Methodisches Vorgehen

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Methodisches Vorgehen
V. Methodisches Vorgehen im Geschichtsunterricht
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Voraussetzung: Kenntnis der Schülerinnen und Schülern über filmanalytische
Begrifflichkeit, falls nicht gegeben: Klärung von für die jeweilige Filmsequenz als
relevant erachteter Begriffe
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Vorführung des Filmausschnittes im Anschluss an eine vorangegangene Behandlung
des historischen Sachverhaltes im Unterricht, Filmausschnitte sind als Bestandteil bei
der Einführung eines bisher unbekannten historischen Inhalts eher ungeeignet.
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Ausgewählte relevante Informationen über die Produktionsbedingungen des Films,
z.B. Entstehungszeit und –bedingungen, Regisseur, Besetzung, Rezeption, Preise,
Filmplakat, DVD, Fernsehaufführungen
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Kurze Inhaltsbeschreibung des Films oder, falls vorhanden, Vorführung des Trailers
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Mögliche Schwierigkeiten und fehlende Kenntnisse der Schülerinnen und Schüler
hinsichtlich der dargestellten Personen und historischen Umstände berücksichtigen
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Filmausschnitt vorführen
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Erste Eindrücke der Schülerinnen und Schüler sammeln
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Hypothesen der Schülerinnen und Schüler zur im Filmausschnitt vermittelten
Geschichtsdeutung festhalten
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Erneutes, u.U. auch mehrmaliges Betrachten des Filmausschnittes unter vorgegebenen Fragestellungen und unter Berücksichtigung filmanalytischer Aspekte, wie z.B.
In welche Szenen ist die ausgewählte Filmsequenz gegliedert?
Welche Kameraperspektiven werden gewählt?
Welche Einstellungsgröße dominieren?
Welche Kamerabewegungen fallen auf?
Welche Lichtverhältnisse herrschen vor?
Welche Bedeutung hat die Farbgebung?
Welche Aussagen lassen sich über Sprache, Atmo und Musik treffen?
Auf welche Weise werden der Held und/oder weitere Figuren präsentiert?
Auf welche Weise sind Kostüme und Kulissen gestaltet?
Welche Schlüsselwörter oder –sätze werden formuliert?
Welche Funktion hat ein – möglicherweise vorhandener – Erzähler?
Auf welche Weise sind die einzelnen Einstellungen montiert?/Auf welche
Weise ist der Film geschnitten?
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Möglicherweise Vergleich des Filmausschnittes mit Aussagen des Regisseurs, mit
einer literarischen Vorlage, mit Quellentexten, Darstellungen, Gemälden, Photographien oder anderen Verfilmungen
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Überprüfen der eingangs formulierten Hypothesen und kritische Würdigung des
Filmausschnittes unter den Gesichtspunkten der Historizität des Dargestellten und
möglicherweise der filmästhetischen Qualität des Dargestellten
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Eventuell Vorführung weiterer Filmausschnitte oder des gesamten Filmes.
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VI. Fallbeispiele
1. Filmausschnitt: „Alexander“, Oliver Stone (2004): Vor der Schlacht bei Gaugamela
Klassenstufe 7
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Behandlung des „Alexanderzuges“ im Unterricht
Eine genauere Betrachtung der Schlacht bei Gaugamela (331) im Unterricht kann aufgrund der
Information der Schüler und Schülerinnen anhand von z.B. einer der folgenden Darstellungen erfolgen:
Alexander Demandt: Alexander der Große. Leben und Legende. München: Beck 2009, S. 190-197
5
Hans-Joachim Gehrke: Alexander der Große. München 2009 (C.H. Beck Wissen), S. 52-55
2
Michael Wood: Auf den Spuren Alexanders des Großen. Stuttgart: Reclam 2002, S. 86-91
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Eine kurze Inhaltsangabe des Films kann entfallen, da das Biopic Alexanders
Leben von seiner Kindheit bis zu seinem Tode beschreibt.
„Filmbiografie des mazedonischen Fürsten Alexander des Großen, der im 4. Jahrhundert v. Chr. weite
Teile des Mittelmeerraums und Asiens eroberte. Viele von Alexanders Taten scheinen sich in Oliver
Stones Film aus dem komplizierten Verhältnis zu den Eltern zu erklären, wobei das Private untrennbar mit
dem Politischen verbunden ist, wenn es darum geht, die Ambitionen und schließlich das Scheitern im
Erfolg des ambivalenten Protagonisten zu zeigen, der teils als Weichling, teils als Machtmensch, teil als
progressiver Visionär erscheint. Der Film hat eindrucksvolle Momente, leidet aber an Inkonsequenzen
sowohl in der Charakterisierung der Figuren als auch der Inszenierung.“
(Zweitausendeins Filmlexikon)
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Informationen zum Film (Zweitausendeins Filmlexikon)
ALEXANDER (Originaltitel),
L (Land) USA/ Großbritannien/ Deutschland,
J (Jahr) 2004,
Biografie, Historienfilm,
P (Produktionsfirma) Warner Bros./ Intermedia Films/ Pacifica Film/ IMF,
DA (DVD-Anbieter) Standard: Paramount (16:9, 2.35:1, DD5.1 engl./ dt.); Special Edition: Paramount
(16:9, 2.35:1, DD5.1 engl./ dt., dts engl.),
Länge: 173 Minuten, FSK: ab 12; f, Erstaufführung: 23.12.2004/12.5.2005 DVD/26.5.2005 DVD (Special
Edition)
Pd (Produzent) Thomas Schühly , Iain Smith , Oliver Stone , Moritz Borman , Jon Kilik ,
R (Regie) Oliver Stone ,
B (Drehbuch) Oliver Stone , Christopher Kyle , Laeta Kalogridis ,
K (Kamera) Rodrigo Prieto ,
M (Musik) Vangelis Papathanassiou ,
S (Schnitt) Thomas J. Nordberg , Yann Hervé , Alex Marquez ,
D (Darsteller) Joseph Morgan als Philotas, Colin Farrell als Alexander, Rosario Dawson als Roxane, Elliot
Cowan als Ptolemäus, Angelina Jolie als Olympias, Brian Blessed als Ringer-Trainer, Jared Leto als Hephaiston, Anthony Hopkins als alter Ptolemäus, Christopher Plummer als Aristoteles, Val Kilmer als
Philipp
Hinweis darauf, dass der Film mit beträchtlichem Werbeaufwand sowohl in den Kinos als auch auf DVD
lanciert wurde, paralleles Erscheinen von verschiedenen Spielen, z.B. des PC-Spiels „Alexander. Die
Stunde der Helden“, Veröffentlichung von 2 Versionen auf DVD, einer Standard-Version und einer aufwändig gestalteten Special Edition mit Zusatzinformationen zum Film und zum historischen Alexander;
2009 Erscheinen des Director’s Cut „Alexander Revisted“, einer um über 50 Minuten längeren Fassung
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Vorbereitende Hausaufgabe: Recherche über die Bedeutung des Adlers in der
griechischen Mythologie
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Verkörperung von Königswürde, Sieg und Macht, Diener und Begleiter von Zeus
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Folgende Arbeitsaufträge sollten den Schülerinnen und Schülern gestellt
werden:
Gliedere die ausgewählte Filmsequenz in verschiedene Szenen! Untersuche die
beabsichtigte Wirkung der jeweiligen Szenen!
Erster Szene: Schnelle Folge von Schnitten: wolkenverhangene Sonne, aufmarschierende
Soldaten, Opferritual vor der Schlacht, Weissagung eines weißgekleideten Priesters, permanente Wiederholung des Wortes „Blut“ aus dem Mund des Priesters, vom aufspritzenden Blut
eines von Alexander getöteten Stieres verschmiertes Gesicht des Makedonenkönigs,
bedeutungsschwere Blicke des Sehers und der um ihn Herumstehenden, am Ende der Szene
Abbrechen der musikalischen Untermalung
Wirkung: Die Hervorhebung des Wortes „Blut“ sowie das Blut in Alexanders Gesicht verweisen
auf den bevorstehenden Krieg und die Aggressivität Alexanders, sein Sieg scheint somit
unausweichlich. Der erste Teil der Sequenz zeigt dem Zuschauer sowohl eine kampfbereite
makedonische Armee als auch einen entschlossenen Heerführer.
Zweite Szene: Ansprache Alexanders an seine Soldaten, Symbol des Adlers, der über das
Schlachtfeld fliegt, Blick auf Dareios und sein Heer, Alexander zieht seinen Helm mit einem
roten Helmbusch an und reitet in die Schlacht, Eindruck der Unsicherheit bei Dareios und
seinen Truppen, die durch Peitschenhiebe angetrieben werden
Wirkung: Alexander wird als charismatische Figur gezeigt, der er es gelingt, seine Truppen auf
ihn einzustimmen, dagegen hinterlässt der Perserkönig eher einen nachdenklichen und fast
ratlosen Eindruck. Auch seine Truppen strahlen keine Siegeszuversicht aus .
Erkläre,
welches
Bild
der
Regisseur
von
Alexander
entwirft!
Berücksichtige
Kameraperspektive und Farbgebung!
Alexander wirkt ausgesprochen kriegslüstern und fest entschlossen, die Schlacht trotz zahlenmäßiger Unterlegenheit der makedonischen Truppen zu gewinnen. Es gelingt ihm, durch eine
direkte, persönliche Ansprache an ausgewählte Pezhetairen die Kampfbereitschaft der Truppen
zu erhöhen und diese auf ihn einzuschwören. Alexander gibt sich als einer der ihren aus, der
freie Männer anführt und damit im Gegensatz zu Dareios mit seinem Sklavenheer steht. Der
weißgekleidete Alexander und seine Armee stehen in hellem Licht und erscheinen dadurch besonders strahlend. Die schon angesprochene Aggressivität Alexanders wird besonders durch
seinen roten Helmbusch verkörpert, der wie ein Signal wirkt. Alexander, der bei seiner Ansprache an die Soldaten auf einem Pferd sitzt, wird durch eine Kameraperspektive von unten,
die Untersicht, gezeigt, wodurch seine Überlegenheit und seine Rolle als Anführer der Griechen
verdeutlicht wird. Gleichzeitig wird durch diese Perspektive die Bewunderung der Soldaten für
ihren Heerführer ausgedrückt. Umgekehrt werden die Soldaten aus der Aufsicht gezeigt, was
zum einen filmlogisch der Perspektive Alexanders, der auf eine Pferd sitzt, entspricht, und zum
anderen aber auch die Überlegenheit Alexanders, seine Anführerschaft, verdeutlichen soll.
Beschreibe Alexanders Gegner Dareios und die persische Armee! Erläu-tere die Wirkung,
die diese Figur beim Zuschauer hervorrufen soll! Be-rücksichtige Einstellungsgröße der
Kamera und Farbgebung!
Im Gegensatz zu dem strahlenden Helden Alexander wirken die Perser und Dareios eher wie
Verlierer. Dies hängt zum einen damit zusammen, dass Dareios scheinbar regungslos und
wortkarg auf einem Schlachtwagen unter einem Sonnenschirm steht und sich in Distanz zur
kämpfenden Truppe befindet. Die Einheiten der Perser werden von wild schreienden, gestikulierenden und gar züchtigenden Befehlshabern angetrieben, was einen scharfen Kontrast zu
dem auf ein persönliches Verhältnis zu seinen Soldaten setzenden Alexander bildet. Zudem
wird von Dareios nur eine Großaufnahme seines von einem schwarzen Bart umrandeten düster
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wirkenden Gesichtes gezeigt. Durch diese perspektivische Beschränkung auf ein Detail der
Figur des Dareios soll dessen Niederlage schon vorweggenommen werden, da im Gegensatz
zum „lebendigen“ und aktiven Alexander der Perserkönig ausgesprochen statisch wirkt. Auch
die persische Armee erscheint insgesamt „dunkler“ als die makedonische, wodurch ihre
bevorstehende Niederlage ebenfalls schon angedeutet wird. Schließlich gilt festzuhalten, dass
Dareios keinen direkten Kontakt zu seiner Armee sucht, sondern seinem General Bessos
Anweisungen erteilt. Dareios hält sich somit nicht bei seinen Truppen auf, sondern bleibt in
sicherer Distanz, was beim Betrachter möglicherweise den Eindruck von Feigheit hinterlässt.
Fazit: Die filmische Gestaltung dieser Sequenz lässt von Anfang an auch beim historisch
Unkundigen keinen Zweifel entstehen, wer aus der Schlacht als Sieger hervorgehen wird.
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Schriftliche Überprüfung
In einer schriftlichen Überprüfung könnte ein kurzer Ausschnitt aus Robert Rossens „Alexander der
Große“ (USA 1956) mit Richard Burton als Alexander gezeigt werden. Der Ausschnitt aus Rossens
„Alexander“, der die beiden Kontrahenten Dareios und Alexander vor der Schlacht bei Gaugamela zeigt,
könnte mit der im Unterricht behandelten Sequenz verglichen werden.
Folgende Fragestellungen böten sich an:
Beschreibe, wie die Sequenz untergliedert ist!
Erster Teil: Dareios gibt den provozierenden Inhalt eines Briefes an Alexander wieder.
Im zweiten Teil wird Alexanders Antwort, die er einem Schreiber diktiert, gezeigt.
Erläutere, welches Bild der Regisseur von Dareios und Alexander entwirft! Berücksichtige
die Kameraperspektive, Einstellungsgröße und die damit beabsichtigte Wirkung!
Dareios wird auf seinem Thron sitzend in einer ihm gegenüber devoten Umgebung gezeigt. Der
persische König wirkt ausgesprochen überheblich, ein Eindruck, der durch die Kameraperspektive der Untersicht deutlich hervorgehoben wird. Zudem trägt die Einstellungsgröße der
Halbtotale dazu bei, Distanz des Zuschauers zu dem Perserkönig herzustellen.
Alexander dagegen wirkt nachdenklich, überlegen und auch spöttisch. Die Figur ist in
Nahaufnahme und Normalsicht zu sehen, wodurch eher ein Eindruck der Vertrautheit des
Zuschauers mit dem makedonischen König entsteht.
Vergleiche die Sequenz aus dem gezeigten Alexanderfilm mit der im Unterricht
besprochenen! Berücksichtige bei deinen Ausführungen bestehende Gemeinsamkeiten in
der Darstellung der Personen und Unterschiede in der filmischen Umsetzung des
historischen Stoffes.
In beiden Filmausschnitten wird Alexander als eine positive, „helle“
Figur dargestellt, der
gegenüber der „dunkle“, überhebliche Dareios steht.
Unterschiede bestehen in der filmischen Umsetzung. Während in der Sequenz aus Oliver Stones
Film die Darstellung von Alexander einen sehr viel breiteren Raum einnimmt als diejenige von
Dareios, sind die Zeitspannen, die den Antagonisten in Rossens Film eingeräumt werden, in
etwa gleich lang. Zudem erweist sich die Sequenz aus Stones Film aufgrund der vielen
Montagen unterschiedlicher Figurenperspektiven, der zahlreichen Anspielungen und Farbgebungen filmisch als sehr viel komplexer. Der Ausschnitt aus Rossens Film besteht im
Wesentlichen aus zwei unterschiedlichen Einstellungen auf die beiden Gegenspieler aus jeweils
verschiedenen Kameraperspektiven. Die beiden Einstellungen sind zudem in chronologischer
Reihenfolge montiert. Des Weiteren erwecken die Bildaufnahmen in Rossens Film den Eindruck,
lediglich ein Vehikel für die über Briefe geführte verbale Auseinandersetzung der beiden zu sein,
während Stone versucht, über die visuelle Ebene, Atmo und Musik sein Anliegen zu vermitteln.
Erwähnenswert ist auch der Umstand, dass dem modernen Film die Möglichkeit der
Computeranimation zur Verfügung steht, was deutlich an der Einstellung zu erkennen ist, die
den das Schlachtfeld beobachtenden und schließlich über dieses fliegenden Adler beinhaltet.
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2. Filmausschnitt: „Wege zum Ruhm“, Stanley Kubrick (1956): Eingangssequenzen
Klassenstufe 8
Die Filmhistoriker Bodo Traber/Hansjörg Edlin schreiben über den Film „Wege zum Ruhm“:
Wege zum Ruhm Paths of Glory USA 1957 s/w 87 min
R.: Stanley Kubrick
B: Stanley Kubrick, Calder Willingham, Jim Thompson, nach dem Roman von Humphrey Cobb (1935)
K: Georg Krause
M: Gerald Fried
D: Kirk Douglas (Colonel Dax), Ralph Meeker (Unteroffizier Paris), George Macready (General Mireau), Adolphe
Menjou (General Broulard), Wayne Morris (Lieutenant Roget), Richard Anderson (Major St-Auban), Joseph Turkel
(Soldat Arnaud), Timothy Carey (Soldat Ferol), Emile Meyer (Priester), Susanne Christian (d. i. Christiane Kubrick)
(Deutsches Mädchen)
Ein Film der Kontroversen, der in mehreren Ländern (u. a. England und Schweiz) bis in die siebziger
Jahre hinein verboten war. Bei der West-Berliner Uraufführung kam es zum Eklat, als Angehörige der
französischen Truppen die Vorstellung störten. In Frankreich war er während des Algerienkrieges
verboten und auch danach jahrelang nicht zu sehen - seine Pariser Premiere erlebte er erst 1975. In den
USA war er für Soldatenkinos gesperrt. Die Geschichte des Kriegsfilms - zumal des Antikriegsfilms – ist
immer auch eine Zensur-Geschichte.
Ein Film, der wütend macht. Die einen wegen der grenzenlosen, dem militärischen System immanenten
Menschenverachtung, die er offenlegt. Die anderen wegen seiner vermeintlichen » Nestbeschmutzung«.
Paths of Glory ist ein vehement parteiischer Film, steht deutlich auf der Seite der einfachen Soldaten, die
zu Menschenopfern eines von Intrigen, Zynismus Korruption und Machtpolitik bestimmten Apparates
werden. Und er ist dennoch ein rationaler Film, kein Wutschrei, wie etwa Elem Klimows Idi i smotri, sondern
- analog zu Kubricks Doomsday-Satire Dr. Strangelove (Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu
lieben, 1964) und seinem zentralen Vietnamfilm Full Metal Jacket, der die schrittweise Entmenschlichung junger
Rekruten und ihre Umformung in Tötungsmaschinen beobachtet - eine kühle und nüchterne Analyse der
Funktionsweisen militärischer Strukturen. Der Wahnsinn des Krieges ist in Kubricks Filmen nie schicksalsgegeben;
ihn haben Menschen zu verantworten.
Paths of Glory schildert - nach einem auf authentischem Material basierenden Roman des kanadischen
Weltkriegsveteranen Humphrey Cobb - eine Grabenkriegs-Episode aus dem blutigen Jahr 1916, dem Jahr der
Schlachten um Verdun und an der Somme. Die Marseillaise als Titelmusik steht nicht mehr - wie noch in Michael
Curtiz' Casablanca (1942) - für Widerstand und Heldenmut in einem gerechten Kampf, sondern leitet ein
mit zynischem Kalkül geführtes, sinnloses Gemetzel ein, das selbst nur exemplarisch ist. (1917 sollte die
bestialische Kriegführung zu umfangreichen Meutereien in den französischen Truppen führen.) Der Grabenkrieg
tobt im zweiten Jahr, ohne dass sich die Front wesentlich bewegt hätte. »Offensiven, die oft nur wenige hundert
Meter Bodengewinn erbrachten«, erklärt der Off-Kommentar, »wurden mit dem Leben von Hunderttausenden von
Soldaten bezahlt.«
Es beginnt mit einem Akt der Verführung. Im luxuriösen requirierten Chäteau residiert der Abschnittskommandeur Mireau zwischen Insignien des Absolutismus. Sein Vorgesetzter Broulard ist gekommen, um ihn wider
beider besseres Wissen zum Angriff auf eine deutsche Schlüsselstellung - den »Ameisenhügel« - zu überreden.
Broulard, der aus politischem Kalkül handelt, korrumpiert den ehrgeizigen Mireau, indem er ihm eine Beförderung
in Aussicht stellt. Eben noch ein Skeptiker, der den Angriff als unmöglich abtut, lässt Mireau sein weiteres Handeln
fortan von seinem persönlichen Karrierismus bestimmen. Für die alten Männer im Schloss, weit weg vom
»Schuss«, sind die Frontsoldaten nur Schachfiguren.
Das Schloss und der Schützengraben - es sind verschiedene, unvereinbare Welten, was der Kontrast
zwischen dem dekadenten Ambiente der Befehlshaber, den Gobelins und Gemälden, und der schmutzigen Realität
an der Front deutlich sichtbar werden lässt. Leichenhaufen türmen sich im Niemandsland, Verletzte werden
vorbeigetragen, Granaten schlagen ein, als Mireau und sein Adjutant Auban das Regiment 701 an der
Front besuchen. Die beiden tragen saubere und gebügelte Ausgehuniformen, während die Kleidung der Soldaten
vor Dreck starrt. Mireau im Graben geriert sich als Soldat, als »einer der ihren« den Männern und dem
Regimentskommandeur Dax gegenüber, spielt die joviale Vaterfigur, als er einzelne Männer anspricht - zufällig sind
es die, die er später hinrichten lassen wird.
In Dax' Unterstand mokieren sich die Schreibtischtäter (die allerdings bei jeder Granate zusammenzucken)
mit Kopfschütteln über den »Herdentrieb« der Männer, die sie in den Tod schicken, setzen sie mit niederen
Tieren gleich - bereits der Name »Ameisenhügel« der deutschen Höhe (der in der deutschen Synchronfassung
getilgt wurde) ist eine von vielen Metaphern für das Bild der Entmenschlichung, das sich durch den Film zieht.
Später werden die drei Delinquenten Paris, Arnaud und Ferol in einem Kuhstall eingesperrt werden und Paris
wird eine Küchenschabe darum beneiden, am nächsten Tag noch am Leben zu sein. Dann wird sie seiner Frau
und seinem Kind näher sein als er, sagt er, ehe der einfältige Ferol die Schabe erschlägt.
Sie haben den Schachzug bereits präzis durchkalkuliert. Mireau rechnet mit Verlusten von 5 Prozent im eigenen
(!) Sperrfeuer, 10 im Niemandsland, 20 im gegnerischen Drahtverhau und noch einmal 25 beim eigentlichen Angriff
- insgesamt 60 Prozent werden als Verluste abgeschrieben. 4800 von 8000 Mann. Die Todesmathematik
der Bürokraten. Für Mireau sind es Zahlen, für den entsetzten Dax sind es Menschen. Und da Dax, der
Mireaus Gerede über patriotische Pflichterfüllung als hohle Phrasen erkennt, sich nicht verführen lässt,
muss Mireau ihn erpressen. Er droht ihm mit Ablösung. Nach dem gescheiterten Angriff wird Mireau das
dabei verheizte Drittel des Regiments als Nebensächlichkeit abtun.
Colonel Dax - im Zivilleben Strafverteidiger - ist in Kirk Douglas' Darstellung nicht nur der unzweifelhafte
Ehrenmann, der seine Männer nicht im Stich lassen will und zum Grenzgänger zwischen Schloss und
Schützengraben, zwischen den Welten der Schachspieler und Schachfiguren wird. Er ist vor allem auch
ein Fremdkörper im Offizierskorps, das ansonsten fast nur aus vom Ehrgeiz zerfressenen Intriganten und
Opportunisten besteht - oder charakterlosen Feiglingen wie dem Zugführer Roget, der sich vor der
nächtlichen Erkundungspatrouille Mut antrinken muss, während der Patrouille einen Untergebenen allein
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ins Niemandsland schickt und diesen dann aus Angst opfert, als ihm das Warten zu lang wird. Später
nutzt Roget die Kriegsgerichtsverhandlung, um den einzigen Zeugen zu beseitigen. Dax, der auch davon
weiß, bleibt bei all dem praktisch hilflos. Weder kann er Roget zur Verantwortung ziehen noch Mireau.
Eine Figur in permanenter unterdrückter Wut, die nur gelegentlich in seinem Sarkasmus sichtbar wird
und erst am Ende aus ihm herausbricht, als Broulard ihm unterstellt, aus denselben eigennützigen Motiven
gehandelt zu haben wie er selbst.
Beim Sturmangriff auf den Ameisenhügel kämpft Dax in vorderster Linie, während Mireau aus großer
Entfernung zusieht. Kubrick schildert den Angriff als aussichtsloses Massaker - alle Männer um Dax herum
fallen, kaum dass sie aus den Gräben heraus sind. Und als der Colonel dem deutschen MG-Trommelfeuer
zum Trotz die zweite Welle zum Angriff führen will, die wiederum aufgrund von Rogets Todesangst den Graben gar
nicht erst verlassen hat, fällt ihm eine Leiche entgegen. Mireau versucht, die Artillerie auf die eigenen Stellungen
feuern zu lassen, um die Leute aus den Gräben zu treiben, doch der Artillerieoffizier weigert sich, dem Befehl
nachzukommen, solange dieser nicht schriftlich ergeht. Der Angriff kommt zum Erliegen - für Mireau, der seine
Karriere gefährdet sieht, eine persönliche Katastrophe, deren Verantwortung er von sich weist, indem er das
ganze Regiment wegen Feigheit vor dem Feind vors Kriegsgericht stellen und hundert Männer exekutieren
lassen will. Von Broulard muss er sich auf drei Männer als Exempel herunterhandeln lassen.
Die Generäle folgen einem Ehrenkodex, hinter dem eine deutlich faschistische Helden-Moral durchscheint:
Wären die Männer nicht feige gewesen, argumentiert Mireau, dann müssten sie jetzt alle tot auf dem
Schlachtfeld liegen. Die Soldaten hätten nicht zu entscheiden, ob ein Befehl ausführbar ist oder nicht. Dieselbe
Argumentation vertritt Friedrich II. in Veit Harlans NS-Propagandafilm Der große König (1942), der in der Schlacht
bei Kunersdorf von seinen Truppen verlangt, einen Wall aus toten Leibern zu errichten, um den Feind aufzuhalten.
Doch die Preußen machen ihm die Schande, am Leben bleiben zu wollen, und Friedrich verliert die Schlacht.
Das Kriegsgericht, bei dem Dax ohne jeden Erfolg die Verteidigung übernimmt, ist eine Farce - eine reine Formalität, die der bereits beschlossenen Exekution der drei Sündenböcke vorangeht. Es gibt keine Anklageschrift, es
ist kein Kreuzverhör vorgesehen, der Richter ignoriert Dax' Argumente und Einwürfe - versteht nicht einmal seine
Position: Arnaud etwa ist durch das Los zum Angeklagten bestimmt worden. Für Dax ein Grund, ihn freizusprechen, für den Richter eine normale Vorgehensweise.
Die Angeklagten sind für ihn keine Personen, sondern exemplarische Opfer. Schuld wird nicht erwiesen - sie
wird zugewiesen. Konsequent findet die Verhandlung in einem Saal des Schlosses statt, dessen Fußboden ein
Schachbrettmuster aufweist - und ebenso konsequent verlässt der Film die Szene noch vor der Verkündung des Urteils, das von vornherein feststand.
Auch ein Versuch von Dax, Broulard zu erpressen, indem er beweist und publik zu machen droht, dass
Mireau während des Angriffs befahl, auf die eigenen Stellungen zu feuern, kann die Exekution nicht verhindern.
Dax glaubt an eine Loyalität zumindest der Generäle untereinander und begreift nicht, dass er Broulard damit die
Munition liefert, Mireau loszuwerden. Broulard hingegen missversteht Dax' Motive, Mireau zu attackieren, als
Karrierismus - als er seinen Irrtum bemerkt, lacht er Dax aus. Das altruistische - das menschliche - Verhalten
des Colonel ist so untypisch für das System, dass es verrückt wirkt.
Die Hinrichtung findet vor versammeltem Regiment statt. Ferol wird von einem Priester begleitet, der ihm sagt,
man dürfe Gottes Willen nicht hinterfragen. Besetzt mit einem Schurkendarsteller aus Western und Gangsterfilmen,
Emile Meyer, erweist sich - wie in Falk Harnacks Unruhige Nacht (1958) - dabei auch der Feldgeistliche als
Rädchen der unmenschlichen Militärmechanik.
Paths of Glory zählt zu den »Hügelfilmen« und gibt einen klassischen Plot vor, der sich - obwohl alle in verschiedenen Kriegen spielen - ähnlich in Lewis Milestones Pork Chop Hill, Peter Weirs Gallipoli, John Irvins Hamburger Hill (1987) oder den beiden Fassungen von The Thin Red Line (1964, Andrew Marton, und 1998, Terrence Malick) wiederfindet: Eine unfähige oder gewissenlose Militärführung lässt unter erheblichen Verlusten eine
strategisch fragwürdige oder sinnlose Operation durchführen. Als Anklage gegen die Ungeheuer im Offiziersrock, deren brutale Machterhaltmethoden sich in erster Linie Linie gegen die eigenen Untergebenen richten,
war er zudem prototypisch etwa für Joseph Loseys K i ng a n d Country (Für König und Vaterland, 1964),
Sidney Lumets The Hill (Ein Haufen toller Hunde, 1965) (in dem der Beweis für die
Befehlsverweigerung des von Sean Connery gespielten Sergeant ebenfalls darin besteht, dass er noch am
Leben ist), Jack Golds Aces High (Schlacht in den Wolken, 1976) und - vierzig Jahre später - sogar für
einen französischen Film, der ihn über weite Strecken direkt zitiert: Yves Boissets Le Pantalon (Fürs
Vaterland erschossen, 1996). Dort findet das Kriegsgericht als Ort der Unrechtsprechung in einer
zweckentfremdeten Kapelle statt.
Tatsächlich schildert der Film primär einen Gesellschaftskrieg, der vor allem auch ein Krieg der
Klassengegensätze ist und den die Befehlshaber gegen alle anderen führen. Die Bourgeoisie nutzt die
Gunst der Stunde, da die Klassenverhältnisse zu Rang- und Machtverhältnissen geworden sind, und
schwingt sich zum neuen Feudaladel auf. Als Dax polemisch vorschlägt, statt dreier beliebiger Soldaten
lieber den Offizier anzuklagen, der für den Angriff verantwortlich ist - er spricht von sich, aber meint Mireau -, stellt Broulard nur fest, dass Offiziere nicht zur Debatte stehen. Die Generäle schachern um
einfache Soldaten wie absolutistische Herrscher um Leibeigene. Der Soldat Ferol etwa wird von seinem
Kompaniechef als Opfer für das Kriegsgericht ausgewählt, weil er »gesellschaftlich unerwünscht« ist.
Der eigentliche Gegner, die Deutschen, spielt kaum eine Rolle und ist nie zu sehen. Deutsche Soldaten
kommen nicht vor - und die einzige Deutsche, die zum Schluss erscheint, ist ein verschüchtertes Mädchen,
das gezwungen wird, vor den Frontsoldaten zu singen. Sie singt das Lied vom »Treuen Husaren«, in das
die gerührten Franzosen summend einstimmen und das den Film als Gegenstück zur Marseillaise
beschließt. Auf der Ebene derer, auf deren Schultern der Krieg ausgetragen wird, entsteht eine klare
emotionale Solidarität über die nationalen Grenzen hinweg. Die Rache des Generals folgt auf dem Fuß:
das Regiment muss zurück an die Front.
Neben All Quiet on the Western Front ist Paths of Glory vielleicht der bedeutendste Film seiner Gattung.
Bodo Traber/Hansjörg Edlin. In: Klein, Thomas u.a. (Hg.): Filmgenres Kriegsfilm. Stuttgart: Reclam 2006,
S. 123 -131
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3. Filmausschnitt: „Aguirre – Der Zorn Gottes“, Werner Herzog (1972):
Eingangssequenzen
G-Kurs: Klassenstufe 11
Der Filmhistoriker Knut Hickethier schreibt über „Aguirre – Der Zorn Gottes“:
Aguirre, der Zorn Gottes BRD 1972 (29. 12. 1972) f 93 min
R: Werner Herzog
B: Werner Herzog
K: Thomas Mauch
M: Popul Vuh
D: Klaus Kinski (Don Lope de Aguirre), Ruy Guerra (Ursüa),Peter Berling (Guzman), Helena Rojo (Inez de Atienza), Del
Negro (Carvajal)
Am Ende des 16. Jahrhunderts ist das spanische Andenheer des Gonzalo Pizarro auf der Suche nach
dem sagenhaften Goldland El Dorado. Nachdem sie das Gebirge überquert haben, kommen sie an einen
der Amazonas-Quellflüsse. Ursüa, einer der Offiziere Pizarros, wird mit Lope de Aguirre und einem
Trupp Soldaten auf einem Floß losgeschickt, den Weg zu erkunden und Proviant zu beschaffen. Auf dem
Floß sind auch Inez und Flores, zwei bildschöne junge Frauen, der Indio Chimalpahin und der junge
Spanier Arnalte. Bald schon kommt es zur Rebellion, als Ursüa umkehren will, während es Aguirre zur
Eroberung des Goldlandes drängt. Er kann durch begeisternde Reden die Soldaten für sich gewinnen,
Ursüa wird erschossen. Da die Soldaten Aguirre fürchten, läßt er den schwachen Offizier Guzman zum
Anführer wählen, der sich bald auch in
einem feierlichen Akt von der spanischen Krone lossagt und zum Kaiser von El Dorado proklamieren
läßt. Doch Aguirre hat als Stellvertreter das eigentliche Kommando auf dem Floß.
Trotz aller Suche kommt das Goldland nicht in Sicht. Sie sehen sich einer unbekannten, feindlichen
Wildnis gegenüber. Indios beschießen sie, unsichtbar, mit giftigen Pfeilen, Piranhas und Alligatoren
bedrohen sie, träge fließt der Fluß dahin, immer breiter und damit immer langsamer werdend, sich
verästelnd, unübersichtlich. Vor allem wenn der Wald abrupt schweigt, wird die Gefahr übermächtig. Die
Mannschaft ist schon dezimiert, als sie schließlich eine Siedlung finden und diese überfallen. Aber das
Goldland ist dies immer noch nicht. Wiederholt ruft Aguirre die Soldaten zu noch größeren Eroberungen
auf, während sie der Urwald nach und nach zermürbt. Das Goldland erscheint nur als ihre
Wahnvorstellung, als Projektion. Häufig kommt es zu Streit und Aufruhr zwischen den inzwischen auf den
Tod geschwächten wenigen Überlebenden. Am Ende treibt das Floß träge in das Amazonasdelta hinaus.
Exotische Opulenz prägt den Film, dessen handlungsbetonter Beginn nach und nach in beklemmenden
Bildern des Zerfalls, der Verwesung und des grausamen Todes übergeht. Die rostbesetzten Rüstungen, die
schimmelnden Stoffe, die abgehärmten Gesichter mit dem oft wüsten Blick, die farbige Kleidung der
Indios, der träge immergrüne Urwald und zwischen allem die Bilder der beiden Frauen in ihren kostbaren
Hofgewändern entwickeln ein ästhetisches, sinnlich pralles Eigenleben. Herzog sucht immer wieder die ruhigen Bilder, die Komposition der Gegenstände und Figuren. Das Treiben auf dem Floß führt zu quälend
inaktiven Situationen, aus denen sich im eruptiven Zusammenprall die Menschen Luft zu schaffen
versuchen. Das desolate Ende der Handvoll Eroberer ist bereits früh absehbar, seine Erwartung wird
gesteigert durch die dämonische Figur des Aguirre, von Klaus Kinski gespielt, der inmitten der Spanier
und Indios wie ein Magier aus einer fremden Welt agiert.
Die Atmosphäre der Bedrohung, der unwirklichen und ungreifbaren Gewalt der Natur steht gegen das
wahnwitzige Unternehmen europäischer Eroberer, die sich der Lächerlichkeit ihrer kleinlichen
Eroberungsrituale nicht bewußt sind. Als Guzman auf einem gezimmerten Thron sich zum Kaiser von El
Dorado proklamieren läßt, hat das mehr als komische Züge; als er auf dem Floß mit den letzten
Nahrungsvorräten schlemmt, während die Soldaten schon auf karge Ration gesetzt sind, wird das
Unwirkliche dieser Flußfahrt überdeutlich.
Herzog gelingt hier ein tragikomisches Bild des europäischen Kolonialismus, der sich in seiner Goldgier
die Welt aneignen will und darin untergeht. Der Tod kommt oft unauffällig, fast alltäglich. Im Scheitern
der Eroberer sah Herzog »ein ganz modernes, heutiges Thema«. In den Theatercoups Aguirres, der
Inszenierung von Macht bei einem solchen kleinen Expeditionscorps, den miesen Tricks und Manövern wird
die Erbärmlichkeit der Eroberer deutlich. Hinter dem »Spektakel an der Oberfläche«, das Aguirre, der
Zorn Gottes auch sein will, steckt eine großangelegte Zivilisationskritik. Bizarr ist immer wieder das Pferd
auf dem Floß, dessen Ausbruchsversuche zusätzliche Verwirrung stiften. Als es schließlich ausgesetzt
wird, ist auch ein Stück der europäischen Machtinszenierung verloren, Aguirre weiß, als er das Pferd
zurückbleiben sieht, daß es keine Rückkehr mehr geben wird.
Gesteigert durch sphärenartige Musik der Popgruppe Popol Vuh wird die Vergeblichkeit der westlichen
Bemühungen um Fortschritt, um Europäisierung und Christianisierung deutlich; die mythischen
Dimensionen verweisen auf die zivilisationskritischen Momente in anderen Filmen Herzogs, z. B. in
seinem Kaspar-Hauser-Film Jeder für sich und Gott gegen alle. Die Floßfahrt als Metapher für den
langsamen Untergang des christlichen Abendlandes, im historisierenden Dekor, aber zugleich ins überzeitlich Allgemeine transformiert, wirkt heute manchmal etwas pathetisch, weil die hier so satt und machtvoll
inszenierte Natur (gerade auch im Akustischen) nicht die Alternative zur Zivilisation bedeuten kann. Die
Beschwörung des Mythos erscheint fast fatalistisch. K H.
Drehbuch: Herzog, Werner: Drehbücher II. München 1977. Literatur: Herzog / Kluge / Straub. München/Wien 1976.
(Reihe Film. 9.) - Werner Herzog. München/Wien 1979. (Reihe Film. 22.)
4
Knut Hickethier. In: Koebner, Thomas u. a. (Hg.): Filmklassiker. Stuttgart: Reclam 2002, S. 286 – 289
22
4.: Filmausschnitte: „Aus einem deutschen Leben“, Theodor Kotulla (1976/77):
a)Trailer b) 1920: Im Freikorps c) 1942: In Auschwitz d) 1946: Im Verhör
G-Kurs: Klassenstufe 12
Kurzbiografie von Rudolf Höß
Höß, Rudolf. Kommandant von Auschwitz.
* 25. 11. 1900 Baden-Baden. 1922 NSDAP, 1923 wegen Mittäterschaft bei Fememord zu 10 Jahren Haft
verurteilt, 1928 amnestiert. Wie Himmler und Darre Mitglied im völkischen Bund Artam. 1934 SSUnterscharführer in Dachau, ab August 1938 Adjutant. Dezember 1939 Schutzhaftlagerführer Sachsenhausen.
1 .5.1940 (bis 9.11.1943) Kommandant von Auschwitz. Juli 1942 SS-Obersturm bannführer. Dezember
1943 Leiter des Amts D I(Zentralamt) im SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt. Ab 8.5.1944 erneut in
Auschwitz wegen des geplanten Massenmords an mehr als 400 000 ungarischen Juden. 1945 unter dem Namen
Franz Lang auf Sylt abgetaucht. Am 11.3. 1946 nahe Flensburg von brit. Militärpolizei verhaftet. Am 25. 5.1946
an Polen ausgeliefert. Höß in polnischer Haft: »Ja, ich war hart und streng. Doch niemals war ich grausam nie habe ich mich zu Mißhandlungen hinreißen lassen.« Und: »Heute sehe auch ich ein, daß die Judenvernichtung falsch, grundfalsch war. Gerade durch diese Massenvernichtung hat sich Deutschland den Haß der
ganzen Welt zugezogen. Dem Antisemitismus war damit gar nicht gedient, im Gegenteil, das Judentum ist
dadurch seinem Endziel viel näher gekommen.« Todesurteil 2.4.1947 in Warschau. τ Hinrichtung 16.4.1947 in
Auschwitz.
Ernst Klee: das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945.
Frankfurt/M: S. Fischer 2003, S. 263
Die Filmjournalisten Ulrich Döge und Peter W. Jansen schreiben über „Aus einem deutschen
Leben:
1976/77. Aus einem deutschen Leben
R, B: Theodor Kotulla, nach dem Roman »La mort est mon metier« von Robert Merle und den autobiografischen
Aufzeichnungen »Kommandant in Auschwitz« von Rudolf Höss. - K: Dieter Naujeck. - K -Ass: Jürgen Hasenack. Sch: Wolfgang Richter. - Sch-Ass: Gabriele Friedrichs, Christa Hellwig. - T: Manfred Oelschlegel. - T-Ass: Hans
Pampuch. - M: Eberhard Weber. - A: Wolfgang Schünke. - Ko: Uta Wilhelm. - Ma: Gerd Schuberth, Annette
Groschupp. - Re: Wolfgang Friedrich, Hajo Jürgens. - SE: Günter Scheit, Karl Baumgartner. - St: Harald Kratzer. R-Ass: Inge Richter. - D: Götz George (Franz Lang), Elisabeth Schwarz (Else Lang), Kurt Hübner (Oberst
von Jeseritz), Kai Taschner (Franz Lang als Junge, 1916-18), Sigurd Fitzek (Hauptmann Günther), Peter
Franke (Schrader), Wilfried Elste (Arbeiter Siebert), Hans Korte (Heinrich Himmler), Matthias Fuchs
(Sturmbannführer Kellner), Walter Czaschke (Obersturmbannführer Eichmann), ClausDieter Reents (Ordonnanz
Setzler), Werner Schwuchow (Obersturmführer), Anke Tegtmeyer (Oberschwester), Elisabeth Stepanek (Junge
Krankenschwester), Thesi Höflich (Mädchen Bertha), Priska Höflich (Mädchen Hilde), Evelyn Matzura (Mutter
Lang), Hermann Günther (Soldat Schmitz), Yaak Karsunke (Unteroffizier), Peter Petran (Arbeiter Karl), Werner
Eichhorn (Arbeiter Erich), Peter Moland (Arbeiter Henckel), Martin Ripkens (Angestellter), Dietrich Kerky (Leutnant
im Freikorps), Claus Enskat (SA-Mann Freddie), Wolfgang Müller (SA-Mann Otto), Brigitte Janner (Magd), Claus
Fuchs (Geschäftsführer), Folke Wiegers (Kadow), Josef Quadflieg (Georg), Hans Schulze (Amerikanischer
Oberstleutnant), Klaus Münster (Landarbeiter). - P: Iduna Film GmbH, München/Westdeutscher Rundfunk, Köln.
- Pd: Nils C. Nilson. - Red: Volker Canaris (WDR). - PI: Fred Ilgner. - Al: Hans D. Adenacker, Johannes Göbel. Dz: 11.10.1976 bis 18.12.1976 (44 Tage). - Do: Worpswede, Munsterlager, Polnisches Nationalmuseum des
Konzentrationslagers Auschwitz, Paderborn, München, Bramstedt (Hof Gackau), BarghornNord (Altes Gehöft
und Haus Marienthal), Osterholz-Scharmbeck (Landgasthof), Schloss Frens in Ichendorf, Rheinbach
(Gefängnis und Amtsgericht), Duisburg (Arbeitersiedlung), Köln (Amtsgericht, Weidengasse, Rolandstraße),
Burg Gleuel, Düsseldorf (Regierungsgebäude, Plenarsaal), Bergisch Gladbach (Rathaus), Studio Brauweiler. F: 16 mm, Eastmancolor (Kinofassung aufgeblasen auf 35 mm). - OL: 145 min. (Kinofassung); 140 min. (TV-
23
Fassung). - U: 30.6.1977, 7. Internationales Forum des Jungen Films, Berlin (Atelier am Zoo). - KS:
18.11.1977, Frankfurt am Main (Olympia), Köln (Intimes Theater). - TV: 4.2.1979 (ARD).
Anmerkungen: Kai Taschner als junger Franz Lang wird von Götz George synchronisiert. - Deutscher Filmpreis
1978 (Sparte Weitere programmfüllende Spielfilme), Filmband in Silber, Prämie 300.000 DM.
AUS EINEM DEUTSCHEN LEBEN (1976/77). 1916: Der 16-jährige Schüler Franz Lang, freiwilliger Putzer im
Lazarett, will unbedingt an die Front. - 1917: Bei einem Einsatz in vorderster Linie, wo er in aussichtsloser Lage
einen alten Soldaten zum Bleiben zu zwingen versucht, überlebt er als Einziger. Er wird Unteroffizier. - 1919: Lang
findet Arbeit in einer Fabrik. Er befolgt nicht die Aufforderung der Gewerkschaft, mit Rücksicht auf einen älteren
Arbeiter langsamer zu arbeiten. Er und sein Freund Schrader schlagen den Gewerkschaftssprecher nieder. Sie
werden entlassen. - 1920: Lang im »Freikorps Rossbach«, das gegen streikende Arbeiter eingesetzt wird. Unter
den Gefangenen ein Freund von der Front. Als der zu fliehen versucht, wird er von Lang erschossen. - 1922:
Lang, der jetzt auf einer Baustelle als Träger arbeitet, tritt in die NSDAP ein. - 1923: In Mecklenburg Mitglied einer
privaten Truppe, von Gutsbesitzern zum Schutz gegen Kommunisten engagiert, erschießt Lang einen von
anderen zusammengeschlagenen »Verräter«. - 1924: Zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, liest Lang Hitlers Buch
»Mein Kampf«. - 1928: Nach fünf Jahren wird Lang amnestiert, bekommt durch Vermittlung der Partei Arbeit auf
einem Gut in Pommern und vom Gutsbesitzer, einem ehemaligen Oberst, einen maroden Bauernhof, den er
wieder herrichtet, zur Pacht und die Else zum Heiraten. Der Oberst bringt ihn mit Himmler zusammen. - 1934:
Himmler bietet Lang eine Karriere als Kommandant eines Konzentrationslagers an: dort sei er, mit seinen
Erfahrungen aus dem Zuchthaus, der Partei am nützlichsten. Diesem Argument beugt sich auch seine zögernde
Frau. - 1941: Lang, inzwischen Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz, wieder bei Himmler, der ihm
die Hauptaufgabe bei der »Endlösung der Judenfrage« überträgt. - Eichmann in Auschwitz, er informiert Lang
über die künftige Menge der Transporte, die er zu »behandeln« habe. - Else Lang zeigt sich beglückt, in einem
Häftling einen guten Gärtner gefunden zu haben, der sie mit Blumen versorgt. Häftlinge, in einen Keller gesperrt,
hören Exekutionen vor der Schwarzen Wand. SS-Leute gehen nach getaner Arbeit auseinander. - Lang ist entsetzt
zu sehen, dass seine Kinder KZ-Häftlinge spielen. - Durch Zufall entdeckt Lang das Schädlingsvernichtungsgas
Zyklon. - 1942: Himmler in Auschwitz. Mit Lang und anderen SS-Offizieren sieht er zu, wie Häftlinge angeblich
zum Duschen in die Gaskammer geführt werden. Auf dem Dach der Kammer schüttet ein SS-Mann die
Gaskristalle durch eine Luke ins Innere des Gebäudes. - Lang wird zum Obersturmbannführer befördert. Durch die Unachtsamkeit eines Besuchers, es ist der Kulmhof-Kommandant Kellner, erfährt Else Lang zum ersten
Mal, worin die Arbeit ihres Manns in Auschwitz besteht. Als sie ihn zur Rede stellt, beruft sich Lang auf seine
Befehle; es sei ihm physisch unmöglich, einem Befehl nicht zu gehorchen. - Lang studiert Baupläne für ein neues
Krematorium. Zu Hause findet er die Tür zum Eheschlafzimmer verschlossen. - Mittagessen im trauten
Familienkreis, Else blickt ihren Mann mit einem Lächeln an. Im Büro trägt er die inzwischen auf fast
10.000 gestiegene »Tagesleistung« der Krematorien in sein Notizbuch ein und verbrennt den Zettel mit der
Meldung. Seine Frau, die einen Kinderwagen mit Kleinkind am Haus der Kommandantur vorbei schiebt, grüßt
er, ans Fenster getreten, mit einem Nicken, stumm, freundlich, selbstbewusst, ganz Mann. - 1946: Von einem
deutsch sprechenden amerikanischen Offizier verhört, beruft sich Lang auf seine Befehle und erklärt, er habe
an die Juden nicht als Menschen gedacht, sondern als Einheiten; seine Aufgabe sei für ihn eine rein technische
gewesen; er empfinde nichts Besonderes. - Von den Amerikanern den Polen übergeben (wie es in einem Insert
heißt), verfasst Lang (vor der Hinrichtung Ende 1947) seine Lebenserinnerungen. »Der Vernichtungsvorgang in
Auschwitz-Birkenau wickelte sich wie folgt ab ...« Ausgedehnte Seitwärtsfahrt der Kamera am Gelände des
Lagers vorbei; Vorwärtsfahrt über die Eisenbahngleise zur Rampe. Luftaufnahme, stumm.
Ulrich Döge (Filmbiografie), Peter W. Jansen (Filmbeschreibung). In: Aurich, Rolf u.a. (Hg.): Theodor
Kotulla. Regisseur und Kritiker. München 2005 (edition text+kritik, Film & Schrift Band 1), passim
24
Schon 1952 erschien ein Roman des französischen Schriftstellers Robert Merle über Rudolf Höß, den
Kommandanten von Auschwitz:
Es kam nicht selten vor, daß wir unter den gefangenen Spartakisten ehemalige Kameraden aus den
Freikorps entdeckten, die durch die jüdische Propaganda irregeführt worden waren. Ende April traf ich
in Düsseldorf unter einem Dutzend roter Arbeiter, die ich zu bewachen hatte, einen gewissen Henckel
wieder, der in Thorensberg und in Mitau an meiner Seite gekämpft hatte. Er lehnte mit seinen Kameraden
5
an einer Mauer, der Verband, den er um den Kopf trug, war blutbefleckt, und er sah sehr bleich aus. Ich
sprach ihn nicht an, und es war mir unmöglich zu sehen, ob er mich erkannt hatte. Der Leutnant kam auf
seinem Motorrad an, sprang ab und überflog die Gruppe mit einem Blick, ohne sich ihr zu nähern.
Die Arbeiter saßen längs einer Mauer, regungslos, schweigend, die Hände auf den Knien. Nur ihre
Augen zeigten Leben. Sie waren auf den Leutnant gerichtet. Ich eilte herbei und bat um Befehle. Der
10
Leutnant preßte die Lippen zusammen und sagte: »Wie gewöhnlich.« Ich teilte ihm mit, daß ein
ehemaliger »Baltikumer« dabei sei. Er fluchte zwischen den Zähnen und verlangte, ich solle ihn ihm
bezeichnen. Ich wollte auf Henckel nicht mit der Hand zeigen und sagte: »Der mit dem
Kopfverband.« Der Leutnant sah ihn an und rief leise: »Das ist doch Henckel!« Nach einer Weile
schüttelte er den Kopf und sagte rasch: »Wie schade! Ein so guter Soldat!« Dann bestieg er sein
15
Motorrad, ließ den Motor aufbrummen
und fuhr los. Die Arbeiter sahen ihm nach. Als er um die Ecke der Straße verschwunden war, standen
sie auf, sogar ohne meinen Befehl abzuwarten.
Ich stellte zwei Mann an die Spitze der Kolonne, einen auf jede Seite, und ich selbst beschloß den
Zug. Henckel ging allein im letzten Glied, gerade vor mir. Ich gab ein Kommando, die Kolonne setzte
20
sich in Bewegung. Ein paar Meter marschierten die Arbeiter mechanisch im Gleichschritt, dann sah
ich einige von ihnen fast zur gleichen Zeit den Schritt wechseln, der Marschrhythmus war zum Teufel,
und ich begriff, daß sie es absichtlich getan hatten. Der rechte Begleitmann drehte im Marschieren den
Oberkörper herum und fragte mich mit einem Blick. Ich zuckte die Achseln. Der Mann lächelte, zuckte
seinerseits die Achseln und drehte sichh wieder um.
25
Henckel hatte sich etwas zurückfallen lassen. Er marschierte jetzt rechts neben mir auf gleicher
Höhe. Er war sehr bleich und blickte vor sich hin. Dann hörte ich jemanden ganz leise summen. Ich
wandte den Kopf, Henckels Lippen bewegten sich, ich näherte mich etwas, er warf mir einen
raschen Blick zu, seine Lippen bewegten sich von neuem, und ich hörte: »Wir sind die letzten
deutschen Männer, die am Feind geblieben sind.« Ich fühlte, daß er mich anblickte, und nahm wieder
30
Abstand. Nach ein paar Metern sah ich von der Seite, wie Henckel nervös das Gesicht hob, es
immer mehr nach rechts drehte und nach vorn blickte. Ich blickte in dieselbe Richtung, aber es war
nichts zu sehen als eine kleine Straße, die in unsere mündete. Henckel ließ sich immer weiter
zurückfallen, er war jetzt hinter mir und summte: »Wir sind die letzten deutschen Männer, die am
Feind geblieben sind«, mit leiser, bittender Stimme, aber ich konnte mich nicht entschließen, ihn
35
anzusprechen, um ihm zu sagen, er solle schneller gehen und still sein. In diesem Augenblick kam
links von mir mit lautem Geklapper eine Straßenbahn vorbei, mechanisch drehte ich den Kopf hin, und
im selben Augenblick hörte ich von rechts das Geräusch des Laufschritts, ich drehte mich um:
Henckel lief davon. Er hatte schon fast die Ecke der kleinen Straße erreicht, als ich mein Gewehr hochriß
und schoß: er drehte sich zweimal um sich selbst und fiel auf den Rücken.
40
Ich rief »Halt!«, die Kolonne blieb stehen, ich eilte zu Henckel hin, ein Beben lief durch seinen
Körper, er sah mich starr an. Ohne anzulegen, schoß ich aus weniger als einem Meter Entfernung
noch einmal, ich zielte auf den Kopf, die Kugel schlug auf den Bürgersteig. Zwei Meter von mir
entfernt kam aus einem Hause eine Frau. Sie blieb wie angenagelt mit verstörtem Blick auf der
Schwelle stehen. Ich schoß noch zweimal ohne Erfolg. Schweiß lief mir den Hals herunter, meine
25
45
Hände zitterten. Henckel starrte mich an. Schließlich setzte ich die Mündung der Waffe an seinen
Verband, sagte leise: »Verzeihung, Kamerad!« und drückte ab. Ich hörte einen gellenden Schrei,
ich wandte den Kopf, die Frau hielt ihre schwarzbehandschuhten Hände vor die Augen und schrie wie
eine Verrückte.
Robert Merle: Der Tod ist mein Beruf. Berlin: Aufbau Verlag
12
2008 (frz. 1952, dt. 1957), S.111-113
Der amerikanische Gerichtspsychologe Gustave M. Gilbert führte mit den Angeklagten im Nürnberger
Hauptkriegsverbrecher-Prozess und anderen NS-Verbrechern, so u. a. Rudolf Höß, Gespräche, die er in
einem Tagebuch festhielt:
Kommandant von Ausschwitz
Höß' Zelle: Als Vorbereitung auf Kaltenbrunners Verteidigung untersuchte ich Rudolf Franz Ferdinand
Höß, 46, den Kommandanten des Konzentrationslagers Auschwitz, der kürzlich gefangengenommen
worden war.
Nachdem sein Test abgeschlossen war, unterhielten wir uns kurz über seine Tätigkeit in der Zeit von
5
Mai 1940 bis Dezember 1943 als Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz, des Hauptvernichtungslagers für Juden. Er bestätigte bereitwillig, daß unter seiner Leitung annähernd 2 1/2
Millionen Juden getötet wurden.
Die Vernichtung begann im Sommer 1941. Eingedenk Görings Skepsis fragte ich Höß, wie es
praktisch durchführbar gewesen wäre, 2 1/2 Millionen Menschen zu vernichten. »Praktisch?« fragte
10
er. »Das war nicht so schwierig - es wäre nicht einmal schwierig gewesen, noch mehr Menschen zu
vernichten.« Auf meine etwas naive Frage, wie viele Menschen in einer Stunde umgebracht werden
könnten, erklärte er, man müsse dabei von einem 24stündigen Tag ausgehen, und es sei möglich,
bis zu 10000 Menschen im Zeitraum von 24 Stunden umzubringen. Es waren 6 Vernichtungskammern
vorhanden. In den zwei großen konnten je 2000 Menschen und in den 4 kleineren bis zu 1500
15
Menschen untergebracht werden, was eine Gesamtkapazität von 10000 ergibt. Ich versuchte, mir
auszumalen, wie das vor sich ging, aber er korrigierte mich. »Nein, Sie stellen es sich nicht richtig
vor. Das Töten selbst nahm die wenigste Zeit in Anspruch. Man konnte 2000 Menschen in einer
halben Stunde erledigen, aber das Verbrennen kostete so viel Zeit. Das Töten war leicht; man
brauchte nicht einmal Wachmannschaften, um sie in die Kammern zu treiben; sie gingen einfach
20
hinein, weil sie annahmen, sie würden dort duschen, und statt des Wassers stellten wir Giftgas an.
Das Ganze ging sehr schnell.« Er berichtete über all das in einem ruhigen, apathischen, sachlichen Ton.
lch wollte gern herausbekommen, auf welche Weise der Befehl tatsächlich erteilt worden war und
wie Höß darauf reagiert hatte. Er berichtete darüber folgendermaßen: »Im Sommer 1941 ließ mich
Himmler kommen und erklärte mir: >Der Führer hat die Endlösung der jüdischen Frage befohlen
25
- und wir müssen diese Aufgabe ausführen. Aus verkehrstechnischen und Isolierungsgründen habe ich
Auschwitz dafür ausgesucht. Es ist jetzt an Ihnen, diese harte Aufgabe durchzuführen. < Als Grund
dafür gab er an, es müsse jetzt gemacht werden, denn wenn es nicht geschähe, würden die Juden später
das deutsche Volk ausrotten - das jedenfalls war der Sinn seiner Worte. Aus diesem Grunde müsse
man alle menschlichen Erwägungen ausschalten und nur an die Aufgabe denken - oder so ähnlich.«
30
Ich fragte ihn, ob er nicht seine Ansicht zu dieser Sache geäußert oder Widerstreben bezeugt hätte.
»Ich hatte nichts zu sagen; ich konnte nur >Jawohl!!< sagen. Es war tatsächlich ungewöhnlich, daß er
mich zu sich bestellte, um mir eine Erklärung zu geben. Er hätte mir einen Befehl schicken können, und
ich hätte ihn ebenso auszuführen gehabt. Wir konnten nur eins: Befehle ohne weitere Überlegungen
ausführen. So war es eben. Er verlangte oft unmögliche Dinge, die unter normalen Umständen nicht
26
35
durchgeführt werden konnten. Sobald der Befehl aber erteilt war, machte man sich daran, ihn mit aller
Energie auszuführen, und vollbrachte so Dinge, die unmöglich schienen. Zum Beispiel hatte ich für den
Bau des Weichseldammes in Auschwitz drei Jahre veranschlagt; er gab uns ein Jahr für die Fertigstellung, und wir schafften es.«
Ich drängte ihn, mir mehr darüber zu sagen, wie er auf die Ungeheuerlichkeit seines Vorhabens
40
reagierte. In dem gleichen apathischen Ton fuhr er fort: »Im ersten Augenblick konnte ich die ganze
Sache noch nicht überblicken. Aber später bekam ich eine Vorstellung von ihrem Ausmaß. Ich dachte
jedoch nur an die Notwendigkeit, als mir der Befehl gegeben wurde.« Ich fragte ihn, ob er sich nicht
weigern konnte, einen Befehl auszuführen. »Nein, nach unserer ganzen militärischen Ausbildung
kam uns der Gedanke, einen Befehl zu verweigern, einfach nicht in den Sinn - unabhängig davon,
45
was für ein Befehl ... Ich nehme an, Sie können unsere Welt nicht verstehen. Natürlich hatte ich
Befehlen zu gehorchen. Und jetzt muß ich dafür die Konsequenzen tragen.« Was für Konsequenzen?
»Nun, daß sie mich vor Gericht stellen und aufhängen, natürlich.« Ich fragte ihn, ob er sich nicht über
die Konsequenzen schon damals klar gewesen wäre, als er den Auftrag übernahm. »Damals gab es
keine Konsequenzen zu erwägen.
50
Es kam mir überhaupt nicht in den Sinn, daß ich zur Verantwortung gezogen werden würde. Sehen
Sie, in Deutschland galt es als selbstverständlich, daß, wenn etwas schiefging, der Mann, der den
Auftrag erteilt hatte, verantwortlich war. Deshalb dachte ich nicht daran, daß ich einmal zur
Verantwortung gezogen werden würde. «
»Aber die menschliche -« wollte ich fragen.
55
»Das hat damit gar nichts zu tun«, war die klipp und klare Antwort, bevor ich überhaupt die Frage
ganz stellen konnte. Ich fragte ihn, ob er nicht gleich, als er die Sache anfing, glaubte, wegen Mordes
aufgehängt zu werden. »Nein, nie.« »Wann ist Ihnen zuerst der Gedanke gekommen, daß Sie wahrscheinlich vor Gericht gestellt und aufgehängt werden würden?« »Beim Zusammenbruch - als der Führer
starb.«
Gustave M. Gilbert: Nürnberger Tagebuch. Gespräche der Angeklagten mit dem Gerichtspsychologen.
Frankfurt/M.: Fischer
12
2004 (amerik. 1947, dt. 1962)
Der Historiker und Journalist Laurence Rees schreibt 2005 in seinem Buch „Auschwitz – Geschichte eines
Verbrechens“:
Was die SS-Führung möglicherweise noch mehr beunruhigte, war die Tatsache, daß Morgen nicht nur
Fälle von Diebstahl, Unterschlagung und Bestechlichkeit aufdeckte, sondern auch auf Hinweise für sexuelle
Vergehen stieß. Am schockierendsten war wohl die Nachricht, daß sogar Lagerkommandant Rudolf Höß
eines solchen Vergehens bezichtigt wurde. Morgen war ein hartnäckiger Ermittler und ging den Beschuldi5
gungen gegen Höß über ein Jahr lang nach. Im Oktober 1944 vernahm er in einem Gefängniskrankenhaus in München eine Zeugin: die ehemalige Auschwitz-Gefangene Eleonore Hodys.
Die Österreicherin war im März 1942 mit den ersten Frauentransporten nach Auschwitz gebracht
worden. Da sie eine politische Gefangene war und als »Reichsdeutsche« eingestuft wurde, räumte man ihr
von Anfang an eine privilegierte Stellung im Lager ein. Höß stellte sie als Dienstmädchen an. Im Mai 1942,
10
als seine Frau einmal nicht zu Hause war, näherte sich der Hausherr Hodys und versuchte sie zu küssen.
Erschrocken lief sie fort und schloß sich in der Toilette ein Als Höß sich einige Wochen später im Krankenhaus
von einem Reitunfall erholte, berichtete Hodys weiter, bestellte Frau Höß sie zu sich, um ihr
mitzuteilen, daß sie entlassen sei. Es ist durchaus möglich, daß Frau Höß Verdacht geschöpft hatte
und verhindern wollte, daß ihr Mann mit Hodys anbändelte. Kurz darauf wurde Hodys inhaftiert;
27
15
allerdings wurde sie nicht in Block 11 untergebracht, sondern in einem Sondergefängnis im Keller der
Lagerhauptverwaltung, das hauptsächlich für SS-Soldaten bestimmt war, die sich schwerer Vergehen schuldig
gemacht hatten. Es war merkwürdig, daß man einen gewöhnlichen Lagerhäftling dort unterbrachte. Doch
Hodys war kein gewöhnlicher Lagerhäftling; man hatte sie aus einem ganz bestimmten Grund in das SSGefängnis überstellt.
20
Eines Morgens, so erzählte sie Morgen, sei Höß plötzlich in ihre Zelle gekommen, als sie noch schlief. Er habe
sie zur Ruhe ermahnt, sich auf das Bett gesetzt und schließlich versucht, sie zu küssen. Nach ihrer Weigerung
habe er gefragt, warum sie sich so ziere. Schließlich sei er gegangen.
20
Nach längerer Befragung gestand
Hodys schließlich, daß Höß noch mehrere Male nachts in ihre Zelle gekommen sei und daß sie schließlich
auch Verkehr gehabt hätten. Um die SS-Wachen zu umgehen, war Höß nicht wie üblich von seinem
25
Büro aus in das Gefängnis hinuntergegangen, sondern hatte einen »Schleichweg« durch seinen Garten
und einen unterirdischen Luftschutzraum genommen, der direkt an den Keller angrenzte. Nachdem
Hodys Widerstand gebrochen war, hatte Höß mehrmals mit ihr geschlafen. Hodys erzählte sogar, daß
einmal mitten in der Nacht ein Alarm losgegangen und der Kommandant nackt aus dem Bett gesprungen
sei, um sich in einer Ecke der Zelle zu verstecken.
30
Nach einigen Wochen wurde Hodys in Block 11 verlegt. Dort machte sie eine schlimme Entdeckung:
Sie war schwanger. Sie berichtete, daß Höß sie gezwungen habe, eine schriftliche Erklärung zu
unterschreiben, in der sie bekannte, mit einem anderen Lagerhäftling geschlafen zu ha ben. Sie unternahm
einen Abbruchversuch, der jedoch mißlang. Nachdem man sie einige Monate später ins Frauenlager in
Birkenau entlassen hatte, gelang es ihr schließlich, »etwas« zu organisieren, um den Fötus abzutreiben.
35
Die Tatsache, daß Hodys die einzige Zeugin für die von ihr geschilderten Vorfälle ist, stellt zweifellos ein
Problem dar. Doch Morgen schien ihr geglaubt zu haben, und er war schließlich ein erfahrener Jurist.
Zudem hätte Hodys keinen wirklichen Vorteil aus einer erfundenen Affäre mit Höß ziehen können, vor allem,
da sie zum Zeitpunkt ihrer Vernehmung bereits aus Auschwitz entlassen worden war. Höß bekannte
sich nie zu seinem Verhältnis mit Hodys, doch seine widersprüchlichen Aussagen über seine Ehe
40
sprechen
nicht
unbedingt
für
ihn.
Bei
seiner
Vernehmung
durch
den
amerikanischen
Gerichtspsychologen Dr. Gilbert in Nürnberg gestand er, daß er und seine Frau kaum noch
miteinander geschlafen hätten, nachdem sie erfahren hatte, worin seine Arbeit in Auschwitz bestand. In
seinen Lebenserinnerungen jedoch schwärmt er in höchsten Tönen von seiner Ehe und spricht von seiner
Frau als der Partnerin, die er sich immer »erträumt« habe.
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Morgens Ermittlungen im Fall Höß verliefen ergebnislos.
Anmerkung: Konrad Morgen, Sturmbannführer der Waffen-SS, im Mai 1943 vom Reichskriminalpolizeiamt in
Berlin zur Aufdeckung von Korruptionsfällen in Konzentrationslagern eingesetzt.
Laurence Rees: Auschwitz. Geschichte eines Verbrechens. Augsburg: Weltbild 2008, S. 266-268 (engl. U.
dt. 2005)
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