Süddeutschen Zeitung - Universität Stuttgart

Transcrição

Süddeutschen Zeitung - Universität Stuttgart
Süddeutsche Zeitung
PANORAMA
Mittwoch, 18. März 2015
Interview
Bayern, Deutschland, München Seite 10
„Viele waren schon vor dem Sturm unterernährt“
Erst langsam offenbart sich das ganze Ausmaß der Zerstörungen, die der Wirbelsturm „Pam“ auf Vanuatu angerichtet hat.
Der deutsche Geograf Jörn Birkmann erklärt, wie sein Weltrisikobericht die Katastrophe vorhergesehen hat
von christopher schrader
Im Südseestaat Vanuatu haben Helfer am
Dienstag, drei Tage nach dem Zyklon Pam,
zum ersten Mal einige bisher von der Außenwelt
abgeschnittene,
besonders
schwer verwüstete Inseln erreicht. Sie berichten von „schockierenden“ Zerstörungen. 32 000 Menschen auf Tanna und Erromango waren seit dem Durchzug des Zyklons am frühen Samstag auf sich selbst gestellt. Der Präsident des Staates, Baldwin
Lonsdale, rechnet mit baldigen Engpässen
bei der Lebensmittelversorgung. Vor der
Gefahr einer solchen Katastrophe in Vanuatu haben deutsche Entwicklungshilfe-Organisationen seit Jahren in ihrem Weltrisikobericht gewarnt. Jörn Birkmann von der
Universität Stuttgart ist der wissenschaftliche Leiter des Reports. Vanuatu führt darin die Liste der gefährdetesten Nationen
an.
SZ: Welchen Umständen verdankt Vanuatu die zweifelhafte Ehre, Dauerspitzenreiter Ihrer Berichte zu sein?
Jörn Birkmann: Vanuatu ist seit 2011 mit
Abstand das Land mit den höchsten Risikowerten. Wir bewerten nicht nur, welche
Staaten Naturgefahren ausgesetzt sind,
sondern gleichberechtigt auch die Frage,
ob der Bevölkerung Ressourcen fehlen, um
sich zu schützen oder mit den Folgen umzugehen. Wenn beide Zahlen hoch sind, erst
dann ist auch das Katastrophenrisiko besonders hoch.
Wie sind die Zahlen in Vanuatu?
Dort sind jedes Jahr fast 64 Prozent der gesamten Bevölkerung potenziell Naturgefahren wie Erdbeben, Überschwemmungen oder Wirbelstürmen ausgesetzt – das
ist der weltweite Spitzenwert. Außerdem
ist die Gesellschaft in dem Inselstaat sehr
verwundbar. Viele Menschen sind arm,
zehn Prozent gelten als extrem arm, die haben gar nicht die Ressourcen, den Wiederaufbau selbst zu schaffen. Viele waren
schon vor dem Sturm unterernährt, nur etwas mehr als die Hälfte hatte Zugang zu sanitären Anlagen, die medizinische Versorgung ist unzureichend und die Regierungsführung weist schlechte Werte auf.
Wie beziffern Sie die sozialen und politischen Faktoren?
Wir rechnen viele Indikatoren zusammen.
Wir setzen jeweils den schlechtesten denkbaren Wert auf 100. Vanuatu kommt bei
Rang
Land
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
Vanuatu 36,50
Philippinen 28,25
Tonga 28,23
Guatemala 20,68
Bangladesch 19,37
Salomonen 19,18
Costa Rica 17,33
El Salvador 17,12
Kambodscha 17,12
Papua Neuguinea 16,74
Risiko in %
147
Deutschland 3,01
162
163
164
165
166
167
168
169
170
171
Schweden 2,19
Vereinigte Arabische Emirate 1,91
Bahrain 1,78
Kiribati 1,72
Island 1,56
Grenada 1,44
Barbados 1,21
SaudiArabien 1,17
Malta 0,62
Katar 0,08
Vanuatu 36,50%
Bedrohte
Paradiese
Weltrisikoindex als Produkt
aus Gefährdung und Vulnerabilität
Angaben in Prozent (Max. Risiko = 100%)
0,08 bis 3,46
3,47 bis 5,47
5,48 bis 7,30
7,31 bis 10,47
10,48 bis 36,5
sehr gering
gering
mittel
hoch
sehr hoch
keine Daten
SZ-Karte: Mainka; Quelle: UNU-EHS
der Verwundbarkeit auf ungefähr 57 Prozentpunkte. Das ist im unteren Drittel aller
Staaten. Zum Vergleich: In Japan sind auch
knapp 46 Prozent der Bevölkerung durch
Erdbeben oder Stürme bedroht, aber der
Wert für die gesellschaftliche Verwundbarkeit liegt nur bei 29 Prozentpunkten. Das
ist die übliche Größenordnung für reiche
Industrieländer. Deutschland kommt hier
auf 26 Prozentpunkte, aber hier sind nur 11
Prozent der Bevölkerung potenziell Naturgefahren ausgesetzt. Das ergibt dann in
der Gesamtliste Platz 147 von 171.
In einem Industrieland wäre ein starker
Wirbelsturm keine große Katastrophe?
Hier gibt es Frühwarnsysteme, Schutzeinrichtungen, Rettungsdienste, Geld für den
Wiederaufbau. Nehmen Sie zwei Erdbeben
ähnlicher Stärke, in Neuseeland 2011 und
in Haiti 2010. In Neuseeland gab es 185 Tote, in Haiti 220 000. Erst die gesellschaftlichen Zusammenhänge lassen Naturgefahren zu Katastrophen werden.
Wie fühlt man sich, wenn man als Wissenschaftler auf diese Risiken hingewiesen
hat und dann passiert etwas?
Es wäre falsch, so etwas wie Genugtuung
zu empfinden. Und besonderes Entsetzen
hilft auch niemandem. Der Weltrisikobericht zeigt doch vor allem, dass man Priori-
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
täten in den Ländern setzen sollte, in denen das Risiko hoch ist, und dabei nicht allein auf die Naturgefahren gucken darf.
Sonst müsste man auch Japan und Griechenland in die erste Liga der besonderen
Problemfälle platzieren. Die gesellschaftliche Verwundbarkeit wird vielfach übersehen. Und daran kann man im Prinzip
schon etwas ändern.
Kommt Ihre Botschaft an?
Das ist schwierig. Im Augenblick läuft eine
UN-Konferenz zur Katastrophenvorsorge
in Sendai in Japan. Dort traten 20 Staatsoberhäupter oder Regierungschefs auf,
und stellten ihre Länder vielfach als Opfer
der Naturgefahren dar: Wir sind arm, wir
sind plötzlichen Extremereignissen ausgesetzt, wir brauchen Hilfe. Alles richtig,
aber es ist auch richtig, dass die Strukturen
des Staates und die Regierungsführung
ein großes Problem in vielen Hochrisiko-
ländern darstellen und Korruption vieles
lähmt.
Das will keiner hören, oder?
Vanuatu zählt leider zu den schlecht regierten Ländern. Ein Beispiel ist der Korruptions-Wahrnehmungsindex von Transparency International. Der geht von 1 bis zum
besten Wert 100. Die Schweiz hat 86,
Deutschland 79 – Vanuatu liegt bei 35.
Prof. Dr. Jörn Birkmann,
Uni Stuttgart, ist seit
2011 wissenschaftlicher
Leiter des jährlich aktualisierten Weltrisikoindex.
Den Bericht dazu geben
die Universität der Vereinten Nationen und das
Bündnis „Entwicklung
hilft“ heraus. FOTO: OH
A59656999
svra039

Documentos relacionados