
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MARIO BURBACH
REHA IST KEINE KUR
Schon bei der Anreise hatte ich ein beengendes Gefühl: Beim Eintritt in den Windfang verspürte ich etwas, das mir die Luft zum Atmen zu nehmen schien. Der Schweiß trat trotz winterlichen
Temperaturen aus den Poren auf meiner Stirn. Mein Mund wurde trocken und meine Lippen fühlten sich taub an.
Das war der Beginn meines ersten Reha-Tags. Von geplanten fünfunddreißig hielt ich es nur ein
paar schreckliche und verstörende Tage in dieser Anstalt aus. Danach hätte mich nichts mehr
halten können – nicht einmal die Aussicht auf Genesung meines Rückenleidens. Diese Reha war
keine Kur!
Ich versuche hiermit einfach nur zu schildern, wie ich diese Tage in einer Rehabilitationseinrichtung in Westdeutschland erlebt habe. Dieser Rückblick ist mir schwer gefallen, aber es hat mich
ein Stück weit von den qualvollen Bildern in meinem Kopf befreit.
MUMFORD AND SONS – ROLL AWAY YOUR STONE
Darkness is a harsh term, don’t you think?
And yet it dominates the things I seek
•••
Ich ging auf die triste, graue Anmeldung zu, über der das Schild „Willkommen“ hing. Die ältere,
schlanke Dame an der Rezeption hatte langes, schwarzes Haar, runzlige, verwelkte Haut und eine
runde Brille mit beachtlicher Stärke. Ihre Augen waren dermaßen vergrößert, dass es mir Angst
machte direkt in sie hinein zu schauen.
„Hallo“, stammelte ich mit gebrochener Stimme. „Meyer, mein Name.“
„Haben Sie Ihre Unterlagen dabei?“ Welch ein netter Ton für eine Empfangsdame. Nicht nur ihre
Augen machten mir Angst – auch ihre tiefe, maskuline und energische Stimme.
Ich kramte die Unterlagen aus meinem Trolley-Koffer und legte sie eingeschüchtert auf die Theke.
Die Alte überflog meine Papiere und kramte dann ein paar Zettel heraus. Sie richtete ihre Brille
und sagte: „Das hier ist Ihr Terminplan.“, sie zeigte mit ihren knochigem, faltigen Zeigefinger auf
die erste Zeile. „Vorne die Uhrzeit, dahinter die Anwendung, dann die betreuende Person und ganz
hinten der Raum. Die Zeiten sind verbindlich, wenn es Ihnen Mal nicht gut geht, melden Sie das
dem Personal und entschuldigen Sie sich.“
Sie knallte einen Schlüssel mit einem Klotz von Anhänger daran auf den Tresen. Darauf war die
Zahl 311 eingraviert.
„Das ist Ihr Zimmer. Das ist der Dritte Stock im Haupthaus.“ Sie zeigte den tristen, grau gefliesten
Flur entlang. „Wenn Sie am Ende von diesem Flur links gehen, finden Sie einen Doppelaufzug. Mit
den zwei Aufzügen kommen Sie zu Ihrem Zimmer. Wenn Sie Ihre Sachen oben verstaut haben,
dann gehen Sie bitte zu Ihrem zugewiesenen Arzt und stellen sich vor. Der Name steht oben auf
Ihrem Terminplan. Die Ärzte finden Sie im Flügel rechts, neben den Aufzügen.“
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Die alte Frau machte nicht einmal den Versuch zu lächeln. Stattdessen starrte sie mich an und
wartete förmlich darauf, dass ich abdampfen würde. Damit hatte sie auch ihre letzten Sympathie-Punkte bei mir verschossen.
Ich folgte dem langen Flur hinab, um zum Aufzug zu kommen. Je näher ich den Aufzügen kam,
desto mehr stieg mir ein Geruch von Urin in die Nase. Es war, als hätte Jemand in eine Ecke gepisst und sich dabei köstlich amüsiert. Ich schnüffelte weiter und es war so, als würde der Geruch
aus der Ecke kommen, an der ein alter Kaffeeautomat stand und leise vor sich hin summte.
Als ich es endlich in den alten, müffelnden Aufzug geschafft hatte, drückte ich die kaum noch zu
erkennende Zahl 3 und die Türen schlossen sich mit schleifenden Geräuschen. Mit einem strammen Ruck bewegte sich die Kabine langsam Stockwerk für Stockwerk hinauf. Der Geruch darin
erinnerte mich an einen türkischen Fitnessclub: Kalter Schweißgeruch, gepaart mit verschiedensten, süßlichen Düften. Ich hielt die Luft an, bis sich die Türen wieder öffneten.
Ich stieg aus und kam in einen, von grellen Neonröhren beleuchteten Gang, mit altem, oliv-grünen
Teppich auf dem Boden und vergilbtem Rauputz an den Wänden. Am Ende des Flurs flackerte eine
Leuchte blitzartig auf und erlosch dann wieder. Eine leise Ahnung schoss mir in den Kopf und ich
stiefelte bis dort hin: Ein Resopal-Schild mit der Zahl 311 darauf, war auf die Tür geklebt. Ich war
also angekommen.
Um das Schlüsselloch war der graue Lack der Tür bereits bis auf das Holz abgeschürft. Die Plastikklinke wirkte genauso ausgeleiert, wie der ganze Flur und der Rest des Gebäudes.
Auch das Zimmer war mit einem alten, abgelaufenen, oliv-grünen Teppich ausgelegt und die Wände waren mit einem gelblichen Rauputz versehen.
Am großen Fenster stand ein alter Schreibtisch, mit schwarzen Metallbeinen und weißem Plastikfurnier. Davor ein Metallstuhl mit schwarzer Rückenlehne und Sitzfläche. Daneben war ein alter
Röhrenradiator angebracht – wie konnte es anders sein: vergilbt.
Rechts von mir war der schmale Kleiderschrank aus dunklem Eichenholz und daneben eine Tür,
die in das kleine spartanische Bad führte: Ein ebener Duschbereich, direkt daneben eine Klosett
und gegenüber das schmale Handwaschbecken. Alles war mit beinahe antik wirkenden, bräunlichen Fliesen ausgestattet. Der Boden war mit kleinen, grauen Platten ausgelegt. Gelbe, sauber
wirkende Handtücher hingen über dem kleinen Heizkörper direkt neben der Toilette.
Ich ging weiter in das Zimmer hinein und stellte meinen Trolley vor den Heizkörper am Fenster.
Das Bett war die Hauptattraktion: Ein altes Krankenhausbett mit verchromten Gestell und Plastikgalgen über dem Kopfkissen. Auch die Bettwäsche wirkte sauber und war akkurat drapiert.
Erst jetzt wurde mir eigentlich bewusst, dass ich in diesem Zimmer für die nächsten Wochen leben
muss. Für einen Moment lief mir ein kalter Schauer über den Rücken und es schüttelte mich am
ganzen Leib.
„Fuck“, flüsterte ich leise vor mich her.
PHIL COLLINS – ANOTHER DAY IN PARADISE
Oh, think twice!
’Cause it’s another day for you and me in Paradise.
Think about it!
•••
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Wenig später machte ich mich auf, um endlich wieder was zu essen. Schon die Aufregung und der
Stress am Tag vor meiner Anreise hatten es mir unmöglich gemacht mir etwas in den Magen pressen zu können.
Ich kam in einen großen Saal, mit billigen ALDI-Fliesen am Boden und abermals schlichten, kalten
Neonröhren an der Decke. Dazwischen schob sich eine Horde Patienten vorbei am Buffet: Es war
wenig ausgefallen – eher überschaubar und unausgewogen. Aber zu meinem Erstaunen sah ich
keinen Schimmel – weder auf dem lieblos ausgelegten Käse, noch auf der Blut- oder Leberwurst.
Ich aß ein Käsebrot und trank diesen überzuckerten, kalten Eistee, der auf jedem Tisch bereitstand. Auch wenn ich noch einen ganzen Berg an Käsebroten hätte essen können, war mir
nach dem Anblick meines Gegenübers nicht mehr danach zu Mute: Es war ein fetter, grauhaariger
Mann, mit dicken Brillengläsern, der lauthals schmatzte und genauso laut durch sein verstopftes
Nasenloch schniefte. Seine faulen, stinkenden Zähne roch ich bis zu mir rüber – jedes Mal, wenn
er in sein, dreifach mit Zungenwurst belegtes Brot biss. Ich blickte ihm einen kurzen Moment in
die Augen und sah, dass einer seiner Augäpfel grau war und einen halben Zentimeter hervor stand.
Auch wenn das jetzt vielleicht respektlos klingt, aber: Ich kann solchen Menschen beim besten
Willen nicht gegenübersitzen – und schon gar nicht, wenn ich selbst noch innerhalb der nächsten
Jahre etwas essen können sollte. Also stand ich auf und ging wieder auf mein Zimmer.
•••
Um Drei Uhr nachmittags hatte ich das Aufnahmegespräch mit dem zuständigen Arzt, Dr. Ulmen.
Der Mann mit weißen, kurzen Haaren und eckiger, altmodischer Brille war beinahe locker und
nahm mir einen Moment die Angst vor diesem ganzen Laden. Er machte in seinen Mid-Fünfzigern
einen sehr guten und freundlichen Eindruck. Es machte fast spaß von diesem Mann untersucht
zu werden. Nur das Herumgetaste in der Leistengegend bereitete mir ein unangenehmes Gefühl.
Aber mir war der sogenannte Eier-Kontroll-Griff, kurz EKG, schon seit der Musterung vor einigen
Jahren ein Begriff.
Nach wenigen Minuten war alles vorbei und ich durfte wieder einpacken. Direkt danach ging ich
ein paar Zimmer weiter, den langen, dunklen Korridor entlang zur Tür mit dem Schild „Dipl.-Psychologe Hr. Lux“. Ich klopfte und wurde hereingebeten.
Ein junger Mann kam mir entgegen und reichte mir die Hand. Er grinste – dabei war ein Mundwinkel weiter nach oben gezogen als der Andere. Seine Augen hinter der altmodischen Kastenförmigen Brille waren groß und ein wenig beängstigend. Er trug ein ausgewaschenes, kariertes
Hemd und eine billige KIK-Bluejeans ohne jegliche Form. Er war das beste Beispiel, für das, was
man neudeutsch einen Nerd nannte: Hoch gewachsen, mager und mit langen, knochigen Fingern.
Oben auf seinem Kopf hatten die Gene zugeschlagen und einen Krater hinterlassen – drum herum
wuchs langes Haar, das die kahlen Stellen bedecken sollte. Seine Haut war blass, sein Gang erinnerte mich unwillkürlich an einen Roboter mit Stock im Allerwertesten. Dieser Psycho-Onkel sah
wirklich grotesk und ulkig zugleich aus.
Während er mich fast eine ganze Stunde befragte, machte er alles andere, als einen seriösen Eindruck. Er stellte Fragen über meine körperlichen und geistigen Beschwerden. Letztere waren damals noch nicht so ausgeprägt. Er Fragte, wie meine Beziehung zu Frauen und Kindern wäre. Und
er fragte, ob ich bereits in Psychologischer oder psychiatrischer Behandlung war, was ich verneinte.
Das Gespräch hatte mich nur noch ein kleines bisschen mehr verstört, als es der Rest der Anstalt
schon getan hatte. Danach suchte ich die Einsamkeit meines kleinen, unschönen Zimmers.
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Ich sah mich im Badezimmer-Spiegel an: Meine Augenringe waren tiefer als normal und noch immer stand mir der kalte Schweiß auf der Stirn. Ich klatschte mir kühles Wasser ins Gesicht.
Das Abendessen ließ ich guten Gewissens ausfallen und versuchte zunächst die ersten, schrecklichen Bilder und Gerüche aus meinem Kopf zu vertreiben. Nicht einfach, aber irgendwann träumte
ich.
•••
Ich träumte von einem Baum. Ein riesiger Mammutbaum – wie er draußen im weitläufigen, grünen Park stand. Einsam. Ruhig. Und langsam im Wind wankend. Davor kniete ich. Mein Blick
schweifte nach oben und suchte die Krone dieses Monstrums von Baum.
Um meinen Hals war eine Art Schlinge gelegt. Meine Hände fühlten daran herum und ich spürte
ein borstiges, raues Jute-Seil. Langsam wurde mir klar, dass ich festgebunden war. Ich folgte dem
Seil weiter und sah hinter mich: Das Seil war um den Baum gebunden. Im Traum lief ich los und
merkte, wie mir mehr und mehr die Luft genommen wurde. Die Schlinge zog sich zu. Ich kämpfte
um jeden Atemzug.
Wieder drehte ich mich um: Auf einmal standen dort mein Arzt und mein Psychologe. Beide
hatten ein fieses, breites Grinsen im Gesicht und zerrten zusammen mit einem Ruck an meiner
Schlinge. Ich fiel zu Boden und wurde über den oliv-grünen Teppich gezogen.
Plötzlich schreckte ich auf. Mein ganzer Körper war in Schweiß gebadet und ich zitterte. Noch immer hatte ich meine Jeans und das T-Shirt an. Alles war durchnässt und klebte an mir.
Ich schaute angestrengt auf meine Armbanduhr: Es war schon kurz vor Zwei nachts. Dann richtete ich mich auf, streifte das nasse T-Shirt von mir ab, dann die Hose und schlüpfte in bequeme
Schlafklamotten.
Eine Sirene schallte los, als ich mich gerade wieder hin legen wollte. Sie war etwas gedämpft, aber
schien im Treppenhaus wegen irgendetwas zu schreien.
Da ich schon immer mit einer gesunden Neugier ausgestattet war, ging ich raus, schloss meine
Zimmertür hinter mir ab und watschelte schnell – auf Socken – den langen tristen Flur hinab zum
Treppenhaus. Ich eilte die Stufen runter. Als ich eine weibliche, fluchende Stimme hörte, blieb ich
stehen und sah durch den Schlitz, dass unten die Nachtschwester eine der Alarmgesicherten Türen
wieder zu sperrte.
„Diese verdammten Idioten. Und immer hauen sie ab, wenn sie den Alarm hören. Verdammt.“ Ihr
Schlüsselbund klimperte, als sie es wieder in die Tasche ihre weiße Hose steckte.
Als ich gerade kopfschüttelnd wieder hoch gehen wollte, hörte ich ein dumpfes Geräusch und
etwas, das wie ein erstickter Schrei klang. Ich ging wieder ein Stück weiter hinunter, und sah nur
noch, wie die strampelnden Beine der Schwester über den Boden gezogen wurden. Dann schloss
sich eine Tür mit lautem Knall.
Ich hastete runter und versuchte die große Brandschutztür zu öffnen, doch ohne Erfolg: verriegelt
oder verkeilt von der anderen Seite.
Schnell versuchte ich einen anderen Weg hinein zu finden – ich wusste nicht, was passiert war,
aber es hatte nicht sehr gut für die Nachtschwester ausgesehen. Hinter mir war eine Tür mit der
Aufschrift „Heizungsraum – kein Zutritt“. Ich versuchte mein Glück und konnte die schwere Metalltür öffnen.
Eine Weile irrte ich einfach nur durch den Raum, ohne wirklich zu wissen, wo ich hin musste, um
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zu helfen. Mein Puls hämmerte mir bis in den Hals und Schweiß stand mir auf der Stirn. Ich hatte
eine Scheißangst.
Neben einem großen Heizverteiler mit jede Menge Reglern und Schiebern war eine Tür mit einem
Glasausschnitt.
Vergeblich versuchte ich die Tür zu öffnen. Durch das kleine Fenster konnte ich sehen, dass die
gefesselte Nachtschwester auf einem Haufen alter Wäsche kauerte. Sie hatte die Augen und den
Mund verklebt. Eine Person in blauer Jogging-Hose und mit beflecktem, weißem T-Shirt kam auf
sie zu. Es war ein Mann mit Bierbauch, Halbglatze und schwarzem, breitem Magnum-Schnäuzer.
Er beugte sich über die Schwester. Als er ihr die Hose runter riss windete sie sich hin und her.
Dann entblößte er sie ganz. Sie lag nackt auf diesem Stapel benutzter Bettwäsche und Handtücher.
Nach einem Augenblick wurde mir klar, dass das hier kein Schauspiel und auch kein schlechter
Softcoreporno am späten Samstagabend war.
Ich hämmerte gegen die Tür und brüllte: „Hey! Hör auf Du Mistkerl!“
Doch der Typ starrte mich nur an und grinste wie ein Geisteskranker Triebtäter. Ich hämmerte
weiter und brüllte, bis er endlich aufhören würde. Doch zum Trotz zog er seine billige blaue Hose
runter und präsentierte mir seinen erigierten, mit schwarzen Locken behaarten Schwanz. Das Lächeln wurde noch widerlicher – dann drehte er sich wieder zu seinem Opfer.
Sie versuchte sich mit ihren letzten Kräften zu wehren und gab alles – doch er war einfach fetter
und stärker. Mit seinem ganzen Gewicht drückte er sie in den Wäschestapel und massierte ihren
großen Busen mit seinen dreckigen Fingern. Als er in sie eindrang schien mein Herz einen Moment still zu stehen, der Schweiß auf meiner Stirn schien zu gefrieren. Er stöhnte laut auf und mir
war, als würde mir die Luft abgeschnürt werden. Dieser ekelhafte Typ blickte zu mir rüber. Ich
versteinerte, als ich dieses fies grinsende Gesicht sah.
Dann rannte ich – ich suchte eine Weile, bis ich den Ausgang wieder gefunden hatte. Dann stürmte ich zum Empfang – ich suchte ein Telefon und wählte den Notruf. Schnell hatte ich alle W-Fragen beantwortet und rannte hastig wieder runter in den Keller.
Mein Herz pochte und heißes Blut schoss mir in alle Gliedmaßen. Die große Brandschutztür stand
weit offen. Die gequälte Nachtschwester lag zitternd auf dem Wäschehaufen. Doch ihr Vergewaltiger war fort. Ich bemerkte einen schrecklichen Schmerz in meinem Kreuz. Zu viel für meinen
Rücken.
Ich ging zu ihr rüber, löste ihre Fesseln und das Klebeband auf Augen und Mund. Dann bedeckte
ich die schlotternde, krampfende, gebrochene Frau mit einem rumliegenden Handtuch. Sie kauerte noch auf dem Haufen, ohne ein Wort zu sagen, bis der Notarzt eintraf und sie mitnahm.
Nach einigen Fragen von der Polizei konnte ich wieder in mein stilles Zimmer und legte mich aufs
Bett. Die Armbanduhr sagte mir, dass es schon gleich sechs Uhr war. Bis zum Frühstück machte
ich kein Auge mehr zu.
Das war er jetzt also: Der erste Tag in der Hölle. Na, vielen Dank, liebe LVA.
THE BEATLES - HELP
Help! I need somebody!
Help! Not just anybody!
Help! You know I need someone!
Help!
•••
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Am nächsten Morgen stand ich in der Reihe von Patienten, um die morgendliche Ration Kalorien
zu mir nehmen zu können: Ein hartgebackenes Brötchen und zwei Scheiben Käse, dazu schenkte
ich mir einen verbrannten Kaffee ein und suchte mir einen freien Platz am Tisch.
Während ich Ausschau hielt, sah ich eine bekannte Person: Ein Mann, mit blauer, billiger Jogging-Hose, Addiletten und weißem T-Shirt mit gelben Schweißrändern. Er saß mit seinem Ekel-Schnäuzer und einem vollgepackten Teller an einem Tisch voller Männer, die einen ähnlichen
Kleidungsstil bevorzugten.
Ich schluckte und starrte ihn einen Moment an. Dann trafen sich unsere Blicke. Er zwinkerte mir
zu und grinste – wie gestern Nacht in diesem Heizungsraum.
Ein Mann stieß gegen mich und sagte kurz: „Oh! Tschuldigung, der Herr.“
Ich drehte mich um und fragte ihn leise: „Sagen Sie, kennen Sie diesen Mann da hinten? Den mit
dem Schnäuzer, der Halbglatze und dem weißen T-Shirt? Da hinten am Tisch.“
Der Mann hob verwundert die Augenbrauen, hielt sich an der Stirn und sagte flüsterte mir dann
ins Ohr: „Da sitzt doch gar keiner.“
Tatsächlich war der Tisch plötzlich leer. Lediglich ein riesiger Müll- und Resteberg war noch übrig.
Dieser miese Mistkerl war weg – samt seiner tollen Gang.
Als der Mann an mir vorbeiging fluchte ich leise vor mich hin und setzte mich dann an den nächstbesten, freien Platz.
QUEEN – I’M GOING SLIGHTLY MAD
I’m goging slightly mad.
It finally happend.
I’m slightly mad. Oh Dear!
•••
Später hatte ich ein Melisse Vollbad auf meinem Terminplan stehen. Das war für mich die perfekte
Gelegenheit für ein paar Minuten alles hinter mir zu lassen und mich zu entspannen. Aber wie es
meistens ist, wenn man sich auf etwas freut, dann kommt es anders – und zwar gewaltig!
Eine Physiotherapeutin begleitete mich in die Kabine. Es war ein älterer Raum, in dem eine noch
ältere, große Badewanne aufgebaut war. Das kleine Sprossenfenster war – zum Schutz vor ungewollten Einblicken aus dem Park – mit einer vergilbten Gardine verhangen. Die junge Frau füllte
die Wanne mit 37 °C warmen Wasser und träufelte das Ätherische Öl hinein. Dann zeigte auf ein
Seil, das von der Decke baumelte und kurz über der großen Wanne endete. „Falls was sein sollte,
einfach an diesem Strick hier ziehen. Und wundern Sie sich nicht: nebenan ist auch ein Patient in
einer Wanne.“ Dann schob sie „Viel Spaß“ hinterher und schloss die Tür hinter sich.
Ich legte meine Klamotten auf den Holzstuhl in der Ecke und stieg in das angenehm warme Nass.
Schnell fielen meine Augen zu und ich war tatsächlich einen Moment lang entspannt und frei.
Mein Geist flog über frühlingshafte Wiesen, gepflastert mit intensiv grünem Gras, Löwenzahn und
der Nase schmeichelndem Pfefferminz- und Melisse-Pflanzen.
Doch erschreckende Geräusche rissen mich wieder aus meinem wundervoll erleichternden Tag© 2015 by SPURGO.de / Mario Burbach / [email protected]
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traum: Es war eine Art Gurgeln, gefolgt von platschendem Wasser und einem Klopfen. Die Geräusche wurden immer lauter und heftiger. Es erinnerte mich an eine Art aggressiven Whirlpool – bis
auf dieses unrhythmische Klopfen – es schien, als würde jemand immer wieder gegen die Acrylwanne hämmern.
Ich richtete mich in der Wanne auf und lauschte weiter hin. Der Wannen-Nachbar, dachte ich.
Doch jetzt kam noch ein schmerzverzerrtes, ersticktes Stöhnen hinzu. Mit den Zeigefingern puhlte
ich den Rest Wasser aus meinen Ohren, um mich zu vergewissern, dass ich da wirklich was hörte
und nicht nur ein Wasserpfropfen mein Gehör täuschte.
Als plötzlich ein kurzer Schrei aus der Nachbarkabine kam, sprang ich aus der Wanne, warf mir
das Handtuch um und ging langsam zu dem Vorhang, der in die andere Kabine führte.
Ganz langsam blickte ich in den Nebenraum: In der Badewanne lag ein älterer, glatzköpfiger
Mann, der wie wild am ganzen Leib zitterte. Schaum quoll aus seinen verzerrten Mundwinkeln
und seine Augenlider flatterten wie eine Fahne bei Windstärke zehn. Seine Beine klopften wild und
unkontrolliert gegen die Seiten der Wanne. Es sah fast so aus, als würde er in dieser Wanne bei
lebendigem Leibe frittiert werden.
Ich stürmte rüber zu ihm und versuchte ihn aus der Wanne zu hieven. Doch ohne Chance – er war
einfach zu schwer für mich und er rutschte wieder ins Wasser. Dazu kam, dass er mit seinen Gliedmaßen weiter um sich schlug – völlig unkontrollierbar und unvorhersehbar.
„Hilfe! Ich brauch hier Hilfe, verdammt!“, rief ich aus voller Kraft. Dann sah ich vor mir den Seilzug hängen. „Falls was sein sollte, einfach an diesem Strick hier ziehen“, erinnerte ich mich und
riss ruckartig an dem Seilchen. Doch diese verdammte Hilfe-Schnur fiel einfach von der Decke –
direkt in die Wanne zu dem zappelnden Mann.
„Scheiße nochmal! Helfen Sie mir hier! Hier ist ein Mann mit einem epileptischen Anfall! Hilfe!
Oh, Gott!“
Der Kopf des Mannes war inzwischen vollkommen unter Wasser. Seine Beine verkrampften sich
am Wannenrand. Ich versuchte mit beiden Händen sein blau verfärbtes Gesicht wieder über die
Wasseroberfläche zu zerren. Doch seine Muskeln waren dermaßen angespannt, dass ich es nicht
schaffte ihn nach oben zu ziehen.
Auf einmal krampfte er so stark, dass sein Bauch aus der Wanne ragte und ich fiel vor Schreck
nach hinten. Dann sackte er plötzlich zusammen, sank wieder unter Wasser und regte sich nicht
mehr.
„Scheiße!“, entfuhr es mir leise, als ich begriff, was mit ihm geschehen war. Wieder hatte ich kalte
Schweißperlen auf der Stirn. Mir war, als würde mein Brustkorb gleich zerbersten. Mein Herz raste
und der Puls pochte mir bis in die Schläfen.
Als es an der Tür klopfte zuckte ich zusammen. Eine Schwester platzte herein und fragte noch im
gehen: „Haben Sie ge-“, dann sah sie den leblosen Mann in der Wanne und mich reglos auf dem
Boden hocken. „Scheiße! Maria! Jessica! Schnell!“
Alles zog verschwommen an mir vorbei. Ich dachte, dass ich nur einen widerlichen Traum hatte
und gleich wieder sanft in meiner Wanne aufwachen würde. Doch leider sah ich wie durch Milchglas, dass die Schwestern zur Hilfe kamen und den Mann aus der Wanne zerrten, einige Male
vergebens den Puls suchten und ebenso vergebens Widerbelebungsversuche veranstalteten. Das
Knacken und Brechen einiger seiner Rippen bereitete mir selbst Schmerzen im Brustkorb.
Nach ein paar Minuten gaben die jungen Therapeutinnen endgültig, verzweifelt auf. Eine jammerte nur, wie das passieren konnte – eine Andere fluchte, hämmerte dabei weiter auf die Brust des
Toten ein und die Letzte stand heulend in der Ecke des Raums.
Danach schneiten im Sekundentakt Ärzte, Pfleger und Pflegerinnen, Patienten und sonstige Schau© 2015 by SPURGO.de / Mario Burbach / [email protected]
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lustige in den Raum. In diesem Durcheinander zog ich mich wieder zurück in meine Badekabine
und zog mich an. Ich war wie benebelt. Alles wirkte einfach unecht.
Wieder zog ich mich in mein einsames, kaltes und trostloses Zimmer zurück.
Das kann einfach nur ein schlechter – sehr schlechter Witz sein, dachte ich.
TAKING BACK SUNDAY – SET PHASERS TO STUN
I’m sorry it took me so long
I’m sorry it took me so long
to come around
to come around
•••
Nachmittags traute ich mich wieder aus meinem Verlies und machte mich auf zu meinem Arzt des
Vertrauens. Mir war kalt und schlecht. Ich wollte ihm alles erzählen – jedes Detail – auch von gestern Nacht! Vielleicht könnte er was unternehmen – diesen Bastard von Schwestern-Vergewaltiger
unter den Patienten ausfindig machen und ihn festsetzen lassen. Vielleicht könnte er dafür sorgen,
dass dieses unfähige Personal aus der Bäderabteilung fliegt – sie haben zwar den Anfall dieses
Patienten nicht hervor sehen können, aber sie waren nicht da – obwohl ich mir die verdammte
Seele aus dem Leib gebrüllt hatte. Scheiße nochmal, ich brauchte jemanden, dem ich all das erzählen konnte. Ich wollte einfach mit jemandem reden, den ich für die einzige, Vertrauen erweckende
Person hielt.
Ich klopfte an, doch er bat mich einen Moment Platz zu nehmen. Vom Wartebereich aus hatte man
einen Überblick auf das Klinikgelände, samt Park und den verschiedenen Gebäudeteilen: Der weitläufige Park war mit großen Bäumen und vielen, kleinen Wegen versehen. In einiger Entfernung
ein kleiner Teich mit Fontäne.
Das Gebäude hatte einen hoch gezogenen Wohntrakt, in dem auch ich untergebracht war – daneben ein niedrigeres, älteres Gebäude, in dem die Massagen, Fangos oder auch eben diese wohltuenden Bäder an den Mann gebracht wurden – dann noch ein breiter, quadratischer Bau mit
begrüntem Flachdach, in dem unter anderem der Essenssaal untergebracht war – und last but not
least der Mediziner¬-Bau, in dem ich mich gerade befand.
Nach ein paar Minuten klopfte ich erneut an der Tür des Arztes.
„Gleich! Ich ruf Sie dann rein!“, hörte ich ihn nur hinter der verschlossenen Tür rufen. Also setzte
ich mich wieder und starrte weiter aus dem Fenster. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt und
dunkle Wolken schwebten über der Klinik. Fast als hätte es jetzt auch noch der Wettergott auf diesen Bau abgesehen.
Ich beobachtete, dass in der obersten Etage des Platten-Wohnbaus ein Fenster geöffnet wurde. Ein
Mann lehnte sich, mit einer Bierflasche in der Hand an das kleine Geländer und schaute runter
auf den Flachdachbau. Er war schmal und schlaksig. Er zischte das Bier weg und warf es hinunter.
Mein Blick folgte der Flasche, die auf dem begrünten Dach mit einem dumpfen Geräusch zerplatzte.
Als ich wieder hoch schaute, stand der Mann plötzlich auf dem Geländer. Ich war geschockt und
rief ohne zu denken laut vor mich: „Nein!“
Doch nur einen Augenblick weiter warf er seinen langen Körper hinunter. Sein Flug schien für
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mich Minuten zu dauern. Wie in Zeitlupe sah ich ihm zu, wie er Stockwerk für Stockwerk fiel –
immer weiter auf den grünlichen Untergrund zu. Er hatte die Arme ausgestreckt und sein T-Shirt
flatterte langsam und lautlos. Alles direkt vor meinen starrenden Augen.
Der Körper des Mannes knallte genauso dumpf auf das Flachdach und sprang einen halben Meter
wieder hoch. Dann lag er dort neben Moos und Lava und zappelte langsam, wie ein Fisch an Luft.
Er kotzte einen Strahl Blut vor sich hin und regte sich dann nicht mehr.
Ich hämmerte wieder an die Tür des Arztes und rief: „Doktor! Bitte, machen Sie auf!“
Als ich wieder nur: „Ich bin beschäftigt!“ hörte, hämmerte ich heftiger und flehte laut: „Scheiße!
Da ist gerade ein Mann aus dem Fenster gesprungen! Hören Sie doch!“
„Ja – ja!“, lachte er.
„Verdammte Scheiße! Glauben Sie mir! Der Mann liegt auf dem Flachdach! Sehen Sie das nicht?“
Ich hörte, wie er erschrocken fluchte und plötzlich wurde es unruhig in seinem Büro. Wenig später
schloss er die Tür auf und starrte mich entgeistert an, während er seinen Arztkittel richtete. Dann
bemerkte er seinen geöffneten Reißverschluss an der Hose und zog ihn schnell zu. Dann rannte er
an mir vorbei – die Treppen runter.
Hinter ihm kam eine junge, gutaussehende Schwester heraus. Ihr blondes Haar war wüst, der
Lippenstift verwischt und sie wirkte verstört. Sie knöpfte ihre Bluse zu. Ihr Büstenhalter lag noch
in einer Ecke des Raums, ihr Tanga daneben. Da machte es endlich Klack! in meinem Kopf und ich
wusste, womit der Arzt und diese Dame so intensiv beschäftigt waren.
Kurz darauf turnte der Arzt – gefolgt von anderen – in seinem weißen Kittel auf dem Dach herum
und rannte auf den Selbstmörder zu. Er schreckte einen Moment zurück, dann bückte er sich hinunter – und schüttelte den Kopf.
Mein Kopf wurde heiß und ich zitterte am ganzen Leib. Der Druck in der Brust war schon wieder
da und diesmal noch heftiger. Das war kein Scherz – leider.
RAMMSTEIN - SPRING
Spring! Erlöse Dich!
Spring! Enttäusch mich nicht!
Spring! Spring für mich!
•••
Nachdem ich die nächsten Stunden in einer Art Fiebertraum in meinem kleinen Verlies verbracht
hatte, quälte mich ein schrecklicher Durst wieder aus dem Bett. Ich stiefelte die Treppen runter.
Jegliches Zeitgefühl hatte ich verloren. Mir war nicht klar, ob es noch vor oder sogar weit nach
Mitternacht war. Alles war ruhig im Haus.
Unten vor dem Speisesaal stand ein leuchtend blauer Automat, an dem man sich kaltes, erfrischendes Wasser abzapfen konnte. Da natürlich keine Becher mehr für mich vorhanden waren,
hielt ich kurzerhand meinen Kopf unter den Auslass und ließ das kühle Nass wohltuend meine
Kehle hinunter laufen. Es hatte etwas von einem Tropfen auf den heißen Stein. Doch nach gefühlten zwei Litern war mein Kopf um einige Grad abgekühlt.
Meine Gedanken kreisten darum, was hier passiert war. Wieso musste ich diese schrecklichen
Dinge aus nächster Nähe beobachten? Was zum Teufel hab ich bisher falsch gemacht? Wieso war
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ich hier gelandet? Was hatte dieser Ort, dass innerhalb von 24 Stunden nur Scheiße vor meinen
Augen passierte? War es ein Mysterium? Ein X-Faktor oder einfach nur eine aneinander Kettung
von unglaublichen, schrecklichen, zermürbenden Zufällen?
Ich schüttelte unbewusst den Kopf und fluchte leise: „Scheiße.“
Und als hätte ich es herauf beschworen, hörte ich in diesem Moment erneut ein ominöses Geräusch: Ein Stöhnen – nein: zwei verschiedene Stimmen stöhnten. Es hatte den Anschein, als
würden diese Töne aus dem Keller kommen.
Natürlich war ich wieder von meiner wilden, unkontrollierbaren Neugier gepackt. Darum ging ich
langsam die Treppen hinab in den Keller. Wieder stand mir der kalte Schweiß auf der Stirn und
meine Hände waren wie taub.
Das Stöhnen wurde immer heftiger und lauter – ich kam immer näher ran. Als ich um eine Ecke
kam, sah ich, dass die Tür zu einem Warteraum offen war. Ich ging weiter, als würde mich jemand
dort hin ziehen.
In dem Warteraum war es dunkel und ich konnte nur schemenhaft erkennen, was dort geschah:
Eine Frau und ein Mann hingen übereinander. Sie rieben sich aneinander. Erst jetzt sah ich, dass
die beiden nackt waren.
Die Frau war älteren Datums, der Mann etwas jünger und korpulenter. Sie stöhnten weiter laut vor
sich hin – massierten sich an den verschiedensten Stellen und hatten dabei jede Menge Spaß.
Ein Geruch breitete sich in meiner Nase aus und ich hielt mir reflexartig die Hand davor. Meine
Augen gewöhnten sich immer weiter an die Dunkelheit im Raum: Ihre behaarten Körper glitten
auf und ab aneinander. Die Frau hatte sich inzwischen so auf ihrem Partner gedreht, dass sie mit
dem Hintern zu seinem Gesicht lag. Ein schmatzendes Geräusch folgte – dann sah ich das abartige
Malheur: Sie machte ihm einen Haufen auf das Gesicht.
Ich schluckte und kämpfte mit dem Brechreiz, doch konnte ich mich immer noch nicht von diesem
grotesken Schauspiel lösen. Er nahm Teile ihrer Exkremente und rieb damit zunächst sie und dann
sich selbst ein, während sie seinen Riemen bearbeitete. Sie spuckte ihn an und massierte mit ihrer
Hand weiter.
Der beißende, süßliche Geruch der Scheiße kitzelte mir in der Nase und ich fragte mich unwillkürlich: Wie kann bei so etwas erregt werden?
Ich stolperte einen Schritt zurück. Das war wirklich der Höhepunkt der Gefühle und ich versuchte so schnell wie möglich zu einer Toilette zu kommen. Nachdem ich mir erst in die Hand gekotzt
hatte, fand ich ein WC und übergab auch den Rest meines Mageninhalts an die Toilettenschüssel
ab. Noch immer kitzelten mir die Nasenhärchen und ich kotzte weiter, bis nur noch Galle kam.
Als ich mich nach einiger Zeit wieder von der Schüssel gelöst hatte, wusch ich mir das Gesicht.
Anschließend klatschte ich mir das Desinfektionsmittel auf die Backen und unter die Nase, in der
Hoffnung, dass jetzt endlich diese Gerüche aus meinem Schädel verbannt werden würden.
ERIC CLAPTON – WONDERFUL TONIGHT
And she asks me:
Do I look alright?
And I say: Yes, you look wonderful tonight!
•••
© 2015 by SPURGO.de / Mario Burbach / [email protected]
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Irgendwann hatte ich mich bis zum Kaffeeautomaten geschliffen und verbrachte dort den Rest der
Nacht mit Milchkaffee, Espresso und Kaffee – Hauptsache keine heiße Schokolade.
Als das Liebespärchen wenig später an mir Händchenhaltend vorbei getrottet kam, wurde mir
blitzartig wieder schlecht. Wieder roch ich die Fäkalien, die wohl noch immer unter der Kleidung
an ihnen klebten. Ich rette mich noch einmal auf die Toilette und ließ die erste Ladung Kaffee dort.
Bis zum Morgengrauen starrte ich eigentlich nur auf meine zitternden Finger und trank so viel
Kaffee, wie mein Geldbeutel es zuließ. Irgendwann kamen die Putzfrauen – die Krankenschwestern – dann die ersten Patienten.
Als ich meinen Arzt mit Aktentasche vorbeihuschen sah, stürmte ich ihm direkt hinterher.
„Ich kann nicht mehr hier bleiben, Herr Doktor!“, stammelte ich, als ich die Treppen zu seinem
Büro hinter ihm hoch stieg. „Das hier ist die Hölle auf Erden! Glauben Sie mir: Ich halte das hier
nicht mehr aus, ohne zu kollabieren.“
Er drehte sich mit einem bösen Blick zu mir um und erwiderte: „Ich weiß nicht, was Sie gemacht
haben, aber seit dem Sie hier sind, läuft in diesem Haus einfach alles schief.“ Er ging weiter die
Treppen hoch. „Ich war nie jemand, der viel auf Mystik und so eine Scheiße gegeben hat. Aber Sie
haben eine verdammt negative Ausstrahlung, Herr Meyer. Ich habe mich schon mit Ihrem Therapeuten besprochen.“ Er schloss seine Bürotür auf, ging hinein und setzte sich in seinen Chefsessel.
„Was haben Sie mit Herrn Lux besprochen? Was meinen Sie, verdammt?“
Er schlug mit beiden Fäusten auf den Tisch und brüllte mit rotem Kopf: „Ich meine, dass wir Sie in
eine geschlossene Psychiatrie einweisen lassen müssen, Herr Meyer! Ich weiß nicht, wie Sie das gemacht haben – und es ist mir als Schulmediziner auch einfach egal – aber Sie sind eine Gefahr für
sich selbst und Ihre Umwelt.“
Ich starrte ihn mit offenem Mund an. Mein Herz schien still zu stehen. Was zum Henker hatte dieser Mann gerade gesagt? Einweisung? Psychiatrie? Ich bin das Ganze hier schuld? Was?
Oh, Gott, dachte ich nur.
„Es ist alles vorbereitet“, fuhr er langsam und ruhig fort. „Sie sind bereits in einer geschlossenen
Anstalt angemeldet worden und ein Krankenwagen steht vor der Tür bereit. Wir haben keine andere Wahl – Sie auch nicht!“ Er drehte sich mit seinem Stuhl zum Fenster hinter ihm.
Wieder wirkte alles wie durch Milchglas – jedes Wort von ihm war gedämpft und undeutlich. Das
Blut in meinem Körper war zu rotem Eis erstarrt. Mein Herz klopfte spürbar langsamer.
Nach einer Weile sagte er: „Das ist das Beste für diese Einrichtung – und für Sie natürlich.“
Jetzt wurde mir endlich klar, was das hier war: Meine letzte Chance! Ich rannte los – die Treppen
runter, raus aus dem Hauptausgang – vorbei an dem Krankenwagen, der gerade anrollte – vorbei
an dem Hausmeister, der mich zu schnappen versuchte. Ich warf mich hinter das Steuer meines
Autos und raste davon.
THE DOORS – THE END
This is the end, beautiful friend.
This ist he end, my only friend, the end.
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Mit letzter Kraft hatte ich es nach Hause geschafft. Ich hatte die Polizei eingeschaltet, die den Laden sofort auseinander nahm. Dann war ich wie in einer Zwischenwelt gefangen.
Seit diesen zwei höllischen Tagen bin ich arbeitsunfähig. Lange Zeit war ich auch unfähig Kontakte
zu Menschen – geschweige denn Ärzten herzustellen. Ich war Monate lang kaum ansprechbar. Wie
versteinert starrte ich aus dem Fenster. Konnte kaum schlafen und war einfach nur ein absolutes,
menschliches, gestörtes Wrack.
Hundert Stunden Psychotherapie sind seit dem vergangen – intensive Gespräche und auch starke
Medikamente.
Die Klinik ist inzwischen geschlossen und der Arzt ist Geschichte. Herr Diplom-Psychologe Lux ist
seit den Vorfällen spurlos verschwunden. Das Fäkalien-Paar habe ich erst kürzlich in einer TalkShow gesehen – ihnen scheint es immer noch Spaß zu machen.
Als letzten Schritt habe ich nun meine Erfahrung mit einer Reha aufgeschrieben – um sie endlich
loszulassen. Endlich all diese ekelhaften, verstörenden und seltsamen Bilder – und Gerüche – vergessen zu können.
Alle Liedtexte sind Eigentum der jeweiligen Interpreten und wurden hier nur wiedergegeben.
MARIO BURBACH
REHA IST KEINE KUR
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