Friedrich: Größte Gefahr ist „home-grown terrorism“
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Friedrich: Größte Gefahr ist „home-grown terrorism“
Ausgabe | 05 09. März 2012 Interview: Feridun Zaimoğlu über Identitätskrisen, Lebenslügen und die Ehre der Männer Interview Friedrich: Größte Gefahr ist „home-grown terrorism“ Eine am vergangenen Donnerstag veröffentlichte Studie im Auftrag des Innenministeriums zeigt, dass mehr als 20 Prozent junger Muslime in Deutschland nicht integrationswillig sind. Sie seien Jugendliche „mit starken Abneigungen gegenüber dem Westen, tendenzieller Gewaltakzeptanz und ohne Integrationstendenz“. Den Deutsch Türkischen Nachrichten erklärte Bundesinnenminister Friedrich exklusiv im Interview, wo er die größte Gefährdung sieht. Deutsch Türkische Nachrichten: Gibt es Hinweise auf eine verstärkte Terroraktivität in Westeuropa, um zur Destabilisierung beizutragen? Haben Sie Erkenntnisse, dass in Deutschland eine erhöhte Sicherheitsstufe gilt? Dr. Hans-Peter Friedrich: Wir haben keine neue Situation in Deutschland. Die Sicherheitslage ist unverändert. Dazu gehört auch, dass wir im Fokus des internationalen islamistischen Terrorismus stehen. Würden Sie sagen, dass hier nach einer gewissen Zeit der Unauffälligkeit wieder eine verstärkte Aktivität zu sehen ist? Innenminister Friedrich ist der Ansicht, man sollte viel mehr über schon stattgefundene Integration sprechen. Foto: Shane Thomas McMillan Nein, die Aktivitäten sind seit Jahren auf einem hohen Niveau. Wir hatten im vergangenen Jahr in Frankfurt am Main den ersten vollendeten islamistischen Anschlag in Deutschland. Der Einzeltäter Arid U. ist mittlerweile zu lebenslanger Haft verurteilt wor- Analyse Islamdebatte: Horror-Studie entpuppt sich als differenzierter Bericht Eine Studie über Muslime in Deutschland bringt erschreckende Tatsachen ans Licht. Überall in Deutschland lauern sie. Streng religiöse Muslime mit „tendenzieller Gewaltakzeptanz“, die Integration ablehnen. Das Horrorszenario wird untermauert mit düsteren Bildern von verschleierten Frauen und fanatisch anmutenden jungen Männern. Um 11:30 Uhr war es dann so weit. Das Bundesinnenministerium veröffentlichte die „Schock-Studie“. Die Versprechungen wurden allerdings nicht eingehalten. Ein Schock war das Lesen der Studie allemal. Denn die Beschreibung der gegenüber dem Westen hasserfüllten Jugendlichen sucht man vergeblich. Vielmehr stellt sich heraus, wie vielschichtig die Gruppe der Muslime ist. Wer sich besonders in jüngster Zeit angesichts der um sich greifenden Islamisierung in Deutschland unwohl fühlt, sollte mit der Studie nun auch ruhiger schlafen können. Denn viel mehr als die erste und zweite Generation der Muslime nichtdeutscher Herkunft habe die dritte Generation bereits ein tatsächliches „Zu- gehörigkeitsgefühl zu Deutschland“ entwickelt und das „Deutsch-Sein“ sei „ein wichtiger Teil der eigenen Selbstwahrnehmung“, so die Ergebnisse der Studie. Es entwickelt sich also alles zum Besten. So wie sich die Jugendlichen eines jeden Landes und jeder Religion zeitweise versuchen, sich von der Mehrheitsgesellschaft abzugrenzen, tun das auch Teile der jungen Muslime in Deutschland. Sie im Speziellen fühlen sich besonders aufgrund der Berichterstattung über sie ausgegrenzt. „Die Rolle der Medien wird kritisch wahrgenommen, da davon ausgegangen wird, dass sie ein negatives Bild der Muslime bei Nichtmuslimen fördern. Schlussendlich wird durch die deutsche Gesellschaft ein Assimilierungsdruck wahrgenommen sowie eine mangelnde Akzeptanz des islamischen Glaubens“, fassen die Forscher die Schilderungen der Befragten zusammen. Es sei häufig die Sorge geäußert worden, „die eigene muslimische beziehungsweise Herkunftsidentität nicht wahren zu drüfen“. Man kann sich vorstellen, dass jeder Jugendliche, ganz abgesehen von seiner Herkunft und seinem Glauben, mit diesem Gefühl der Ablehnung mit eigener Abgrenzung kontern wird. Doch auch hier gilt, es reagieren nicht alle Muslime auf diese Weise. Die meisten sehen sich als Teil der Gesellschaft. Es gibt eben nicht DIE Muslime und auch die Forscher betonen: „Es gibt nicht eine muslimische Lebenswelt in Deutschland, sondern zahlreiche ambivalente“. Das Maß an Religiosität steht zudem ebenfalls nicht in Zusammenhang mit Radikalisierung. „Unabhängig davon, wie stark eine Person an den Islam gebunden ist, werden Aktionen islamistisch-extremistischer Terroristen entschieden abgelehnt“, heißt es weiter. „Bezüglich ihres Lebens als Muslime in Deutschland zeigen die Erzählungen der Teilnehmer, dass sie sich in Deutschland wohl fühlen und eine positive Bindung zu Deutschland aufgebaut haben“, lautet ein zentraler Befund der Mehrgenerationenbefragung. Islamistische Terroristen werden von fast allen Befragten „verurteilt“ und Terror sehen sie als „unvernünftig und dumm“. Merve Durmuş 1 Ausgabe | 05 den. Mit der Festnahme der von Al-Qaida gesteuerten Düsseldorfer Zelle Ende April 2011 und mit der Festnahme ihrer sogenannten Ableger Anfang Dezember 2011 in Bochum haben wir zudem zwei wichtige Erfolge im Kampf gegen den internationalen Terrorismus erzielt. Dies war aufgrund der engen Zusammenarbeit mit internationalen Partnern möglich. Somalia ist mittlerweile zu einer zusätzlichen Gefahrenquelle geworden. Es gibt mehr und mehr Menschen, die sich dort in Terror-Ausbildungslager begeben. Bei welchen Gruppierungen in Deutschland ist das Gefahrenpotenzial am größten? Was neben der Al-Qaida zunehmend Probleme macht, ist der „home-grown terrorism“. Damit ist die Form des Terrorismus gemeint, die im Lande selbst entsteht, das heißt bei uns in Deutschland. Es gibt Menschen, die in Europa aufwachsen, unsere Lebensgewohnheiten kennen und ausreisen, um sich in Terror-Camps ausbilden zu lassen. Hinzu kommt das Problem der Selbstradikalisierung im Internet. Wie im Fall des Frankfurter Flughafen-Attentäters gibt es junge Menschen, die sich zunehmend von Propaganda im Netz beeinflussen lassen. Haben Sie Kenntnisse darüber, welchen Milieus diese zuzuordnen sind? Das ist kein Problem einer bestimmten Gesellschaftsschicht. Häufig ist es sogar Zufall, wen diese islamistische Propaganda erreicht. Radikalisierung ist ein sehr individueller Prozess. Anfällig dafür sind beispielsweise junge Menschen, die auf der Suche nach sozialen Bindungen, nach Akzeptanz, Anerkennung und Zuwendung sind. Bei ihrer Suche nach Identität, Sinn und Orientierung sind sie oftmals empfänglich für Propaganda. Andere beziehen ihre Motivation wiederum aus einer vermeintlichen Unterdrückung der Muslime durch die „westliche Welt“. Mitunter spielen auch Bekannte oder der Freundeskreis eine Rolle. Welche Rolle spielen die Konvertiten? Konvertiten sind häufig diejenigen, die noch extremere Ansichten haben als an- 09. März 2012 dere. Aus diesem Grund haben wir beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge unter der Rufnummer 0911/9434343 eine Hotline eingerichtet. Dorthin können sich Eltern, Angehörige und Freunde wenden, wenn sie merken, dass bei ihren Söhnen oder Töchtern, bei ihren Freunden und Bekannten irgendetwas nicht stimmt, wenn sie sich beispielsweise abschotten. Im Rahmen der Initiative Sicherheitspartnerschaft haben wir zudem eine Website eingerichtet (www.initiativesicherheitspartnerschaft.de), auf der sich betroffene Eltern informieren können. Welche Möglichkeiten hat hier das Innenministerium? Wir können uns vorstellen, dass mit Gruppen, zum Beispiel den Salafisten, der Dialog oder die Sicherheitspartnerschaften schwierig sind? Mit fanatischen Salafisten kann man in der Tat keinen Dialog führen. Sie betreiben eine sehr gezielte Propaganda, auch – wie schon erwähnt – im Internet. Salafisten wollen einen Gottesstaat errichten, in dem die Scharia gilt. Kann durch die Sicherheitspartnerschaften eine Allianz mit den Muslimen gebildet werden, so dass auch das Vertrauen der deutschen Muslime gewonnen werden kann? Ja, das erste Spitzentreffen, das im Rahmen der Sicherheitspartnerschaft im vergangenen Jahr stattgefunden hat, ist sehr gut verlaufen. Am 27. März werden wir nun ein gemeinsames Symposium veranstalten. Wir versuchen auf diese Weise mit den Verbänden, aber auch mit nichtorgansierten Muslimen, Initiativen vor Ort anzustoßen. Vor wenigen Wochen haben wir einen Wettbewerb für gemeinsame Deradikaliserungsprojekte gestartet. Dabei wollen wir zum einen neue Ideen entwickeln und zum anderen auch bereits laufende Projekte prämieren und bekannter machen. In den Städten und Kommunen gibt es bereits viele gute Projekte zwischen Muslimen und Sicherheitsbehörden. sehr vielschichtig. Erst seit einigen Jahren betreibt die Bundesregierung eine gezielte, aktive Integrationspolitik. Jahrzehntelang war das nicht der Fall. Man hat früher den Fehler gemacht, an eine „Multi-Kulti-Idee“ zu glauben und nicht der Realität ins Auge zu sehen. Wie kann man die Ghettoisierung, von der ja auch Deutsche betroffen sind, insgesamt aufbrechen? Das ist schwierig. Wenn ganze Stadtviertel – wie in Berlin – nur von bestimmten Gruppierungen bewohnt werden, ist es nicht einfach, das zu verändern. Im Grunde kann man nur darauf setzen, dass gesellschaftliche Teilhabe in allen Wohngebieten ermöglicht wird – und dass es vor allem überall gute Bildungsangebote gibt. Natürlich geht jeder am Anfang am liebsten dorthin, wo er seine Sprache sprechen kann. Klar. Aber eine Ghettoisierung muss soweit möglich immer vermieden werden. Wie wollen Sie das verhindern? Das kann man natürlich nicht von einem auf den anderen Tag erreichen. Das muss sich im Laufe der Zeit einspielen, über Jahre. Wir müssen die positiven Beispiele mehr in den Vordergrund heben. 40 Prozent der Mitglieder der Berliner CDU im Bezirk FriedrichshainKreuzberg haben einen Migrationshintergrund. Sie senden das Signal aus: Du kannst es schaffen! Muss also jeder selbst dafür sorgen, dass er akzeptiert wird? Integration verlangt beiderseitiges Bemühen und die Schaffung von Perspektiven. Ich glaube, dass wir viel mehr über die bereits stattgefundene Integration sprechen sollten, die, die sich in unserem Alltag längst niederschlägt. Gibt es regionale Schwerpunkte, in denen Sie islamistische Aktivitäten bemerken? Wo sehen Sie strukturelle Probleme beim Thema Sicherheitspartnerschaft und die Rolle der Islamkonferenz? Jeder ist ja anderer Meinung. Glauben Sie, man sollte sich lieber auf das Thema Sicherheit beschränken? Die Probleme sind regional natürlich Ich will das Thema Sicherheitspartner- 2 Ausgabe | 05 09. März 2012 schaft und Deutsche Islam Konferenz nicht vermischen. Wichtig ist doch grundsätzlich die Frage: Wie fühlen sich die religiösen Menschen in Deutschland? Ich weiß, dass Religion für einen Menschen eine sehr wichtige Funktion haben kann und deswegen muss man auch dafür sorgen, dass jeder eine Möglichkeit bekommt, seine Religion zu leben. Schwierig ist, dass die islamischen Verbände sehr heterogen sind und es nicht einen Ansprechpartner gibt. die Türken in Deutschland’. Das kann ich aber nur begrenzt akzeptieren. Es ist klar, dass Zuwanderer beispielsweise aus der Türkei nicht der Brückenkopf der Außenpolitik eines anderen Landes sein dürfen. Wer hierher kommt, hier lebt und hier seine Zukunft sucht, trägt auch Verantwortung für die Gemeinschaft in unserem Staat. Kann man erzwingen, dass sich die Muslime auf einen Ansprechpartner einigen? Das ist nicht zwingend. Die Kirchenmitglieder zahlen Monat für Monat Kirchensteuer, die für soziale Aufgaben in unserem Land verwendet werden. Was mir vorschwebt, ist eine Art europäischer Islam, will heißen, dass die Imame bei uns An die Anerkennung als Religionsgemeinschaft knüpfen sich verschiedene Rechte. Zum Beispiel, dass ich den Inhalt von Religionsunterricht an der Schule bestimmen kann. Der evangelische und der katholische Religionsunterricht an den Schulen in Deutschland werden inhaltlich von den Religionsgemeinschaften bestimmt und nicht vom Staat. Wenn wir islamischen Religionsunterricht machen wollen, brauchen wir jemanden, der für die islamischen, religiösen Menschen Inhalte bestimmt. Dafür brauchen wir einen Ansprechpartner. Dann müsste der nächste Schritt die staatliche Besoldung der Imame sein… von Leuten ausgebildet werden, die hier leben und hier integriert sind. Was bedeutet das für die Rolle der Ditib, wenn man den Einfluss der Türkei hier verringern möchte? Die Ditib nimmt eine wichtige Aufgabe wahr. Allerdings erwarte ich von Seiten der Türkei, dass akzeptiert wird, dass die Menschen, die jetzt hier leben, Deutsche sind oder zumindest Teil der Gesellschaft, auch als solche anerkannt werden. Ich habe den Eindruck, dass viele Ditib-Vertreter diese Grundeinstellung teilen. Interview: Michael Maier, Merve Durmuş Merken Sie noch eine starke Einflussnahme aus der Türkei? Immerhin werden die Imame immer noch von der Türkei bezahlt… Das ist ein Thema, das mich umtreibt. Dadurch, dass wir uns so viele Jahre zu wenig um das Thema Integration gekümmert haben, hat man den türkischen Staat förmlich dazu eingeladen, zu sagen ‚jetzt kümmern wir uns um Hans-Peter Friedrich im Gespräch mit den Deutsch Türkischen Nachrichten. Foto: Shane Thomas McMillan Wirtschaft TD-IHK: „Visumspflicht für türkische LKW-Fahrer ist illegal“ In der Visumsfrage für Geschäftsleute spalten sich die Geister. Vertreter der Industrie- und Handelskammer sowie gewisse politische Kreise beschweren sich: Das Innenministerium widersetze sich EU-Bestimmungen und blockiere eine Verbesserung der schikanierenden Visabestimmungen. Dieses jedoch meint: die EU bestimmt die Richtlinien. B ahattin Kaya, Vorstandsmitglied der TD-IHK ist aufgebracht: Seit 1996 ist die Türkei in der Zollunion. Deren Sinn und Zweck sollte sein, die technischen Hindernisse bei der Zusammenarbeit der Türkei mit der EU zu vereinfachen. Und dennoch: „Die Visapflicht für türkische Geschäftsleute stellt noch immer ein großes Hindernis dar. Das ist eine einseitige Benachteiligung“, so der Geschäftsführer der Kaya-Touristik. Die Türkei ist der größte Handels- partner Deutschlands und trotz der Hindernisse haben sowohl der Import als auch der Export um 30 Prozent zugenommen, berichtet der Geschäftsmann. „2011 wurden 20 Milliarden US-Dollar durch Import, dagegen aber nur 10 3 Ausgabe | 05 09. März 2012 Die erschwerten Visabedingungen sind eine Schikane für die LKW-Fahrer. Milliarden US-Dollar durch Export erwirtschaftet“ – das liege auch an der Visumspflicht, so Kaya. Eine Schwierigkeit sei, dass das Visum lange im Voraus beantragt werden muss. Kaya selbst muss mindestens 20 Flüge im Jahr umbuchen, weil sich Termine ändern. Als Geschäftsmann muss er flexibel sein, doch das Visum bindet ihn. „Auf lange Sicht fordern wir die Abschaffung der Visumspflicht, doch unsere mittelfristige Forderung ist, ein verlängertes Visum von zwei bis fünf Jahren einzuführen, wie in England oder von 10 Jahren wie in den USA“, so Kaya. „Innenministerium blockiert Verbesserung bei Visabeschaffung“ Darüber hinaus hatte, so Kaya, der Europäische Gerichtshof befunden, dass die Visumspflicht für LKW-Fahrer und Künstler gesetzeswidrig sei. Doch sieht die Praxis in Deutschland anders aus. Zurzeit blockiere noch das Innenministerium die Verbesserung der Visabeschaffung. Dem stimmt auch der FDP-Abgeordnete Serkan Tören zu. Dass es momentan noch mit der Visafreiheit hapert, liege an unterschiedlichen Auffassungen innerhalb der Union. Tören bemängelt neben der häufig langen Dauer bis zur Ausstellung eines Visums auch die Pflicht zur persönlichen Vorsprache, die häufig noch immer für Geschäftsleute gilt. Auch er befürwortet Mehrjahresvisa. Außerdem kritisiert er die hohen Gebühren, die Künstler und Wissenschaftler für ein Visum bezahlen müssen. FDP befürwortet „Visa-WarnDatei“ Deutlich spricht er sich für die „VisaWarn-Datei“ aus. Mit dieser sollen Antragsteller, die sich beispielsweise durch falsche Angaben ein Visum erschlichen haben, schneller identifiziert werden. Davon würden alle anderen Antragsteller profitieren, das Überprüfungsverfahren würde damit erleichtert werden. Das Gesetz ist bereits verabschiedet und soll bald in Kraft treten. Foto: Flickr/Scousemouse2000 Ein weiterer Punkt, über den diskutiert werden müsse, ist, so Tören, die passive Dienstleistungsfreiheit von Touristen. „Visa-Dialog mit der Türkei“ wäre ein Schritt in die richtige Richtung Ein sogenannter „Visa-Dialog“ mit der Türkei wie einst im Fall von Serbien und Montenegro mit der EU wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung. Allerdings würde die Türkei zurzeit das Projekt noch blockieren. Grund sei das Rückführungsübereinkommen, das die Ausweisung in Deutschland straffällig gewordener türkischer Staatsbürger in die Türkei erleichtert. Dieses Rückführungsübereinkommen ist die Voraussetzung für den „Visa-Dialog“, doch „momentan sperrt sich die Türkei noch“, so Tören, weshalb der Dialog noch nicht zustande gekommen ist. Das Innenministerium hingegen weist den Vorwurf, es blockiere eine mögliche Verbesserung bei der Visumserteilung wie z.B. die Ausstellung von 4 Ausgabe | 05 Visa für einen längeren Zeitraum von zwei bis vier Jahren. Das Innenministerium sei an die Vorgaben des EU-Rechts bzw. Visakodex gebunden. Dieser trage dazu bei, „den Aufwand zu reduzieren, ohne die deutschen Sicherheitsinteressen zu vernachlässigen“. Wie ein Sprecher des Innenministeriums mitteilte, sei es rechtlich nicht 09. März 2012 möglich, dass einzelne Schengen-Staaten wie z.B. Deutschland Staatsangehörige eines Drittstaates von der durch die EU festgelegten Visumspflicht ausnehmen Die Visumspflicht sowie die Vergabeverfahren werden durch die Vorgaben der EU gestaltet. Der EU-Visakodex hat u.a. zum Ziel, das Visumsverfahren zwischen den Schengen-Staaten weiter anzugleichen. „Eine Änderung der EUVisa-Verordnung könnte nur auf Vorschlag der Europäischen Kommission durch Rat und Europäisches Parlament beschlossen werden. Ein solcher Vorschlag der Kommission in Bezug auf die Türkei liegt derzeit nicht vor“. Höchstens könne an einer Verkürzung der Antragsbearbeitungsdauer gearbeitet werden. Bademode Dortmunder Bäder verbieten muslimische Badebekleidung Burkinis sind unhygienisch und gefährlich, glauben die Betreiber Dortmunder Bäder. Dabei soll der Burkini, ein Ganzkörperbadeanzug, auch muslimischen Frauen das Schwimmen ermöglichen. Viele Lehrer hatten sich über die Einführung von Burkinis gefreut. D nämlich auch keine Badeshorts an Männern sehen. Kaddor findet, „muslimische Frauen sollten die Freiheit haben, schwimmen zu gehen, wie sie es wollen“. Und das ermögliche in einigen Fällen eben der Ganzkörperbadeanzug. Das Wort „Burkini“ vermeidet sie. „Das Wort ist eine Katastrophe“, sagt sie. Die städtischen Bäder in Dortmund und in vielen anderen Orten Deutschlands lassen die muslimische Badebekleidung als Ausnahme zu. Burkini ist eine Wortschöpfung aus „Burka“ und „Bikini“. Die Burka ist ein afghanisches Kleidungsstück, das den gesamten Körper verschleiert, nur ein Stoffnetz vor den Augen ermöglich die Sicht nach außen. „Mit der Burka verbinden wir alle die Unterwerfung der Frau. Schon das Wort schürt Ressentiments gegen Muslime“, sagt Kaddor. Die Bekleidung sei zudem nicht nur unhygienisch, sondern auch noch gefährlich, so die Ansicht der Sportwelt. „An der Kleidung können andere Schwimmer hängen bleiben“ und sie „saugt sich voll und ist damit deutlich schwerer“, argumentiert Heckmann. Dabei bestehen Burkinis, Hier in Australien hat man mit dem muslimischen Ganzkörperbadeanzug kein Problem. Foto: Flickr/brimfulofsasha genau wie herkömmie Dortmunder Sportwelt gGmbH akzeptiert in ihren Bädern keine muslimische Badebekleidung. In den jeweils fünf Hallen- und Freibädern wolle man niemanden diskriminieren, erklärt die Geschäftsführerin Claudia Heckmann den Ruhr Nachrichten. Zwei Gründe hat die Bädergesellschaft dafür: Zum einem könne man „nicht kontrollieren, was unter den Anzügen getragen wird“, so Heckmann. Der Verdacht: die Frauen könnten unter den Anzügen „normale Unterhosen“ tragen. „Das ist nichts als Spekulation“, argumentiert Islamwissenschaftlerin und Religionspädagogin Lamya Kaddor. Da es sich hier nicht um städtische Bäder handelt, können diese das natürlich selbst bestimmen. Genauso will die Sportwelt liche Schwimmbekleidung aus leichtem Elastan. „Die Begründung Hygiene und Gefahren des Hängenbleibens anderer Schwimmer finde ich grotesk“, sagt auch Markus Thoms. Er unterrichtet Mathe, Physik und Technik an einer Dortmunder Gesamtschule. Obwohl er nicht Schwimmen unterrichtet, findet er, die Haltung der Bädergesellschaft sei ein „falsches Signal“. Er freue sich als Lehrer über jede Muslima, die mit Burkini schwimmen gehe und „nicht vom Schwimmunterricht und vom gemeinsamen Schwimmen in der Freizeit ausgeschlossen ist“. Auch für Kaddor überwiegt hier der Bildungsauftrag. Sie betrachtet das ganze Thema nüchtern. „Die Zahlen sprechen doch für sich. Die meisten muslimischen Frauen in Deutschland tragen kein Kopftuch. Von denen, die Kopftuch tragen, gehen auch nicht alle unbedingt schwimmen. Letztendlich handelt es sich also um eine ziemlich kleine Zahl von Frauen“, so Kaddor. Sie versteht die gesamte Diskussion nicht: „Was soll das Ganze? Liegt es vielleicht vor allem daran, dass die Bekleidung nicht in das gewohnte Erscheinungsbild der Mehrheitsgesellschaft passt?“ Mit einem Burkini, einem Ganzkörperbadeanzug, wird vor allem die Arbeit der Lehrer erleichtert. Muslimische Mädchen, die sonst nicht am Schwimmunterricht teilnehmen würden, können so ungehindert mit ihrer Klasse schwimmen lernen. 5 Ausgabe | 05 09. März 2012 Alternativen Türkei gibt erste islamische Staatsanleihen heraus Lange Zeit waren islamische Anleihen in der Türkei umstritten. Doch sie haben sich in der Wirtschaftskrise als stabil erwiesen und nachdem viele nicht-islamische Staaten ihr Glück mit dem alternativen Finanzsystem probieren, traut sich die Türkei nun auch: Die ersten islamischen Staatsanleihen sind unterwegs. Z um ersten Mal in der Geschichte der säkularen Republik plant die Türkei dieses Jahr die Ausgabe von islamischen Wertpapieren. Sogenannte Sukuk, islamische Anleihen, bei denen keine Zinsen auf das angelegte Kapital gezahlt werden, sollen vor allem Öl-Investoren anlocken. Weltweit wird der Sukuk-Markt auf über 100 Milliarden US-Dollar geschätzt. Das neue Projekt der Türkei könnte als Zeichen gewertet werden, eine stärkere Rolle im islamischen Finanzwesen spielen zu wollen. „Es ist, als würde man eine Glocke läuten, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken“ zitiert Reuters Murat Çetinkaya, den stellvertretenden Schatzmeister der Kuveyt Turk, einer islamischen Bank, die als Trendsetter des Sukuk-Wesens in der Türkei gilt. Das Thema war lange Zeit in der Türkei umstritten Bewusst habe sich die Türkei lange Zeit nicht an das Thema gewagt, so Reuters. Zu groß sei die Furcht vor Kritikern gewesen, die behaupten, die AKP versuche, heimlich den Säkularismus abzuschaffen. Schließlich hatte 2008 der Oberste Gerichtshof damit gedroht, die AKP wegen islamistischer Tätigkeit zu verbieten. Doch die Zeiten haben sich geändert und mittlerweile sitzt die Partei fest im Sattel. Die Partei ist mittlerweile zum dritten Mal in Folge gewählt worden, niemand hat Zweifel am Wirtschaftsmanagement der AKP und das Pro-Kopf-Einkommen hat sich fast verdreifacht. Dass zudem immer mehr nicht-islamische Anleihenehmer in den SukukMarkt investieren, hat die Hemmschwelle für die Türkei gesenkt. „Auch Länder wie Frankreich und Deutschland sind in das Geschäft mit Sukuk eingestiegen und außerdem steht Erdoğan innenpolitisch viel stärker da“, zitiert Reuters einen Banker, der nicht genannt werden will, weil das Thema in der Türkei noch immer brenzlig ist. Die Kritik fiel dementsprechend sachte aus, als der stellvertretende Mi- Mit den islamischen Staatsanleihen könnte die Türkei Investoren locken, die den internationalen Kapitalmarkt umgehen möchten. Foto: Flickr/scot2342 nisterpräsident Ali Babacan vergangenen Monat mitteilte, die Regierung plane eine staatliche islamische Anleihe. „Die Türkei könnte ganz leicht eine Anleihe im Wert von ein paar Millionen Dollar herausgeben. Vermutlich wird sie zu Beginn 500 Millionen oder eine Milliarde US-Dollar herausgeben und dann sehen, wie es läuft“, so Osman Akyüz, Generalsekretär der Assoziation der Partizipatorischen Banken in der Türkei. Islamische Anleihen sind relativ stabil Beim islamischen Bankenmodell werden die Investoren theoretisch zu Teilhabern am Gewinn. Wenn auch der Sukuk-Markt viel kleiner ist als die konventionellen internationalen Anleiheemissionen, so haben sie sich doch während der globalen Wirtschaftskrise als relativ stabil erwiesen. Seit 1980 wird die islamische Finanzmethode in der Türkei angewendet, wenn auch erst als private Institution. 2006 wurden sie als partizipatorische Banken anerkannt. Heute gibt es vier solcher Banken in der Türkei: Albaraka Turk, Bank Asya, Kuwait Turk und Türkiye Finans. Kuwait Turk, eine Einheit des Kuwait Finanzhaus, gab 2010 die ersten islamischen Anleihen heraus. Einer Meldung der Ratingagentur Fitch zufolge können Pläne eigenständiger Anleihenehmer außerhalb des Mittleren Ostens und anderen größtenteils islamischen Regionen, den Sukuk-Markt anzuzapfen, der Nachfrage von islamischen institutionellen Anlegern und Banken entgegenkommen, um ihre Obligationenbestände breiter zu fächern. Für die Türkei, die Investoren für ihre großen Bauunternehmen wie die dritte Bosporus-Brücke oder das Nord-MarmaraAutobahn-Projekt braucht, sind das gute Nachrichten. Durch die Sukuk würden vielleicht auch Investoren angezogen, die den internationalen Kapitalmarkt umgehen möchten. 6 Ausgabe | 05 Meldungen CDU-Landtagsabgeordneter Ismail Tipi: Religionsunterricht in NRW ist verfassungswidrig Artikel 7 des Grundgesetzes sieht vor, dass Religionsunterricht „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen des Religionsgemeinschaften erteilt“ wird. Eine islamische Religionsgemeinschaft gibt es allerdings nicht, so Tipi. Der hessische Landtagsabgeordnete Ismail Tipi (CDU) hält die in NordrheinWestfalen vorgesehene Regelung zur Verankerung von Islamunterricht an den Schulen für verfassungswidrig. Damit schließt er sich der Meinung des hessischen Justizministers Jörg-Uwe Hahn (FDP) an. Die Einführung des bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterrichts widerspreche Artikel 7 des Grundgesetzes, welcher besagt, dass der Religionsunterricht „in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt“ wird. Im Falle des islamischen Religionsunterrichts jedoch gehe man in Düsseldorf davon aus, dass man ohne eine entsprechende Religionsgemeinschaft auskommen könne. Solch eine islamische Religionsgemeinschaft existiere aber auch in NRW nicht. Ein staatliches Gremium könne nicht die notwendige Religionsgemeinschaft sein, so Tipi. „Der Staat darf nicht Lenker des Islam sein“. Auch die Beirats-Lösung hält Tipi für verfassungswidrig. „Bei der Einführung des bekenntnisorientierten Religionsunterrichts darf das Land nicht auf die Beteiligung der Religionsgemeinschaften verzichten“, teilt Tipi in seiner Presseerklärung mit. Allgemein ist Tipi bei der Frage nach dem Religionsunterricht eher zurückhaltend: „Es ist nicht ratsam, mittels staatlicher Sondervorschriften zu agieren. Den tiefgreifenden Vorbehalten in Teilen der Bevölkerung kann man so nicht entgegentreten.“ Bei der Einführung eines islamischen Religionsunterrichts sei nichts zu überstürzen. Tipi bemängelt, dass sich nur wenige Prozent der in Deutschland lebenden Muslimen vereinsrechtlich organisiert und manche Verbände keine Mitgliederverzeichnisse haben. Der Staat 09. März 2012 dürfe nicht alle Muslime pauschal zu einem Unterricht verpflichten, ebenso wie er nicht davon ausgehen dürfe, dass jeder Deutsche ein Christ sei, so der FDPLandtagsabgeordneter. „Ich lege Wert darauf, dass wir auf die Verfassungsvoraussetzungen keinen Rabatt gewähren“, so Tipi, der beteuert, gerade er könne sehr gut verstehen, dass der Wunsch nach Einführung eines muslimischen Religionsunterrichts innerhalb der muslimischen Gemeinde groß ist. Voraussetzung sei, dass ein dauerhafter Ansprechpartner bei Fragen zu Lehrstühlen, Stundenplänen, Lehrerausbildung da ist. Auch dürfe das Problem der vielen verschiedenen Richtungen und Kulturkreise im Islam nicht außer Acht gelassen werden. Lehrerinnen dürfen während des Religionsunterrichts Kopftuch tragen Mit der Einführung des bekenntnisorientierten Islamunterrichts schafft das Land Nordrhein-Westfalen etwas Neues, bislang gab es an Schulen nur die Islamkunde, die sachorientiert war. „Es handelt sich bei dem neuen Unterricht aber nicht um einen Gottesdienst“, stellt ein Sprecher des Schulministeriums NRW klar. Gebetspraxis und Gebetsformen sollen im Unterricht nur besprochen werden. Der Lehrplan wird zurzeit noch entwickelt. Eine weitere Besonderheit ist, dass Lehrerinnen zu den Unterrichtszeiten des Religionsunterrichts das Kopftuch tragen dürfen, sofern sie das wünschen. Ende 2012 hatten SPD, Grüne und CDU im Schulausschuss des Düsseldorfer Landtags die Einführung von Islamunterricht als regulärem Schulfach in deutscher Sprache beschlossen. Das Gesetz muss noch vom Parlament verabschiedet werden und soll zum 1. August in Kraft treten. Betroffen sind 320.000 Kinder und Jugendliche. Ein achtköpfiger Beirat ist der Ansprechpartner für inhaltliche Fragen. Sprachmix der 3. Generation: Deutsche Jugendliche sprechen jetzt türkischen Slang „Valla“ (ehrlich), „lan“, (Typ): Worte aus dem Sprachwortschatz türkischer Jugendlicher sind jetzt immer häufiger aus dem Mund ihrer deutschen Altersgenossen zu hören. Immer mehr deutschsprachige Jugendliche haben sich bei ihren Kumpels aus der dritten Generation der türkischen Einwanderer Slang-Ausdrücke abgeguckt und bauen sie in ihren täglichen Sprachgebrauch ein. Das ist das Ergebnis einer Studie der Universität Potsdam. Für ihre Untersuchung zeichneten die Forscher Gespräche von insgesamt 48 Stunden zwischen 14-18-jährigen Teenagern auf und untersuchten, inwiefern türkische Wörter in die deutsche Sprache integriert werden. Die Verschmelzung der beiden Sprachen wurde auch hinsichtlich ihrer regionalen Verteilung untersucht. Das Ergebnis: Am häufigsten fließen türkische Jugendausdrücke in die deutsche Sprache in Berlin. Professor Heiser Wieker, Leiter der Studie, ist der Meinung, aus der linguistischen Verwendung der türkischen Ausdrücke entwickle sich nicht etwa ein neuer Dialekt. Vielmehr sei sie Ausdruck einer erfolgreichen Integration von verschiedenen Gesellschaftsgruppen. Bergkarabach-Massaker: Tausende Aserbaidschaner und Türken protestieren in Istanbul Die Straßen vom Istanbuler Stadtteil Taksim füllten sich am Sonntag mit Tausenden von Menschen, die am 20. Jahrestag des Massakers an Aserbaidschanern in Xocalı gedachten. Politiker, Künstler und tausende Türken und Aserbaidschaner erinnerten am Sonntag an das Massker von Xocalı. In der Stadt in Bergkarabach wurden am 25. Februar 1992 über hundert aserbaidschanische Zivilisten von armenischen Truppen getötet. Nach aserbaidschanischen Quellen handelte es sich um mehrere hundert Opfer und die Regierung spricht vom XocalıVölkermord. Am Sonntag meldete sich in Taksim die 20-Jährige Zarife Guliyeva zu Wort. Ihre Mutter sei am Tag des Massakers mit ihr schwanger gewesen. „Meine Mutter wurde von vier Kugeln getroffen. Ich hatte Glück, denn meine Mutter ist nicht gestorben und ich wurde geboren. Schwangeren Frauen wurden die Bäuche aufgeschlitzt 7 Ausgabe | 05 und die Säuglinge herausgeholt. Sie wurden brutal getötet. Ich bin wegen diesen Kindern hier. Welt: Wo ist deine Gerechtigkeit? Ich habe Sarkozy und Sargsjan in Briefen davon geschrieben. Erkennt den Genozid an, habe ich geschrieben. Wo ist eure Gerechtigkeit?“, rief Guliyeva der Menge entgegen. Die Sänger Murat Kekilli, Mustafa Yıldızdoğan und Alişan nahmen ebenfalls an der Kundgebung teil. Mit der Großdemonstration haben sich viele Türken vor allem erneut gegen Frankreich gewendet. Seitdem Sarkozy sich für das Genozid-Gesetz in Frankreich eingesetzt hat, macht sich die Bevölkerung und die Regierung in der Türkei für Aserbaidschan stark. Im Bergkarabach-Konflikt kämpfen Aserbaidschaner und Armenier um die Vorherrschaft in der Region. Immer wieder kam es in der Region zu blutigen Kämpfen. Das Massaker von Xocalı ist einer der bekanntesten. Armenien betrachtet die Vorkommnisse im Gegensatz zu Aserbaidschan nicht als Völkermord. Sie sind der Ansicht, dass es bei Militäroperationen zu den Opfern kam. Dies läge allerdings auch an der Verhinderung einer Evakuierung durch Aserbaidschan. 09. März 2012 Der UN sind durch das Veto von Russland und China die Hände gebunden. Die Türkei will nun unabhängig von der UN handeln und einen „Flüchtlingskorridor“ errichten. Zur Errichtung eines Flüchtlingskorridors ist ein Mandat des UN-Sicherheitsrats notwendig. Die Türkei hatte ein solches Vorhaben immer wieder unterstützt und selbst angeboten eine große Zahl an Flüchtlingen aufzunehmen. An der türkisch-syrischen Grenze finden in Flüchtlingslagern bereits viele Syrer, darunter Deserteure und Oppositionelle, Unterschlupf. Ein Flüchtlingskorridor scheitert aber durch Russlands und Chinas Veto zur UN-Resolution. Die UN zählt bereits mehr als 7.500 Opfer durch das Assad-Regime. Doch noch länger warten will die Türkei, die eine militärische Intervention entschieden ablehnt, offenbar nicht. Der Hürriyet Daily News erklärte ein türkischer Offizieller, die Regierung ziehe es in Betracht auch ohne ein UN-Mandat einen Flüchtlingskorridor zu errichten. Auch ohne die UN-Resolution würde die internationale Gemeinschaft ein solches Vorhaben vermutlich wegen der wachsenden Flüchtlingsproblematik unterstützen. Foto: Flickr/Ammar Abd Rabbo Interview Zaimoğlu: „Muff unter den Talaren bei den Türken“ Der Schriftsteller Feridun Zaimoğlu findet die Mittel der Islam- und Migrationsdebatte einfach nur „plump“. Im Interview mit den Deutsch Türkischen Nachrichten spricht er über fehlende Identitätskrisen in seiner Jugend, Lebenslügen und die Ehre der Männer. meine ich nicht den so genannten Komplexitätsabbau, wir verblöden alle. Ich zwinge mich nicht dazu zu verblöden. Ich meine damit, und darauf zielt Ihre Frage hin, dass ich heute genauso naiv bin wie im Anfang – aber erfahrungsgesättigter, natürlich, nach 1017 Lesungen in 17 Jahren habe ich einen Erfahrungswert. Das, was ich jetzt sage, darüber mache ich mir keine Gedanken. Ich schreibe meine Bücher, ich zeichne, sonst würde ich mich ja hemmen, sonst würde ich mich ja blockieren. Ich bin immer noch so naiv wie im Anfang. Das soll’s geben. Deutsch Türkische Nachrichten: Seit Ihrem ersten Buch „Kanak Sprak“ ist viel Zeit vergangen. Wie haben Sie sich entwickelt, haben Sie Ihre Naivität verloren? Feridun Zaimoğlu: Ich bin immer noch naiv. Die Kinderseele, Gott sei’s gebimmelt, die ist nicht tot. Sonst könnte ich das nicht machen, was ich tue. Wenn ich gefragt werde, wer ich denn sei, wenn ich gewissermaßen zur Selbstverortung gezwungen werde, dann sage ich: Naja, ich bin ein dramatischer Knilch. Ich bin einer, der naiv ist und naiv bleiben möchte. Zynisch kann jeder. Zynisch sein ist keine Tugend. Aber klug böse zu sein oder funkelnd böse zu sein, das ist großartig. Mit Naivität Feridun Zaimoğlu glaubt, der Wille zum Kleinbürgertum ist bei den Türken immer noch ungebrochen. Foto: Screenshot via YouTube Haben sich Ihre Absichten geändert? Als Sie Geschichten aus dem Migrantenmilieu erzählt 8 Ausgabe | 05 09. März 2012 den Sachen, Anpassung oder Nicht-Anpassung, sondern sie müssen sich selbst schützen. Denn das, was sie im Kopf haben, ist zu gefährlich. Gefährlich im Sinne von: Das verträgt sich nicht mit dem, was da draußen ist. Also müssen sie mal ein bisschen zurücktreten und ein bisschen kürzertreten – einfach aus Gründen der Gesundheit an Leib und Geist sind einige auch ausgestiegen, woraus auch immer. Was ist denn übrig geblieben? Feridung Zaimoğlu arbeitet ausschließlich an seiner elektrischen Schreibmaschine. Foto: Screenshot YouTube haben, wollten Sie damit etwas Bestimmtes sagen? Ich habe nicht aus einem Migrantenmilieu berichtet. Ich habe eine deutsche Szene sichtbar gemacht und ich habe darauf hingewiesen, dass es keine Indianer im Reservat sind. Sie werden dazu gemacht und sie machen sich selbst dazu. Ich habe extreme Fälle geschildert, denn der Wille zum Kleinbürgertum ist bei den Türken immer noch ungebrochen. Erste, zweite, dritte Generation: Die wollen komischerweise alle Kleinbürger werden. Viel Spaß dabei. Deshalb kriegen sie ihren Arsch nicht hoch – die meisten. Es wäre schlecht, wenn man nicht vom Fleck wegkommt. Die Themen ändern sich, ich kriege manchmal auch völlig zu Recht Prügel. Bei Gegenrede blühe ich auf. Ich will keine Bestätigung, ich will Geschichten erzählen, ich will aber auch nicht Mutti- und Papi-Geschichten erzählen. Es scheint wohl so zu sein, dass ich keine kalten Bücher schreiben kann. Insofern hat sich nichts geändert, aber die Themen, ja. Das hat nichts damit zu tun, dass ich mir das überlege, sondern ich muss eingestimmt sein auf eine Geschichte. Eine Geschichte: zwei Jahre dauert das mit Recherche und allem drum und dran. Bis ein Buch fertig ist, da muss ich schon überzeugt sein. Davon überzeugt sein, das Buch zu schreiben und das auf der langen Strecke auszuhalten. Zurück zu den türkischen Kleinbürgern. Kanak Sprak ist ja eine Momentaufnahme einer Kultur, die auch irgendwo als Gegenkultur dargestellt wird. Die wurde verbürgerlicht? Nein, da waren keine fremden Einflüsse. Manche wurden aufgesogen und wurden zu Familienvätern, bekamen Haarausfall, Türkenwampe und waren glücklich. Man guckt sie sich an und denkt: Junge, als böses Tier hast du mir aber besser gefallen. Jetzt watschelst du hinter deiner dicken Tante daher und damals hast du mir erzählt: Ich will unbedingt ‘ne Türkin heiraten. Du hast deine Türkin geheiratet. Ihr beide seht jetzt aus wie Monster der Moderne. Das ist kein toller Anblick. Sie wurden so aufgesogen. Das war ihr Plan: Toll, herzlichen Glückwunsch. Andere sind erschossen, erdolcht worden, erschlagen… Also Opfer des beschriebenen Milieus? Genau. Da würde sich der Familienvater, den ich vorhin beschrieben habe, umdrehen und sagen: Ach, mich beschimpfst du hier? Sind das deine Freunde? Hier guck mal, was aus denen wird. Dann würde ich sagen: Ja, stimmt. Das ist aber noch lange kein Grund. Nimm mal zehn Kilo ab, du Sack. Andere wurden ausgewiesen, andere landeten im Knast, sind rausgekommen und haben es immer noch nicht geschafft und wiederum andere haben gesehen, dass es nicht darum geht, um diese bei- Luft, die der Wind verwirbelte. Das ist ja das Großartige daran. Kanak Sprak – ich fand es damals toll und finde es heute toll. Ich liebe Eintagsfliegen. Es ist ein flirrendes Moment gewesen und dann weg. Natürlich, das war von Anfang an klar. Es ist ja nicht so, dass ich da einen Verein gründen wollte. Die Szene hat es kurz mal gegeben. Bzw. ich warf einen Blick darauf hier in Kiel. Ich sah in Berlin, in München, in Köln ähnliche Verhältnisse, bestimmte Szenen unter den Deutsch-Türken und schrieb. Davor hatte ich nie so viel geschrieben. Waren Sie selbst auch Teil dieser Szene? Jetzt kommen wir mal zu mir, da sehen Sie, wie hart ich mit mir ins Gericht gehe. Ich war ein Nichts, ich war ein Stück Fetzen im Wind. Ich war zu blöd, um überhaupt mit einer Frau zu sprechen. Ich war betäubt, ich war eingenebelt. Ich hatte keine Ahnung, weniger als heute. Ich bezeichne mich deswegen als Prolet, weil ich auch vulgär war. Vulgär im Sinne von: Wo darf es, wo muss es hingehen zur Feinheit. Mit Feinheit meine ich nicht Tischsitten oder dass man Standardtänze beherrscht. Wo keine Feinheit ist, da ist Grobheit. Und wo Grobheit ist, da ist Missstand, ist Blödsinn. Ich war damals nicht nur nicht-fein. Ich war ein grober Idiot. Ein Idiot ohne Wissen um mich selbst. Was ich aber gesehen habe ist; Ich habe mich gewundert, Deutsche, Türken, türkisch-deutsch, deutschtürkisch, dann dachte ich: Schäm’ dich. Da wird erzählt, Identitätskrise. Ich hatte keine einzige Identitätskrise in meinem Leben. Bin ich bekloppt? Die Frage konnte ich mit einem klaren Ja be- 9 Ausgabe | 05 antworten. Aber die müssen doch auch bekloppt sein. Diese Zerrissenheit, dieses Zerrissenheits-Dogma. Ich sah eher das Diktat. Ich sah eher die Verhältnisse. Die Diktatur der Verhältnisse. Ich sah Körper schmelzen. Ich sah Körper umfallen. Ich sah verwundete Körper. Ich war Teil der Szene, ja, einer bestimmten Szene. Ich hab mich auch geschlagen, deswegen Prolet. Ich hab mich auch geprügelt. Für nichts und aber nichts. Für den letzten Blödsinn. Da war dann irgendwann Schluss. Leider nicht so schnell, wie es gut gewesen wäre für mich. Ich hab meine Zeit vertrödelt. Ich meine, sich nachts zu schlagen, sich zu prügeln und am nächsten Tag dann aufm Blatt zu zeichnen, da hat sich natürlich – würden dann die Kenner sagen – das schizoide Moment des kommenden Schreibers manifestiert. Zurück zu den beschriebenen Milieus. Die haben sich aufgelöst. Jetzt sind Sie ja in keinem Milieu, sondern ein deutscher Schriftsteller, der zufällig auch türkische Wurzeln hat. Wie würden Sie aus dieser distanzierten Sicht sagen: Wohin haben sich die deutsch-türkischen Milieus entwickelt? Kann da für die deutsche Kultur noch ein Stück Belebung kommen? Nein. Weil: die Türkischstämmigen und die Kurdischstämmigen müssen mal vor der eigenen Haustüre kehren. Sie müssen ihren eigenen Blödsinn loswerden. Sie müssen aufhören mit den Lebenslügen. Man kann den Körper nicht verarschen. Krankheitssymptome, sogenannte Migranten-Krankheiten, Magenschleimverätzung, Nacken, Rücken, Migräne, Impotenz, diese ganzen Typen, die da den Macker machen: bei Nutten können sie – einige – aber wenn sie es mit einer, mit Verlaub, wirklichen Frau zu tun haben, dann kriegen sie Arschbluten oder was. Jede Idee ist eine Blase, die schön aufsteigt, deswegen bin ich dankbar, dass ich Medizin studiert habe. Ich hatte diese Fälle. Zu Dutzenden sind sie gekommen und das ist nicht schön. Es gibt eine Dunkelziffer der Misshandlungen, der Vergewaltigungen. Es gibt Übergriffe. Es gibt Schläge. Es gibt Grobheiten. Es gibt eine repressive Sexualmoral. Frauen sollen Jungfrauen bleiben und wie ist es mit den Jungs, bitteschön? 09. März 2012 Die ficken rum, damit sie sich irgendwann auf Gottes Erden von diesen Purzeln des mal brüsten können, dass sie ne Jungfrau Schicksals was lernen. Und dann epilierensie sich die Brusthaare, die Idioten. geheiratet haben? Das kann man mir glauben oder nicht, ich hatte eine sehr strenge Erziehung, meine Aber wie soll innerhalb der türkischen …. Schwester auch, und ich kämpfe jeden Tag damit. Also bevor man überhaupt von Raus, raus aus dem Türkischen … raus aus einer Bereicherung der Ankunftskultur diesem… Ich bin gläubig, aber ich hasse die spricht, muss man sich von Lebenslügen Religion. Raus aus diesem Dorf-Islam. Das trennen. Es hört ja nicht auf. Man trennt ist kein Islam. Raus da, das ist Aberglaube. sich von einer und dann von der nächsten und dann von der nächsten. Deshalb Aber wer soll ihnen das sagen? Es muss ja eine Kleinbürgertum. Muff unter den Talaren Elite da sein … bei den Türken. Man muss mit diesem Dreck aufräumen. Es ist Dreck. Die Ehre Brauchen Sie einen Kälberstrick? Wieso kriegen sie ihren Arsch nicht hoch? Das der Männer ist Dreck. Komischerweise – immer wenn von der sind Kälber. Wenn sie sozusagen auf einen Ehre der Männer die Rede ist, werden Frau- warten, der ihnen einen Strick um den en verletzt, müssen Frauen bluten. Es gibt Hals wickelt und sie dann herumführt, kein Türkenproblem. Es gibt ein Männer- das wird doch nichts. Und wenn es was problem. Die Jungs haben ein Problem. Die wird, brauchen sie sich nicht zu wundern, Jungs haben ein großes Problem. Die reißen dass man sie als Kälber bezeichnet. Aber hier das Maul auf und dann erzählen sie es ist doch immer die Produktion und Reproduktion derselben Scheiße. Egal wo von Respekt. Sie kriegen keinen Respekt. Völlig zu Recht. Wer so dumm aus der Wä- man hinguckt, was ist denn das für eine sche guckt – man kann den Leuten ja von Unkultur, in der sich die Verwandten den Augen ablesen, ob sie melancholisch oder der Junge wegen der Angeberkultur oder blöd sind – wer so blöd aus der Wäsche guckt und sich dann auch noch dahin stellt und sagt: Digger, ich will Respekt, der kriegt höchstens eins aufs Maul und nen Arschtritt und soll mal schön abhauen und als Ziegentreiber Karriere machen. Das sind Purzel des Schicksals. Das sind kleine Kläffer. Ich habe jahrelang viel zu viel kaputt gemachte Frauen und Mädchen gesehen, türkischstämmig, bosnischstämmig, kurdischstämmig und... Gesehen, als dass ich was geben würde auf Illusionen oder auf dieses klassische Gerede oder Gelaber „Hier die Türken, hier die Deutschen“. Was können wir voneinander lernen? Solange die Knilche nicht so ein kaputtes Männlichkeitsverständnis haben, solange kann nicht nur die deutsche Gesellschaft, sondern Bei türkischen Hochzeiten ist es üblich, viel Gold zu schenken. Foto: Flickr/illustir nicht eine einzige Gesellschaft 10 Ausgabe | 05 09. März 2012 Die Jugendlichen, die Zaimog˘lu in „Kanak Sprak beschreibt, sind keine „Indianer im Reservat“. Foto: Flickr/ЯAFIK BERLIN für die Hochzeitsfeier verschuldet, damit sie schön angeben können vor den anderen Bauern. Dann wird Gold angesteckt … Dann versetzen sie das Gold … Glückliche Ehepaare sehen anders aus. Man muss sie nach zwei, drei Jahren sehen. Wenn eine Familie für Aufzucht und Hege der Brut da ist. Die heiraten doch nur, um dann damit anzugeben, dass sie Kinder haben. Und Kindererziehung? NULL. Bäh. Was ist denn das? Frauenbild? Katastrophal! Die Frauen sind damit beschäftigt, ihre Haare so oft zu färben, bis sie aussehen wie Hexen. Die Frauen sind damit beschäftigt, über das Kleine, Niedere zu reden. Aber das Reden über Verbrechen der Männer ist ein Größeres, aber egal wo man hinguckt, wenn sie zusammenglucken, in der Community, fand nicht statt, findet nicht statt, wird nicht stattfinden. Null! Also, raus da! Jeder, der ein bisschen Hirn statt Grütze im Kopf hat, wird sich das angucken und sagen, da stimmt fast gar nichts. Und dann erzählen die: Ach, aber wir sind doch so heiß und wir sind doch so temperamentvoll. Ihr seid Heuchler. Ihr lächelt den Leuten ins Gesicht. Kaum geht diese Person aus dem Raum, fangen die an zu lästern. Was? Welche Kultur wollen sie mir bitteschön verkaufen? Und dann? Sagt man das, heißt es, das sei zu harte Kritik. Entweder nennt man das Kind beim Namen oder sagt: Ja, also hmm, ich hab türkische Freunde oder deutsche Freunde ... ich war in der Türkei … und die sind so gastfreundlich. Einen Scheiß sind sie. Also das ist doch nicht zu fassen, worüber man redet. Mich hat es geheilt, meine eigene Idiotie auch vor Augen geführt zu bekommen, als ich da reihenweise dutzende und aberdutzende jener Leute untersucht habe, mit ihnen gesprochen habe, die Opfer ihrer eigenen Kultur sind – nicht der deutschen Kultur. Sie sollen froh sein – ich sage das als einer, der aus der Unterschicht kommt, der auch ein Arbeiter-Bauernkind ist – sie sollen ob der Freiheiten in diesem Land froh sein. Maul halten, es besser machen. Wenn sie es nicht besser machen, Maul halten, Ziegentreiben. Wer soll die Veränderung herbeiführen? Raus. Sie sollen aus dieser Szene rausgehen. Es ist immer eine Frage der Feigheit. Aber wie kann der Prolet, der nichts anderes kennt als den Kälberstrick, wer treibt den raus? Die meisten sehen die Missstände. Sie machen weiter, weil Mustafa ein Muttersöhnchen ist und Mustafas Mutti verhätschelt ihn. Die größte Stütze des Pat- richarchats ist die Frau als Mutter. Diese kleinen Idioten-Paschas da, die zu blöd sind und deswegen lallen oder brüllen oder so feige sind, dass sie nur als Rotte zu zehnt oder zu fünfzehnt auf Schwache losgehen. Also, das ist ein anderes Kapitel. Mir fallen immer mehr Beispiele ein. Der Künstler – Vorbildfunktion? Da lach ich doch! Wo in der deutschen Gesellschaft? Arzt? Ich könnte da auch rausgehen und dann den Deutschstämmigen predigen, ihr habt es nicht geschafft, weil: Hier sind zu wenige Ärzte, zu wenige … das ist ja lächerlich. Man nimmt einen Filmemacher, einen Schreiber, einen Anwalt, einen Arzt, präsentiert die Schießbudenfiguren, Fußballer und – jeder kann es schaffen. Schon mal sehr falsch. Nein, in den letzten 15 Jahren in dieser kapitalistischen Gesellschaft wird das Geld von unten nach oben geschafft. Nicht jeder schafft es, die meisten bleiben liegen, das stimmt nicht. Erste Lüge. Zweite Lüge: Fast jeder hat ein Gefühl – es gibt die besonders Blöden, die sind dann halt Futter – aber wer sich unter die Kleie mischt, darf sich nicht wundern, dass er von Kühen gerupft wird. So einfach ist das. Und wenn diese Leute wegen der Vergünstigungen, wegen des Lobs und wegen der Vorteile, die es nach sich zieht, Nestwärme und Glühen in dieser Community… Wer darauf was setzt und weiterhin da bleibt, kann es selten weit bringen. Ich kenne großartige Leute, die ihre Eltern lieben, die immer wieder hingehen und sie besuchen, die aber rechtzeitig abgehauen sind. Abgehauen im Sinne von: Sich das angeguckt und gesagt haben: Eure kleinbürgerliche Welt kann mich am Arsch lecken. Das haben sie vielleicht nicht in diesen brutalen Worten gesagt, aber sie haben das für sich entschieden. Ich würde die Leistung dieser hunderter und aberhunderter von Menschen nicht würdigen, wenn ich denn sagte, naja, es braucht Leute mit einem Kälberstrick, die diese Kälber aus der Herde rausziehen. Die meisten wissen es. Sie bleiben trotzdem drin. Und dann? Ich bitte jeden, der rumquatscht, herzlich darum, genau hinzusehen und erstmal mit den eigenen Lebenslügen zu brechen und zum zweiten auch die Lügen der so genannten Aufnahmegesellschaft – man ist ja kein 11 Ausgabe | 05 Migrant mehr – auch ihnen keinen Glauben zu schenken. Also, lernt Deutsch und die Fee erfüllt euch drei Wünsche. Ist doch Papperlapapp. Die Ökonomie diktiert das Eigentliche. Aber wenn du nicht mal die Hauptschule geschafft hast, Hasan oder Ayse, wenn du schon mit zehn Jahren davon träumst, zu heiraten und dich danach wunderst, dass dein Osman dich einsperrt, na dann guten Morgen, Mädchen. Junge, Knabe, wenn du die Hauptschule nicht geschafft hast und sagst, ich geh malochen. Klar, natürlich, aber wundere dich nicht, dass du nur für bestimmte Arbeiten in Frage kommst und für sehr viele auch nicht und zwar für den Rest deines Lebens. Man muss kämpfen. Man muss aufhören zu lügen, sich selbst zu belügen. Mit einem Auge zu und mit einem Auge so blinzelnd durch die Gegend, da läuft man gegen jeden zweiten Laternenmast. 09. März 2012 Der Film „Kanack Attack“ basiert auf Zaimoğlus Roman „Abschaum – Die wahre Geschichte von Ertan Ongun“ von 1997. Foto: Screenshot YouTube Die sind aber auch nicht integriert … Glauben Sie, dass die Frauen den Aufstand proben sollten? Es ist ja schon festzustellen, dass viele Frauen gerade auf dem Bildungsweg sehr erfolgreich sind. Sollten die den Paschas nicht irgendwann geschlossen den Thron vor die Tür stellen? Ist so etwas denkbar? Ich bin ein Kerl und um Gottes Willen, ich werde einen Teufel tun. Die Frauen kriegen ja immer wieder gesagt: Sie sollen das tun, sie sollen jenes tun. Als Kerl habe ich den Frauen überhaupt nichts vorzugeben. Da halte ich mich raus. Schön den Mund halten. Aber es geschieht ja. Es ist ja Alltag. Es gibt die Revolte, den Aufstand – naja, ich glaube nicht daran. Ich glaube an die geringe Abweichung. Denn sonst endet das katastrophal. Und was die Frauen, die über ihr eigenes Leben bestimmen, machen und was nicht, das sehen sie schon sehr klar. Es reicht ja auch schon diese Knaller da ihrem eigenen Elend zu überlassen. Was würden sie den Deutschen sagen? Vor dem Hintergrund, den sie jetzt schildern, sagenSie ja Integrationspolitik ist überflüssig, weil eigentlich nur die Defizite innerhalb der Türken selbst aufgearbeitet … Ist nicht überflüssig. Es ist ja eine eingewanderte Unterschicht. Ich verweise auf die einheimische Unterschicht. Da wird man ähnliche Verhältnisse vorfinden. Man redet selbstverständlich von den Mamelucken und vergisst die eigenen Mamelucken. Es bleibt weiterhin wahr: man kritisiert, damit die eigentliche Ungerechtigkeit, die ökonomische, völlig vertuscht wird. Deswegen entdecken sie ja immer den Lieblingsausländer. Mal der Asylant, dann hieß es: Das Boot ist voll, mal die Jugendlichen, dann hieß es: Gefährlich fremd. Jetzt ist der Muselmane dran. Dann ist er sozusagen derjenige, der die hiesige Kultur verätzt. Ein Witz ist das. Nur um nicht sagen zu müssen: Liebe deutsche Bevölkerung, 90 Prozent sind überflüssig. Es ist so, wir leben in diesem System. Ihr werdet benutzt und dann wieder weggeworfen. Deshalb stellt sich auch der Arbeitgeberverbandschef immer hin und – für viele immer ein Rätsel – ist ausländerfreundlich und sagt, wir brauchen mehr Zuzug. Was für ein Arsch. Natürlich wird er das sagen, weil er billige Kanaken braucht. Der billige Kanake kann Hans Meiser heißen, Piere Piotr heißen, kann Mustafa Akbak heißen. Damit er hier vor Ort vor die Arbeitsnebenkosten drückt, ist er natürlich voll dafür. Natürlich ist er deshalb nicht ein Ausländerfreund. Dann gibt es die üblichen Verdächtigen, die sich hinstellen und sagen: Vielfalt statt Einfalt – was für Idioten. Dem muss man sofort eine Maulschelle verpassen und mit einem Arschtritt davon- jagen. Cocktailparty-Liebchen sind das. Das sind ausgerechnet Großbürgerliche, Großverdiener, die brüllen Vielfalt statt Einfalt. Das ist doch Blödsinn. Wenn man mal darüber nachdenkt, labern sie doch nur. Natürlich können sie dann nach Italien reisen, natürlich fahren sie dann mal nach Paris, sind auf Sylt, dann essen sie beim Italiener in Hamburg und in Berlin kaufen sie dann Akne-Jeans für 240 Euro. Und dann sagen sie: Vielfalt statt Einfalt. Das heißt jene, die arm dran sind im Leben werden, schon wieder verhöhnt von ausgerechnet denjenigen, die sich als besonders weltoffen zeigen. Wir brauchen keine Weltoffenheit. Weltoffenheit ist Blödsinn. Ich bin auch kein Kosmopolit. Wir brauchen Leute, die genau hinschauen. Was sind denn die deutschen Verhältnisse? Ich entdecke sehr viele Lügen. Fast hätte ich gesagt, auf beiden Seiten. Aber es gibt nicht diese beiden Seiten. Es gibt nur das Diktat der Ökonomie. Und dann sagt der eine: Ja, der Türke in meiner Nachbarschaft, der grüßt so schön. Das ist ja fein, dass er schön grüßt. Nur, was habe ich davon? Was soll mir das jetzt sagen? Toll? Was soll ich dazu sagen? Nichts. Es wird nicht besser werden. Der stille Ausstieg aus dem stumpfen Kollektiv gelingt den Frauen. Deshalb war ich so frei zu sagen, zur künftigen deutschen Elite werden gläubige Musliminnen und Alevitinnen gehören. Das sehe ich ganz deutlich. Jetzt schon. 12 Ausgabe | 05 Warum ausgerechnet die beiden? Und warum mit dieser Differenzierung? Weil man ja beide nicht zusammenbringen möchte. Es ist ja so, ich habe schon sehr oft Bezug darauf genommen: Man denunziert gläubige Frauen mit oder ohne Schamtuch – man nennt sie Kopftuch-Ayses. Die Kopftuch-Ayses sind natürlich Fingerpuppen der Männer, sind blöde und so weiter und so fort. Als Kronzeugen werden großbürgerlich gestimmte Parade-Feministinnen herangekarrt und dann sagt man: Schaut hin, kritische Musliminnen. Wenn man genau hinhört, dann sind es Atheistinnen. Sie glauben nicht. Dann sollen sie es aber auch so benennen. Die haben nichts mehr mit dem Islam zu tun. Und als Gegenbeispiel für gelungene Integration zeigt man auf die Alevitinnen, auf Frauen, die dann toll in der Disco tanzen. So plump ist das. So plump machen sie’s. Die dann Wein trinken. Ach seht her, ein Zivilisationsmoment. Mit diesen plumpen Mustern wird in der Islamdebatte und in der Migrationsdebatte operiert. Ich verweise auf die beiden, weil sie ja erstmal ein Gegensatzpaar sind. Aufgrund dieser vielen Begegnungen in Zusammenhang mit meinen Reisen durch ganz Deutschland, aber auch auf Grund der Erfahrung davor, habe ich gesehen, dass die durchziehen. Diese heißen Frauen ziehen durch. Was mich natürlich sehr freut. Ich habe eine Schwester, die hat mit diesem Dorftürken-Klimbim nichts zu tun. Hat es früh erkannt. Keine Lust irgendeinen komplexbeladenen Knallkopf Husseyin aufzupäppeln. Nix. Und sie ist eine gesunde Frau, die mit einem gesunden Menschenverstand gesegnet ist. Ich weiß, es klingt sehr hart, was ich sage. Aber das ist die Kraft der Empirie. Es macht einen nicht glücklich, all diese ganzen geschundenen Körper und diese versehrten Seelen zu sehen, die – zynisch gesagt – Ausschussware dieses 09. März 2012 stumpfen Kollektivs sind. Aber ich habe das gesehen. Und deswegen – von Vergewaltigungen und Kindesmissbrauch mal ganz zu schweigen – aber sie sollen mir nicht mit der Reinheit kommen. Sie nicht. Was würden Sie dem Innenminister zum Thema Integration sagen wollen? Kenntnis macht sicher. Unwissenheit macht unsicher. Ich würde dem Innenminister mal wirklich nahelegen, bevor er überhaupt einen Satz sagt, sich so etwas wie einen Hauch einer Ahnung anzueignen. Es ist ja fassungslos, die Ahnungslosigkeit dieses Mannes. Es ist ja nicht zu fassen und dafür aber trötet er ziemlich. Also habe ich auch keine Lust auf eine Tröte … Ist das nicht auch ein Stück weit – wenn man es mal von der Person abstrahiert – ein Symptom der Fassungslosigkeit der Gesellschaft gegenüber dem ganzen Thema? Tut sich nicht die ganze Gesellschaft mit dem Thema schwer? Die tut sich nicht schwer. Es ist nur so: man kann es nicht mehr hören. Das liegt aber nicht an dem Unwillen der Menschen, sondern weil man das Thema totgeritten hat und es immer und immer wieder falsch angepackt hat. Wenn man sich die öffentlichen Dispute mal anguckt, sieht man, es wird ein totes Pferd geritten, immer und immer wieder. Ich glaube, da draußen sind wirklich sehr viele Menschen, die mit einem gesunden Menschenverstand gesegnet sind. Nur die lassen sich auch nicht für blöd verkaufen. Die haben einfach auf dieses leidige Thema keine Lust, zumal außer Erhitzung nichts dabei rumkommt. Schuldzuweisungen, gut, böse, großer Disput – nix. Und das als öde, ja in Verruf gekommene deutsche Modell auf der Kommunalebene funktioniert. Wir sprechen von Defiziten. Aber es gibt ja auch vieles, was funktioniert. Was musste ich mich als Idiot oder als Provinzdepp beschimpfen lassen, weil ich nicht einsehen wollte, dass in Frankreich, in den USA und in den skandinavischen Ländern alles so viel besser ist als in Deutschland. Ich habe dann immer widersprochen mit dem Hinweis auf Erfahrung und darauf: bitte reist. 800 dieser besagten 1017 Lesungen habe ich in Kleinstädten gemacht. Und vieles funktioniert. Es gibt Probleme. Wo mehr als drei Menschen leben, gibt es Probleme. Das ist der Grund, warum die Leute sich abwenden, weil Migration immer in Zusammenhang mit Defiziten, mit Missstand, mit Skandalisierung besprochen wurde. Irgendwann haben die Leute die Schnauze voll. Man sagt: nichts funktioniert. Aber das, was funktioniert, kann man in den Kleinstädten sehen. Die sogenannten integrierenden Maßnahmen, dass man sich schon im Vorschulalter um die Kinder kümmert, dass man zu den Eltern auch hingeht und sagt so und so, bitte, bitte, bitte. Und wenn das nicht hilft, dann Druck. Das macht man auf der kommunalen Ebene und das funktioniert. Da gibt es wirklich großartige Beispiele. Nicht jeder soll doch Schreiber oder Anwalt werden. KFZ-Mechaniker tut’s doch auch. Aber den Eindruck habe ich nicht in diesen Kleinstädten gewonnen. Die Leute, die ich da sah, hatten Wasser in den Augen. Das waren keine deprimierten Leute. Die haben erzählt, von Kindesbeinen an wurden sie rangenommen. Nicht gefördert oder heiteitei Hasan, du hast ja so tolle Ölaugen, sondern: Ne, das machst du. Punkt. Ich bin für Deutschpflicht in den Schulen, unbedingt. Wer das als Zwangs-Germanisierung sieht, dem wünsche ich viel Spaß in seiner Villa in der Toskana. Mann, habe ich gepredigt, oder? Interview: Michael Maier, Merve Durmuş Mitarbeit: Nicole Oppelt Impressum Herausgeber: Dr. Michael Maier, Ercan Karakoyun. Redaktion: Merve Durmuş, Ceyda Nurtsch, Nicole Oppelt. Layout: Elke Baumann. Copyright: Blogform Social Media GmbH, Lietzenburger Str. 77, D-10719 Berlin. HR B 105467 B. 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