Potenzialanalyse zu den Chancen und Hindernissen der
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Potenzialanalyse zu den Chancen und Hindernissen der
Potenzialanalyse zu den Chancen und Hindernissen der beruflichen Integration von Menschen mit Migrationshintergrund im Hamburger Handwerk www.netzwerk-iq.de www.nobi-nord.de Inhaltsverzeichnis Vorwort Josef Katzer, Präsident der Handwerkskammer Hamburg Seite 3 Grußwort Dr. Dagmar Beer-Kern, Bundesministerium für Arbeit und Soziales Seite 4 Einleitung Gesine Keßler-Mohr, Handwerkskammer Hamburg Seite 5 Eine Zufallsbekanntschaft. Wie Senida Kuc Goldschmiedin wurde Seite 6 Späte Anerkennung. Monireh Farahbakhsh hat mit 58 Jahren einen Berufsabschluss gemacht Seite 10 Der steinige Weg zum Meisterbrief. Warum Artur Godonczuk trotzdem ein Unternehmer wurde Seite 14 Eine Frage der Ehre. Engagierte Mitstreiter für die Selbstverwaltung des Handwerks gesucht Seite 18 Ausblick und Handlungsempfehlungen Seite 22 Impressum Seite 24 2 Inhaltsverzeichnis Vorwort 30 Prozent der Auszubildenden im Hamburger Handwerk geben an, einen Migrationshintergrund zu haben. 25 Prozent unserer Betriebsinhaber haben einen ausländischen Pass. Die Zahl der eingebürgerten Betriebsinhaber lässt sich nicht genau beziffern. Ihr Anteil allerdings dürfte höher sein. Keine Frage: Im Hamburger Handwerk haben Menschen mit Migrationshintergrund mittlerweile einen festen Platz. Und der Raum, den sie füllen, wird in den kommenden Jahren größer. Stichworte: demografischer Wandel oder die Tatsache, dass in den ersten Klassen der Hamburger Schulen bereits mehr als 50 Prozent Kinder mit Migrationshintergrund lernen. Doch welchen Stellenwert haben Azubis, Gesellen, Meister und Betriebsinhaber mit Migrationshintergrund eigentlich im Handwerk? Welchen Einfluss üben sie aus, welche Kenntnisse bringen sie ein, welche fehlen ihnen? Mit der „Potenzialanalyse zu den Chancen und Hindernissen der beruflichen Integration von Menschen mit Migrationshintergrund im Hamburger Handwerk“ liegen uns erstmals verlässliche Zahlen und vor allem authentische Aussagen zur Situation von Migranten in Hamburg vor. Zwei Punkte sind demnach klar: Die meisten Menschen mit Migrationshintergrund haben eine hohe Meinung vom Handwerk, wissen aber über die Vielfältigkeit und Möglichkeiten, die ihnen die einzelnen Gewerke bieten, so gut wie nichts. Gezielte Informationskampagnen schaffen hier Abhilfe. Der zweite Punkt ist schwieriger. Betriebsinhaber mit einem ausländischen Pass sind vor allem in den Gewerken ohne Meisterpflicht vertreten. In naher Zukunft werden sie bis zu 50 Prozent der Betriebe in den so genannten Anlagen B1 und B2 (Betriebsführung ohne Meisterpflicht) führen, jedoch nur wenige Angestellte haben und vor allem wenige Auszubildende. Josef Katzer, Präsident der Handwerkskammer Hamburg Darin liegt die Herausforderung für Kammer und Innungen: Sollen die traditionsreiche Bäckerei oder der Sanitär- und Heizungsbauer auch in Zukunft fähige Azubis und Gesellen und in letzter Konsequenz einen motivierten Nachfolger finden, führt kein Weg an gezielter Höherqualifizierung von Migranten vorbei. Und an ihrer Einbindung in das handwerkliche Ehrenamt. In diesem Sinne lassen Sie uns gemeinsam die Herausforderungen, die sich aus den Ergebnissen der Potentialanalyse ergeben, anpacken und den erfolgreichen Weg des Hamburger Handwerks fortsetzen. Ihr Josef Katzer Präsident der Handwerkskammer Hamburg Vorwort 3 Grußwort Seit einigen Jahren läuft auf Bundesebene eine Debatte um zukunftsweisende bildungs- und arbeitsmarktpolitische Strategien, mit denen es gelingen kann, Hürden für eine gleichberechtigte Teilhabe von Migrantinnen und Migranten insbesondere am Arbeitsmarkt frühzeitig und langfristig aus dem Weg zu räumen. Dies geht weit über gängige Vorstellungen von Integration hinaus. Vielmehr soll der Blick darauf gerichtet werden, wie Partizipation am Arbeitsmarkt mit den langfristigen Zielen der Akzeptanz von Verschiedenheit und der Anerkennung von Vielfalt gelingen kann. Dr. Dagmar Beer-Kern, Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Leitung des Referats IIa6, Grundsatzfragen der Migrations- und Ausländerpolitik 4 Grußwort Ausgangspunkt der Diskussion sind die Begriffe Partizipation und Inklusion, verstanden als selbstverständlicher und gleichberechtigter Zugang zu allen kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Ressourcen einer Gesellschaft. Inklusion ist nicht nur eine gesellschaftliche Verpflichtung, sondern angesichts des demografischen Wandels ist ein inklusiver Arbeitsmarkt auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit. Das Förderprogramm „Integration durch Qualifizierung - IQ“ ist diesem Ziel mit einer Vielzahl von Maßnahmen flächendeckend verpflichtet, denn es geht letztendlich um Chancengleichheit beim Zugang zu Bildung, Weiterbildung, Kultur, Gesellschaft und zum Arbeitsmarkt. Deshalb stehen im Förderprogramm alle relevanten Bereiche im Focus, von der allgemeinen und beruflichen Bildung über die Weiterbildung und Nachqualifizierung sowie die Anerkennung ausländischer Qualifikationen bis hin zu konkreten Arbeitsmarktstrategien. Mit ihrer „Potenzialanalyse zu den Chancen und Hindernissen der beruflichen Integration von Menschen mit Migrationshintergrund im Hamburger Handwerk“ haben die Handwerkskammer Hamburg und das IQ Netzwerk Hamburg - NOBI einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg zu einem inklusiven Arbeitsmarkt gesetzt. Einmal mehr haben sie sich als verlässlicher und weitsichtiger Partner für das bundesweite Förderprogramm „Integration durch Qualifizierung – IQ“ erwiesen. Mit den Ergebnissen der Potenzialanalyse gilt es nun, Arbeitgeber, Handwerkskammern, Industrie- und Handelskammern sowie die Politik und Gesellschaft in die Verantwortung zu nehmen und den qualifizierten und motivierten Migrantinnen und Migranten zielführende Wege in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Denn eines ist sicher: Ohne ihre Integration wird der Fachkräftemangel in den kommenden Jahren die deutsche Wirtschaft und ganz besonders das Handwerk schwächen und den Wohlstand in Deutschland gefährden. Dr. Dagmar Beer-Kern Bundesministerium für Arbeit und Soziales Das Handwerk – eine integrative Kraft Gemessen an anderen Branchen steht das Handwerk gut da: Menschen mit Migrationshintergrund stellen etwa 20 Prozent der Beschäftigten in den unterschiedlichen Gewerken. Das sind im Vergleich etwa zum Öffentlichen Dienst sehr viele. Die Zahl entspricht schon beinahe dem Anteil von in Deutschland lebenden Migranten. Das Handwerk hat also eine integrative Kraft. Wie genau diese Kraft wirkt, wollten das IQ Netzwerk Hamburg - NOBI und sein Träger, die Hamburger Handwerkskammer, endlich genauer wissen. Denn viele Aussagen zu Migranten im Handwerk sind spekulativ und nicht wissenschaftlich belegt. Deshalb wurde eine vierstufige „Potenzialanalyse zu den Chancen und Hindernissen der beruflichen Integration von Migrantinnen und Migranten im Hamburger Handwerk“ (im Folgenden: Potenzialanalyse) in Auftrag gegeben. Eine Hintergrundrecherche zur Ausgangslage stand am Anfang. Es folgten 25 Interviews mit unterschiedlichen Vertretern des Handwerks von Auszubildenden über Mitarbeiter der Handwerkskammer und von Bildungseinrichtungen bis hin zu Betriebsinhabern. Anschließend wurden die Mitgliedsbetriebe der Kammer schriftlich zum Thema befragt. Der Rücklauf war erfreulich hoch, das Thema wird also durchaus wahrgenommen. Im letzten Schritt wurden alle Daten und Fakten in einem Bericht zusammengefasst, dessen zentrale Aussagen die vorliegende Broschüre widerspiegelt. Wichtigstes Ergebnis der Potenzialanalyse dürfte nun die Untermauerung eines bisher nur vorhandenen Gefühls sein: Menschen mit Migrationshintergrund arbeiten zwar häufig in Handwerksberufen, eine echte Integration z. B. in Form einer gezielten Talentförderung oder einer adäquaten Teilnahme der Zielgruppe an den Meisterkursen beispielsweise – fehlt aber. Gesine Keßler-Mohr, Handwerkskammer Hamburg, Leitung des Bereichs Handwerk und Integration und des IQ Netzwerk Hamburg - NOBI Ich wünsche Ihnen deshalb viele Ah’s! und Oh’s! bei der Lektüre. Weiterführende Ergebnisse der Studie können Sie bei mir gerne anfordern. Wir danken den Mittelgebern des Förderprogramms IQ: dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales, dem Bundesministerium für Bildung und Forschung und der Bundesagentur für Arbeit. Ohne ihre Unterstützung und Finanzierung wäre die Potenzialanalyse nicht möglich gewesen. Gesine Keßler-Mohr Handwerkskammer Hamburg Einführung 5 „Vielen meiner Freunde sind die Möglichkeiten, die es im Handwerk gibt, überhaupt nicht bekannt. Und von allein kommen viele nicht auf die Idee, auf Betriebe zuzugehen. Sie brauchen Unterstützung.“ Senida Kuc Vita Senida Kuc kam als Baby nach Deutschland. Ihre Eltern stammen aus Bosnien-Herzegowina. Die 20-Jährige ist bilingual aufgewachsen. Während ihrer Schulzeit wurde die Familie zweimal abgeschoben und zog mehrfach innerhalb Deutschlands um. Das führte zu Brüchen in der Schulbiografie. Senida Kuc absolvierte schließlich erfolgreich die Hauptschule und begann eine Ausbildung zur Elfenbeinschnitzerin. Anschließend ließ sie sich zur Goldschmiedin ausbilden und arbeitet nun in ihrem Ausbildungsbetrieb als Gesellin. 6 Erstzugang (Berufsausbildung) Eine Zufallsbekanntschaft Die gebürtige Bosnierin Senida Kuc ist Goldschmiedin geworden. Geplant war das nicht. Wenn man Senida Kuc nach dem Schulabschluss gefragt hätte, was sie in zehn Jahren sein würde, sie hätte nur mit den Schultern gezuckt. Nach einer bewegten Schullaufbahn inklusive zweier Abschiebungen in ihr Geburtsland Bosnien-Herzegowina hatte sie – gerade 14 Jahre alt – den Hauptschulabschluss absolviert. Einen Plan, wie es weitergehen sollte, hatte sie nicht. Kein Lehrer, kein Berater vom Jobcenter oder von der Handwerkskammer hat sie beispielsweise auf die Idee gebracht, einen Berufsweg ins Handwerk einzuschlagen. Und doch ist sie heute Goldschmiedin. Die 20-jährige Senida Kuc verdankt es in erster Linie einem Zufall, dass sie eine Handwerkerin wurde. Es war die Tante, die von einer freien Lehrstelle als Elfen- beinschnitzerin wusste. Senida bewarb sich und wurde genommen. Der Beruf machte ihr Freude, doch nach dem Ende der Lehrzeit gab es nur die Alternativen Industrie oder Selbstständigkeit. Beides wollte die junge Frau nicht. Von ehemaligen Auszubildenden erfuhr sie von der Möglichkeit, sich bei Goldschmieden zu bewerben. Nach Praktikum und Ferienjob begann sie ihre zweite Ausbildung zur Goldschmiedin. Die Lehrzeit wurde ihr aufgrund ihrer Vorkenntnisse verkürzt, die junge Frau arbeitet inzwischen als Gesellin in ihrem Ausbildungsbetrieb. Senida Kuc steht beispielhaft für viele Jugendliche mit Migrationshintergrund in Deutschland. Sie stammen aus Familien, die eine solide Ausbildung schätzen – und keine Kenntnis über das duale Aus- bildungssystem haben. Handwerk wird in ihren Ursprungsländern häufig hoch geachtet. Doch aufgrund der Arbeitserfahrungen ihrer Eltern und Großeltern hegen die jungen Leute große Vorbehalte gegenüber Berufen im Handwerk. Ihnen steht eine Fülle an Informationsmaterial zur Verfügung. Dennoch ist ihr größtes Problem nach der Beendigung der Schule ihre Orientierungslosigkeit. Das gaben alle für die Potenzialanalyse zu Chancen und Hindernissen von Migranten im Handwerk befragten Auszubildenden an. Zwar ist der Anteil von Azubis mit Migrationshintergrund im Hamburger Handwerk mit fast 30 Prozent höher ist als in anderen Wirtschaftszweigen. In der stark prosperierenden Region werden zudem viele qualifizierte Fachkräften gebraucht. Doch bleibt die Zahl der Lehrlinge mit Wurzeln im Ausland in Handwerksbetrieben deutlich hinter der Gesamtanzahl Jugendlicher eines Jahrgangs mit Migrationshintergrund zurück. In Hamburg sind dies aktuell 45,6 Prozent der unter 18-Jährigen. Viele von ihnen sind so genannte Bildungsinländer, wachsen in der Regel zweiErstzugang (Berufsausbildung) 7 sprachig auf. Auf ihre kulturellen Wurzeln wird bei der Rekrutierung insbesondere für Berufe im Handwerk nur selten Rücksicht genommen. Auch Informationsmaterial etwa auf Türkisch, Polnisch oder Farsi sowie gezielte Werbung in migrationsspezifischen Netzwerken halten die meisten der für die Studie befragten Betriebsinhaber für nicht notwendig. Vielmehr ist für sie das größte Problem ein seit Jahren bekanntes: Die potenziellen Azubis sprechen und schreiben schlecht Deutsch und sind häufig nicht reif für eine Lehre. Dies gilt allerdings sowohl für Jugendliche mit Migrationshintergrund als auch für gebürtige Deutsche. Deshalb geben die Betriebsinhaber an, bei der Azubi-Suche auch nicht zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund zu unterscheiden. Unter dem Strich kommt so ein altbewährtes Vorgehen zum Tragen: Die Jugendlichen mit Migrationshintergrund ergreifen einen Beruf, der in ihrer Familie bekannt ist. Wenn möglich, erlernen sie diesen sogar im Familien- oder Bekanntenkreis. Da allerdings zeigt sich 8 Erstzugang (Berufsausbildung) ein weiteres Problem: Nur die wenigsten Migrantenbetriebe bilden überhaupt aus. Nicht zuletzt führen alle diese Faktoren dazu, dass die Azubis mit Migrationshintergrund deutlich häufiger ihre Ausbildung abbrechen als gebürtige Deutsche. Sie sind dann oft als An- und Ungelernte auf dem Arbeitsmarkt. Senida Kuc hat der Zufall geholfen. Sie findet ihre Erfüllung im Handwerk. Das sagen die Auszubildenden: Das Handwerk hat ein schlechtes Image bei Jugendlichen (schwere, dreckige, schlecht bezahlte Arbeit) Die Möglichkeiten im Handwerk von der Vielfalt der Berufe bis zu den Aufstiegschancen sind nicht bekannt Der Einfluss der Eltern auf den Beruf der Kinder ist stark Jugendliche werden seitens der Handwerkskammer nicht altersgemäß angesprochen Das sagen die Betriebsinhaber: Die Jugendlichen sind nicht ausbildungsreif, sie verfügen über eine schlechte Allgemeinbildung und unzureichende Sprachkenntnisse Jugendliche haben ein falsches Bild vom Handwerk und den gebotenen Möglichkeiten Eltern, Lehrer und Vermittler vom Arbeitsamt müssen stärker in die Rekrutierung von Jugendlichen für das Handwerk einbezogen werden Ergebnisse der Befragung der Mitgliedsbetriebe der HWK Azubis gesamt und davon Azubis mit Migrationshintergrund n = 261 Betriebe (mit insgesamt 569 Auszubildenden) Betriebsinhaber/in mit Migrationshintergrund Betriebsinhaber/in ohne Migrationshintergrund keine Angabe Anzahl Auszubildende 600 531 500 400 300 ca. 20 % der Azubis 200 ca. 40 % der Azubis 104 100 35 3 0 Auszubildende gesamt 14 1 davon Auszubildende mit Migrationshintergrund Erstzugang (Berufsausbildung) 9 „Die Nachqualifizierung war ein sehr gutes Angebot. Ich empfehle jedem, der so ein Angebot bekommt, es zu nutzen. Besonders für Ausländer ist es wichtig, etwas in der Hand zu haben.“ Monireh Farahbakhsh Vita Monireh Farahbakhsh hat nach vielen Jahren im Beruf eine Nachqualifizierung zur Bäckereifachverkäuferin absolviert. Die heute 60-Jährige kam vor mehr als 20 Jahren als Flüchtling aus dem Iran nach Deutschland und hat schnell Deutsch gelernt. Trotz Abitur und Berufsausbildung in der Heimat hat sie jedoch die meiste Zeit in Deutschland als Ungelernte gearbeitet. Dennoch schaffte sie es, sich bis zur Filialleiterin einer Bäckereikette hochzuarbeiten. Eine adäquate Qualifizierung wurde ihr erst im Alter von 58 Jahren angeboten. 10 Quereinsteiger (Nach- und Anpassungsqualifizierung) Späte Anerkennung Ihren angestrebten Berufsabschluss konnte die Iranerin Monireh Farahbakhsh erst mit 58 Jahren machen. Sie hat eine Nachqualifizierung am Elbcampus absolviert. „Mein Traum war es immer, mich selbstständig zu machen“, sagt Monireh Farahbakhsh. Diesen Traum wird sie sich aufgrund ihres Alters nicht mehr erfüllen. Doch ist die 60-Jährige deshalb keineswegs unzufrieden. Sie hat in einem Alter, in dem andere langsam an die Rente denken, noch einen Berufsabschluss zur Bäckereifachverkäuferin gemacht. Sie hat eine Nachqualifizierung am Elbcampus, dem Kompetenzzentrum der Hamburger Handwerkskammer, absolviert und anschließend sofort wieder eine Stelle als Filialleiterin angeboten bekommen. „Das ist eine gute Position“, sagt die gebürtige Iranerin. Der Werdegang der einstigen Flüchtlingsfrau ist in zweierlei Hinsicht typisch für Menschen mit Migrationshintergrund: Sie ist eine klassische Quereinsteigerin ins Handwerk, denn ihre ursprüngliche Ausbildung war die einer Sekretärin. Und sie hat sich viel berufsspezifisches Wissen während ihrer täglichen Arbeit angeeignet, das sie schließlich mit Hilfe einer Nachqualifizierung und Externenprüfung zu einem vollwertigen Berufsabschluss aufgewertet hat. Nicht nur für Monireh Farahbakhsh, die nach Jahren im Beruf ein Zertifikat erwerben wollte, sondern auch für Quereinsteiger oder im Ausland in ähnlichen Berufen ausgebildete Gesellen sind die Angebote zur Nach- und Anpassungsqualifizierung am ELBCAMPUS oder bei den Innungen geeignet. Denn der Lernstoff schließt Wissenslücken. Die Nachqualifizierung wird laut Potenzialanalyse umso interessanter für Migranten, je näher das in den Kursen Gelehrte an den persönlichen und betrieblichen Anforderungen orientiert wird. Deshalb griff auch Monireh Farahbakhsh so begeistert zu. Traditionell verliert das Handwerk gut die Hälfte seiner ausgebildeten Fachkräfte an Industrie, Dienstleistung, öffentlichen Dienst und Handel. Umgekehrt jedoch gibt es eine seit Jahren leicht steigende Zahl von Menschen wie Monireh Farahbakhsh, die aus anderen Berufen ins Handwerk wechseln. Jährlich gewinnt das Handwerk auf diesem Weg etwa 20 Prozent an Arbeitskräften zurück. Für den sich abzeichnenden Fachkräftemangel ist es daher laut Potenzialanalyse unerlässlich, alle Zugangswege ins Handwerk offen zu halten. Denn: Das Handwerk gewinnt mit den Wechslern nicht nur Geringqualifizierte, sondern auch Facharbeiter und Hochqualifizierte. Die Zahl der Migranten unter ihnen ist nicht erfasst, dürfte aber vergleichsweise hoch sein, da in der Industrie noch immer viele Arbeitsplätze verloren gehen. Quereinsteiger (Nach- und Anpassungsqualifizierung) 11 Diese Migranten, die häufig bereits der zweiten oder dritten Einwanderer-Generation entstammen, müssen allerdings deutlich anders angesprochen werden als neu Zugewanderte. Wie die Potenzialanalyse ergab, ist deren Unterstützungsbedarf beim Weg auf den ersten Arbeitsmarkt deutlich höher, insbesondere, wenn ein Teil ihrer Bildungsbiografie im Ausland entstand. Sie benötigten Lotsen durch das Fahrwasser des deutschen Arbeitsmarktes: von der Anerkennung ihrer Berufsabschlüsse über Nachqualifizierungen und Fachkundeprüfungen bis hin zu berufsspezifischen Deutschkursen. Ein mögliches Modul ist auch die außerbetriebliche Fortbildung in Spezialbereichen für Beschäftigte ohne Gesellenbrief zu Teilfachkräften. Mit ihrer Unterstützung kann der Mangel an voll ausgebildeten Kräften gelindert werden. Doch es zeigt sich auch, dass Anerkennungsgesetz, Externenprüfung und Fortbildungen in den einzelnen Branchen sehr unterschiedlich nachgefragt werden. Im KFZ-Gewerbe etwa gab es im Jahr 2012 nur sechs beschiedene An- 12 Quereinsteiger (Nach- und Anpassungsqualifizierung) erkennungsanträge. Das KFZ-Handwerk ist allerdings im Vergleich zu anderen in einer günstigen Situation: Fachkräfte und Ausbildungssuchende sind bisher noch ausreichend vorhanden. Ganz anders sieht es im Elektrohandwerk aus. Laut Stefan Klemm, Bereichsleiter am BZE Bildungszentrum Elektrotechnik Hamburg, ist die Zahl der Externen- und Fachkundeprüfungen in den vergangenen Jahren von sechs auf 18 pro Jahr gestiegen. Der Bedarf ist hoch, denn schon heute macht sich in dem Gewerk der Fachkräftemangel bemerkbar. Deshalb steht auch für Christian Hamburg, Geschäftsführer eines Raumausstatter- und Malereibetriebes sowie Mitglied der Vollversammlung der Handwerkskammer, fest: „In absehbarer Zukunft wird Unterstützungsbedarf für Beschäftigte mit Migrationshintergrund bestehen, insbesondere hinsichtlich des Anerkennungsgesetzes.“ Das sagen die Kunden der Anerkennungsstelle oder für eine Nachqualifizierung: Migranten haben zu wenig Kontakt zu Deutschen, sie lernen die Sprache nur schleppend Die Vorbereitungen auf eine Nachqualifizierung müssen der individuellen sprachlichen Begabung Rechnung tragen: Sprachtest und eine verlängerte Kursdauer Die Dozenten müssen mit Empathie und Interesse für die Situation der Migranten an die Qualifizierung herangehen, um deren mangelndes Selbstbewusstsein zu stärken Die Beratung in den Arbeitsagenturen weist vielen Migranten keinen Weg ins Handwerk Migranten sollten mit Hilfe von Praktika ihren Wissensstand überprüfen Das sagen die Betriebsinhaber: Lernen muss mehr an das in der Praxis bereits erworbene Wissen anknüpfen, um die persönlichen und betrieblichen Bedürfnisse nach Weiterbildung aufzunehmen Zertifikatsorientiertes Ergebnisse der Befragung der Mitgliedsbetriebe der HWK Geschätzte Weiterbildungsmotivation der Mitarbeitenden mit Migrationshintergrund n = 283 Betriebe Betriebsinhaber/in mit Migrationshintergrund Betriebsinhaber/in ohne Migrationshintergrund 50 % 44 % 45 % 40 % 36 % 34 % 35 % 30 % 30 % 25 % 22 % 18 % 20 % 15 % 12 % 10 % 4% 5% 0 hoch mittel gering keine Angabe Quereinsteiger (Nach- und Anpassungsqualifizierung) 13 „Ich hätte mir eine intensivere Beratung seitens der Handwerkskammer bei der Vorbereitung auf die Meisterprüfung gewünscht.“ Artur Godonczuk Vita Artur Godonczuk lebt seit seiner Kindheit in Deutschland. Der gebürtige Pole hat einen polnischen Meister absolviert, der vor Inkrafttreten des Anerkennungsgesetzes im Jahr 2012 allerdings in Deutschland nicht überprüft werden konnte. Er leitet aber seit Jahren erfolgreich ein Elektrotechnik-Unternehmen, da er als Geselle eine Fachkunde- und eine Sachkundeprüfung absolviert hat und so eine Ausnahmebewilligung nach Paragraph 8 der Handwerksordnung bekommen hat. Sein Unternehmen wurde in die Anlage A der Handwerksrolle (meisterpflichtige Gewerke) eingetragen. Er hat die Ausbilder-Eignungsprüfung erfolgreich bestanden, die nebenberuflich absolvierte Meisterschule jedoch aufgrund der hohen Arbeitsbelastung nicht zu Ende gemacht. 14 Weiterbildung (Meisterschule, Duales Studium) Der steinige Weg zum Meisterbrief Migranten wie Artur Godonczuk trifft man nur selten in der Meisterschule. Das hat vor allem mit einem Mangel an Verständnis zu tun – auf beiden Seiten der Schulbank. Vielleicht hätte Artur Godonczuk seine Fortbildung zum Elektronik-Meister erfolgreich zu Ende gebracht, hätte er sie nicht nebenberuflich durchgeführt. Die hohe Arbeitsbelastung als Geselle und das geforderte Lerntempo der Schule jedoch vertrugen sich nicht. Im Nachhinein fühlt sich der Elektroniker auch nicht genügend auf die Anforderungen der Prüfungen vorbereitet. Er wünscht sich heute, die Handwerkskammer wäre eine Art Wegweiser durch das Dickicht aus Meisterschule und Unternehmensgründung für ihn gewesen. Migranten sind nur selten in höheren Fort- und Weiterbildungen des Handwerks anzutreffen. Je höher die Qualifizierungsstufe, desto geringer wird ihre Zahl. Das deutsche Bildungswesen und im speziellen die Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten sind schon für Deutsche schwer verständlich – nur 28 Prozent der Handwerker und damit die wenigsten Beschäftigten einer Wirtschaftsbranche nehmen laut eines Berichtes für den Deutschen Bundestag überhaupt an beruflicher Weiterbildung teil. Für Migranten ist dieses Bildungssystem häufig noch schwieriger zu durchschauen. Dabei dürfte insbesondere das sehr praxisnahe duale Studium für bildungshungrige Migranten interessant sein. Denn auch die Fachhochschul-Studiengänge haben sich als besonders attraktiv für diese Gruppe herauskristallisiert. Doch der Bildungsaufstieg unter Migranten, auch im Handwerk, ist schwer. Das belegen Zahlen und Fakten. Nur 20 Prozent der meisterpflichtigen Betriebe (Anlage A) im Kammerbezirk Hamburg haben Inhaber mit einem ausländischen Pass, aber 56 Prozent der nichtmeisterpflichtigen Betriebe. Das liegt laut Potenzialanalyse unter anderem an der immer noch dominierenden hierarchischen Struktur der Qualifikationen im Handwerk: Azubi – Geselle – Meister. Die zum Teil sehr viel höheren Anforderungen an Meisterschüler scheinen den Gesellen mit Migrationshintergrund den Zugang zu erschweren, auch, weil sie sprachlich und zeitlich an Grenzen stoßen. Allerdings werde auch das Prinzip Bildungsrendite bisher nicht so verinnerlicht. Und doch beobachtet etwa Gunter Scholz, Bereichsleiter Bildungsmanagement am ELBCAMPUS, dass trotz all dieser erschwerenden Umstände immer mehr Menschen mit Migrationshintergrund in den Meisterklassen sitzen, vor allem im Bau- und im Metallbereich sowie im Frisörhandwerk. Artur Godonczuk hatte bereits vor seiner Unternehmensgründung einen Meisterbrief in Polen erworben. Weiterbildung (Meisterschule, Duales Studium) 15 Aber: Diese Fortbildung lag vor dem Anerkennungsgesetz und nutzte ihm aufgrund fehlender Gesetze in Deutschland nichts. Heute könnte er den Meister anerkennen lassen, will es jedoch nicht. Da ihm bei der Meisterprüfung Teil III lediglich einige Punkte fehlten, will er in naher Zukunft einen neuen Anlauf nehmen und vielleicht doch noch den deutschen Titel erringen. Immerhin hat ihm die Teilnahme am HWK-Projekt MIAH – Mehr Integration durch Ausbildung im Handwerk dabei geholfen, die AusbilderEignungsprüfung zu bestehen. „Solch eine Vorbereitung wäre auch für die anderen Teile der Meisterprüfung gut“, sagt Godonczuk. MIAH wurde vor einigen Jahren seitens der Handwerkskammer initiiert, um mehr Unternehmer mit Migrationshintergrund für die berufliche Erstausbildung zu motivieren. Die Kurse zur Vorbereitung auf die AusbilderEignungsprüfung sind laut Potenzialanalyse ein erster wichtiger Schritt bei der Aufteilung der Aufstiegsstrecke zum Meister in Einzeletappen. Zudem haben sie gezeigt, dass der Lernstoff deutlich besser vermittelt werden kann, wenn be16 Weiterbildung (Meisterschule, Duales Studium) stimmte sprachliche und kulturelle Barrieren berücksichtigt werden. Daneben bietet die Handwerkskammer zahlreiche Beratungen zu den Themen Qualifizierung und Weiterbildung an. Eine kultursensible Ansprache oder gar Instrumente des so genannten Ethno-Marketings werden jedoch bisher nur vereinzelt eingesetzt, etwa am ELBCAMPUS. Dort gibt es seit 2011 Materialien mit einer neuen und zielgruppengerechten Ansprache: Unter dem Motto „Mission Zukunft“ werben Migranten als Agenten des Hand- werks für ihre Gewerke. Zudem werden z. B. Inserate zu Weiterbildungsangeboten in türkischen oder russischen Tageszeitungen geschaltet. Ein aktives Zugehen auf Gründungs- und Meisterschul-Interessierte allerdings, wie es Artur Godonczuk gebraucht hätte, gibt es bisher nicht. Das jedoch scheint insbesondere für Betriebsinhaber mit Migrationshintergrund ein wichtiger Punkt zu sein: Diese benötigen laut Potenzialanalyse sehr viel mehr Beratung und Unterstützung als ihre deutschen Kollegen, auch, um Vertrauen in das ihnen fremde System aufzubauen. Das sagen Meister und Betriebsinhaber mit und ohne Migrationshintergrund: Vor der eigentlichen Meisterschule sollten die Teilnehmer besser über Lehrinhalte informiert und sprachlich fit gemacht werden In den Meisterkursen herrscht zu viel Zeitdruck Gesellen mit Migrationshintergrund lassen sich eher von den Kosten und Anforderungen abschrecken, die eine Meisterschulung verursacht, als Deutsche Ergebnisse der Befragung der Mitgliedsbetriebe der HWK Das Anerkennungsgesetz trägt zur Integration von Migrant/innen bei n = 117 Betriebe Betriebsinhaber/in mit Migrationshintergrund Betriebsinhaber/in ohne Migrationshintergrund 100 % 90 % 80 % 80 % 70 % 60 % 59 % 50 % 40 % 30 % 24 % 20 % 13 % 17 % 7% 10 % 0 stimme zu stimme nicht zu weiß nicht Weiterbildung (Meisterschule, Duales Studium) 17 „Ein Ehrenamt ist mit einem erheblichen Mehr an Arbeit verbunden, die neben dem Tagesgeschäft geleistet werden muss. Das ist insbesondere für Gründer keine leichte Sache.“ Wolfgang Molitor Vita Der Politologe und einstige Bundeswehr-Offizier Wolfgang Molitor ist seit 2011 Geschäftsführer der Landesinnung der Gebäudereiniger für Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern. Diese wurde als Glasreiniger-Innung 1926 gegründet. Aktuell sind 120 der knapp 2.000 Hamburger Gebäudereinigerfirmen Mitglied der Innung. Die Zahl ihrer Beschäftigten reicht von einem bis zu mehreren Tausend. Die Innung hat die Gruppe „G40“ gegründet, in der junge Unternehmer des Handwerks aktiv sind. Sie kümmern sich um die Nachwuchsgewinnung – auch im Ehrenamt. 18 Ehrenamt im Handwerk und Kooperation mit Migrantenorganisationen Eine Frage der Ehre Die Selbstorganisationen des Handwerks und der Migranten haben viele Gemeinsamkeiten. Eine davon ist das Ehrenamt. Doch bisher wissen beide Seiten nur sehr wenig voneinander. Kooperationen können Brücken bauen. Das Ehrenamt spielt im Bündnis Islamischer Gemeinden Norddeutschlands e.V. eine wichtige Rolle. 550 ehrenamtliche Mitarbeiter leiten die darin zusammengeschlossenen 17 Gemeinden mit ihren jeweiligen Unterorganisationen. 6.000 Mitglieder zählt das Bündnis, davon arbeiten geschätzt 15 Prozent im Handwerk. Aber ein Ehrenamt im Handwerk? Davon hat Fatih Yildiz, verantwortlich für die Bereiche Management und Organisation des Bündnisses und in Hamburg geboren, noch nie etwas gehört. Er wisse weder, welchen Zweck ein Ehrenamt im Handwerk habe noch was genau gemacht werden müsse. Deshalb kann Fatih Yildiz daran interessierten Mitgliedern auch keinerlei Auskunft geben. Er ist jedoch davon überzeugt, dass der Bedarf an Informationen und Austausch vorhanden ist. Über eine Zusammenarbeit von Migrantenorganisationen und Handwerkskammer könnten seiner Ansicht nach viele Migrantinnen und Migranten erreicht werden. Ihre Selbstorganisationen könnten als Multiplikatoren dienen. Das Handwerk auf der einen Seite, die Migranten auf der anderen. Beide pflegen ihre Traditionen, in beiden spielt das ehrenamtliche Engagement eine wichtige Rolle. Doch Handwerker mit Migrationshintergrund für die ehrenamtliche Arbeit in den Selbstverwaltungsgremien des Handwerks zu gewinnen, ist problematisch, sagt Frank Glücklich, Hauptge- schäftsführer der Handwerkskammer Hamburg (HWK). Beispiel Vollversammlung: Formell ist eine Mitgliedschaft in einer Innung für die Vertreter der Arbeitgeberseite nicht vorgeschrieben. Faktisch jedoch ist kein Vertreter innungslos. Daher sind zunächst die Innungen gefordert, Migranten für dieses Ehrenamt zu gewinnen. Die Handwerkskammer wird sie dabei gerne unterstützen. Migrantische Mitgliedsunternehmen der Handwerkskammer sind allerdings bislang selten Teil einer Innung oder aber nicht in ihr aktiv. Das zeigen etwa die Zahlen zu den Gebäudereinigern: Von den knapp 3.500 Mitgliedsunternehmen der Handwerkskammer Hamburg, deren Inhaber ausländische Wurzeln haben, stellen allein die Gebäudereiniger mehr als 1.100. Die Hamburger Gebäudereinigerinnung selbst zählt aber auch von den knapp 2.000 Unternehmern mit und ohne Migrationshintergrund nur 120 zu ihren Mitgliedern. Dabei handele es sich allerdings um sehr große Betriebe, sodass 90 Prozent der Beschäftigten erreicht werden, erläutert Wolfgang Molitor, Geschäftsführer der Landesinnung für Hamburg und Ehrenamt im Handwerk und Kooperation mit Migrantenorganisationen 19 Mecklenburg-Vorpommern. Zudem verzeichne er ein zunehmendes Interesse insbesondere von jungen Existenzgründern mit Migrationshintergrund an einer Mitgliedschaft. Eine Handvoll Meister mit Migrationshintergrund gibt es immerhin schon in den Prüfungsausschüssen z. B. der Bäcker- und der KFZ-Innung. Auf Seiten der Arbeitnehmer sieht Hauptgeschäftsführer Glücklich mehr Chancen, Mitglieder mit Migrationshintergrund für die Vollversammlung zu gewinnen. Aktuell gibt es einen solchen Vertreter. Bis Migranten ihrem Anteil der Bevölkerung entsprechend in den Ehrenämtern des Handwerks vertreten sein werden, werden noch einige Jahre ins Land gehen, befürchtet Glücklich. Eine Vorreiterrolle könnten die Gebäudereiniger übernehmen. In dem Gewerk, das seit 2004 nicht mehr meisterpflichtig ist, gibt es im Verhältnis die meisten Betriebsinhaber mit Migrationshintergrund: Von 1.924 Gebäudereinigerfirmen, die in Anlage B1 der Handwerksrolle eingetragen sind, haben 1.135 einen Inhaber mit ausländischen Wurzeln. Traditionell werden sehr viele Migranten, insbesondere Frauen, beschäftigt. Deshalb hat die Innung auch gemeinsam mit dem Kompetenzzentrum des Handwerks, dem ELBCAMPUS, einen Vorbereitungskurs zur Externenprüfung im Gebäudereinigerhandwerk angeschoben. Dieser enthält spezielle Sprach- und Lernförderanteile, um die Teilnehmer zu einem erfolgreichen Abschluss führen zu können. Bis allerdings Betriebsinhaber mit Migrationshintergrund für ein Ehrenamt gewonnen werden können, wird auch in dieser Innung noch Zeit vergehen. Die Kommunikation untereinander sei aber unkompliziert, so Geschäftsführer Molitor. Kontakte zu Multiplikatoren wie den Migranten-Organisationen, dem Hamburg Welcome Center oder der Beratungsstelle für ausländische Berufsabschlüsse hat allerdings auch die Gebäudereinigerinnung bisher nur sporadisch. Nach den Ergebnissen der Potenzialanalyse ist die Kooperation jedoch einer der wichtigsten Schlüssel zur erfolgreichen Integration von Migranten. Erst die Multiplikatoren 20 Ehrenamt im Handwerk und Kooperation mit Migrantenorganisationen ermöglichen den Zugang zu den Lebenswelten der Migranten. Wie erfolgreich gemeinsame Projekte von deutschen und ausländischen Ehrenamtsvertretern sein können, wurde während der Erprobung der Werbestrategie „Handwerker – Agenten des Alltags“ (siehe auch Kapitel 3) sichtbar. Dahinter stand die Idee, moderne und coole Handwerker mit Migrationshintergrund als Botschafter ihrer Gewerke auszusenden. Laut Potenzialanalyse ein erfolgversprechender Ansatz, wenn es gelingt, möglichst viele Praktiker aus Handwerksbetrieben und Innungen einzubinden. Zum einen werde den Migranten gezeigt, dass Handwerksbetriebe eine sehr menschliche Seite haben. Zum anderen könnten diese Rollenvorbilder auch Betriebsinhabern mit Migrationshintergrund helfen, aus ihrem häufig kleinen ethnischen Netzwerk herauszutreten und mehr im gesamten sozialen Umfeld etwa eines gesamten Stadtteils sichtbar zu werden. Das stärkt ihre Position, macht sie ebenfalls zu Rollenvorbildern und am Ende der Kette auch zu potenziellen Kandidaten für Ehrenämter im Handwerk. Ergebnisse der Befragung der Mitgliedsbetriebe der HWK Verteilung auf die Anlagen A, B1 + B2 der Handwerksordnung n = 224 Betriebe Betriebsinhaber/in mit Migrationshintergrund Betriebsinhaber/in ohne Migrationshintergrund 100 % 90 % 80 % 80 % 70 % 61 % 60 % 50 % 40 % 32 % 30 % 20 % 16 % 7% 10 % 4% 0 Anlage A Anlage B1 Anlage B2 Ehrenamt im Handwerk und Kooperation mit Migrantenorganisationen 21 Resümee Ohne berufliche Integration gelingt auch die gesellschaftliche Integration nicht. Diese Tatsache hat die Handwerkskammer Hamburg schon vor Jahren dazu veranlasst, aus ihrer wirtschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Verantwortung heraus zahlreiche Projekte und Aktivitäten mit langfristiger Wirkung zu initiieren. Eines davon ist das IQ Netzwerk Hamburg - NOBI (Netzwerk zur beruflichen Integration von Migrantinnen und Migranten), das die richtungsweisende Potenzialanalyse zur Situation von Menschen mit Migrationshintergrund in Auftrag gegeben hat. Aus den erstmals vorliegenden, belastbaren Daten und Fakten hat die Kammer konkrete Handlungsempfehlungen für die kommenden Jahre abgeleitet (siehe nebenstehende Seite). In der prosperierenden Wirtschaftsregion Hamburg ist der Mangel an Fachkräften und Nachwuchs in zahlreichen Gewerken des Handwerks bereits heute deutlich spürbar. Aufgefangen werden kann dieser am ehesten durch die verstärkte Integration von Menschen mit Migrationshintergrund, Frauen und Neuzuwanderer. Wie die Potenzialanalyse gezeigt hat, sind sehr viele talentierte und fähige Arbeitskräfte unter ihnen, denen lediglich der Weg ins Handwerk durch unterschiedliche Barrieren versperrt ist. Die Handwerkskammer muss sich in naher Zukunft verstärkt darum bemühen, gemeinsam mit den Betriebsinhabern diese Barrieren abzubauen. Soll dies gelingen, müssen Migranten auf allen Ebenen sichtbar werden – von der Ausbildung und Beschäftigung über die Höherqualifizierung in dualen Studiengängen und Meisterschulungen bis hin zur Selbstständigkeit und Selbstverwaltung des Handwerks. Es geht dabei auch darum, Zeichen zu setzen: damit Migranten sehen, dass sie willkommen sind, ernst genommen und gebraucht werden. Getreu dem Motto der Imagekampagne des Handwerks: „Bei uns zählt nicht, wo man herkommt. Sondern, wo man hinwill.“ 22 Resümee Zehn Handlungsempfehlungen von den Autoren des Abschlussberichts 1. Potenzielle Auszubildende und Fachkräfte sollten so angesprochen werden, wie sie es aus ihrem Kulturkreis kennen (Ethno-Marketing) 2. Informationsmaterial sollte mehrsprachig und für Jugendliche in einer jugendgerechten Sprache verfasst werden 3. Eltern und Verwandte sollten in die Informationskampagnen einbezogen werden. Ihr Einfluss auf die Berufswahl der Jugendlichen ist groß 4. Potenzielle Multiplikatoren, etwa in den Organisationen und religiösen Gemeinden von Migranten, in den Schulen sowie in den Agenturen für Arbeit sollten gezielt zu beruflichen Möglichkeiten im Handwerk beraten und informiert werden 5. Die Kooperation mit Schulen und Migrantenorganisationen sollte intensiviert werden, um etwa Hürden vor Beratungsangeboten der Handwerkskammer zu nehmen 6. Die Zielgruppen sollten offen und offensiv über das Handwerk informiert werden: mit Hilfe von Messen, speziellen Veranstaltungen etwa in Schulen, Praktikabörsen und ähnlichem 7. Die Innungsmitglieder sollten für diese Informationskampagnen aktiviert werden 8. Förder- und Stützangebote sollten an den tatsächlichen Bedürfnissen orientiert werden (Diversity) und nicht pauschal am Migrationshintergrund 9. Nach- und Anpassungsqualifizierungen sollten verstärkt angeboten und die Öffnung für Quereinsteiger vorangetrieben werden 10. Zur Verdeutlichung der Aufgaben, Ziele, Organisation und Struktur im Handwerk sollten Rollenvorbilder mit Migrationshintergrund gefunden und herausgestellt werden: erfolgreiche Azubis und Meisterschüler, Ehrenamtliche, Selbstständige. Handlungsempfehlungen 23 Das Netzwerk IQ wird gefördert durch: Das IQ Netzwerk Hamburg – NOBI wird koordiniert durch: Impressum Herausgeber: Handwerkskammer Hamburg IQ Netzwerk Hamburg – NOBI Holstenwall 12 20355 Hamburg www.nobi-nord.de Konzept: Nadine Kraft www.artikelschmiede-kraft.de Text: Nadine Kraft Redaktion: Gesine Keßler-Mohr, Handwerkskammer Hamburg, Nadine Kraft Fotos: Michaela Ludwig, Anita Schiffer-Fuchs, HWK Hamburg, fotolia Layout: StilPunkt3 Designbüro Druck: MOD Offsetdruck GmbH Datum: Dezember 2013