Methodisches Vorgehen
Transcrição
Methodisches Vorgehen
V. Methodisches Vorgehen im Geschichtsunterricht • Voraussetzung: Kenntnis der Schülerinnen und Schülern über filmanalytische Begrifflichkeit, falls nicht gegeben: Klärung von für die jeweilige Filmsequenz als relevant erachteter Begriffe • Vorführung des Filmausschnittes im Anschluss an eine vorangegangene Behandlung des historischen Sachverhaltes im Unterricht, Filmausschnitte sind als Bestandteil bei der Einführung eines bisher unbekannten historischen Inhalts eher ungeeignet. • Ausgewählte relevante Informationen über die Produktionsbedingungen des Films, z.B. Entstehungszeit und –bedingungen, Regisseur, Besetzung, Rezeption, Preise, Filmplakat, DVD, Fernsehaufführungen • Kurze Inhaltsbeschreibung des Films oder, falls vorhanden, Vorführung des Trailers • Mögliche Schwierigkeiten und fehlende Kenntnisse der Schülerinnen und Schüler hinsichtlich der dargestellten Personen und historischen Umstände berücksichtigen • Filmausschnitt vorführen • Erste Eindrücke der Schülerinnen und Schüler sammeln • Hypothesen der Schülerinnen und Schüler zur im Filmausschnitt vermittelten Geschichtsdeutung festhalten • Erneutes, u.U. auch mehrmaliges Betrachten des Filmausschnittes unter vorgegebenen Fragestellungen und unter Berücksichtigung filmanalytischer Aspekte, wie z.B. In welche Szenen ist die ausgewählte Filmsequenz gegliedert? Welche Kameraperspektiven werden gewählt? Welche Einstellungsgröße dominieren? Welche Kamerabewegungen fallen auf? Welche Lichtverhältnisse herrschen vor? Welche Bedeutung hat die Farbgebung? Welche Aussagen lassen sich über Sprache, Atmo und Musik treffen? Auf welche Weise werden der Held und/oder weitere Figuren präsentiert? Auf welche Weise sind Kostüme und Kulissen gestaltet? Welche Schlüsselwörter oder –sätze werden formuliert? Welche Funktion hat ein – möglicherweise vorhandener – Erzähler? Auf welche Weise sind die einzelnen Einstellungen montiert?/Auf welche Weise ist der Film geschnitten? • Möglicherweise Vergleich des Filmausschnittes mit Aussagen des Regisseurs, mit einer literarischen Vorlage, mit Quellentexten, Darstellungen, Gemälden, Photographien oder anderen Verfilmungen • Überprüfen der eingangs formulierten Hypothesen und kritische Würdigung des Filmausschnittes unter den Gesichtspunkten der Historizität des Dargestellten und möglicherweise der filmästhetischen Qualität des Dargestellten • Eventuell Vorführung weiterer Filmausschnitte oder des gesamten Filmes. 16 VI. Fallbeispiele 1. Filmausschnitt: „Alexander“, Oliver Stone (2004): Vor der Schlacht bei Gaugamela Klassenstufe 7 • Behandlung des „Alexanderzuges“ im Unterricht Eine genauere Betrachtung der Schlacht bei Gaugamela (331) im Unterricht kann aufgrund der Information der Schüler und Schülerinnen anhand von z.B. einer der folgenden Darstellungen erfolgen: Alexander Demandt: Alexander der Große. Leben und Legende. München: Beck 2009, S. 190-197 5 Hans-Joachim Gehrke: Alexander der Große. München 2009 (C.H. Beck Wissen), S. 52-55 2 Michael Wood: Auf den Spuren Alexanders des Großen. Stuttgart: Reclam 2002, S. 86-91 • Eine kurze Inhaltsangabe des Films kann entfallen, da das Biopic Alexanders Leben von seiner Kindheit bis zu seinem Tode beschreibt. „Filmbiografie des mazedonischen Fürsten Alexander des Großen, der im 4. Jahrhundert v. Chr. weite Teile des Mittelmeerraums und Asiens eroberte. Viele von Alexanders Taten scheinen sich in Oliver Stones Film aus dem komplizierten Verhältnis zu den Eltern zu erklären, wobei das Private untrennbar mit dem Politischen verbunden ist, wenn es darum geht, die Ambitionen und schließlich das Scheitern im Erfolg des ambivalenten Protagonisten zu zeigen, der teils als Weichling, teils als Machtmensch, teil als progressiver Visionär erscheint. Der Film hat eindrucksvolle Momente, leidet aber an Inkonsequenzen sowohl in der Charakterisierung der Figuren als auch der Inszenierung.“ (Zweitausendeins Filmlexikon) • Informationen zum Film (Zweitausendeins Filmlexikon) ALEXANDER (Originaltitel), L (Land) USA/ Großbritannien/ Deutschland, J (Jahr) 2004, Biografie, Historienfilm, P (Produktionsfirma) Warner Bros./ Intermedia Films/ Pacifica Film/ IMF, DA (DVD-Anbieter) Standard: Paramount (16:9, 2.35:1, DD5.1 engl./ dt.); Special Edition: Paramount (16:9, 2.35:1, DD5.1 engl./ dt., dts engl.), Länge: 173 Minuten, FSK: ab 12; f, Erstaufführung: 23.12.2004/12.5.2005 DVD/26.5.2005 DVD (Special Edition) Pd (Produzent) Thomas Schühly , Iain Smith , Oliver Stone , Moritz Borman , Jon Kilik , R (Regie) Oliver Stone , B (Drehbuch) Oliver Stone , Christopher Kyle , Laeta Kalogridis , K (Kamera) Rodrigo Prieto , M (Musik) Vangelis Papathanassiou , S (Schnitt) Thomas J. Nordberg , Yann Hervé , Alex Marquez , D (Darsteller) Joseph Morgan als Philotas, Colin Farrell als Alexander, Rosario Dawson als Roxane, Elliot Cowan als Ptolemäus, Angelina Jolie als Olympias, Brian Blessed als Ringer-Trainer, Jared Leto als Hephaiston, Anthony Hopkins als alter Ptolemäus, Christopher Plummer als Aristoteles, Val Kilmer als Philipp Hinweis darauf, dass der Film mit beträchtlichem Werbeaufwand sowohl in den Kinos als auch auf DVD lanciert wurde, paralleles Erscheinen von verschiedenen Spielen, z.B. des PC-Spiels „Alexander. Die Stunde der Helden“, Veröffentlichung von 2 Versionen auf DVD, einer Standard-Version und einer aufwändig gestalteten Special Edition mit Zusatzinformationen zum Film und zum historischen Alexander; 2009 Erscheinen des Director’s Cut „Alexander Revisted“, einer um über 50 Minuten längeren Fassung • Vorbereitende Hausaufgabe: Recherche über die Bedeutung des Adlers in der griechischen Mythologie 17 Verkörperung von Königswürde, Sieg und Macht, Diener und Begleiter von Zeus • Folgende Arbeitsaufträge sollten den Schülerinnen und Schülern gestellt werden: Gliedere die ausgewählte Filmsequenz in verschiedene Szenen! Untersuche die beabsichtigte Wirkung der jeweiligen Szenen! Erster Szene: Schnelle Folge von Schnitten: wolkenverhangene Sonne, aufmarschierende Soldaten, Opferritual vor der Schlacht, Weissagung eines weißgekleideten Priesters, permanente Wiederholung des Wortes „Blut“ aus dem Mund des Priesters, vom aufspritzenden Blut eines von Alexander getöteten Stieres verschmiertes Gesicht des Makedonenkönigs, bedeutungsschwere Blicke des Sehers und der um ihn Herumstehenden, am Ende der Szene Abbrechen der musikalischen Untermalung Wirkung: Die Hervorhebung des Wortes „Blut“ sowie das Blut in Alexanders Gesicht verweisen auf den bevorstehenden Krieg und die Aggressivität Alexanders, sein Sieg scheint somit unausweichlich. Der erste Teil der Sequenz zeigt dem Zuschauer sowohl eine kampfbereite makedonische Armee als auch einen entschlossenen Heerführer. Zweite Szene: Ansprache Alexanders an seine Soldaten, Symbol des Adlers, der über das Schlachtfeld fliegt, Blick auf Dareios und sein Heer, Alexander zieht seinen Helm mit einem roten Helmbusch an und reitet in die Schlacht, Eindruck der Unsicherheit bei Dareios und seinen Truppen, die durch Peitschenhiebe angetrieben werden Wirkung: Alexander wird als charismatische Figur gezeigt, der er es gelingt, seine Truppen auf ihn einzustimmen, dagegen hinterlässt der Perserkönig eher einen nachdenklichen und fast ratlosen Eindruck. Auch seine Truppen strahlen keine Siegeszuversicht aus . Erkläre, welches Bild der Regisseur von Alexander entwirft! Berücksichtige Kameraperspektive und Farbgebung! Alexander wirkt ausgesprochen kriegslüstern und fest entschlossen, die Schlacht trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit der makedonischen Truppen zu gewinnen. Es gelingt ihm, durch eine direkte, persönliche Ansprache an ausgewählte Pezhetairen die Kampfbereitschaft der Truppen zu erhöhen und diese auf ihn einzuschwören. Alexander gibt sich als einer der ihren aus, der freie Männer anführt und damit im Gegensatz zu Dareios mit seinem Sklavenheer steht. Der weißgekleidete Alexander und seine Armee stehen in hellem Licht und erscheinen dadurch besonders strahlend. Die schon angesprochene Aggressivität Alexanders wird besonders durch seinen roten Helmbusch verkörpert, der wie ein Signal wirkt. Alexander, der bei seiner Ansprache an die Soldaten auf einem Pferd sitzt, wird durch eine Kameraperspektive von unten, die Untersicht, gezeigt, wodurch seine Überlegenheit und seine Rolle als Anführer der Griechen verdeutlicht wird. Gleichzeitig wird durch diese Perspektive die Bewunderung der Soldaten für ihren Heerführer ausgedrückt. Umgekehrt werden die Soldaten aus der Aufsicht gezeigt, was zum einen filmlogisch der Perspektive Alexanders, der auf eine Pferd sitzt, entspricht, und zum anderen aber auch die Überlegenheit Alexanders, seine Anführerschaft, verdeutlichen soll. Beschreibe Alexanders Gegner Dareios und die persische Armee! Erläu-tere die Wirkung, die diese Figur beim Zuschauer hervorrufen soll! Be-rücksichtige Einstellungsgröße der Kamera und Farbgebung! Im Gegensatz zu dem strahlenden Helden Alexander wirken die Perser und Dareios eher wie Verlierer. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass Dareios scheinbar regungslos und wortkarg auf einem Schlachtwagen unter einem Sonnenschirm steht und sich in Distanz zur kämpfenden Truppe befindet. Die Einheiten der Perser werden von wild schreienden, gestikulierenden und gar züchtigenden Befehlshabern angetrieben, was einen scharfen Kontrast zu dem auf ein persönliches Verhältnis zu seinen Soldaten setzenden Alexander bildet. Zudem wird von Dareios nur eine Großaufnahme seines von einem schwarzen Bart umrandeten düster 18 wirkenden Gesichtes gezeigt. Durch diese perspektivische Beschränkung auf ein Detail der Figur des Dareios soll dessen Niederlage schon vorweggenommen werden, da im Gegensatz zum „lebendigen“ und aktiven Alexander der Perserkönig ausgesprochen statisch wirkt. Auch die persische Armee erscheint insgesamt „dunkler“ als die makedonische, wodurch ihre bevorstehende Niederlage ebenfalls schon angedeutet wird. Schließlich gilt festzuhalten, dass Dareios keinen direkten Kontakt zu seiner Armee sucht, sondern seinem General Bessos Anweisungen erteilt. Dareios hält sich somit nicht bei seinen Truppen auf, sondern bleibt in sicherer Distanz, was beim Betrachter möglicherweise den Eindruck von Feigheit hinterlässt. Fazit: Die filmische Gestaltung dieser Sequenz lässt von Anfang an auch beim historisch Unkundigen keinen Zweifel entstehen, wer aus der Schlacht als Sieger hervorgehen wird. • Schriftliche Überprüfung In einer schriftlichen Überprüfung könnte ein kurzer Ausschnitt aus Robert Rossens „Alexander der Große“ (USA 1956) mit Richard Burton als Alexander gezeigt werden. Der Ausschnitt aus Rossens „Alexander“, der die beiden Kontrahenten Dareios und Alexander vor der Schlacht bei Gaugamela zeigt, könnte mit der im Unterricht behandelten Sequenz verglichen werden. Folgende Fragestellungen böten sich an: Beschreibe, wie die Sequenz untergliedert ist! Erster Teil: Dareios gibt den provozierenden Inhalt eines Briefes an Alexander wieder. Im zweiten Teil wird Alexanders Antwort, die er einem Schreiber diktiert, gezeigt. Erläutere, welches Bild der Regisseur von Dareios und Alexander entwirft! Berücksichtige die Kameraperspektive, Einstellungsgröße und die damit beabsichtigte Wirkung! Dareios wird auf seinem Thron sitzend in einer ihm gegenüber devoten Umgebung gezeigt. Der persische König wirkt ausgesprochen überheblich, ein Eindruck, der durch die Kameraperspektive der Untersicht deutlich hervorgehoben wird. Zudem trägt die Einstellungsgröße der Halbtotale dazu bei, Distanz des Zuschauers zu dem Perserkönig herzustellen. Alexander dagegen wirkt nachdenklich, überlegen und auch spöttisch. Die Figur ist in Nahaufnahme und Normalsicht zu sehen, wodurch eher ein Eindruck der Vertrautheit des Zuschauers mit dem makedonischen König entsteht. Vergleiche die Sequenz aus dem gezeigten Alexanderfilm mit der im Unterricht besprochenen! Berücksichtige bei deinen Ausführungen bestehende Gemeinsamkeiten in der Darstellung der Personen und Unterschiede in der filmischen Umsetzung des historischen Stoffes. In beiden Filmausschnitten wird Alexander als eine positive, „helle“ Figur dargestellt, der gegenüber der „dunkle“, überhebliche Dareios steht. Unterschiede bestehen in der filmischen Umsetzung. Während in der Sequenz aus Oliver Stones Film die Darstellung von Alexander einen sehr viel breiteren Raum einnimmt als diejenige von Dareios, sind die Zeitspannen, die den Antagonisten in Rossens Film eingeräumt werden, in etwa gleich lang. Zudem erweist sich die Sequenz aus Stones Film aufgrund der vielen Montagen unterschiedlicher Figurenperspektiven, der zahlreichen Anspielungen und Farbgebungen filmisch als sehr viel komplexer. Der Ausschnitt aus Rossens Film besteht im Wesentlichen aus zwei unterschiedlichen Einstellungen auf die beiden Gegenspieler aus jeweils verschiedenen Kameraperspektiven. Die beiden Einstellungen sind zudem in chronologischer Reihenfolge montiert. Des Weiteren erwecken die Bildaufnahmen in Rossens Film den Eindruck, lediglich ein Vehikel für die über Briefe geführte verbale Auseinandersetzung der beiden zu sein, während Stone versucht, über die visuelle Ebene, Atmo und Musik sein Anliegen zu vermitteln. Erwähnenswert ist auch der Umstand, dass dem modernen Film die Möglichkeit der Computeranimation zur Verfügung steht, was deutlich an der Einstellung zu erkennen ist, die den das Schlachtfeld beobachtenden und schließlich über dieses fliegenden Adler beinhaltet. 19 2. Filmausschnitt: „Wege zum Ruhm“, Stanley Kubrick (1956): Eingangssequenzen Klassenstufe 8 Die Filmhistoriker Bodo Traber/Hansjörg Edlin schreiben über den Film „Wege zum Ruhm“: Wege zum Ruhm Paths of Glory USA 1957 s/w 87 min R.: Stanley Kubrick B: Stanley Kubrick, Calder Willingham, Jim Thompson, nach dem Roman von Humphrey Cobb (1935) K: Georg Krause M: Gerald Fried D: Kirk Douglas (Colonel Dax), Ralph Meeker (Unteroffizier Paris), George Macready (General Mireau), Adolphe Menjou (General Broulard), Wayne Morris (Lieutenant Roget), Richard Anderson (Major St-Auban), Joseph Turkel (Soldat Arnaud), Timothy Carey (Soldat Ferol), Emile Meyer (Priester), Susanne Christian (d. i. Christiane Kubrick) (Deutsches Mädchen) Ein Film der Kontroversen, der in mehreren Ländern (u. a. England und Schweiz) bis in die siebziger Jahre hinein verboten war. Bei der West-Berliner Uraufführung kam es zum Eklat, als Angehörige der französischen Truppen die Vorstellung störten. In Frankreich war er während des Algerienkrieges verboten und auch danach jahrelang nicht zu sehen - seine Pariser Premiere erlebte er erst 1975. In den USA war er für Soldatenkinos gesperrt. Die Geschichte des Kriegsfilms - zumal des Antikriegsfilms – ist immer auch eine Zensur-Geschichte. Ein Film, der wütend macht. Die einen wegen der grenzenlosen, dem militärischen System immanenten Menschenverachtung, die er offenlegt. Die anderen wegen seiner vermeintlichen » Nestbeschmutzung«. Paths of Glory ist ein vehement parteiischer Film, steht deutlich auf der Seite der einfachen Soldaten, die zu Menschenopfern eines von Intrigen, Zynismus Korruption und Machtpolitik bestimmten Apparates werden. Und er ist dennoch ein rationaler Film, kein Wutschrei, wie etwa Elem Klimows Idi i smotri, sondern - analog zu Kubricks Doomsday-Satire Dr. Strangelove (Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben, 1964) und seinem zentralen Vietnamfilm Full Metal Jacket, der die schrittweise Entmenschlichung junger Rekruten und ihre Umformung in Tötungsmaschinen beobachtet - eine kühle und nüchterne Analyse der Funktionsweisen militärischer Strukturen. Der Wahnsinn des Krieges ist in Kubricks Filmen nie schicksalsgegeben; ihn haben Menschen zu verantworten. Paths of Glory schildert - nach einem auf authentischem Material basierenden Roman des kanadischen Weltkriegsveteranen Humphrey Cobb - eine Grabenkriegs-Episode aus dem blutigen Jahr 1916, dem Jahr der Schlachten um Verdun und an der Somme. Die Marseillaise als Titelmusik steht nicht mehr - wie noch in Michael Curtiz' Casablanca (1942) - für Widerstand und Heldenmut in einem gerechten Kampf, sondern leitet ein mit zynischem Kalkül geführtes, sinnloses Gemetzel ein, das selbst nur exemplarisch ist. (1917 sollte die bestialische Kriegführung zu umfangreichen Meutereien in den französischen Truppen führen.) Der Grabenkrieg tobt im zweiten Jahr, ohne dass sich die Front wesentlich bewegt hätte. »Offensiven, die oft nur wenige hundert Meter Bodengewinn erbrachten«, erklärt der Off-Kommentar, »wurden mit dem Leben von Hunderttausenden von Soldaten bezahlt.« Es beginnt mit einem Akt der Verführung. Im luxuriösen requirierten Chäteau residiert der Abschnittskommandeur Mireau zwischen Insignien des Absolutismus. Sein Vorgesetzter Broulard ist gekommen, um ihn wider beider besseres Wissen zum Angriff auf eine deutsche Schlüsselstellung - den »Ameisenhügel« - zu überreden. Broulard, der aus politischem Kalkül handelt, korrumpiert den ehrgeizigen Mireau, indem er ihm eine Beförderung in Aussicht stellt. Eben noch ein Skeptiker, der den Angriff als unmöglich abtut, lässt Mireau sein weiteres Handeln fortan von seinem persönlichen Karrierismus bestimmen. Für die alten Männer im Schloss, weit weg vom »Schuss«, sind die Frontsoldaten nur Schachfiguren. Das Schloss und der Schützengraben - es sind verschiedene, unvereinbare Welten, was der Kontrast zwischen dem dekadenten Ambiente der Befehlshaber, den Gobelins und Gemälden, und der schmutzigen Realität an der Front deutlich sichtbar werden lässt. Leichenhaufen türmen sich im Niemandsland, Verletzte werden vorbeigetragen, Granaten schlagen ein, als Mireau und sein Adjutant Auban das Regiment 701 an der Front besuchen. Die beiden tragen saubere und gebügelte Ausgehuniformen, während die Kleidung der Soldaten vor Dreck starrt. Mireau im Graben geriert sich als Soldat, als »einer der ihren« den Männern und dem Regimentskommandeur Dax gegenüber, spielt die joviale Vaterfigur, als er einzelne Männer anspricht - zufällig sind es die, die er später hinrichten lassen wird. In Dax' Unterstand mokieren sich die Schreibtischtäter (die allerdings bei jeder Granate zusammenzucken) mit Kopfschütteln über den »Herdentrieb« der Männer, die sie in den Tod schicken, setzen sie mit niederen Tieren gleich - bereits der Name »Ameisenhügel« der deutschen Höhe (der in der deutschen Synchronfassung getilgt wurde) ist eine von vielen Metaphern für das Bild der Entmenschlichung, das sich durch den Film zieht. Später werden die drei Delinquenten Paris, Arnaud und Ferol in einem Kuhstall eingesperrt werden und Paris wird eine Küchenschabe darum beneiden, am nächsten Tag noch am Leben zu sein. Dann wird sie seiner Frau und seinem Kind näher sein als er, sagt er, ehe der einfältige Ferol die Schabe erschlägt. Sie haben den Schachzug bereits präzis durchkalkuliert. Mireau rechnet mit Verlusten von 5 Prozent im eigenen (!) Sperrfeuer, 10 im Niemandsland, 20 im gegnerischen Drahtverhau und noch einmal 25 beim eigentlichen Angriff - insgesamt 60 Prozent werden als Verluste abgeschrieben. 4800 von 8000 Mann. Die Todesmathematik der Bürokraten. Für Mireau sind es Zahlen, für den entsetzten Dax sind es Menschen. Und da Dax, der Mireaus Gerede über patriotische Pflichterfüllung als hohle Phrasen erkennt, sich nicht verführen lässt, muss Mireau ihn erpressen. Er droht ihm mit Ablösung. Nach dem gescheiterten Angriff wird Mireau das dabei verheizte Drittel des Regiments als Nebensächlichkeit abtun. Colonel Dax - im Zivilleben Strafverteidiger - ist in Kirk Douglas' Darstellung nicht nur der unzweifelhafte Ehrenmann, der seine Männer nicht im Stich lassen will und zum Grenzgänger zwischen Schloss und Schützengraben, zwischen den Welten der Schachspieler und Schachfiguren wird. Er ist vor allem auch ein Fremdkörper im Offizierskorps, das ansonsten fast nur aus vom Ehrgeiz zerfressenen Intriganten und Opportunisten besteht - oder charakterlosen Feiglingen wie dem Zugführer Roget, der sich vor der nächtlichen Erkundungspatrouille Mut antrinken muss, während der Patrouille einen Untergebenen allein 20 ins Niemandsland schickt und diesen dann aus Angst opfert, als ihm das Warten zu lang wird. Später nutzt Roget die Kriegsgerichtsverhandlung, um den einzigen Zeugen zu beseitigen. Dax, der auch davon weiß, bleibt bei all dem praktisch hilflos. Weder kann er Roget zur Verantwortung ziehen noch Mireau. Eine Figur in permanenter unterdrückter Wut, die nur gelegentlich in seinem Sarkasmus sichtbar wird und erst am Ende aus ihm herausbricht, als Broulard ihm unterstellt, aus denselben eigennützigen Motiven gehandelt zu haben wie er selbst. Beim Sturmangriff auf den Ameisenhügel kämpft Dax in vorderster Linie, während Mireau aus großer Entfernung zusieht. Kubrick schildert den Angriff als aussichtsloses Massaker - alle Männer um Dax herum fallen, kaum dass sie aus den Gräben heraus sind. Und als der Colonel dem deutschen MG-Trommelfeuer zum Trotz die zweite Welle zum Angriff führen will, die wiederum aufgrund von Rogets Todesangst den Graben gar nicht erst verlassen hat, fällt ihm eine Leiche entgegen. Mireau versucht, die Artillerie auf die eigenen Stellungen feuern zu lassen, um die Leute aus den Gräben zu treiben, doch der Artillerieoffizier weigert sich, dem Befehl nachzukommen, solange dieser nicht schriftlich ergeht. Der Angriff kommt zum Erliegen - für Mireau, der seine Karriere gefährdet sieht, eine persönliche Katastrophe, deren Verantwortung er von sich weist, indem er das ganze Regiment wegen Feigheit vor dem Feind vors Kriegsgericht stellen und hundert Männer exekutieren lassen will. Von Broulard muss er sich auf drei Männer als Exempel herunterhandeln lassen. Die Generäle folgen einem Ehrenkodex, hinter dem eine deutlich faschistische Helden-Moral durchscheint: Wären die Männer nicht feige gewesen, argumentiert Mireau, dann müssten sie jetzt alle tot auf dem Schlachtfeld liegen. Die Soldaten hätten nicht zu entscheiden, ob ein Befehl ausführbar ist oder nicht. Dieselbe Argumentation vertritt Friedrich II. in Veit Harlans NS-Propagandafilm Der große König (1942), der in der Schlacht bei Kunersdorf von seinen Truppen verlangt, einen Wall aus toten Leibern zu errichten, um den Feind aufzuhalten. Doch die Preußen machen ihm die Schande, am Leben bleiben zu wollen, und Friedrich verliert die Schlacht. Das Kriegsgericht, bei dem Dax ohne jeden Erfolg die Verteidigung übernimmt, ist eine Farce - eine reine Formalität, die der bereits beschlossenen Exekution der drei Sündenböcke vorangeht. Es gibt keine Anklageschrift, es ist kein Kreuzverhör vorgesehen, der Richter ignoriert Dax' Argumente und Einwürfe - versteht nicht einmal seine Position: Arnaud etwa ist durch das Los zum Angeklagten bestimmt worden. Für Dax ein Grund, ihn freizusprechen, für den Richter eine normale Vorgehensweise. Die Angeklagten sind für ihn keine Personen, sondern exemplarische Opfer. Schuld wird nicht erwiesen - sie wird zugewiesen. Konsequent findet die Verhandlung in einem Saal des Schlosses statt, dessen Fußboden ein Schachbrettmuster aufweist - und ebenso konsequent verlässt der Film die Szene noch vor der Verkündung des Urteils, das von vornherein feststand. Auch ein Versuch von Dax, Broulard zu erpressen, indem er beweist und publik zu machen droht, dass Mireau während des Angriffs befahl, auf die eigenen Stellungen zu feuern, kann die Exekution nicht verhindern. Dax glaubt an eine Loyalität zumindest der Generäle untereinander und begreift nicht, dass er Broulard damit die Munition liefert, Mireau loszuwerden. Broulard hingegen missversteht Dax' Motive, Mireau zu attackieren, als Karrierismus - als er seinen Irrtum bemerkt, lacht er Dax aus. Das altruistische - das menschliche - Verhalten des Colonel ist so untypisch für das System, dass es verrückt wirkt. Die Hinrichtung findet vor versammeltem Regiment statt. Ferol wird von einem Priester begleitet, der ihm sagt, man dürfe Gottes Willen nicht hinterfragen. Besetzt mit einem Schurkendarsteller aus Western und Gangsterfilmen, Emile Meyer, erweist sich - wie in Falk Harnacks Unruhige Nacht (1958) - dabei auch der Feldgeistliche als Rädchen der unmenschlichen Militärmechanik. Paths of Glory zählt zu den »Hügelfilmen« und gibt einen klassischen Plot vor, der sich - obwohl alle in verschiedenen Kriegen spielen - ähnlich in Lewis Milestones Pork Chop Hill, Peter Weirs Gallipoli, John Irvins Hamburger Hill (1987) oder den beiden Fassungen von The Thin Red Line (1964, Andrew Marton, und 1998, Terrence Malick) wiederfindet: Eine unfähige oder gewissenlose Militärführung lässt unter erheblichen Verlusten eine strategisch fragwürdige oder sinnlose Operation durchführen. Als Anklage gegen die Ungeheuer im Offiziersrock, deren brutale Machterhaltmethoden sich in erster Linie Linie gegen die eigenen Untergebenen richten, war er zudem prototypisch etwa für Joseph Loseys K i ng a n d Country (Für König und Vaterland, 1964), Sidney Lumets The Hill (Ein Haufen toller Hunde, 1965) (in dem der Beweis für die Befehlsverweigerung des von Sean Connery gespielten Sergeant ebenfalls darin besteht, dass er noch am Leben ist), Jack Golds Aces High (Schlacht in den Wolken, 1976) und - vierzig Jahre später - sogar für einen französischen Film, der ihn über weite Strecken direkt zitiert: Yves Boissets Le Pantalon (Fürs Vaterland erschossen, 1996). Dort findet das Kriegsgericht als Ort der Unrechtsprechung in einer zweckentfremdeten Kapelle statt. Tatsächlich schildert der Film primär einen Gesellschaftskrieg, der vor allem auch ein Krieg der Klassengegensätze ist und den die Befehlshaber gegen alle anderen führen. Die Bourgeoisie nutzt die Gunst der Stunde, da die Klassenverhältnisse zu Rang- und Machtverhältnissen geworden sind, und schwingt sich zum neuen Feudaladel auf. Als Dax polemisch vorschlägt, statt dreier beliebiger Soldaten lieber den Offizier anzuklagen, der für den Angriff verantwortlich ist - er spricht von sich, aber meint Mireau -, stellt Broulard nur fest, dass Offiziere nicht zur Debatte stehen. Die Generäle schachern um einfache Soldaten wie absolutistische Herrscher um Leibeigene. Der Soldat Ferol etwa wird von seinem Kompaniechef als Opfer für das Kriegsgericht ausgewählt, weil er »gesellschaftlich unerwünscht« ist. Der eigentliche Gegner, die Deutschen, spielt kaum eine Rolle und ist nie zu sehen. Deutsche Soldaten kommen nicht vor - und die einzige Deutsche, die zum Schluss erscheint, ist ein verschüchtertes Mädchen, das gezwungen wird, vor den Frontsoldaten zu singen. Sie singt das Lied vom »Treuen Husaren«, in das die gerührten Franzosen summend einstimmen und das den Film als Gegenstück zur Marseillaise beschließt. Auf der Ebene derer, auf deren Schultern der Krieg ausgetragen wird, entsteht eine klare emotionale Solidarität über die nationalen Grenzen hinweg. Die Rache des Generals folgt auf dem Fuß: das Regiment muss zurück an die Front. Neben All Quiet on the Western Front ist Paths of Glory vielleicht der bedeutendste Film seiner Gattung. Bodo Traber/Hansjörg Edlin. In: Klein, Thomas u.a. (Hg.): Filmgenres Kriegsfilm. Stuttgart: Reclam 2006, S. 123 -131 21 3. Filmausschnitt: „Aguirre – Der Zorn Gottes“, Werner Herzog (1972): Eingangssequenzen G-Kurs: Klassenstufe 11 Der Filmhistoriker Knut Hickethier schreibt über „Aguirre – Der Zorn Gottes“: Aguirre, der Zorn Gottes BRD 1972 (29. 12. 1972) f 93 min R: Werner Herzog B: Werner Herzog K: Thomas Mauch M: Popul Vuh D: Klaus Kinski (Don Lope de Aguirre), Ruy Guerra (Ursüa),Peter Berling (Guzman), Helena Rojo (Inez de Atienza), Del Negro (Carvajal) Am Ende des 16. Jahrhunderts ist das spanische Andenheer des Gonzalo Pizarro auf der Suche nach dem sagenhaften Goldland El Dorado. Nachdem sie das Gebirge überquert haben, kommen sie an einen der Amazonas-Quellflüsse. Ursüa, einer der Offiziere Pizarros, wird mit Lope de Aguirre und einem Trupp Soldaten auf einem Floß losgeschickt, den Weg zu erkunden und Proviant zu beschaffen. Auf dem Floß sind auch Inez und Flores, zwei bildschöne junge Frauen, der Indio Chimalpahin und der junge Spanier Arnalte. Bald schon kommt es zur Rebellion, als Ursüa umkehren will, während es Aguirre zur Eroberung des Goldlandes drängt. Er kann durch begeisternde Reden die Soldaten für sich gewinnen, Ursüa wird erschossen. Da die Soldaten Aguirre fürchten, läßt er den schwachen Offizier Guzman zum Anführer wählen, der sich bald auch in einem feierlichen Akt von der spanischen Krone lossagt und zum Kaiser von El Dorado proklamieren läßt. Doch Aguirre hat als Stellvertreter das eigentliche Kommando auf dem Floß. Trotz aller Suche kommt das Goldland nicht in Sicht. Sie sehen sich einer unbekannten, feindlichen Wildnis gegenüber. Indios beschießen sie, unsichtbar, mit giftigen Pfeilen, Piranhas und Alligatoren bedrohen sie, träge fließt der Fluß dahin, immer breiter und damit immer langsamer werdend, sich verästelnd, unübersichtlich. Vor allem wenn der Wald abrupt schweigt, wird die Gefahr übermächtig. Die Mannschaft ist schon dezimiert, als sie schließlich eine Siedlung finden und diese überfallen. Aber das Goldland ist dies immer noch nicht. Wiederholt ruft Aguirre die Soldaten zu noch größeren Eroberungen auf, während sie der Urwald nach und nach zermürbt. Das Goldland erscheint nur als ihre Wahnvorstellung, als Projektion. Häufig kommt es zu Streit und Aufruhr zwischen den inzwischen auf den Tod geschwächten wenigen Überlebenden. Am Ende treibt das Floß träge in das Amazonasdelta hinaus. Exotische Opulenz prägt den Film, dessen handlungsbetonter Beginn nach und nach in beklemmenden Bildern des Zerfalls, der Verwesung und des grausamen Todes übergeht. Die rostbesetzten Rüstungen, die schimmelnden Stoffe, die abgehärmten Gesichter mit dem oft wüsten Blick, die farbige Kleidung der Indios, der träge immergrüne Urwald und zwischen allem die Bilder der beiden Frauen in ihren kostbaren Hofgewändern entwickeln ein ästhetisches, sinnlich pralles Eigenleben. Herzog sucht immer wieder die ruhigen Bilder, die Komposition der Gegenstände und Figuren. Das Treiben auf dem Floß führt zu quälend inaktiven Situationen, aus denen sich im eruptiven Zusammenprall die Menschen Luft zu schaffen versuchen. Das desolate Ende der Handvoll Eroberer ist bereits früh absehbar, seine Erwartung wird gesteigert durch die dämonische Figur des Aguirre, von Klaus Kinski gespielt, der inmitten der Spanier und Indios wie ein Magier aus einer fremden Welt agiert. Die Atmosphäre der Bedrohung, der unwirklichen und ungreifbaren Gewalt der Natur steht gegen das wahnwitzige Unternehmen europäischer Eroberer, die sich der Lächerlichkeit ihrer kleinlichen Eroberungsrituale nicht bewußt sind. Als Guzman auf einem gezimmerten Thron sich zum Kaiser von El Dorado proklamieren läßt, hat das mehr als komische Züge; als er auf dem Floß mit den letzten Nahrungsvorräten schlemmt, während die Soldaten schon auf karge Ration gesetzt sind, wird das Unwirkliche dieser Flußfahrt überdeutlich. Herzog gelingt hier ein tragikomisches Bild des europäischen Kolonialismus, der sich in seiner Goldgier die Welt aneignen will und darin untergeht. Der Tod kommt oft unauffällig, fast alltäglich. Im Scheitern der Eroberer sah Herzog »ein ganz modernes, heutiges Thema«. In den Theatercoups Aguirres, der Inszenierung von Macht bei einem solchen kleinen Expeditionscorps, den miesen Tricks und Manövern wird die Erbärmlichkeit der Eroberer deutlich. Hinter dem »Spektakel an der Oberfläche«, das Aguirre, der Zorn Gottes auch sein will, steckt eine großangelegte Zivilisationskritik. Bizarr ist immer wieder das Pferd auf dem Floß, dessen Ausbruchsversuche zusätzliche Verwirrung stiften. Als es schließlich ausgesetzt wird, ist auch ein Stück der europäischen Machtinszenierung verloren, Aguirre weiß, als er das Pferd zurückbleiben sieht, daß es keine Rückkehr mehr geben wird. Gesteigert durch sphärenartige Musik der Popgruppe Popol Vuh wird die Vergeblichkeit der westlichen Bemühungen um Fortschritt, um Europäisierung und Christianisierung deutlich; die mythischen Dimensionen verweisen auf die zivilisationskritischen Momente in anderen Filmen Herzogs, z. B. in seinem Kaspar-Hauser-Film Jeder für sich und Gott gegen alle. Die Floßfahrt als Metapher für den langsamen Untergang des christlichen Abendlandes, im historisierenden Dekor, aber zugleich ins überzeitlich Allgemeine transformiert, wirkt heute manchmal etwas pathetisch, weil die hier so satt und machtvoll inszenierte Natur (gerade auch im Akustischen) nicht die Alternative zur Zivilisation bedeuten kann. Die Beschwörung des Mythos erscheint fast fatalistisch. K H. Drehbuch: Herzog, Werner: Drehbücher II. München 1977. Literatur: Herzog / Kluge / Straub. München/Wien 1976. (Reihe Film. 9.) - Werner Herzog. München/Wien 1979. (Reihe Film. 22.) 4 Knut Hickethier. In: Koebner, Thomas u. a. (Hg.): Filmklassiker. Stuttgart: Reclam 2002, S. 286 – 289 22 4.: Filmausschnitte: „Aus einem deutschen Leben“, Theodor Kotulla (1976/77): a)Trailer b) 1920: Im Freikorps c) 1942: In Auschwitz d) 1946: Im Verhör G-Kurs: Klassenstufe 12 Kurzbiografie von Rudolf Höß Höß, Rudolf. Kommandant von Auschwitz. * 25. 11. 1900 Baden-Baden. 1922 NSDAP, 1923 wegen Mittäterschaft bei Fememord zu 10 Jahren Haft verurteilt, 1928 amnestiert. Wie Himmler und Darre Mitglied im völkischen Bund Artam. 1934 SSUnterscharführer in Dachau, ab August 1938 Adjutant. Dezember 1939 Schutzhaftlagerführer Sachsenhausen. 1 .5.1940 (bis 9.11.1943) Kommandant von Auschwitz. Juli 1942 SS-Obersturm bannführer. Dezember 1943 Leiter des Amts D I(Zentralamt) im SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt. Ab 8.5.1944 erneut in Auschwitz wegen des geplanten Massenmords an mehr als 400 000 ungarischen Juden. 1945 unter dem Namen Franz Lang auf Sylt abgetaucht. Am 11.3. 1946 nahe Flensburg von brit. Militärpolizei verhaftet. Am 25. 5.1946 an Polen ausgeliefert. Höß in polnischer Haft: »Ja, ich war hart und streng. Doch niemals war ich grausam nie habe ich mich zu Mißhandlungen hinreißen lassen.« Und: »Heute sehe auch ich ein, daß die Judenvernichtung falsch, grundfalsch war. Gerade durch diese Massenvernichtung hat sich Deutschland den Haß der ganzen Welt zugezogen. Dem Antisemitismus war damit gar nicht gedient, im Gegenteil, das Judentum ist dadurch seinem Endziel viel näher gekommen.« Todesurteil 2.4.1947 in Warschau. τ Hinrichtung 16.4.1947 in Auschwitz. Ernst Klee: das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt/M: S. Fischer 2003, S. 263 Die Filmjournalisten Ulrich Döge und Peter W. Jansen schreiben über „Aus einem deutschen Leben: 1976/77. Aus einem deutschen Leben R, B: Theodor Kotulla, nach dem Roman »La mort est mon metier« von Robert Merle und den autobiografischen Aufzeichnungen »Kommandant in Auschwitz« von Rudolf Höss. - K: Dieter Naujeck. - K -Ass: Jürgen Hasenack. Sch: Wolfgang Richter. - Sch-Ass: Gabriele Friedrichs, Christa Hellwig. - T: Manfred Oelschlegel. - T-Ass: Hans Pampuch. - M: Eberhard Weber. - A: Wolfgang Schünke. - Ko: Uta Wilhelm. - Ma: Gerd Schuberth, Annette Groschupp. - Re: Wolfgang Friedrich, Hajo Jürgens. - SE: Günter Scheit, Karl Baumgartner. - St: Harald Kratzer. R-Ass: Inge Richter. - D: Götz George (Franz Lang), Elisabeth Schwarz (Else Lang), Kurt Hübner (Oberst von Jeseritz), Kai Taschner (Franz Lang als Junge, 1916-18), Sigurd Fitzek (Hauptmann Günther), Peter Franke (Schrader), Wilfried Elste (Arbeiter Siebert), Hans Korte (Heinrich Himmler), Matthias Fuchs (Sturmbannführer Kellner), Walter Czaschke (Obersturmbannführer Eichmann), ClausDieter Reents (Ordonnanz Setzler), Werner Schwuchow (Obersturmführer), Anke Tegtmeyer (Oberschwester), Elisabeth Stepanek (Junge Krankenschwester), Thesi Höflich (Mädchen Bertha), Priska Höflich (Mädchen Hilde), Evelyn Matzura (Mutter Lang), Hermann Günther (Soldat Schmitz), Yaak Karsunke (Unteroffizier), Peter Petran (Arbeiter Karl), Werner Eichhorn (Arbeiter Erich), Peter Moland (Arbeiter Henckel), Martin Ripkens (Angestellter), Dietrich Kerky (Leutnant im Freikorps), Claus Enskat (SA-Mann Freddie), Wolfgang Müller (SA-Mann Otto), Brigitte Janner (Magd), Claus Fuchs (Geschäftsführer), Folke Wiegers (Kadow), Josef Quadflieg (Georg), Hans Schulze (Amerikanischer Oberstleutnant), Klaus Münster (Landarbeiter). - P: Iduna Film GmbH, München/Westdeutscher Rundfunk, Köln. - Pd: Nils C. Nilson. - Red: Volker Canaris (WDR). - PI: Fred Ilgner. - Al: Hans D. Adenacker, Johannes Göbel. Dz: 11.10.1976 bis 18.12.1976 (44 Tage). - Do: Worpswede, Munsterlager, Polnisches Nationalmuseum des Konzentrationslagers Auschwitz, Paderborn, München, Bramstedt (Hof Gackau), BarghornNord (Altes Gehöft und Haus Marienthal), Osterholz-Scharmbeck (Landgasthof), Schloss Frens in Ichendorf, Rheinbach (Gefängnis und Amtsgericht), Duisburg (Arbeitersiedlung), Köln (Amtsgericht, Weidengasse, Rolandstraße), Burg Gleuel, Düsseldorf (Regierungsgebäude, Plenarsaal), Bergisch Gladbach (Rathaus), Studio Brauweiler. F: 16 mm, Eastmancolor (Kinofassung aufgeblasen auf 35 mm). - OL: 145 min. (Kinofassung); 140 min. (TV- 23 Fassung). - U: 30.6.1977, 7. Internationales Forum des Jungen Films, Berlin (Atelier am Zoo). - KS: 18.11.1977, Frankfurt am Main (Olympia), Köln (Intimes Theater). - TV: 4.2.1979 (ARD). Anmerkungen: Kai Taschner als junger Franz Lang wird von Götz George synchronisiert. - Deutscher Filmpreis 1978 (Sparte Weitere programmfüllende Spielfilme), Filmband in Silber, Prämie 300.000 DM. AUS EINEM DEUTSCHEN LEBEN (1976/77). 1916: Der 16-jährige Schüler Franz Lang, freiwilliger Putzer im Lazarett, will unbedingt an die Front. - 1917: Bei einem Einsatz in vorderster Linie, wo er in aussichtsloser Lage einen alten Soldaten zum Bleiben zu zwingen versucht, überlebt er als Einziger. Er wird Unteroffizier. - 1919: Lang findet Arbeit in einer Fabrik. Er befolgt nicht die Aufforderung der Gewerkschaft, mit Rücksicht auf einen älteren Arbeiter langsamer zu arbeiten. Er und sein Freund Schrader schlagen den Gewerkschaftssprecher nieder. Sie werden entlassen. - 1920: Lang im »Freikorps Rossbach«, das gegen streikende Arbeiter eingesetzt wird. Unter den Gefangenen ein Freund von der Front. Als der zu fliehen versucht, wird er von Lang erschossen. - 1922: Lang, der jetzt auf einer Baustelle als Träger arbeitet, tritt in die NSDAP ein. - 1923: In Mecklenburg Mitglied einer privaten Truppe, von Gutsbesitzern zum Schutz gegen Kommunisten engagiert, erschießt Lang einen von anderen zusammengeschlagenen »Verräter«. - 1924: Zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, liest Lang Hitlers Buch »Mein Kampf«. - 1928: Nach fünf Jahren wird Lang amnestiert, bekommt durch Vermittlung der Partei Arbeit auf einem Gut in Pommern und vom Gutsbesitzer, einem ehemaligen Oberst, einen maroden Bauernhof, den er wieder herrichtet, zur Pacht und die Else zum Heiraten. Der Oberst bringt ihn mit Himmler zusammen. - 1934: Himmler bietet Lang eine Karriere als Kommandant eines Konzentrationslagers an: dort sei er, mit seinen Erfahrungen aus dem Zuchthaus, der Partei am nützlichsten. Diesem Argument beugt sich auch seine zögernde Frau. - 1941: Lang, inzwischen Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz, wieder bei Himmler, der ihm die Hauptaufgabe bei der »Endlösung der Judenfrage« überträgt. - Eichmann in Auschwitz, er informiert Lang über die künftige Menge der Transporte, die er zu »behandeln« habe. - Else Lang zeigt sich beglückt, in einem Häftling einen guten Gärtner gefunden zu haben, der sie mit Blumen versorgt. Häftlinge, in einen Keller gesperrt, hören Exekutionen vor der Schwarzen Wand. SS-Leute gehen nach getaner Arbeit auseinander. - Lang ist entsetzt zu sehen, dass seine Kinder KZ-Häftlinge spielen. - Durch Zufall entdeckt Lang das Schädlingsvernichtungsgas Zyklon. - 1942: Himmler in Auschwitz. Mit Lang und anderen SS-Offizieren sieht er zu, wie Häftlinge angeblich zum Duschen in die Gaskammer geführt werden. Auf dem Dach der Kammer schüttet ein SS-Mann die Gaskristalle durch eine Luke ins Innere des Gebäudes. - Lang wird zum Obersturmbannführer befördert. Durch die Unachtsamkeit eines Besuchers, es ist der Kulmhof-Kommandant Kellner, erfährt Else Lang zum ersten Mal, worin die Arbeit ihres Manns in Auschwitz besteht. Als sie ihn zur Rede stellt, beruft sich Lang auf seine Befehle; es sei ihm physisch unmöglich, einem Befehl nicht zu gehorchen. - Lang studiert Baupläne für ein neues Krematorium. Zu Hause findet er die Tür zum Eheschlafzimmer verschlossen. - Mittagessen im trauten Familienkreis, Else blickt ihren Mann mit einem Lächeln an. Im Büro trägt er die inzwischen auf fast 10.000 gestiegene »Tagesleistung« der Krematorien in sein Notizbuch ein und verbrennt den Zettel mit der Meldung. Seine Frau, die einen Kinderwagen mit Kleinkind am Haus der Kommandantur vorbei schiebt, grüßt er, ans Fenster getreten, mit einem Nicken, stumm, freundlich, selbstbewusst, ganz Mann. - 1946: Von einem deutsch sprechenden amerikanischen Offizier verhört, beruft sich Lang auf seine Befehle und erklärt, er habe an die Juden nicht als Menschen gedacht, sondern als Einheiten; seine Aufgabe sei für ihn eine rein technische gewesen; er empfinde nichts Besonderes. - Von den Amerikanern den Polen übergeben (wie es in einem Insert heißt), verfasst Lang (vor der Hinrichtung Ende 1947) seine Lebenserinnerungen. »Der Vernichtungsvorgang in Auschwitz-Birkenau wickelte sich wie folgt ab ...« Ausgedehnte Seitwärtsfahrt der Kamera am Gelände des Lagers vorbei; Vorwärtsfahrt über die Eisenbahngleise zur Rampe. Luftaufnahme, stumm. Ulrich Döge (Filmbiografie), Peter W. Jansen (Filmbeschreibung). In: Aurich, Rolf u.a. (Hg.): Theodor Kotulla. Regisseur und Kritiker. München 2005 (edition text+kritik, Film & Schrift Band 1), passim 24 Schon 1952 erschien ein Roman des französischen Schriftstellers Robert Merle über Rudolf Höß, den Kommandanten von Auschwitz: Es kam nicht selten vor, daß wir unter den gefangenen Spartakisten ehemalige Kameraden aus den Freikorps entdeckten, die durch die jüdische Propaganda irregeführt worden waren. Ende April traf ich in Düsseldorf unter einem Dutzend roter Arbeiter, die ich zu bewachen hatte, einen gewissen Henckel wieder, der in Thorensberg und in Mitau an meiner Seite gekämpft hatte. Er lehnte mit seinen Kameraden 5 an einer Mauer, der Verband, den er um den Kopf trug, war blutbefleckt, und er sah sehr bleich aus. Ich sprach ihn nicht an, und es war mir unmöglich zu sehen, ob er mich erkannt hatte. Der Leutnant kam auf seinem Motorrad an, sprang ab und überflog die Gruppe mit einem Blick, ohne sich ihr zu nähern. Die Arbeiter saßen längs einer Mauer, regungslos, schweigend, die Hände auf den Knien. Nur ihre Augen zeigten Leben. Sie waren auf den Leutnant gerichtet. Ich eilte herbei und bat um Befehle. Der 10 Leutnant preßte die Lippen zusammen und sagte: »Wie gewöhnlich.« Ich teilte ihm mit, daß ein ehemaliger »Baltikumer« dabei sei. Er fluchte zwischen den Zähnen und verlangte, ich solle ihn ihm bezeichnen. Ich wollte auf Henckel nicht mit der Hand zeigen und sagte: »Der mit dem Kopfverband.« Der Leutnant sah ihn an und rief leise: »Das ist doch Henckel!« Nach einer Weile schüttelte er den Kopf und sagte rasch: »Wie schade! Ein so guter Soldat!« Dann bestieg er sein 15 Motorrad, ließ den Motor aufbrummen und fuhr los. Die Arbeiter sahen ihm nach. Als er um die Ecke der Straße verschwunden war, standen sie auf, sogar ohne meinen Befehl abzuwarten. Ich stellte zwei Mann an die Spitze der Kolonne, einen auf jede Seite, und ich selbst beschloß den Zug. Henckel ging allein im letzten Glied, gerade vor mir. Ich gab ein Kommando, die Kolonne setzte 20 sich in Bewegung. Ein paar Meter marschierten die Arbeiter mechanisch im Gleichschritt, dann sah ich einige von ihnen fast zur gleichen Zeit den Schritt wechseln, der Marschrhythmus war zum Teufel, und ich begriff, daß sie es absichtlich getan hatten. Der rechte Begleitmann drehte im Marschieren den Oberkörper herum und fragte mich mit einem Blick. Ich zuckte die Achseln. Der Mann lächelte, zuckte seinerseits die Achseln und drehte sichh wieder um. 25 Henckel hatte sich etwas zurückfallen lassen. Er marschierte jetzt rechts neben mir auf gleicher Höhe. Er war sehr bleich und blickte vor sich hin. Dann hörte ich jemanden ganz leise summen. Ich wandte den Kopf, Henckels Lippen bewegten sich, ich näherte mich etwas, er warf mir einen raschen Blick zu, seine Lippen bewegten sich von neuem, und ich hörte: »Wir sind die letzten deutschen Männer, die am Feind geblieben sind.« Ich fühlte, daß er mich anblickte, und nahm wieder 30 Abstand. Nach ein paar Metern sah ich von der Seite, wie Henckel nervös das Gesicht hob, es immer mehr nach rechts drehte und nach vorn blickte. Ich blickte in dieselbe Richtung, aber es war nichts zu sehen als eine kleine Straße, die in unsere mündete. Henckel ließ sich immer weiter zurückfallen, er war jetzt hinter mir und summte: »Wir sind die letzten deutschen Männer, die am Feind geblieben sind«, mit leiser, bittender Stimme, aber ich konnte mich nicht entschließen, ihn 35 anzusprechen, um ihm zu sagen, er solle schneller gehen und still sein. In diesem Augenblick kam links von mir mit lautem Geklapper eine Straßenbahn vorbei, mechanisch drehte ich den Kopf hin, und im selben Augenblick hörte ich von rechts das Geräusch des Laufschritts, ich drehte mich um: Henckel lief davon. Er hatte schon fast die Ecke der kleinen Straße erreicht, als ich mein Gewehr hochriß und schoß: er drehte sich zweimal um sich selbst und fiel auf den Rücken. 40 Ich rief »Halt!«, die Kolonne blieb stehen, ich eilte zu Henckel hin, ein Beben lief durch seinen Körper, er sah mich starr an. Ohne anzulegen, schoß ich aus weniger als einem Meter Entfernung noch einmal, ich zielte auf den Kopf, die Kugel schlug auf den Bürgersteig. Zwei Meter von mir entfernt kam aus einem Hause eine Frau. Sie blieb wie angenagelt mit verstörtem Blick auf der Schwelle stehen. Ich schoß noch zweimal ohne Erfolg. Schweiß lief mir den Hals herunter, meine 25 45 Hände zitterten. Henckel starrte mich an. Schließlich setzte ich die Mündung der Waffe an seinen Verband, sagte leise: »Verzeihung, Kamerad!« und drückte ab. Ich hörte einen gellenden Schrei, ich wandte den Kopf, die Frau hielt ihre schwarzbehandschuhten Hände vor die Augen und schrie wie eine Verrückte. Robert Merle: Der Tod ist mein Beruf. Berlin: Aufbau Verlag 12 2008 (frz. 1952, dt. 1957), S.111-113 Der amerikanische Gerichtspsychologe Gustave M. Gilbert führte mit den Angeklagten im Nürnberger Hauptkriegsverbrecher-Prozess und anderen NS-Verbrechern, so u. a. Rudolf Höß, Gespräche, die er in einem Tagebuch festhielt: Kommandant von Ausschwitz Höß' Zelle: Als Vorbereitung auf Kaltenbrunners Verteidigung untersuchte ich Rudolf Franz Ferdinand Höß, 46, den Kommandanten des Konzentrationslagers Auschwitz, der kürzlich gefangengenommen worden war. Nachdem sein Test abgeschlossen war, unterhielten wir uns kurz über seine Tätigkeit in der Zeit von 5 Mai 1940 bis Dezember 1943 als Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz, des Hauptvernichtungslagers für Juden. Er bestätigte bereitwillig, daß unter seiner Leitung annähernd 2 1/2 Millionen Juden getötet wurden. Die Vernichtung begann im Sommer 1941. Eingedenk Görings Skepsis fragte ich Höß, wie es praktisch durchführbar gewesen wäre, 2 1/2 Millionen Menschen zu vernichten. »Praktisch?« fragte 10 er. »Das war nicht so schwierig - es wäre nicht einmal schwierig gewesen, noch mehr Menschen zu vernichten.« Auf meine etwas naive Frage, wie viele Menschen in einer Stunde umgebracht werden könnten, erklärte er, man müsse dabei von einem 24stündigen Tag ausgehen, und es sei möglich, bis zu 10000 Menschen im Zeitraum von 24 Stunden umzubringen. Es waren 6 Vernichtungskammern vorhanden. In den zwei großen konnten je 2000 Menschen und in den 4 kleineren bis zu 1500 15 Menschen untergebracht werden, was eine Gesamtkapazität von 10000 ergibt. Ich versuchte, mir auszumalen, wie das vor sich ging, aber er korrigierte mich. »Nein, Sie stellen es sich nicht richtig vor. Das Töten selbst nahm die wenigste Zeit in Anspruch. Man konnte 2000 Menschen in einer halben Stunde erledigen, aber das Verbrennen kostete so viel Zeit. Das Töten war leicht; man brauchte nicht einmal Wachmannschaften, um sie in die Kammern zu treiben; sie gingen einfach 20 hinein, weil sie annahmen, sie würden dort duschen, und statt des Wassers stellten wir Giftgas an. Das Ganze ging sehr schnell.« Er berichtete über all das in einem ruhigen, apathischen, sachlichen Ton. lch wollte gern herausbekommen, auf welche Weise der Befehl tatsächlich erteilt worden war und wie Höß darauf reagiert hatte. Er berichtete darüber folgendermaßen: »Im Sommer 1941 ließ mich Himmler kommen und erklärte mir: >Der Führer hat die Endlösung der jüdischen Frage befohlen 25 - und wir müssen diese Aufgabe ausführen. Aus verkehrstechnischen und Isolierungsgründen habe ich Auschwitz dafür ausgesucht. Es ist jetzt an Ihnen, diese harte Aufgabe durchzuführen. < Als Grund dafür gab er an, es müsse jetzt gemacht werden, denn wenn es nicht geschähe, würden die Juden später das deutsche Volk ausrotten - das jedenfalls war der Sinn seiner Worte. Aus diesem Grunde müsse man alle menschlichen Erwägungen ausschalten und nur an die Aufgabe denken - oder so ähnlich.« 30 Ich fragte ihn, ob er nicht seine Ansicht zu dieser Sache geäußert oder Widerstreben bezeugt hätte. »Ich hatte nichts zu sagen; ich konnte nur >Jawohl!!< sagen. Es war tatsächlich ungewöhnlich, daß er mich zu sich bestellte, um mir eine Erklärung zu geben. Er hätte mir einen Befehl schicken können, und ich hätte ihn ebenso auszuführen gehabt. Wir konnten nur eins: Befehle ohne weitere Überlegungen ausführen. So war es eben. Er verlangte oft unmögliche Dinge, die unter normalen Umständen nicht 26 35 durchgeführt werden konnten. Sobald der Befehl aber erteilt war, machte man sich daran, ihn mit aller Energie auszuführen, und vollbrachte so Dinge, die unmöglich schienen. Zum Beispiel hatte ich für den Bau des Weichseldammes in Auschwitz drei Jahre veranschlagt; er gab uns ein Jahr für die Fertigstellung, und wir schafften es.« Ich drängte ihn, mir mehr darüber zu sagen, wie er auf die Ungeheuerlichkeit seines Vorhabens 40 reagierte. In dem gleichen apathischen Ton fuhr er fort: »Im ersten Augenblick konnte ich die ganze Sache noch nicht überblicken. Aber später bekam ich eine Vorstellung von ihrem Ausmaß. Ich dachte jedoch nur an die Notwendigkeit, als mir der Befehl gegeben wurde.« Ich fragte ihn, ob er sich nicht weigern konnte, einen Befehl auszuführen. »Nein, nach unserer ganzen militärischen Ausbildung kam uns der Gedanke, einen Befehl zu verweigern, einfach nicht in den Sinn - unabhängig davon, 45 was für ein Befehl ... Ich nehme an, Sie können unsere Welt nicht verstehen. Natürlich hatte ich Befehlen zu gehorchen. Und jetzt muß ich dafür die Konsequenzen tragen.« Was für Konsequenzen? »Nun, daß sie mich vor Gericht stellen und aufhängen, natürlich.« Ich fragte ihn, ob er sich nicht über die Konsequenzen schon damals klar gewesen wäre, als er den Auftrag übernahm. »Damals gab es keine Konsequenzen zu erwägen. 50 Es kam mir überhaupt nicht in den Sinn, daß ich zur Verantwortung gezogen werden würde. Sehen Sie, in Deutschland galt es als selbstverständlich, daß, wenn etwas schiefging, der Mann, der den Auftrag erteilt hatte, verantwortlich war. Deshalb dachte ich nicht daran, daß ich einmal zur Verantwortung gezogen werden würde. « »Aber die menschliche -« wollte ich fragen. 55 »Das hat damit gar nichts zu tun«, war die klipp und klare Antwort, bevor ich überhaupt die Frage ganz stellen konnte. Ich fragte ihn, ob er nicht gleich, als er die Sache anfing, glaubte, wegen Mordes aufgehängt zu werden. »Nein, nie.« »Wann ist Ihnen zuerst der Gedanke gekommen, daß Sie wahrscheinlich vor Gericht gestellt und aufgehängt werden würden?« »Beim Zusammenbruch - als der Führer starb.« Gustave M. Gilbert: Nürnberger Tagebuch. Gespräche der Angeklagten mit dem Gerichtspsychologen. Frankfurt/M.: Fischer 12 2004 (amerik. 1947, dt. 1962) Der Historiker und Journalist Laurence Rees schreibt 2005 in seinem Buch „Auschwitz – Geschichte eines Verbrechens“: Was die SS-Führung möglicherweise noch mehr beunruhigte, war die Tatsache, daß Morgen nicht nur Fälle von Diebstahl, Unterschlagung und Bestechlichkeit aufdeckte, sondern auch auf Hinweise für sexuelle Vergehen stieß. Am schockierendsten war wohl die Nachricht, daß sogar Lagerkommandant Rudolf Höß eines solchen Vergehens bezichtigt wurde. Morgen war ein hartnäckiger Ermittler und ging den Beschuldi5 gungen gegen Höß über ein Jahr lang nach. Im Oktober 1944 vernahm er in einem Gefängniskrankenhaus in München eine Zeugin: die ehemalige Auschwitz-Gefangene Eleonore Hodys. Die Österreicherin war im März 1942 mit den ersten Frauentransporten nach Auschwitz gebracht worden. Da sie eine politische Gefangene war und als »Reichsdeutsche« eingestuft wurde, räumte man ihr von Anfang an eine privilegierte Stellung im Lager ein. Höß stellte sie als Dienstmädchen an. Im Mai 1942, 10 als seine Frau einmal nicht zu Hause war, näherte sich der Hausherr Hodys und versuchte sie zu küssen. Erschrocken lief sie fort und schloß sich in der Toilette ein Als Höß sich einige Wochen später im Krankenhaus von einem Reitunfall erholte, berichtete Hodys weiter, bestellte Frau Höß sie zu sich, um ihr mitzuteilen, daß sie entlassen sei. Es ist durchaus möglich, daß Frau Höß Verdacht geschöpft hatte und verhindern wollte, daß ihr Mann mit Hodys anbändelte. Kurz darauf wurde Hodys inhaftiert; 27 15 allerdings wurde sie nicht in Block 11 untergebracht, sondern in einem Sondergefängnis im Keller der Lagerhauptverwaltung, das hauptsächlich für SS-Soldaten bestimmt war, die sich schwerer Vergehen schuldig gemacht hatten. Es war merkwürdig, daß man einen gewöhnlichen Lagerhäftling dort unterbrachte. Doch Hodys war kein gewöhnlicher Lagerhäftling; man hatte sie aus einem ganz bestimmten Grund in das SSGefängnis überstellt. 20 Eines Morgens, so erzählte sie Morgen, sei Höß plötzlich in ihre Zelle gekommen, als sie noch schlief. Er habe sie zur Ruhe ermahnt, sich auf das Bett gesetzt und schließlich versucht, sie zu küssen. Nach ihrer Weigerung habe er gefragt, warum sie sich so ziere. Schließlich sei er gegangen. 20 Nach längerer Befragung gestand Hodys schließlich, daß Höß noch mehrere Male nachts in ihre Zelle gekommen sei und daß sie schließlich auch Verkehr gehabt hätten. Um die SS-Wachen zu umgehen, war Höß nicht wie üblich von seinem 25 Büro aus in das Gefängnis hinuntergegangen, sondern hatte einen »Schleichweg« durch seinen Garten und einen unterirdischen Luftschutzraum genommen, der direkt an den Keller angrenzte. Nachdem Hodys Widerstand gebrochen war, hatte Höß mehrmals mit ihr geschlafen. Hodys erzählte sogar, daß einmal mitten in der Nacht ein Alarm losgegangen und der Kommandant nackt aus dem Bett gesprungen sei, um sich in einer Ecke der Zelle zu verstecken. 30 Nach einigen Wochen wurde Hodys in Block 11 verlegt. Dort machte sie eine schlimme Entdeckung: Sie war schwanger. Sie berichtete, daß Höß sie gezwungen habe, eine schriftliche Erklärung zu unterschreiben, in der sie bekannte, mit einem anderen Lagerhäftling geschlafen zu ha ben. Sie unternahm einen Abbruchversuch, der jedoch mißlang. Nachdem man sie einige Monate später ins Frauenlager in Birkenau entlassen hatte, gelang es ihr schließlich, »etwas« zu organisieren, um den Fötus abzutreiben. 35 Die Tatsache, daß Hodys die einzige Zeugin für die von ihr geschilderten Vorfälle ist, stellt zweifellos ein Problem dar. Doch Morgen schien ihr geglaubt zu haben, und er war schließlich ein erfahrener Jurist. Zudem hätte Hodys keinen wirklichen Vorteil aus einer erfundenen Affäre mit Höß ziehen können, vor allem, da sie zum Zeitpunkt ihrer Vernehmung bereits aus Auschwitz entlassen worden war. Höß bekannte sich nie zu seinem Verhältnis mit Hodys, doch seine widersprüchlichen Aussagen über seine Ehe 40 sprechen nicht unbedingt für ihn. Bei seiner Vernehmung durch den amerikanischen Gerichtspsychologen Dr. Gilbert in Nürnberg gestand er, daß er und seine Frau kaum noch miteinander geschlafen hätten, nachdem sie erfahren hatte, worin seine Arbeit in Auschwitz bestand. In seinen Lebenserinnerungen jedoch schwärmt er in höchsten Tönen von seiner Ehe und spricht von seiner Frau als der Partnerin, die er sich immer »erträumt« habe. 45 Morgens Ermittlungen im Fall Höß verliefen ergebnislos. Anmerkung: Konrad Morgen, Sturmbannführer der Waffen-SS, im Mai 1943 vom Reichskriminalpolizeiamt in Berlin zur Aufdeckung von Korruptionsfällen in Konzentrationslagern eingesetzt. Laurence Rees: Auschwitz. Geschichte eines Verbrechens. Augsburg: Weltbild 2008, S. 266-268 (engl. U. dt. 2005) 28