Worte der Hoffnung Alfred Delp

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Worte der Hoffnung Alfred Delp
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Leseprobe:
Alfred Delp
Worte der Hoffnung
echter
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Inhalt
Rita Haub
Alfred Delp SJ
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I. Leben
Gott ist in seinen Ordnungen
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II. Bekehrung
Der Mensch ist nur mit Gott zusammen Mensch
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III. Schuld
Für jedes Leben schlägt die Stunde,
in der ihm vor sich selbst graust
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IV. Bewährung
Die Wüsten müssen bestanden werden
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V. Gebet
Das große Rufen nach Gott
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VI. Trost
Gott ist als ein Brunnen in uns
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VII. Tod
Als fruchtbares Saatkorn in die Erde fallen
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Rita Haub
Zeittafel
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Alfred Delp SJ
Alfred Delp wuchs in Lampertheim bei Mannheim auf.
Nach seiner Geburt am 15. September 1907 in Mannheim
und Taufe am 17. September in der katholischen Oberen
Pfarrei St. Ignatius und Franz Xaver siedelte die Familie kurze
Zeit später nach Hüttenfeld um.
Als ein überaus wichtiges Jahr im Leben Alfred Delps
muss das Jahr 1921 gelten. Nachdem er, obwohl katholisch
getauft, in die evangelische Schule in Lampertheim eingeschult worden war, wurde er am 28. März 1921 mit allen
Schülern seines Jahrgangs konfirmiert. Doch im zeitlichen
Umfeld dieser Konfirmation kam es zu einem Konflikt mit
dem protestantischen Pastor, der den dreizehnjährigen Alfred
zutiefst verletzte und ihn an die Seite des katholischen Ortspfarrers Johannes Unger führte. Nach einem ausführlichen
Gespräch und einer Zeit der Vorbereitung empfing Alfred am
19. Juni die hl. Kommunion. Am 28. Juni wurde er gefirmt.
Diese Wende, oft fälschlicherweise als Konversion bezeichnet,
brachte Delp auf einen neuen Weg seines Lebens mit vielen
Chancen. Er wurde zum sozialen Aufsteiger. Gerade deshalb
behielt er sein ganzes Leben lang eine große Sensibilität für
die soziale Frage und für die Ökumene.
Delp schloss seine Schulzeit 1926 mit einem sehr guten
Abitur ab und trat kurz danach in die Gesellschaft Jesu ein.
Er setzte sich in seinem Philosophiestudium in Pullach bei
München vor allem mit Martin Heidegger auseinander. Er
bewunderte an der Heideggerschen Philosophie deren große
Einfühlsamkeit in den modernen Menschen, kritisierte aber
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an ihr, dass dieser Philosophie die Mitte fehle, dass also im
Letzten das „Woraufhin“ des Menschen, Gott, nicht im Blick
sei. Er sagte, man finde den Menschen nicht, weil man Gott
nicht suche, und man suche Gott nicht, weil man keine Menschen habe. Delp gab seiner Auswertung den bemerkenswerten Buchtitel Tragische Existenz (1935). Damit meinte er:
am Ende stehe der Mensch vor dem Nichts und könne nur
heroisch diese aufreizende Vergeblichkeit aushalten.
Im Juli 1939 trat Delp auf Anordnung seines Provinzials
in die Redaktion der Monatszeitschrift der Jesuiten, Stimmen
der Zeit, ein. Dieser Entscheidung gingen zwei gescheiterte
Planungen Delps voraus: Als er sich an der philosophischen
und staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität immatrikulieren wollte, wurde dies abgelehnt mit der Begründung,
als Jesuit könne er sowieso nicht promovieren; als er dann
mit den Soldaten als Feldseelsorger in den Krieg ziehen
wollte, erhielt er vom katholischen Feldbischof der deutschen
Wehrmacht eine Absage, da man keine weiteren Ordensgeistliche auf einem solchen Posten wünsche.
Neben der Redaktionstätigkeit war Delp bei Vorträgen
und seelsorglichen Aufgaben weit über München hinaus
engagiert und strahlte dabei Zuversicht und christlichen
Optimismus aus. Während des sogenannten Klostersturms
am 18. April 1941 wurde überraschend auch das Haus der
Stimmen der Zeit durch die Gestapo enteignet. Die Jesuitenpatres wurden vertrieben. Pater Delp wurde daraufhin im
Juni 1941 Kirchenrektor der kleinen Kirche St. Georg in
München-Bogenhausen. Er musste bald ein neues Arbeitsfeld finden, da die Zeitschrift kurz darauf verboten wurde.
Delp predigte nun regelmäßig in der St. Georgskirche.
Seine Predigten wurden zu einem Geheimtipp für kritische
Katholiken; sie wurden vervielfältigt und unter der Hand
weiter gegeben, vor allem seiner klaren Aussagen zu Staat und
Gesellschaft wegen. Er kritisierte scharf die Propaganda für
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die Euthanasie. Er engagierte sich in Gruppenstunden unter
den Jugendlichen von Bogenhausen; er stand den Bombengeschädigten bei, sobald die Angriffe der Alliierten Luftflotte
auf München einsetzten; er kümmerte sich ab 1941 um die
verfolgten Juden, besorgte Nahrungsmittel, eröffnete Fluchtwege und war für die Flüchtlinge eine Adresse. Die Tage Delps
waren mit der seelischen und materiellen Hilfe für die Mitmenschen ausgefüllt.
Der kleine Weiler Wolferkam bei Riedering am Simssee,
nordöstlich von Rosenheim, wurde ab Sommer 1941 für Delp
ein Ort der Zuflucht und der Erholung. Er fand in den Bauernfamilien herzliche Aufnahme, half bei der Feldarbeit mit,
segelte auf dem Simssee und bestieg die Berge der nahen
Alpen. Seine Texte aus dieser Zeit legen offen, dass es ihm gelang, Gott in allen Dingen zu finden, auch und gerade in der
Herrlichkeit der Schöpfung. In seinem Urlaubstagebuch vermerkt er: „Ich war in den Bergen und hab mich in die Welt
des Herrgotts verkuschelt. Es war schön und ich werde bald
wieder gehen. Es war wirklich schön. Viele Bilder werden bleiben. Auf der Spitze. Um uns die aufgeblätterte Welt Gottes
und der Menschen. Da fiel mir wie ein Auftrag mein ursprünglicher Auftrag zu segnen und zu heilen, immer segnen
und heilen, ein. Ich hab einen großen Segen gebetet und dann
allem Land und allem Volk einen Segen Gottes gegeben. Und
jetzt genieße ich wieder. Gleich wieder am See, der abends so
milde und farbig ist. So in der Sonne schwimmen und nachher im Segelboot so frei und still und nur den Elementen verpflichtet dahinschweben, ach, es ist dann so viel vergessen
und vorbei und das Herz atmet wieder. Gott ist gut und seine
Welt ist schön.“
Dass die Wolferkamer zu wahrhaften Freunden geworden waren, erwies sich dann, als es darum ging, gefährliche
Arbeitspapiere für den Kreisauer Kreis zu verstecken. Die
Bauern fühlten sich durch Delps Vertrauen hoch geehrt.
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Die kleinen Briefe aus der Haftanstalt Berlin-Tegel bezeugen
später bleibend, wie sehr diese Menschen Delp ans Herz gewachsen waren.
Der entscheidende Mann im Widerstand der katholischen Kirche gegen den Nationalsozialismus war, zumindest
ab 1941, Augustin Rösch (1893–1961), Provinzial der Oberdeutschen Jesuitenprovinz (ab 1935). Von München aus
organisierte er die Strategie der Ordensleute, als es darum
ging, auf den von Martin Bormann inszenierten Klostersturm
einheitlich zu reagieren. Wenn ein Jesuit von der Gestapo bedrängt, verhört oder verhaftet wurde, suchte er sofort die
Zentrale der Gestapo auf und erhob entschieden Einspruch.
Pater Rösch war auch der erste Kontaktmann zum Kreisauer
Kreis, zu jener Widerstandsgruppe, die sich um den Grafen
Helmuth James von Moltke gebildet hatte. Anfang Oktober
1941 begegneten sich beide in Berlin. Gleich zu Beginn ergab
sich eine schicksalhafte Übereinstimmung in der Beurteilung
der militärischen Lage wie in der Konzeption der Abwehr und
Erneuerung. Pater Rösch sagte damals seine Mitarbeit in der
Widerstandsgruppe zu.
Pater Delp und Pater Lothar König waren Freunde. Pater
Rösch führte beide in den Kreisauer Kreis ein. Delp sollte in
den sozialen Fragen und beim Entwurf einer neuen Sozialund Gesellschaftsordnung nach dem Krieg beraten; König,
Professor für Kosmologie am Berchmanskolleg in Pullach,
nahm gleichsam die Stelle eines politischen Beraters von
Rösch ein. Er arbeitete neben Pater Rösch im sogenannten
Ausschuss für Ordensangelegenheiten bei der Deutschen
Bischofskonferenz mit, bei jenem geheimen Unternehmen,
das die deutschen Bischöfe auf einen Konfrontationskurs mit
der nationalsozialistischen Regierung bringen wollte.
Der Widerstandskreis um Helmuth James Graf von
Moltke, der im August 1944 von der Gestapo Kreisauer Kreis
genannt wurde, empfing seinen Namen vom Gut des Grafen
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von Moltke in Niederschlesien bei Schweidnitz. Dort traf sich
Moltke ab 1940 mit seinen Freunden, um über die Gestaltung
eines neuen Deutschland nach dem Ende des Kriegs und des
Nationalsozialismus nachzudenken. Drei große Tagungen
fanden in Kreisau statt: das erste Treffen vom 22. bis 25. Mai
1942, an dem Pater Rösch teilnahm und bei dem vor allem
Probleme um Staat und Kirche geklärt wurden; beim zweiten Treffen vom 16. bis 18. Oktober 1942 beriet Pater Delp in
Fragen der Sozial- und Gesellschaftsordnung mit. Beim dritten Treffen vom 12. bis 14. Juni 1943 brachte Pater Delp seine
Ideen ein, als es um die sogenannten Landverweser und die
Bestrafung der Rechtsbrecher ging. Er griff im Wesentlichen
auf die Grundaussagen der Enzyklika Quadragesimo anno zurück. Er formulierte sie für Menschen aus, die mit katholischer Soziallehre wenig vertraut waren und setzte über alles
neue Begriffe wie personaler Sozialismus oder Die Dritte
Idee. Damit brachte er sein Anliegen ein und trug auch zu
einem Konsens im Kreisauer Kreis bei. Die Beratungen dieser
etwa zehn Männer aus allen Schichten und Konfessionen
wurden am Ende in Grundsatzerklärungen zusammengefasst.
Diese Programme sollten die Grundlagen eines anderen
Deutschland werden, das auf den beiden Säulen Kirchen und
Arbeiterschaft ruhte. Die Besprechungen fanden im übrigen
nicht im Schloss, sondern im nahe gelegenen Berghaus
statt. Diese Treffen des Widerstandskreises wurden von der
Gestapo erst nach dem 20. Juli 1944 während der strengen
Verhöre entdeckt.
Nach dem 20. Juli 1944 rieten Delp seine Mitbrüder, sich
zu verstecken. Er ging aber auf diesen Ratschlag nicht ein,
denn er wollte seine Freunde in Bogenhausen in den Bombennächten nicht allein lassen, er wollte am 15. August endlich seine Letzten Ordensgelübde ablegen und er war im
Übrigen der Meinung, dass sie im Kreisauer Kreis nichts
Unrechtes getan hätten. So kam, was kommen musste: Delp
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wurde am Morgen des 28. Juli 1944 nach der Frühmesse in
St. Georg von der Gestapo verhaftet.
Vom 9. bis 11. Januar 1945 fand der Prozess vor dem
Volksgerichtshof in Berlin gegen die Kreisauer statt. Er stellte
nach allgemeiner Einschätzung einen Ersatz für einen geplanten Prozess gegen die Kirchen dar. Der Prozess wurde
vom Präsidenten des Volksgerichtshofes, Dr. Roland Freisler,
persönlich geleitet, der am ersten Tag sofort mit Delp begann.
Was ihn bewogen habe, solche Pläne zu machen. Delp
antwortete, dass viele Menschen menschenunwürdig leben
müssten, dass sie den Verhältnissen erlägen und weder beten
noch denken würden. Es bedürfe der Veränderung der Verhältnisse. Auf die weitere Frage, ob er meine, dass der Staat
geändert werden müsse, antwortete Delp kurz: „Ja.“ Das war
sein Todesurteil.
Am 11. Januar wurde folgendes Urteil verkündet:
Im Namen des Deutschen Volkes:
Helmuth Graf von Moltke wusste von Goerdelers Verrat. Zwar
lehnte er seine Mitarbeit ab, aber er meldete sein Wissen nicht.
Er selbst, im Defätismus befangen, bildete einen Kreis, der für
den Fall eines Zusammenbruches unseres Reiches mit NichtSozialisten die Macht ergreifen sollte. Durch dies alles ist er für
immer ehrlos geworden. Er wird mit dem Tode durch den Strang
verurteilt.
Der Jesuitenpater Alfred Delp arbeitete eng und intensiv mit
Helmuth Graf von Moltke zusammen ... Sicher gehört Alfred
Delp zu denen, die immer wieder behaupten, das Reich ihrer
Kirche sei nicht von jener Welt. Das hinderte ihn aber nicht, sich
mit lauter Nichtnationalsozialisten, darunter offenkundigen
Staatsfeinden, in derartige konspirative Gespräche und Planungen mitten im Krieg einzulassen, sie selbst aktiv vorwärtszutreiben und dabei seine Wohnung sogar als Schlupfwinkel für
die Verschwörerbesprechungen zur Verfügung zu stellen. Er tritt
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mit dem Anspruch auf, ein gebildeter Mann zu sein! ... Wenn er
trotzdem im Kriege dieses Verrats sich schuldig gemacht hat, so
bezeugt das seine vollkommene Ehrlosigkeit und erzwingt zum
Schutze des Reiches das Todesurteil gegen ihn.
Am 2. Februar 1945 wurde Pater Alfred Delp in Berlin-Plötzensee am Galgen hingerichtet. Sein Richter Roland Freisler
überlebte ihn nur einen Tag. Er wurde am 3. Februar 1945
bei einem Bombenangriff von einstürzenden Trümmern erschlagen.
Aus seinen letzten Aufzeichnungen im Gefängnis geht
hervor, dass Alfred Delp die Ursache der Not der Menschen
seiner Zeit, die „Gottes unfähig“ geworden waren und Hilfe
brauchten, erkannt hatte: „Zweifach kann der Mensch sich
als Hindernis zwischen sich und das kommende Reich
Gottes stellen: durch seine personale Verfassung seines
Lebens, zu der er sich entscheidet, und durch die soziale Ordnung seines Lebens, in der er sich befindet, die er duldet oder
fördert.“ Und daher musste der Mensch wieder zu sich selbst
geführt werden und für Gott empfänglich gemacht werden,
denn „Gott gehört in die Definition des Menschen“, und „das
Mindeste an personaler Haltung, das der Mensch aufbrin-gen
muss, ist die wache und willige Offenheit zu Gott hin“.
Voraussetzung für alle weiteren Bemühungen war nach Delp
die Herstellung einer neuen sozialen Ordnung. So fasste er
die Lehre der Kirche von der sozialen Gerechtigkeit und der
persönlichen Würde des Menschen in die Idee des personalen
Sozialismus zusammen, seine Dritte Idee, die dem Individualismus und dem marxistischen Sozialismus als etwas Neues
unabhängig gegenübersteht. – Diese Vision Delps von
1944/45 setzt sich heute in den Herausforderungen nach
Solidarität und nach sozialem Verhalten um.
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I.
Leben
Gott ist in seinen Ordnungen
Der gegenwärtige Mensch ist in eine Verfassung des Lebens
geraten, in der er Gottes unfähig ist. Alle Bemühungen um
den gegenwärtigen und kommenden Menschen müssen dahin gehen, ihn wieder gottesfähig und somit religionsfähig zu
machen …
Es geht nicht ohne „Existenzminimum“ an gesichertem
Raum, gesicherter Ordnung und Nahrung. Dieser Sozialismus des Minimums ist nicht das Letzte, was auf diesem Gebiet zu sagen und zu fordern ist, sondern das Erste, der
Anfang. Aber kein Glaube und keine Botschaft, kein Imperium und kein Jahrhundert der Wissenschaft und Technik,
keine Gescheitheit und keine Kunst helfen dem Menschen,
wo dieses Minimum als gesicherte Stetigkeit nicht zur Verfügung steht …
Ich kann predigen, so viel ich will, und Menschen geschickt
oder ungeschickt behandeln und wiederaufrichten, solange
ich will: Solange der Mensch menschenunwürdig und unmenschlich leben muss, so lange wird der Durchschnitt den
Verhältnissen erliegen und weder beten noch denken. Es
braucht die gründliche Änderung der Zustände des Lebens:
Nur der Mensch eines Minimums an geistiger Wachheit, persönlicher Lebendigkeit und sachhafter Lebenskundigkeit wird
überhaupt fähig sein, den Namen und das Wort Gottes noch
einmal zu vernehmen und die Ordnung Gottes noch einmal
anzuerkennen und zu vollziehen.
IV,312.310.313.314
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Die Übernatur setzt ein Minimum von natürlicher Lebensfähigkeit und Lebensmöglichkeit voraus, ohne die es nicht
geht … Und die Kirche als Institution und als Autorität setzt
ein Minimum lebendiger Religion voraus, sonst wird sie nur
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nach ihrer realen Macht gewertet oder museal.
Ein menschenwürdiges und menschentümliches Dasein gewährt allein die Voraussetzungen einer habituellen Christlichkeit. Was helfen uns alle Proteste und alle Einsätze um
spezifisch christliche oder kirchliche Eigentümlichkeiten,
wenn vor unseren Augen der Mensch entwürdigt wird und
auf eine Stufe des Daseins herabgedrückt wird oder herabsinkt, auf der es ihm unmöglich ist, christliches Leben und
I,281
christliche Ordnungen zu vollziehen?
Ob das nun eine Erziehung des Menschen zu Gott ist? Erst
die unterste Voraussetzung. Erst die Bemühung um eine Ordnung und Verfassung des Lebens, in der ein Blick auf Gott für
den Menschen nicht mehr eine übermenschliche Anstrengung bedeutet. Die Mühe um eine Verfassung des Daseins, in
der das Menschenherz auch in seinen Sehnsüchten wieder gesund wird und so unruhig in jener heiligen Unruhe, die erst
in Gott zu sich kommt und deshalb auch Gott wieder meint.
Dann allerdings bedarf es erst der Hauptsache, des von Gott
erfüllten und Gottes mächtigen gleichartigen Menschen, der
den andern anspricht und anruft.
Alle die direkten religiösen Bemühungen halte ich in der gegenwärtigen geschichtlichen Stunde für ohne dauerhafte
Fruchtbarkeit. So lange der Mensch an der Straße liegt, blutig geschlagen und ausgeplündert, wird ihm der der Nächste
und damit der Zuständigste sein, der sich seiner annimmt
und ihn beherbergt, nicht aber einer, der zum „heiligen
Dienst“ vorbeigeht, weil er hier nicht zuständig ist.
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Es gibt keine echte geschichtliche Situation, die grundsätzlich
im Verderben stünde und außerhalb der Offenheit, in der jede
Kreatur zu ihrem Gott hin existiert. Was die einzelnen geschichtlichen Situationen verdirbt, ist nicht ihre grundsätzliche Verfassung, sondern der Missbrauch, die Wiederholung
der ersten Rebellion. Es ist also die Gegenwart als die gerade
sich erfüllende geschichtliche Stunde auch für den Christen
um seines Gottes und dessen Schöpfung willen eine ernste
Sache, und er hat grundsätzlich nicht die Möglichkeit, gegen
II,191f .
sie zu existieren.
Christus hat den Gang der Geschichte nicht aufgehoben, er
hat ihn in sich aufgenommen und den Menschen aus seiner
absoluten Angewiesenheit auf die Geschichte dadurch befreit,
dass diese Geschichte selbst durch ihn zu etwas Zweitrangigem wurde und nun jedem an seinem Ort und in seiner
Stunde die Aufgabe gegeben wurde, sich für oder gegen
Christus zu entscheiden. Es gibt in jeder geschichtlichen
Stunde Menschen, die sich selbst und das Anliegen ihrer Zeit
gebrauchen zum Aufstand gegen Gott und seine Kirche. Aber
von der Kirche her gibt es keine Zeit und keine geschichtliche
Verfassung, auf die sie verzichten oder der sie sich entziehen
dürfte. Sie ist allen verpflichtet, weil sie Aufnahme der Menschennatur in eine neue Einigung mit Gott und weil die
Menschennatur eine geschichtliche Wirklichkeit ist. IV,195
Man distanziert die übernatürlichen Wirklichkeiten des
Christentums zu weit weg von den Tatsachen der Schöpfung,
so dass diese beinahe nicht mehr gewertet werden. Die Geschichte wird nicht mehr zum Ort des Reiches Gottes, sie ist
beinahe vom Übel. Es wird plötzlich ein Misstrauen gegen
die natürlichen Fähigkeiten des Menschen laut … Die Erde
wird gleichsam freiwillig geräumt.
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Der gegenwärtige Christ muss ein Christ des vollen Besitzes
sein. Wir müssen in jeder Zeit stehen mit dem Bewusstsein,
dass jede echte Wirklichkeit uns gehört, vom Herrn und Vater
her als Besitz und Auftrag. In einer Zeit gesteigerten Sinnes für
die Wirklichkeit und gesteigerter Lebensfreudigkeit ist vom
Christen her gesteigerte christliche Vitalität gefordert. II,199f.
Wir sind die Menschen, die die ganze Wirklichkeit bejahen,
durch die die erhaltenden Kräfte in die Welt einströmen …
Und man muss auch spüren, dass wir in der Zeit Träger der
Verheißungen und der Gnaden sind. Dass es uns gar nicht
darauf ankommt, um jeden Preis ein paar Lebenstage länger
da zu sein, dass es uns aber wohl darauf ankommt, um jeden Preis so zu sein, wie wir sind. Die Anwandlungen von
Müdigkeit und Flucht oder Resignation, die uns manchmal
überkommen, sind ein Verkennen der seinsmäßigen Lage
und vergessen, dass wir mit dem Herrgott, mit seiner Welt
II,200f.
und seinen Gnaden zu tun haben.
Wir werten die Dinge der Erde anders, aber wir entwerten sie
nicht, und deshalb soll man unserer Haltung ihr gegenüber
ansehen, dass wir uns in höherem Auftrag gesandt wissen. Es
gibt auch eine christliche Positivität der Endlichkeit, und sie
ist gerade darin begründet, dass Gott den Menschen schuf
nach seinem Bild und Gleichnis, dass alles unter dem Segen
des Schöpfer-Vaters steht und dass jeder Fortschritt, jede neue
Leistung ein Sichtbarmachen dessen ist, was als Abglanz
Gottes in die Welt hineingelegt ist.
II,201
Das verteidigende Fechten ist nie das Hauptanliegen einer
christlichen Generation. Hinter den Grenzsteinen, die wir
verteidigen, muss immer die ganze Fülle echten Lebens sichtbar werden; der seinsmäßige Glanz des in uns existierenden
Reiches unseres Herrn ist unser bester Anspruch und unsere
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