Todesschatten

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Todesschatten
Carina Mader
Todesschatten
Roman
LESEPROBE
© 2014 AAVAA Verlag
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2014
Umschlaggestaltung: AAVAA Verlag
Coverbild: Carina Mader
Printed in Germany
AAVAA print+design
Taschenbuch:
Großdruck:
eBook epub:
eBook PDF:
Sonderdruck:
ISBN 978-3-8459-1307-0
ISBN 978-3-8459-1308-7
ISBN 978-3-8459-1309-4
ISBN 978-3-8459-1310-0
Mini-Buch ohne ISBN
AAVAA Verlag, Hohen Neuendorf, bei Berlin
www.aavaa-verlag.com
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Alle Personen und Namen innerhalb dieses eBooks sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Kapitel 1
„Der Tod ist nichts“, sagte sie mir.
Ich schmettere meinen Schulranzen ins Eck,
greife nach meiner Jacke und eile die Treppe
hinunter. Dann drücke ich meiner Großmutter
einen Kuss auf die Stirn, winke und renne aus
dem Haus. In der Garage schnappe ich mir
das Rad, ich bin auf dem Weg ins Krankenhaus, denn ich muss meine Schwester besuchen. Den Weg durch die Stadt kenne ich besser als meine eigene Hosentasche, schließlich
fahre ich ihn jeden Tag. Denn meine Zwillingsschwester ist krank. Wirklich krank. Sie
hat Krebs, genaugenommen Leukämie. Aber
sie spricht wirklich gut auf die Therapie an,
manche Ärzte glauben sogar, dass sie wieder
gesund werden könnte. Ich lächle bei dem
Gedanken an meine Schwester, ich liebe sie,
sie ist alles, was ich noch habe. Denn unsere
Eltern sind beide bei einem Autounfall ums
Leben gekommen. Damals waren wir zwölf.
Heute, drei Jahre später, leben wir bei unserer
Großmutter. Ich bin oft traurig und muss jeden Tag Tabletten gegen die Depressionen
nehmen. Das hilft mir zwar, die Trauer teilweise zu verdrängen, aber da ist sie trotzdem
noch.
Nachdem ich am Krankenhaus angekommen
bin, schließe ich das Fahrrad ab. Dann nehme
ich die Schokolade aus dem Korb, weiße
Schokolade mit Smarties, die isst Jo am liebsten.
Ich steuere durch die langen, tristen Gänge
auf Jos Zimmer zu, auch diesen Weg kenne
ich schon auswendig. Bei jedem Schritt schaue
ich auf meine Füße, ich will es mir nicht antun, die kahlen, weißen Krankenhauswände
anzusehen. Es ist deprimierend. Dann biege
ich um die letzte Ecke und hebe den Kopf.
Mein Blick fällt auf das kleine Schildchen neben der Tür. Josephine Sannler, Zimmer 894.
Meine Schwester ist hier Dauergast. Ich klopfe
an und betrete das Zimmer.
„Abbey!“, ruft Jo, kaum, dass ich zur Tür
herein bin. Ich spüre einen Stich im Herz, als
ich meine Schwester sehe. Sie liegt blass in ihrem Bett, aber als sie meinen traurigen Blick
sieht, richtet sie sich mühsam auf.
„Bleib ruhig liegen“, murmle ich, aber Jo tut
so, als würde sie meine Worte gar nicht wahrnehmen. Haare hat sie keine mehr, aber dafür
Augenbrauen und dieselben dichten, langen
Wimpern wie ich auch. Unter der Bettdecke
zeichnet sich ihr schmaler Körper ab, bei uns
in der Familie waren sowieso schon alle dünn
und klein, aber Jo ist dann doch nochmal eine
Stufe magerer. Ich vermisse ihre langen,
schwarzen Haare, die meinen so geglichen
haben und auch den Glanz in ihren grünen
Augen.
Ich gehe auf sie zu und umarme sie, dann
überreiche ich ihr die Schokolade.
„Hast du keine Hausaufgabe?“, fragt sie,
denn normalerweise erledige ich diese immer
hier, damit Jo nicht allein ist.
„Nein“, sage ich und schüttle den Kopf, „Wir
haben doch seit heute Sommerferien.“ Jo
schlägt sich mit der flachen Hand gegen die
Stirn.
„Wie konnte ich das vergessen?“ Ich zucke
die Achseln und grinse, sie soll nicht merken,
dass mir ihre Vergesslichkeit schon seit längerem auffällt. Dann lasse ich mich auf das leere
Bett gegenüber fallen.
„Wie war dein Zeugnis?“, fragt Jo. Wieder
zucke ich die Achseln. Ich habe nachgelassen,
seit dem Tod unserer Eltern und Jos Krankheit. Aber schließlich habe ich die Versetzung
in die Zehnte ja geschafft…
„Hier“, sagt Jo und bricht ein Stück von der
Schokolade für mich ab. Ich nehme ihr nur
ungern das Essen, sie besteht doch nur noch
aus Haut und Knochen. Aber sie freut sich ja
auch, wenn ich die Schokolade esse. Ich bin
ihr dafür dankbar, dass sie keinen Kommentar
zu meinen Noten abgibt.
Dann schwingt die Türe auf und Schwester
Gabby tritt ein. Ihre langen blonden Haare
hängen wirr aus ihrem Zopf heraus und das
bedeutet, dass sie mal wieder einen anstrengenden Tag hinter sich hat.
„Abigail!“, ruft sie aus, als sie mich erblickt,
„Wie geht es dir?“
„Gut“, antworte ich und setze ein Lächeln
auf. „Und dir?“
„Ach, es ist stressig heute“, seufzt Gabby und
wischt sich mit dem Handrücken die losen
Haare aus der Stirn. „In der Entbindungsstation ist heute ein Frühchen an einer Infektion
gestorben. Jetzt sind natürlich sämtliche Ärzte
da, um aufzuklären, ob es sich hier auf der
Station angesteckt hat, oder es die Infektion
schon sein Leben lang herumgetragen hat…“
Ich schaue sie bestürzt an, mir tun die Eltern
des Kindes auch so leid.
„Wie geht es der Mutter?“, frage ich sanft.
„Ach, kannst du dir ja vorstellen. Völlig fertig, der Vater auch. Die Armen, nicht?
Schlimm…“ Gabby wendet sich Jo zu, die
dem Gespräch mit düsterer Sorgenfalte zugehört hat.
„Ich muss dir wieder Blut abzapfen“, meint
Gabby entschuldigend und wechselt damit
das Thema, aber ich weiß, dass das Jos kleinstes Problem ist. Ich presse die Augen zusammen, während Gabby ihr das Blut abnimmt
und öffne sie erst wieder, als die Schwester
den Raum verlassen hat. Jo verdreht die Augen, aber ich ignoriere sie.
„Was machst du so in den Ferien?“, will Jo
wissen. Ich weiche ihrem Blick aus.
„Weiß nicht… eigentlich nichts…“
„Abigail!“, ermahnt mich meine Schwester
und schaut mich eindringlich an. „Ich wünsche mir von dir, dass du etwas unternimmst!
Geh ins Kino oder mit den anderen ins
Schwimmbad! Mit Luke oder so, der wartet
doch nur drauf!“
„Aber ich kann doch auch dich besuchen…“
Jetzt wird Jos Blick doch weich.
„Ja, kannst du ja auch. Am Vormittag für eine
Stunde oder so. Aber doch nicht den ganzen
Tag! Ich kann mich auch selbst beschäftigen.
Ich schreibe mit meinen alten Freunden,
skype mit Tante Rose in Berlin, schaue irgendeinen Scheiß im Fernsehen, höre Musik,
male etwas… Aber du musst auch mal was
machen!“ Wieder muss ich verlegen auf meine Schuhe schauen, denn sie hat eigentlich
recht. Aber ich will gar nichts anderes tun.
„Ich kann Luke ja mal fragen…“, meine ich
vage, dabei denke ich gar nicht daran. Dabei
habe ich das mit Luke schon seit über einem
Jahr geklärt. Ich kann jetzt unmöglich wieder
bei ihm antanzen. Aber meine Worte beruhigen Jo ein bisschen und sie wechselt wieder
das Thema.
Ich verbringe den ganzen Nachmittag bei ihr,
wie immer, aber heute verspreche ich ihr
nicht, dass ich morgen da bin. Das würde sie
nur aufregen. Ich verabschiede mich von Jo
und gehe dann.
Draußen auf dem Gang ist jetzt um diese
Uhrzeit viel los. Ich schiebe mich zwischen
Schwestern, Ärzten, Abendbrotwägen und
Besuchern hindurch und bin froh, als ich
draußen bin. Obwohl es schon nach sieben ist,
ist es noch ziemlich schwül. Kein Windchen
weht und ich habe keine Lust, Fahrrad zu fahren. Aber weil mir nichts anderes übrig bleibt,
öffne ich schließlich doch das Schloss und mache mich auf den Weg nach Hause.
Ich fahre gerade gedankenverloren über eine
Kreuzung, als ich plötzlich einen schnellen
Radfahrer von links wahrnehme. Ich bremse
heftig ab, aber es ist für uns beide zu spät. Er
fährt voll in mein Vorderrad und wir kippen
um. Ich habe die Augen fest zusammengepresst, aber der Schmerz durchzuckt mich
trotzdem. Das Fahrrad ist voll auf mich
draufgeknallt und der Radfahrer von links
liegt stöhnend eingeklemmt zwischen den
Reifen. Er registriert, dass er meinen Fuß platt
macht und steht schnell auf. Als er mich so
demoliert am Boden sieht, rauft er sich niedergeschlagen die Haare, die dunkelblond in
alle Richtungen abstehen. Ich mustere ihn
schnell, groß, aber nicht riesig, muskulös, aber
nicht protzig, stechend blaue Augen, gerade,
schmale Nase, schmale Lippen. Ich schätze
ihn auf sechzehn oder siebzehn. Er sieht gut
aus, vor allem jetzt, als er mich so entschuldigend anlächelt. Und jetzt erkenne ich ihn
auch, er ist aus der Klasse über mir.
Mittlerweile haben ein paar andere Autos angehalten, eine Frau ist zu uns herüber gekommen.
„Oh Gott, was ist passiert?“, fragt sie hysterisch und hilft dem Jungen schnell, das Fahrrad von meinem Körper zu ziehen. Ich schaue
an mir herunter, meine Beine haben viel abbekommen, weil ich nur abgeschnittene kurze
Hosen anhabe und auch meine Arme sind
ziemlich verkratzt, ich trage nur ein dünnes
Top. An beiden Knien habe ich eine Schürfwunde, die aber nicht so schlimm ist. Meine
Schienbeine sind blutig und aufgeschürft, an
meinem linken Oberschenkel prangt ein hübscher Bluterguss. Auch meine Ellenbogen sind
wund und schmerzen. Aber alles sind, Gott
sei Dank, nur oberflächliche Wunden.
Unsere Familie scheint das Unglück förmlich
anzuziehen, stelle ich in Gedanken fest.
Der Junge nimmt jetzt meine Hand und zieht
mich vorsichtig hoch, er hat nur einen Kratzer
je an Ellenboden und Knie abbekommen. Ich
bedanke mich und erkläre der Frau vier Mal,
dass alles in Ordnung sei, ehe sie wieder zurück zu ihrem Auto geht.
„Oh man, tut mir echt leid!“, sagt der Junge
zum x-ten Mal.
„Schon gut“, winke ich ab, obwohl mein Knie
höllisch schmerzt.
„Ich bin übrigens Finn“, stellt er sich dann
mir vor und kramt in seinem Fahrradkorb
nach Pflastern.
„Abigail“, antworte ich trocken. Finn holt eine kleine Dose heraus, die vollgestopft ist mit
Pflastern. Er öffnet sie und besteht darauf,
sich persönlich um mich zu kümmern.
„Das Unglück hat es auf mich abgesehen“,
erklärt Finn mit einem Blick auf die vielen
Pflaster. Ich muss grinsen, denn er passt anscheinend zu mir.
„Da bist du wohl nicht der Einzige“, erwidere
ich deshalb.
„Wieso?“, will Finn wissen und bedeutet mir
mit einer Bewegung, dass ich ihm den Arm
entgegen strecken soll. Ich zögere kurz, doch
dann antworte ich ihm.
„Meine Eltern sind bei einem Autounfall ums
Leben gekommen, vor drei Jahren. Meine
Schwester und ich sind zu meiner Oma gezogen, aber ein halbes Jahr nach dem Unfall
wurde bei Jo Leukämie diagnostiziert.“ Ich
weiß nicht, warum ich das alles erzähle, denn
normalerweise erfahren nicht mal meine
Freunde davon. Naja, seit dem Unfall habe ich
ja auch nicht mehr viele, schließlich habe ich
mich völlig zurückgezogen. Ich schüttle verwundert über meine Antwort den Kopf, denn
irgendetwas an Finn lässt mich ihm vertrauen,
er fasziniert mich auf seltsame Art, aber irgendwie macht mir das auch Angst.
„Oh, das, äh, tut mir wirklich leid. Sorry“,
meint Finn leise mit gesenktem Blick, bevor er
sich wieder verlegen durch die Haare fährt.
Ich räuspere mich.
„Ist schon gut“, sage ich dann schwach,
„Mittlerweile kann ich davon sprechen.“ Es
folgt kurzes Schweigen, dann schaut Finn
wieder zu mir und lächelt.
„Nur noch die Knie“, erklärt er. Ich bringe ein
schwaches Lächeln zustande, dann reiche ich
Finn noch ein Pflaster.
„Tut es arg weh?“, fragt er.
„Nein, gar nicht mehr“, lüge ich, weil ich ihm
kein schlechtes Gewissen bereiten will.
„Sag doch gleich ja. Wo wohnst du?“, fragt
Finn.
„Hinterm Wald“, antworte ich und weise mit
der Hand vage in die Richtung. Finn zieht
entschlossen die Augenbrauen hoch.
„Du willst jetzt durch den Wald durch!?“,
stellt er dann fest. Ich zucke mit den Schultern.
„Ich kann nicht drüber fliegen.“
„Kommt gar nicht in Frage. Es wird bald
dunkel und ein Mädchen kann nicht verletzt
im Dunkeln durch den Wald“, widerspricht
Finn.
„Und was soll ich machen?“, frage ich, „Ich
kann ja schlecht hier übernachten.“ Ein Lächeln huscht über Finns Gesicht, ehe er
spricht.
„Dann begleite ich dich eben.“
„Fahren kann ich mit dem da…“ Ich nicke in
Richtung meines verbeulten Fahrrads. „…Eh
nicht mehr. Und zu Fuß bin ich eine halbe
Stunde unterwegs. Du würdest dir den ganzen Abend versauen“, halte ich skeptisch dagegen.
„Nein!“, wehrt Finn ab, „Vor allem nicht,
wenn du auch noch dein Fahrrad schieben
musst. Was soll ich eigentlich dafür zahlen?
Du hattest Vorfahrt.“ Ich schaue nachdenklich
auf das alte Schrottteil.
„Nichts“, sage ich dann, „Es war eh nichts
mehr wert.“ Finn schüttelt den Kopf, aber ich
lasse ihn nicht zu Wort kommen. „Ich wollte
es sowieso weggeben. Ich bekomme das von
meiner Schwester. Die kann nicht mehr fahren.“ Das ist nicht einmal gelogen. Finn schaut
mich stirnrunzelnd an.
„Dann habe ich aber ein schlechtes Gewissen.“
„Ach was“, sage ich, „Ich wollte das Teil sowieso loswerden.“ Finn schaut noch immer
skeptisch, aber ich wende mich einfach ab
und klaube mein Fahrrad auf. Oder das, was
noch übrig ist.
„Dann ist das Mindeste, was ich für dich tun
kann, dich nach Hause zu begleiten.“ Seufzend gebe ich schließlich nach und wir machen uns zu Fuß auf den Weg. Eine Weile lang
laufen wir schweigend den Weg entlang,
dann räuspert sich Finn irgendwann.
„Wenn ich dich das fragen darf…“, fängt er
verlegen an, „…Wie geht es deiner Schwester,
mit…, du weißt schon…“ Ich schaue überrascht zu Finn hoch, seine Frage kam unerwartet. Aber ich antworte ihm.
„Naja, eine Zeit lang war es wirklich
schlimm. Nach den ganzen Therapien hat sie
halt ihre Haare verloren, das ist für uns beide
am Schlimmsten. Aber mittlerweile ist es besser geworden und wir sind alle optimistisch.“
Finn antwortet nichts darauf, aber das ist mir
nur recht so.
„Und du?“, frage ich nach einer Weile, „Was
ist mit deiner Familie?“
„Mein Vater starb bei einem Brand. Ich habe
keine Geschwister, meine Mutter und ich lagen nach dem Feuer eine Weile im Krankenhaus, sind aber beide gesund…“ Irgendetwas
an seinem Ton lässt mich aufhorchen, irgendwas ist da…
„Tut mir echt leid für dich“, flüstere ich, aber
in Gedanken versuche ich immer noch, her-
auszufinden, was mich an seinem Ton gestört
hat.
„Was machst du morgen Abend so?“, fragt
Finn dann plötzlich.
„Ich, äh, nichts“, antworte ich, überrascht
über den Themenwechsel.
„Darf ich dich auf ein Eis einladen? Am
Abend steigt bei einem Kumpel von mir ne
Party, wir können da danach hingehen…
Wenn du willst, meine ich ja nur.“
„Ich weiß nicht…“, sage ich vorsichtig, aber
dann denke ich an Jos Worte. Und was sie sich
wünscht. „Also ja. Ich kann. Party… Ich weiß
noch nicht, aber Eis essen klingt gut.“
„Cool!“, meint Finn, „Wir sehen uns also
morgen! Passt vier Uhr bei dir?“
„Ich denke schon. Außer, meine Schwester…“
„Ach so. Warte, ich geb dir meine Nummer,
dann kannst du mich anrufen…“ Wir tauschen unsere Handys und ich speichere mich
schnell unter Abbey ein. Dann stecke ich mein
Handy wieder ein.
„Abbey“, sagt Finn leise, als er meinen Namen liest. Ich presse kurz die Lippen aufeinander, dann nicke ich.
„So nennt mich meine Schwester.“
„Und deine Freunde?“ Ich schweige, weil ich
nicht weiß, was ich darauf antworten soll.
„Verstehe“, flüstert Finn. Dann herrscht
Schweigen, aber ich überlege krampfhaft, was
ich dagegen sagen soll. Ich habe plötzlich das
Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen.
„Es ist nicht so, dass ich keine Freunde habe,
Finn. Ich hatte sogar mal ganz viele. Aber erst
der Unfall, dann die Krankheit… Ich hab mich
halt voll zurückgezogen.“ Ich warte darauf,
dass eine Antwort kommt, aber Finn sagt
nichts.
„Ich verstehe dich“, sagt er schließlich. Aber
ich erwidere auch nichts.
Als wir bei mir zu Hause sind bedanke ich
mich, dass er mich begleitet hat, zum Abschied umarmt Finn mich. Dabei schließe ich
kurz die Augen, aber ich weiß, dass das lächerlich ist. Ich muss mich doch um Jo küm-
mern. Trotzdem spüre ich in diesem Moment,
dass Finn etwas Besonderes ist.
Und auch, als ich ins Bett gehe, denke ich
noch an ihn.
Am nächsten Mittag mache ich mich gleich
nach dem Essen auf den Weg zu Jo. Wieder
habe ich Schokolade für sie dabei, dieses Mal
Nougat mit Keksfüllung. Auch die gehört zu
ihren Lieblingssorten.
Im Krankenhaus ist die Luft erleichternd kühl
und ich trete schnell ein, die Hitze bringt mich
um. Ich nehme den üblichen Weg nach oben
zu Jos Zimmer, aber oben ist plötzlich viel
los: Ärzte rufen sich komplizierte Worte zu
und Schwestern rennen besorgt von Zimmer
zu Zimmer.
Ich realisiere geschockt, dass etwas mit Jo
passiert sein muss und stürze die letzten
Treppenstufen hoch. Ich renne schon auf ihre
Türe zu, als mir ein Mann den Weg versperrt
und mich zurückschickt. Mittlerweile bin ich
total panisch geworden und die Tränen in
meinen Augen drohen, mir übers Gesicht zu
laufen. Was ist mit meiner Jo passiert? Wieso
lassen sie mich nicht zu ihr? Ich stolpere benommen zurück und knalle mit dem Rücken
gegen die Wand. Aber sie gibt mir Halt, denn
mittlerweile ist mir so schwindelig, dass ich
Angst habe, umzukippen. Ich schließe die
Augen, wische mir die Tränen aus dem Gesicht, durch sie sehe ich alles wie durch einen
Schleier.
Mein Herz klopft viel zu schnell und ich
muss mich ziemlich beherrschen, damit ich
nicht anfange, hysterisch loszuheulen. Am
liebsten würde ich einfach zur Tür rennen,
den Mann wegstoßen und zu meiner geliebten Schwester gelangen. Aber ich weiß, dass
das nicht das Beste für sie wäre und das ist
das Einzige, was mich noch zurückhalten
kann. Ich gehe immer wieder auf die Ärzte zu,
versuche sie anzuhalten, etwas aus ihnen herauszuquetschen, aber sie ignorieren mich.
Stoßen mich beiseite, ich gehe im Weg um.
Aber ich will einfach nur zu meiner Jo! Kann
mir hier niemand helfen? Völlig entnervt raufe ich mir die Haare und gehe mit hinterm
Kopf verschränkten Armen ein paar Schritte.
Doch als ich mich wieder umdrehe, sehe ich
ihn. Unweigerlich geht er auf das Zimmer
meiner Schwester zu. Mit einem mitleidigen
Blick schaut er auf die Tür. Dann tritt er ein.
Und die Welt um mich versinkt zu einem einzigen Durcheinander.
Kapitel 2
Der Tod ist nichts.
Ich bin nur in das Zimmer nebenan gegangen.
I
ch stehe da, wie erstarrt, kann mich nicht
rühren, kann mich nicht mehr bewegen. Ich
kann nichts mehr tun. Ich spüre, wie mir die
Knie einknicken und ich dumpf auf dem Boden aufschlage. Die Schokolade landet mit einem Knacken neben mir, es ist unschwer zu
erkennen, dass sie jetzt zerbröselt ist. Mir ist
schwindelig und ich kann noch immer nichts
sehen, die Tränen versperren mir die Sicht.
Und dann, mit einem Mal springe ich auf. Ich
weiß nicht, was in mich gefahren ist. Aber ich
renne einfach los. Lasse das Fahrrad stehen
und renne einfach. Achte nicht auf die Autos
und die anderen Passanten, die mir in den
Weg kommen. Ignoriere lautes Hupen und
wilde Beschimpfungen. Renne einfach nur.
Erst, als ich zu Hause bin, registriere ich meine Umgebung wieder. Ich bin total verschwitzt, bin den ganzen Weg nach Hause
durchgerannt. Aber es hat mir gutgetan.
Über den alten Apfelbaum klettere ich durch
das Fenster in mein Zimmer. Ich will niemandem über den Weg laufen. Und dann lasse ich
mich aufs Bett fallen und weine mich in den
Schlaf.
Alles habe ich in meinem Traum wieder
durchlebt. Jede Einzelheit. Jedes Detail. Jedes
meiner Gefühle habe ich nochmal erlebt.
Wie wir fröhlich lachend über die Landstraße
gefahren sind. Meine Eltern vorne drin, ich
auf dem Rücksitz. Wir haben gelacht, Witze
gerissen. Es war später Abend, es war schon
dunkel. Und dann hat Dad das Reh geblendet.
Es ist erschrocken auf die Straße gesprungen.
Wir sind alle aufgeschreckt, total entsetzt hat
Dad den Lenker herumgerissen. Ich erinnere
mich ganz genau an Moms erschrockenen
Ausruf. Als der Traktor am Straßenrand immer näher auf uns zukam. Der Aufprall, der
Schmerzensschrei meiner Eltern, während sie
zwischen Auto und Traktor immer enger eingequetscht wurden. Bis sie tot waren.
Ich presse feste die Augen zusammen. Ich
kann nicht mehr. Ich muss meine Gedanken
unterdrücken. Es ist zu viel für mich, all die
Trauer, alles kommt wieder frisch hoch. Ich
schnappe mir mein Kopfkissen und vergrabe
den Kopf darunter. Ich will und kann nichts
mehr sehen, hören und vor allem nichts mehr
fühlen von dieser Welt. Aber es geht noch
nicht. Meine Geschichte ist noch nicht zu Ende und ich muss sie beenden, damit ich mich
beruhigen kann. Meine Gedanken schweifen
zurück zu der Zeit, als ich im Krankenhaus
lag. Im Koma, stand kurz vor dem Tod. Und
seit dieser Nahtoderfahrung kann ich etwas,
das nicht normal ist. Ich kann den Tod sehen.
Als Schatten, immer verschwommen, aber ich
kann ihn sehen. Und wenn er da ist…
Ich muss die Augen aufeinander pressen und
nach Luft schnappen. Jetzt ist Schluss. Ich
kann nicht mehr. Aus. Ich presse das Kissen
fester auf meinen Kopf, damit ich nichts mehr
mitbekomme. Allein schon die Erinnerung an
den Schatten, der den Tod bedeutet, wird mir
schlecht und schwindelig. Und noch dazu die
Erinnerung an meine Eltern, die Nacht, in der
der tödliche Unfall stattfand… Das alles ist zu
viel für mich.
Vom Vibrieren meines Handys wache ich auf.
Im Spiegel an der Wand kann ich mich sehen,
meine langen schwarzen Haare zerzaust, die
Augen verheult und zugeschwollen. Ich taste
vorsichtig nach meinem Handy, weil ich befürchte, jeden Augenblick wieder umzukippen. Aber schließlich spüre ich seine kalte
Hülle zwischen meinen Fingern und ziehe es
zu mir herüber.
…
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