STUDIE Selbstständiges Wohnen im Alter

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STUDIE Selbstständiges Wohnen im Alter
STUDIE
Selbstständiges Wohnen im Alter
„Gemeinschaftsorientiertes Wohnen“
und „Betreutes Wohnen“
im Vergleich
FernUniversität - Gesamthochschule Hagen
Institut für Psychologie
erstellt von Gerlinde Gottlieb
März 2005
1
Inhaltsverzeichnis
1
Einleitung
3
2
Voraussetzungen für selbstständiges Wohnen im Alter
6
2.1
Kompetenzen der Person
6
2.2
Räumliche Umwelt
8
2.3
Soziale Umwelt
2.3.1 Modell des sozialen Konvois nach Kahn & Antonucci
2.3.2 Hierarchisches Kompensationsmodell nach Cantor
10
11
13
2.4
Weitere Umweltmerkmale
2.4.1 Erreichbarkeit und Zugänglichkeit
2.4.2 Sicherheit
14
15
16
2.5
Passung zwischen Person und Umwelt
2.5.1 Kompetenz-Anforderungsmodell von Lawton
2.5.2 Komplementraritäts-Ähnlichkeits-Modell von Carp & Carp
17
17
20
3
Empirische Untersuchung
24
3.1
Fragestellung der Untersuchung
24
3.2
Methode und Vorgehensweise
3.2.1 Methode der ego-zentrierten Netzwerkanalyse
3.2.2 Zugang zum Projekt und Durchführung der Befragung
24
24
26
3.3
Beschreibung der Stichprobe
27
3.4
3.4.1
3.4.2
3.4.3
Ergebnisdarstellung - Gemeinschaftsorientiertes Wohnprojekt
Entstehungsgeschichte und Beschreibung des Projektes
Objektive Deskription der Wohnbedingungen
Subjektive Bewertung der Wohnbedingungen durch die Bewohner
28
28
30
33
3.5
Einzugsgründe
37
3.6
Erwartungen
40
3.7
3.7.1
3.7.2
3.7.3
Soziales Netzwerk der Bewohner
Netzwerkgröße
Soziale Aktivitäten
Vereinsaktivitäten
43
43
47
51
3.8
Entwicklungspotenziale im Wohnprojekt
53
3.9
Versorgung im Krankheitsfall
54
3.10 Exkurs: Voraussetzungen für das Leben im Wohnprojekt
58
2
4
Vergleichende Diskussion
59
4.1
4.1.1
4.1.2
4.1.3
4.1.4
4.1.5
4.1.6
4.1.7
Merkmale der Bewohner
Familienstand
Geschlecht
Gesundheitszustand
Einzugsalter
Wohnsituation vor und nach dem Umzug
Einzugsbereich der Wohnanlagen
Zusammenfassung der Bewohnermerkmale
61
61
61
62
63
63
64
65
4.2
4.2.1
4.2.2
4.2.3
4.2.4
4.2.5
4.2.6
Einzugsgründe
Gesundheitliche Gründe
Absicherung im Not- und Bedarfsfall
Wunsch nach einer altersgerechten Wohnung
Nähe zur Filialgeneration
Wunsch nach Gemeinschaft
Zusammenfassung der Einzugsgründe
66
66
67
68
69
70
71
4.3
4.3.1
4.3.2
4.3.3
Erwartungen
Letzte Station der Wohnbiografie
Hilfe bei längerer Krankheit
Zusammenfassung der Erwartungen
72
72
74
74
5
Schlussbetrachtung
76
6
Literatur
79
Anhang: Fragebogen
Erklärung
3
1
Einleitung
Das Thema „Wohnen und Leben im Alter“ gewinnt zunehmend an Bedeutung.
Ein Grund hierfür ist die demografische Entwicklung, die geprägt ist durch
sinkende Geburtenraten und den stetig zurückgehenden Anteil der jüngeren
Bevölkerungsgruppe. Gleichzeitig steigt die Lebenserwartung und damit das
Risiko der Pflegebedürftigkeit. Hinzu kommt der anhaltende Trend zur Singularisierung und Individualisierung, der dazu führt, dass familiäre Netze weniger
soziale Unterstützung leisten können als in der Vergangenheit. Es stellt sich
somit die Frage, welche Wohnformen und welche Versorgungsstrukturen diesem Wandel gerecht werden, welche den Bedürfnissen der älteren Menschen
nach einem selbstständigen und selbstbestimmten Leben entsprechen und
welche Modelle in Zukunft finanzierbar sind.
93 % der Menschen über 65 leben heute in normalen Wohnungen und wollen
dort, nach Möglichkeit bis zum Lebensende, wohnen bleiben (BMFSFJ, 1998,
S. 94). Die notwendigen Voraussetzungen hierzu sind eine selbstständigkeitsfördernde Gestaltung von Wohnung und Wohnumfeld sowie soziale Kontakte
und Unterstützungspotenziale, die Versorgungssicherheit im Not- und Bedarfsfall bieten. Durch die Möglichkeiten, die Wohnung mit professioneller Hilfe an
die sich verändernden Bedürfnisse des älter werdenden Menschen anzupassen
und durch die Inanspruchnahme von ambulanten Diensten und nachbarschaftlich organisierten Unterstützungsnetzwerken, kann ein Verbleib in der vertrauten Wohnumgebung selbst bei nachlassender Kompetenz in vielen Fällen
gewährleistet werden. Welche Wohnalternativen stehen aber zur Verfügung,
wenn man die Wohnsituation aufgrund mangelnder Passung zwischen der
Kompetenz der Person und den Umweltanforderungen verändern muss oder
präventiv verändern will und weder alleine noch im Heim leben möchte?
Alternativen zum Wohnen in der eigenen Wohnung sind Betreutes Wohnen,
selbstorganisierte Wohn- und Hausgemeinschaften sowie Mehrgenerationenwohnen. Diese Wohnformen werden vor allem von Menschen gewählt, die sich
mit ihrer Wohnsituation bewusst auseinander setzen. Sie sind bestrebt, Mängel
der Umwelt, im Hinblick auf räumliche und/oder soziale Defizite sowie der Versorgungssicherheit, durch einen Umzug bewusst zu verändern, um so lange
wie möglich selbstständig und selbstbestimmt im Alter leben zu können bzw. im
dritten Lebensalter noch einmal etwas Neues zu beginnen.
3
Unter „Betreutem Wohnen“ wird das „selbstständige Wohnen in einer vollständigen, abgeschlossenen und nach Möglichkeit barrierefreien Wohnung“ verstanden, das ein bestimmtes Maß an Betreuung (wie beispielsweise individuelle
Beratung, Vermittlung von Dienstleistungsangeboten, Organisation von Freizeitaktivitäten) beinhaltet (BMFSFJ, 1998, S. 112). Mitte der 80er Jahre entstanden die ersten Beispiele für Betreutes Wohnen. Diese Wohnform wurde
seitdem immer populärer. Heute leben schätzungsweise zwischen 150.000 und
230.000 Menschen in betreuten Wohnanlagen (Kremer-Preiß & Stolarz, 2003,
S. 95).
Im Vergleich zum Betreuten Wohnen leben (noch) relativ wenig Menschen in
gemeinschaftsorientierten Wohnprojekten. Man geht von ca. 250 realisierten
Projekten mit etwa 4.000 bis 5.000 Wohnungen aus (Kremer-Preiß & Stolarz,
2003, S. 73). Dass der Bedarf und die tatsächliche Nachfrage nach dieser
Wohnform größer ist als das bereits existierende Angebot, wird in der Statistik
des Forums für gemeinschaftliches Wohnen (FGWA) deutlich. Im Jahr 1999
zählte der Verein 2.000 Anfragen von Interessenten an gemeinschaftsorientierten Wohnformen. Ende 2004 hat sich die Zahl bereits auf 9.200 erhöht (FGWA,
2005).
Unter dem Begriff „Gemeinschaftliches Wohnen“ verbirgt sich eine Vielzahl von
unterschiedlichen Projekten. Das Spektrum reicht von selbstorganisierten,
altershomogenen Wohn- oder Hausgemeinschaften über ökologisch orientierte
Mehrgenerationen-Wohnprojekte bis hin zu Wohngruppen mit Betreuungsbedarf.
Kennzeichnend für gemeinschaftsorientierte Wohnprojekte ist, dass sich Gleichgesinnte zusammenschließen, um in einem meist gemeinsam geplanten Haus
miteinander zu leben und gemeinsame Ziele zu verfolgen.
Da gemeinschaftsorientierte Wohnprojekte von einer zunehmenden Anzahl
älterer Menschen als Alternative zum Alleinwohnen und zum Wohnen im Altenheim gesehen werden, wird in dieser Arbeit ein gemeinschaftsorientiertes intergeneratives Wohnprojekt qualitativ untersucht und deskriptiv ausgewertet. Die
Bewohner kommen dabei selbst zu Wort, um ein Bild über den Alltag in einem
gemeinschaftsorientierten Wohnprojekt sowie über die sozial-räumlich Umwelt
zu vermitteln.
4
Ferner wird in dieser Studie der Frage nachgegangen, worin sich die Bewohner
des gemeinschaftsorientierten Wohnens und des Betreuten Wohnens unterscheiden.
Hierbei sind Fragestellungen von Interesse:
•
In welchen Aspekten unterscheiden sich die Bewohner der beiden Wohnformen?
•
Was bewegt sie, in die jeweilige Wohnform zu ziehen?
•
Welche Erwartungen sind mit dem Umzug verbunden?
•
Wie gestalten sie ihren Alltag?
•
Auf welches soziale Unterstützungspotenzial können sie im Not- und Bedarfsfall zurückgreifen?
Zum Vergleich der Wohnformen werden verschiedene empirische Untersuchungen zum Betreuten Wohnen (Saup, 2001; Göldner, 2002; Seidel, 2003)
herangezogen und diskutiert.
Im theoretischen Teil werden Kompetenz- und Kongruenzmodelle aus der ökologischen Gerontologie dargestellt, die sich mit dem Person-Umweltbezug im
Alter befassen. Des Weiteren werden Ansätze zur sozialen Netzwerkbildung
und der sozialen Unterstützung aufgezeigt.
Da es bislang noch relativ wenig veröffentlichte empirische Forschungsarbeiten
zu gemeinschaftsorientierten Wohnprojekten gibt, wurde zur Exploration ein
Fragebogen entwickelt, der als Leitfaden für das qualitative Interview diente.
Zur Erhebung des sozialen Netzwerkes im gemeinschaftsorientierten Wohnprojekt wurde die Methode der Netzwerkanalyse eingesetzt und in den Fragebogen
integriert.
5
2
Voraussetzungen für selbstständiges Wohnen im Alter
In welchem Ausmaß selbstständiges Wohnen und Leben im Alter möglich ist,
hängt von verschiedenen Merkmalen der Person und der sie umgebenden
räumlichen und sozialen Umwelt ab. Diese Merkmale werden im Folgenden
näher beschrieben.
2.1
Kompetenzen der Person
Eine wesentliche Voraussetzung für die selbstständige Lebensführung liegt in
der Person selbst. Selbstständiges Leben und Wohnen impliziert, dass die Person in der Lage ist, sich selbst zu versorgen, den Haushalt eigenständig zu
führen und sich außerhalb der Wohnung zu bewegen. In der gerontologischen
Literatur wird diese Fähigkeit als Alltagskompetenz bezeichnet und in zwei
Gruppen von Alltagshandlungen unterteilt: in die basalen (ADL - Activities of
Daily Living) und in die instrumentellen (iADL) Tätigkeiten.
Laut Wahl (1988, S. 75f) zählen hierzu:
•
Regelmäßige Selbstpflege
•
Anziehen
•
Einnehmen von Mahlzeiten
•
Toilettenbenutzung
•
Mobilität
•
Einkaufen
•
Kochen
•
Haushaltsarbeiten
•
Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel
•
Erledigung von Geldangelegenheiten
•
Umgang mit Medikamenten
•
Telefonieren.
ADL
iADL
Bis zu welchem Grad diese Aktivitäten selbstständig ausgeführt werden, ist abhängig von der Wechselwirkung zwischen dem Gesundheitszustand der Person, ihren motorischen, sensorischen und kognitiven Fähigkeiten, sowie von
den Gegebenheiten der sozial-räumlichen Umwelt und von den Erfordernissen
der jeweiligen Situation.
6
Die Ergebnisse der Untersuchung von Kruse & Schmitt (1995, S. 232) zu
„Formen der Selbständigkeit in verschiedenen Altersgruppen“ weisen darauf
hin, dass bei den 60-74-Jährigen die Selbstständigkeit weitgehend erhalten ist,
aber in der Altersgruppe zwischen 75 und 79 ein deutlicher Zuwachs des Anteil
der Personen mit Hilfebedarf bei der Ausführung von Alltagsaktivitäten zu verzeichnen ist.
Das Risiko, mit zunehmendem Alter an Kompetenz einzubüßen, darf jedoch
nicht mit einer defizitären Sichtweise des Alterns insgesamt einhergehen. Der
Prozess des Alterns ist interindividuell verschieden, und Kompetenzeinbußen
werden unterschiedlich wahrgenommen und kompensiert. Wahl (1993, S. 367)
konstatierte in seiner Untersuchung über die Aktivitäten des täglichen Lebens,
dass eine hohe Alltagskompetenz bei älteren Menschen die Regel ist und die
Abhängigkeit von Hilfe eher eine Ausnahme bildet.
In diesem Zusammenhang sind auch die Arbeiten von Baltes & Baltes (1990)
interessant, die das psychologische SOK-Modell (Selektive Optimierung mit
Kompensation) entwickelten. Sie postulieren, dass Menschen bei abnehmender
Kompetenz Strategien entwickeln, wie sie ein persönlich zufriedenstellendes
und möglichst autonomes Leben im Alter führen können. Dieses Modell basiert
auf der Maximierung von Gewinnen und auf der Minimierung von Verlusten und
besagt, dass das Individuum eine Auswahl in bestimmten Funktions- und Verhaltensbereichen trifft, die mit seinen persönlichen Bedürfnissen in Einklang
stehen. Das Individuum optimiert seine Handlungsweise, um die für ihn bedeutsamen Aktivitäten so lange wie möglich - wenn auch in abgeänderter Form weiterhin ausführen zu können.
Zur erweiterten Kompetenz des Menschen zählt die Fähigkeit, den Alltag sinnvoll zu gestalten. Dies sind Aktivitäten, die nicht zwingend für die selbstständige
Lebensführung sind, sondern sich vielmehr positiv auf die Lebensqualität und
Lebenszufriedenheit auswirken. Hierzu zählen u.a. die Nutzung von Medien und
Bildungsmöglichkeiten, sportliche Aktivitäten, ehrenamtliches Engagement etc.
(BMFSFJ, 1998, S. 26).
Kruse (1992, S. 25) hat Kompetenz nicht nur als die „Fähigkeit des Menschen
zur Aufrechterhaltung eines selbständigen Lebens“ im Sinne der Alltagskompetenz (ADL/iADL) beschrieben, sondern diesen Begriff erweitert auf ein „aufgabenbezogenes und sinnerfülltes Leben in einer anregenden, unterstützenden,
die selbstverantwortliche Auseinandersetzung mit Aufgaben und Belastungen
7
fördernden Umwelt“. Diese Definition von Kompetenz liegt der vorliegenden Arbeit zugrunde.
Die aktive und selbstverantwortliche Auseinandersetzung des Menschen mit
den Anforderungen seiner sozialen und räumlichen Umwelt trägt dazu bei, seine Fähigkeiten und Fertigkeiten zu fordern und zu fördern.
2.2
Räumliche Umwelt
Der Wunsch der meisten (älteren) Menschen ist es, unabhängig und möglichst
lange selbstständig und selbstbestimmt zu leben und, wenn möglich, in der
eigenen Wohnung und somit im vertrauten Wohnumfeld zu bleiben. Ob dieser
Wunsch erfüllt werden kann, ist abhängig von der Kompetenz der Person sowie
von der Qualität der Wohnung, des sozial-räumlichen Wohnumfeldes sowie
deren Erreichbarkeit und Zugänglichkeit.
Die Wohnung und ihre Ausstattung wirken sich auf die Lebensqualität insofern
aus, als der Alltag im Alter vor allem durch den Aufenthalt in der Wohnung geprägt ist. Saup (2001, S. 83) stellte in seiner Studie zum Aktivitätsprofil der Bewohner von betreuten Wohnanlagen fest, dass ältere Menschen ab 70 durchschnittlich 21 Stunden pro Tag in der Wohnung verbringen.
War die Wohnung lange Jahre auf die Bedürfnisse der Person zugeschnitten,
so können, durch altersbedingte Kompetenzeinbußen im körperlichen, sensorischen und kognitiven Bereich, Barrieren in der räumlichen Umwelt entstehen,
die die Ausführung gewohnter und notwendiger Tätigkeiten behindern, sich
negativ auf das Wohlbefinden und die Aktivitäten des Menschen auswirken und
letztendlich den Selbstständigkeitsgrad reduzieren können.
Solange die Person noch selbst dazu in der Lage ist, kann sie die entstandenen
Defizite beispielsweise kompensieren durch:
•
Verhaltensänderung (z.B. mehr Radio hören statt lesen, wenn die Sehkraft
nachlässt) und/oder durch
•
Veränderung bzw. Anpassung der Umwelt durch Wohnungsanpassungsmaßnahmen (wie z.B. das Anbringen von Erhöhungsblöcken an Bett und
Sessel, damit das Aufstehen leichter fällt) oder gar durch die
•
Nutzung von prothetischen Mitteln (wie z.B. den Einsatz einer Greifhilfe, die
das Heranholen und Aufheben von Gegenständen erleichtert).
8
Auch die Inanspruchnahme von Dienstleistungen wie Einkaufs- und Haushaltshilfen trägt dazu bei, Defizite zu kompensieren und möglichst lange ein selbstständiges Leben zu führen. Können Einbußen nicht mehr kompensiert werden,
führt dies zu erheblichen Einschränkungen im Alltag, die als belastend erlebt
werden können und unter Umständen einen Umzug in ein Alten- oder Pflegeheim erforderlich machen.
Auch wenn sich die Mehrheit der Aktivitäten im Alter auf die eigene Wohnung
beschränkt, trägt die sozial-räumliche Wohnumwelt als Teil der Wohnbedingungen wesentlich zum selbstständigen und zufriedenstellenden Leben bei.
Das Wohnumfeld umfasst vor allem den näheren räumlichen Bereich, der die
eigene Wohnung umgibt, und beinhaltet die engere und weitere Nachbarschaft
sowie das Quartier (BMFSFJ, 2001, S. 245). Das Vorhandensein und die Erreichbarkeit von Läden des täglichen Bedarfs (Supermarkt, Apotheke), Dienstleistungen (Arzt, Bank, Freizeiteinrichtungen), Naherholungsgebieten (Parks,
Grünflächen) sowie eine gute Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz sind
insbesondere für ältere Menschen von besonderer Bedeutung, da diese Gegebenheiten ein notwendiges aktionsräumliches Feld darstellen.
Lawton (1977) belegte, das die Nutzung von Infrastruktureinrichtungen in Zusammenhang mit der Entfernung von der eigenen Wohnung steht, d.h. je weiter
die Einrichtungen (Laden, Alten- und Service-Zentrum) von der Wohnung entfernt sind bzw. je schlechter sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar sind,
desto geringer ist die Nutzung dieser Gelegenheiten. Folglich ist eine geringe
Distanz zu den infrastrukturellen Einrichtungen der Ausübung außerhäuslicher
Aktivitäten förderlich.
Eine Einschränkung der Handlungsmöglichkeit kann bei längerer Dauer zur
Folge haben, dass Kompetenzen aufgrund einer anregungsarmen und an
Gelegenheiten mangelnden Umwelt nicht mehr gefördert und somit vernachlässigt werden und mit der Zeit verkümmern. Dies kann zu einem allmählichen
Rückzug in die eigene Wohnung führen.
In dieser Studie wird ein besonderes Augenmerk auf die Erreichbarkeit und
Zugänglichkeit der infrastrukturellen Einrichtungen des Wohnumfeldes gelegt
und die Auswirkung auf die Selbstständigkeit der Bewohner in Abhängigkeit von
ihrer Mobilität untersucht. Von Interesse ist, ob und wie die Bewohner des
gemeinschaftsorientierten Wohnprojektes den Mangel an fußläufig erreichbarer
Infrastruktur bei der Erledigung der alltäglichen Besorgungen durch gegenseitige Hilfestellung kompensieren.
9
2.3
Soziale Umwelt
Eine weitere Variable, die neben der Kompetenz der Person und den räumlichdinglichen Umweltmerkmalen einen Beitrag zur selbstständigen und selbstbestimmten Lebensführung leistet, ist die Umwelt in Form des sozialen Netzwerkes einer Person. Soziale Netzwerke stellen zwischenmenschliche Bindungen und soziale Beziehungsgeflechte von „Personen, Positionen, Organisationen“ (Pappi, 1987, S. 13) dar.
Die sozialen Beziehungen werden vom Individuum selbst geknüpft und aufrechterhalten und ergeben eine soziale Struktur, die Beziehungen zur Familie,
Verwandtschaft, Nachbarschaft, zu Freunden und Arbeitskollegen, Bekannten
etc. beinhaltet. Diese Beziehungen setzen sich je nach Lebensabschnittsphase
unterschiedlich zusammen, verändern sich und erfüllen unterschiedliche Funktionen.
Dieses individuelle soziale Netzwerk ist wiederum eingebettet in und abhängig
von gesellschaftlichen Strukturen. Beispielsweise wirken sich
•
die Arbeitsmarktsituation und die damit verbundene Mobilitätsanforderung
an die Arbeitnehmer,
•
die Bildungspolitik und die daraus resultierende höhere Qualifikation von
Frauen, die u.a. zu einer höheren Frauenerwerbsquote führte,
•
die Gestaltung der sozialen Sicherungssysteme etc.
in unterschiedlichem Maße auf die familiären Unterstützungsnetzwerke aus.
Die sozialen Strukturen (d.h. Größe, Dichte, Homogenität der Mitglieder, Kontakthäufigkeit, geografische Nähe, Dauer und Intensität der Beziehungen)
bestimmen darüber, welche Handlungsspielräume Menschen zur Verfügung
stehen und auf welche Art und Weise sie in weitere soziale Strukturen (Familie,
Freundeskreis, Arbeitswelt, Vereinsleben etc.) integriert sind. Das Vorhandensein sozialer Netzwerke und ihre Größe wird als Maßstab für soziale Integration
und Partizipation am gesellschaftlichen Leben bewertet.
Die Analyse sozialer Netzwerke zeigt einerseits die Einflüsse struktureller
Merkmale der sozialen Umwelt auf das Verhalten der beteiligten Individuen und
stellt andererseits die Auswirkungen individuellen Verhaltens auf die Gestaltung
der Struktur von sozialer Umwelt dar (Töpfer et al., 1998, S. 140).
10
In der Netzwerkforschung (Gottlieb, 1981) wird zwischen sozialem Netzwerk als
Struktur und sozialer Unterstützung als Funktion (empfangene oder geleistete
instrumentelle oder emotionale Unterstützung) unterschieden. Das bedeutet,
dass soziale Netzwerke einerseits dahingehend analysiert werden müssen, ob
und in welcher Weise sie ein Potenzial an sozialer Unterstützung zur Verfügung
stellen und andererseits, ob auch tatsächlich Unterstützung geleistet wird. Denn
die Tatsache, dass ein soziales Netzwerk besteht, bedeutet noch nicht, dass
auch tatsächlich soziale Unterstützung im Fall von Krankheit oder Pflegebedürftigkeit geleistet wird.
Von „erfolgreichen“ Unterstützungssystemen wird angenommen, dass sie einen
positiven Einfluss auf die Gesundheit und das Wohlbefinden ausüben und sich
stressreduzierend bei der Bewältigung kritischer Lebensereignisse wie Scheidung, Verrentung, Krankheit oder Tod eines nahestehenden Menschen und
Umzug im Alter auswirken (Wellmann, 1981, S. 172). Sie tragen auch dazu bei,
schwere Erkrankungen oder gesundheitliche Beeinträchtigungen zu überwinden
oder mit ihnen leben zu lernen (Engel et al., 1996, S. 11).
Nach Litwin (1995, S. 37) ermutigen soziale Unterstützungssysteme die Netzwerkmitglieder, formelle Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen und unterstützen sie bei der Suche nach passenden Pflegemöglichkeiten.
Da die Größe, die Beziehungsdichte und die Art der Zusammensetzung (Anteil
an Familienmitgliedern, Freunden, Arbeitskollegen) des sozialen Netzwerkes in
Abhängigkeit von den eingenommenen Rollen in der jeweiligen Lebensabschnittsphase variiert, wird im Folgenden ein theoretischer Ansatz dargestellt,
der die Veränderung des sozialen Netzwerkes und seiner Unterstützungspotenziale in den unterschiedlichen Lebensphasen betrachtet.
2.3.1 Modell des sozialen Konvois nach Kahn & Antonucci
Das Konzept des sozialen Konvois (social convoy) nach Kahn & Antonucci
(1980, S. 269) beinhaltet das persönliche Netzwerk eines Individuums zu einem
bestimmten Zeitpunkt im Leben und die damit verbundene wechselseitige
Unterstützung im Sinne von Geben und Nehmen. Die Autoren zeigen auf, dass
es im Lebenslauf sowohl eine bestimmte Kontinuität als auch Veränderungen
im Hinblick auf bestimmte Netzwerkpartner gibt.
Von der Geburt bis zum Tod ist der Mensch von unterschiedlichen Personen
umgeben, die ihn wie ein „Konvoi“ begleiten. Dies sind Eltern, Geschwister,
Partner, Kinder, Freunde, Arbeitskollegen, Bekannte etc. Durch Übergänge in
11
neue Lebensbereiche, sogenannte „ökologische Übergänge“ (Bronfenbrenner,
1981), und die damit neu eingenommenen Positionen und Rollen verändert sich
dieser „Konvoi“. Neue Freunde, Arbeitskollegen, Bekannte und Nachbarn kommen hinzu, andere Netzwerkpartner wie Studienkollegen, frühere Nachbarn
oder Arbeitskollegen entfallen hingegen. In der Regel ist das soziale Netzwerk
in der frühen Erwachsenenphase am größten und in der frühen Kindheit und im
hohen Alter am kleinsten. Da sich das persönliche Netzwerk im Lauf des Lebens verändert, verändert sich auch das damit verbundene Unterstützungspotenzial. Zur Erklärung der Veränderung des sozialen Konvois nehmen Kahn &
Antonucci (1980) Bezug auf das Rollenkonzept.
Sie definieren Rolle als „a set of activities that are expected of a person by
virtue of his or her occupancy of a particular position in social space“ (ebd.
S. 261). Soziale Unterstützung wird demnach in Zusammenhang gebracht mit
den unterschiedlichen Positionen eines Individuums, die es durch seine Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Gruppen im Laufe des Lebens einnimmt
(z.B. als Student, Vater, Mutter, Ehepartner, Arbeitskollege, Nachbar etc.).
Dadurch entstehen unterschiedliche soziale Netzwerke, die sich verändern oder
wieder auflösen. Diese unterschiedlichen Rollen sind die Grundlage für Kontakt
und Interaktion mit anderen Personen (ebd. S. 272).
In drei konzentrischen Kreisen, die sich um die Person als Mittelpunkt bilden,
veranschaulichen Kahn und Antonucci (1980, S. 272 ff) die Auswirkung der
Stabilität der sozialen Unterstützung in Verbindung mit der Rolle im Lebenslauf.
Im innersten Kreis befinden sich die Personen, zu denen die Beziehung und die
damit verbundene Erwartung an sozialer Unterstützung über die gesamte
Lebensspanne relativ stabil ist. Dies sind Ehepartner, Kinder, Eltern, die engere
Verwandtschaft und gute Freunde. Der Verlust einer Person aus diesem Kreis
ist meist auf Tod oder auf eine große Enttäuschung zurückzuführen, durch die
es zum Bruch der Beziehung kommt.
Im mittleren Kreis stehen die Personen, zu denen das Individuum verwandtschaftliche bzw. freundschaftliche Beziehungen unterhält (z.B. weitere Verwandte, Freunde). Diese engen Beziehungen und die damit verbundenen Unterstützungspotenziale sind weniger rollenabhängig und stabiler als jene im
äußersten Kreis, verändern sich jedoch auch über den Lebenslauf hinweg, beispielsweise durch die persönliche Entwicklung der Person.
Der äußerste Kreis umfasst die am wenigsten nahen Beziehungen zwischen
der Person und den Mitgliedern des sozialen Netzwerkes (z.B. Nachbarn,
12
Arbeitskollegen etc.). Dieses Netzwerk stellt Unterstützungspotenziale dar, die
stark rollenabhängig und somit nicht stabil über die gesamte Lebensspanne
sind. Durch eine Veränderung im Lebenslauf (z.B. Stellenwechsel, Verrentung
oder Umzug) verändert sich auch die Rolle als Arbeitskollege oder Nachbar.
In der Analyse des sozialen Netzwerkes der Studienteilnehmer, die mit Hilfe
des von Kahn und Antonucci (1980) entwickelten „bull’s-eye“-Modell durchgeführt wurde, interessieren in dieser Arbeit die Netzwerkgröße, die Art der
Zusammensetzung und die Kontinuität der Beziehungen im Lebenslauf sowie
die daraus entstehenden Unterstützungspotenziale (z.B. bei längerer Krankheit)
in den unterschiedlichen Altersgruppen.
2.3.2 Hierarchisches Kompensationsmodell nach Cantor
Cantor untersuchte 1979 die informellen Netzwerke älterer Menschen, die in
der City von New York lebten. Sie stellt in ihrer Auswertung eine bestimmte
Rangfolge der sozialen Unterstützung fest, die gesellschaftlich und kulturell
normierte Zuständigkeiten für Hilfeleistungen aufweist. Sie zeigt auf, wie entfallende oder nicht vorhandene Netzwerkpartner einer Ebene durch Netzwerkpartner einer anderen Ebene kompensiert werden.
In erster Linie wird die Kernfamilie zur sozialen Unterstützung herangezogen.
Dabei werden der Ehepartner und dann die eigenen Kinder am häufigsten
genannt. Bei den eigenen Kindern wird Hilfe vor allem von Töchtern erwartet
und geleistet. Sind keine Töchter vorhanden oder wohnen sie weiter entfernt,
übernehmen auch Söhne bzw. Schwiegertöchter diese Rolle.
Bei kinderlosen Ehepaaren oder bei alleinlebenden älteren Menschen sind es
die nächsten Familienangehörigen, wie z.B. Geschwister, Nichten oder Neffen,
die Hilfestellung geben. Wenn auch diese fehlen, werden Freunde, Bekannte
oder Nachbarn um Unterstützung gebeten.
Nach der Kernfamilie stehen an zweiter Stelle meist gleichaltrige und gleichgeschlechtliche Freunde, die insbesondere bei älteren Menschen in städtischen
Gebieten in der Nähe wohnen und gerade im Alter mit abnehmendem Aktionsraum eine große Rolle bei emotionaler und instrumenteller Hilfestellung spielen.
Die Nachbarn werden laut Cantor (1979, S. 450) eher für Notfälle und für vorübergehende Unpässlichkeiten in Anspruch genommen oder wenn Kinder oder
andere Verwandte nicht greifbar sind.
13
An letzter Stelle in der Unterstützungshierarchie stehen medizinische und soziale Dienste, also formelle Hilfen.
Durch die demografische Entwicklung und die Tendenz zur Vereinzelung, die
bedingt ist durch die sinkende Heiratsneigung, die zunehmende Anzahl der
Ehescheidungen auch bei sogenannten „Alt-Ehen“ und die Abnahme der Kinderzahl, vermindert sich zukünftig die Chance, im Alter Unterstützung vom
Ehepartner oder von den Kindern zu erhalten. Diese strukturelle Veränderung
bedeutet, dass Freundschaften und Nachbarschaften und formelle Dienste das
fehlende familiäre Unterstützungsnetzwerk kompensieren müssen.
Horowitz (1985) beschäftigte sich mit der Frage, wer welche Hilfe innerhalb der
Familie leistet. Er fand heraus, dass sich Töchter und Söhne nicht in Bezug auf
die Quantität der gewährten Hilfe unterscheiden, sondern eher im Hinblick auf
die Art der Hilfestellung. Söhne leisten weniger Unterstützung bei Haushaltstätigkeiten, beim Kochen und bei der Körperpflege. Sie kümmern sich meist um
Einkäufe, finanzielle Angelegenheiten und erledigen Behördengänge.
In dieser Arbeit, die die Wohnform des Betreuten Wohnens mit der des gemeinschaftsorientiertem Wohnens vergleicht, wird untersucht, von welchen Personen die Bewohner Unterstützung bei längerer Krankheit bzw. Pflegebedürftigkeit erwarten und ob das hierarchische Kompensationsmodell auch heute noch
bestätigt werden kann.
2.4
Weitere Umweltmerkmale
In der gerontologischen Literatur werden Umweltattribute genannt, die insbesondere für ältere Menschen an Bedeutung gewinnen. Die nachfolgende Tabelle gibt einen Überblick über die von verschiedenen Autoren genannten Merkmalen der Wohnumwelt, die sich auf das Wohlbefinden und die Zufriedenheit der
älteren Menschen auswirken.
14
Wohnumweltmerkmal
Saup
Carp
Flade
Kahana
(1993)
(1994)
(1997)
(2003)
Sicherheit
X
X
X
X
Anregung/Stimulierung
X
X
X
Erreichbarkeit und Zugänglichkeit
X
Umweltkontrolle/Kontrollierbarkeit
X
Wohnlage/Ästhetik
X
X
X
Unterstützung
X
Kommunikation
X
Vertrautheit
X
Orientierung
X
Tabelle 1:
X
X
Überblick über wichtige Umweltattribute in der gerontologischen Literatur
Im Nachfolgenden werden die Attribute „Erreichbarkeit und Zugänglichkeit“ und
„Sicherheit“ skizziert, da sich diese wesentlich auf das selbstständige Leben im
Alter auswirken.
2.4.1 Erreichbarkeit und Zugänglichkeit
Wie bereits in Kapitel 2.2 „Räumliche Umwelt“ erwähnt, ist die quartiersnahe
Versorgung mit Läden zur Deckung des täglichen Bedarfs, mit Apotheken, Ärzten etc. und ihre Erreichbarkeit eine wesentliche Voraussetzung zur selbstständigen Haushaltsführung.
Die Wohnung und das Wohnumfeld sollten idealerweise so gestaltet sein, dass
die Kompetenzen zur selbstständigen Lebensführung weder überfordert noch
unterfordert werden.
Schlechte Erreichbarkeit (wie z.B. weite Entfernung, ungenügende Anbindung
an den öffentlichen Nahverkehr, Überquerung einer verkehrsreichen Straße)
und/oder erschwerte Zugänglichkeit (Unterführungen, Treppen, Hochflurbusse,
etc.) können je nach Gesundheitszustand der Person dazu führen, dass Ein-
15
kaufen bzw. außerhäusliche Aktivitäten eine Überforderung darstellen und somit zwangsläufig reduziert werden.
Die Bedeutung dieser Umweltattribute ist aber nicht nur auf den Versorgungsaspekt reduziert. Die Ausstattung des Wohnumfeldes mit gut erreichbaren
soziokulturellen Einrichtungen (wie z.B. Volkshochschule, Seniorenbegegnungsstätten und Naherholungsmöglichkeiten) motivieren zu außerhäuslichen
Aktivitäten.
Allein schon die Wege, die zu diesen Einrichtungen gemacht werden oder die
täglichen Spaziergänge werden oft nur deshalb gemacht, um mit anderen Menschen zusammen zu kommen, sich auszutauschen und zu kommunizieren.
Die räumliche Distanz zu Gegebenheiten sowie Ausstattungsdefizite und
Hindernisse im Wohnumfeld stellen, je nach Kompetenzgrad der Person,
Nutzungsbarrieren dar, die einer eigenständigen Haushalts- und Lebensführung
sowie der sozialen Partizipation im Quartier entgegenstehen.
2.4.2
Sicherheit
Sicherheit ist ein umfassendes Konzept und beinhaltet alles, was mit dem
Abbau von Ängsten zu tun hat, die ein Leben in Selbstständigkeit behindern
oder das Wohlbefinden negativ beeinflussen können. Gerade mit zunehmendem Alter und einhergehender Vulnerabilität wächst das Bedürfnis nach physischer, sozialer und emotionaler Sicherheit.
Das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit ist ein Aspekt der Sicherheit. Es
beinhaltet die Vermeidung von Unfällen im privaten und öffentlichen Bereich
(Stürze, Verkehrsunfälle) und den Schutz vor Kriminalität.
Insbesondere im Alter kommen Ängste auf, die durch die subjektiv erlebten
Kompetenzeinbußen verursacht werden. Die Furcht vor Krankheit, vor fehlender Unterstützung im Notfall und vor Vereinsamung nimmt zu.
Das Sicherheitsbedürfnis ist individuell unterschiedlich stark ausgeprägt. Es
steht in Zusammenhang mit Persönlichkeitsmerkmalen, mit der physischen und
psychischen Befindlichkeit und mit den Erfahrungen, die im Lauf des Lebens
mit der sozialen und räumlichen Umwelt gesammelt wurden.
16
2.5
Passung zwischen Person und Umwelt
Die Passung zwischen den Merkmalen der Person und ihrer Umwelt wird in der
Umweltpsychologie als Kongruenz bezeichnet. Die unten genannten Kompetenz- und Kongruenzmodelle thematisieren die Person-Umwelt-Beziehungen im
Hinblick auf die Voraussetzungen und Konsequenzen einer Passung.
Saup nimmt eine Klassifizierung in Kompetenz- und Kongruenzmodelle vor.
Kompetenzmodelle, wie z.B. das unten angeführte Modell von Lawton betonen
die „Wichtigkeit von Fähigkeiten und Fähigkeitseinbußen der Person für die
Adaption an herausfordernde Umweltbedingungen im Alter“ (Saup, 1993,
S. 58f).
Bei Kongruenzmodellen (Carp & Carp, 1984; Kahana, 1982) wird davon ausgegangen, dass „subjektive Zufriedenheit alter Menschen und eine gute Adaption
an die Anforderungen des Alters dann wahrscheinlich sind, wenn Umwelt- und
Personenmerkmale kongruent sind“ (Saup, 1993, 59).
Im Folgenden werden das Kompetenzmodell-Anforderungsmodell von Lawton
& Nahemow (1973) sowie das Komplementaritätsmodell von Carp & Carp
(1984) dargestellt.
2.5.1 Kompetenz-Anforderungsmodell von Lawton
Wie bereits ausgeführt, ist zur selbstständigen Lebens- und Haushaltsführung
ein gewisses Maß an Kompetenz der Person und eine entsprechende Ausstattung des näheren und weiteren Wohnumfeldes erforderlich.
In ihrem Kompetenz-Anforderungs-Modell setzen Lawton & Nahemow (1973,
S. 661) den Kompetenzgrad einer Person in Beziehung zu den Umweltbedingungen und beschreiben die Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit. Bei der Entwicklung des Modells übernahmen
sie die Sichtweise von Lewin (1935), der das Verhalten als eine Funktion von
Person und Umwelt definierte. Lawton & Nahemow (1973) betrachten in ihrem
“ökologischen Modell“ das Verhalten als eine Funktion der Ressourcen der Person (Kompetenz) und den Anforderungsstrukturen der Umwelt.
Lawton (1982, S. 38) definiert Kompetenz als Merkmal der Person und bezeichnet damit die theoretisch oberste Grenze ihrer Kapazität im Hinblick auf
körperliche Gesundheit, motorische, sensorische und kognitive Fähigkeiten.
17
Die Umweltanforderungen (ebd. S. 40) werden in Anlehnung an Murray (1938)
unterteilt in objektiv vorhandene mess- und zählbare Merkmale (alpha-press)
und in subjektive Merkmale (beta-press), wie sie vom Individuum wahrgenommen und erlebt werden. Dies Subkategorien sind:
•
physische Umwelt (Lärm, Luftqualität, Kriminalitätsrate, Beschaffenheit des
Raums)
•
personale Umwelt (soziales Netzwerk der Person)
•
suprapersonale Umwelt (soziodemografische Merkmale der Wohnumwelt
wie Altershomogenität, Geschlecht etc.) und
•
gesellschaftliche Strukturen (wie z.B. Normen und Werte).
Den Zusammenhang zwischen dem Kompetenzprofil der Person und den
Anforderungsstrukturen der Umwelt formulierten Lawton & Simon (1968) in der
„environmental docility“-Hypothese (Umweltfügsamkeits-Hypothese). Sie besagt, dass bei abnehmender Kompetenz der alternden Person die Bedeutung
der Umweltanforderungen für das Erleben und Verhalten zunimmt (Lawton,
1982, S. 48).
Im nachfolgenden Modell werden die Zusammenhänge zwischen Person und
Umweltanforderungen erläutert.
18
Abb. 1:
Kompetenz-Anforderungsmodell von Lawton (1982, S. 44)
(entnommen aus Saup, 1993, S. 34)
Das Modell betont die Wichtigkeit der Kompetenz der alternden Person für die
Adaption an die Umweltanforderungen. Das Individuum ist bestrebt, seine
Kompetenz so einzusetzen, dass eine Anpassung an die jeweiligen Anforderungsstrukturen möglich wird. Wenn das Adaptionsniveau erreicht wird, führt
dies zur emotionalen Ausgeglichenheit. Kommt es zu Abweichungen in dem
Bereich links vom Adaptionsniveau, dann bedeutet dies eine leichte Unterforderung, die dann maximales Wohlbefinden bewirkt. Bei leichter Überforderung im
Bereich rechts vom Adaptionsniveau wird das maximale Leistungspotenzial
erreicht.
Scheitert die angestrebte Anpassung aber aufgrund der alterstypischen Kompetenzverluste, kommt es zu einer unerwünschten Überforderung, die Stress
erzeugt und sich negativ auf das Wohlbefinden auswirkt. Erleidet beispielsweise
eine Person einen Schlaganfall, der eine dauerhafte motorische Schädigung zur
19
Folge hat, sinkt ihr Kompetenzgrad. Dies könnte zur Folge haben, dass beispielsweise die Treppen im Haus nicht mehr bewältigt werden können, d.h. eine
Anpassung der veränderten Kompetenz an die Umweltanforderungen ist nicht
möglich. Durch den Einsatz von prothetischen Mitteln, wie z.B. einem Treppenlift oder durch einen Umzug in eine barrierefreie Wohnung, kann die Balance
zwischen Kompetenz und Umweltanforderung wieder hergestellt werden.
In der oben dargestellten Grafik zeigt die unterschiedliche Breite des hellgrauen
Bereichs, dass Individuen höheren Kompetenzgrades ein breiteres Spektrum
an Umweltressourcen zur Verfügung steht, welches zur Befriedigung der individuellen Wünsche und Bedürfnisse genutzt werden kann. Geringfügige Umweltveränderungen wirken sich weniger negativ auf das Erleben und Verhalten dieser Menschen aus, als bei den Personen, deren Kompetenzgrad niedrig ist.
Diese besitzen einen geringeren Spielraum für Umweltveränderungen.
Je größer folglich die Kompetenz einer Person ist, desto mehr Umweltressourcen stehen zur Verfügung, um die individuellen Bedürfnisse zu befriedigen.
Diese Erkenntnis liegt der „environmental proactivity“-Hypothese von Lawton
(1985) zugrunde.
Den Impuls für diese Hypothese erhielt Lawton von Carp & Carp (1984), die kritisierten, dass Lawton in der „docility“-Hypothese nicht die individuellen Bedürfnisse und Präferenzen der Person berücksichtige. Zudem betrachte er Umwelten nur einseitig als Anforderungen und nicht als Ressource, die es Menschen
erlaubt, ihre Umwelten auszuwählen, zu verändern und zu gestalten (Lawton,
1999, S. 94).
2.5.2 Komplementraritäts-Ähnlichkeits-Modell von Carp & Carp
Carp & Carp (1984) gehen in ihrem Komplementaritäts-Ähnlichkeitsmodell auch
von der Grundannahme aus, dass das Verhalten und Erleben eine Funktion der
Kongruenz, d.h. der Passung zwischen dem (älteren) Menschen und seiner
Umwelt ist. Sie lehnen sich in ihrer Sichtweise an die Erkenntnisse von Lawton’s „docility“-Hypothese an. Ihr Modell besteht aus zwei Teilmodellen, die
nachfolgend grafisch dargestellt werden.
20
Abb. 2:
Kongruenz-Ähnlichkeitsmodell (nach Carp & Carp, 1984, S. 284)
(entnommen aus Saup, 1993, S. 43)
Carp & Carp (ebd. S. 295) lehnen sich in der Unterscheidung von Bedürfnissen
an die hierarchisch gegliederte Bedürfnispyramide von Maslow (1978) an. Sie
differenzieren in:
•
„life-maintenance needs“, oder Basisbedürfnisse, die das Bedürfnis nach
einer selbstständigen Lebensführung ausdrücken und
•
„higher-order needs”, die sogenannten Wachstumsbedürfnisse.
In Anlehnung an Lawton verstehen Carp & Carp (1994, S. 291) unter Kompetenz der Person ihre Gesundheit und die sensomotorischen und kognitiven
Fähigkeiten. Die Umwelt wird sowohl als Barriere als auch als Ressource gesehen.
2.5.2.1 Partialmodell 1 - das Komplementaritätsmodell
Im Partialmodell 1 steht das Grundbedürfnis nach selbstständiger Lebensführung im Mittelpunkt. Die Erfüllung dieses Bedürfnisses hängt ab vom Passungsgrad zwischen der Fähigkeit der Person zur selbstständigen Haushaltsund Lebensführung im Sinne der Alltagskompetenz (ADL/iADL) sowie den physischen und suprapersonalen Umweltmerkmalen. Diese Merkmale können
sowohl als Ressource oder als Barriere fungieren und die selbstständige
Lebensführung unterstützen oder behindern.
21
Bei individuellen Defiziten ist eine ressourcenreiche und somit unterstützende
Umwelt zur Befriedigung des Basisbedürfnisses notwendig. Die Unterstützung
kann beispielsweise durch Wohnungsanpassungsmaßnahmen, prothetische
Mittel und soziale Dienste erreicht werden. Bei ausgeprägter Kompetenz kann
die Umwelt durchaus Barrieren aufweisen, die sich dann aber nicht negativ auf
die selbstständige und zufriedenstellende Lebensführung auswirken.
Im Teilmodell 1 ergibt sich Kongruenz - als Voraussetzung der selbstständigen
Lebensführung - als Komplementarität von Person- und Umweltmerkmalen.
2.5.2.2 Partialmodell 2 - Das Ähnlichkeitsmodell
Im Teilmodell 2 ist die Person-Umwelt-Interaktion auf die Erfüllung von „higherorder needs“ gerichtet. Diese sind nach Carp & Carp (1984, S. 295 f):
-
Affiliation (Anschlussmotiv)
-
-
Similarity (Ähnlichkeit in Bezug auf Alter, Geschlecht, sozialem Status)
Harmavoidance (Schutz vor Kriminalität, Unfällen, Krankheit, etc.)
Noxavoidance (Lärm, Luftverschmutzung etc.)
Privacy (Privatheit)
-
Esthetics (z.B. Ästhetik der Landschaft, der Architektur etc.).
-
Kongruenz, d.h. die Passung zwischen individuellen Bedürfnissen der Person
und den Umweltmerkmalen, wird als Ähnlichkeit von Personen- und Umweltmerkmalen konzipiert. Diese Ähnlichkeit bezieht sich auf die oben aufgeführten
„higher-order needs“. Bei dieser Konzeption spielt es keine Rolle, ob eine Person ein geringes oder ein großes Bedürfnis nach Privatheit hat, bzw. es wird
nicht nach einer Umwelt gefragt, die viel oder wenig Privatheit erlaubt. Der entscheidende Punkt ist, dass zwischen Person und Umwelt eine Passung besteht. Dies bedeutet, dass z.B. einer Person mit hohem Bedürfnis nach
Privatheit eine Umwelt gegenüberstehen sollte, die so ausgestattet ist, dass sie
dieses Bedürfnis befriedigt. Je ähnlicher folglich die Bedürfnisse der Person und
die Beschaffenheit der Umwelt sind, desto größer ist der Passungsgrad zwischen diesen.
Die Passung wirkt sich - wie auch in Teilmodell 1 - positiv auf die Lebenszufriedenheit und auf die psycho-physische Gesundheit aus. Sie trägt dazu bei, dass
eine selbstständige Lebensführung aufrecht erhalten werden kann.
Carp & Carp (1984, S. 317f) nennen modifizierende Faktoren, die die PersonUmwelt-Interaktion und somit die Kongruenz beeinflussen können. Diese sind
22
z.B. der Gesundheitszustand, die soziale Unterstützung, Bewältigungsstrategien, die Kontrollüberzeugung, das Kompetenzerleben und Lebensereignisse.
In Bezug auf die beiden Wohnformen wird dieses Modell in dieser Untersuchung eingesetzt, um zu eruieren, welche Bedürfnisse für den Umzug in die jeweilige Wohnform ausschlaggebend waren, und ob durch den Umzug eine
Passung hinsichtlich der Komplementarität oder der Ähnlichkeit erreicht werden
konnte.
23
3 Empirische Untersuchung
3.1
Fragestellung der Untersuchung
Ziel dieser Studie ist es, ein gemeinschaftsorientiertes Wohnprojekt unter dem
Aspekt des selbstständigen Wohnens im Alter zu untersuchen und deskriptiv
auszuwerten. In diesem Zusammenhang wird sowohl die räumliche als auch die
soziale Umwelt der Bewohner analysiert.
Anschließend werden die Befunde des gemeinschaftsorientierten Wohnprojektes mit den Ergebnissen aus Studien zum Betreuten Wohnen verglichen.
Folgende Fragestellungen sind für den Vergleich von Interesse:
•
Wie setzt sich die Bewohnerstruktur in einem gemeinschaftsorientierten
Wohnprojekt und beim Betreuten Wohnen zusammen? Gibt es diesbezüglich Unterschiede?
•
Welches sind die Motive für den Einzug in die jeweilige Wohnform?
•
Welche Erwartungen sind mit der Entscheidung für den Umzug in die jeweilige Wohnform verbunden und wurden sie erfüllt?
•
Mit wessen Unterstützung rechnen die Bewohner der beiden Wohnformen
im Fall von längerer Krankheit?
3.2
Methode und Vorgehensweise
Um Informationen über die Bewohner des gemeinschaftsorientierten Wohnprojektes zu gewinnen, wurde anhand von Literatur1 und mit Hilfe eines Experteninterviews ein Fragebogen entwickelt. Dieser Fragebogen diente als Leitfaden
für das qualitative Interview. Zusätzlich wurden Fragen zur Analyse des sozialen Netzwerkes in den Fragebogen aufgenommen, um das Beziehungsnetz und
das soziale Unterstützungspotenzial zu analysieren und die sozialen Aktivitäten
zu erfragen.
3.2.1 Methode der ego-zentrierten Netzwerkanalyse
Die Netzwerkanalyse ist ein Instrument zur Analyse sozialer Strukturen. Aus
den unterschiedlichen Möglichkeiten, die zur Analyse verschiedenster Netz-
1
(Behrens & Brümmer, 1997; Brech, 1999; KDA, 2000a/b; MFJFG, 2000: Osterland, 2000)
24
werktypen eingesetzt werden können, wurde die Methode der ego-zentrierten
Netzwerkanalyse ausgewählt.
Das ego-zentrierte Netzwerk ist ein persönliches Netzwerk, d.h. es werden Daten von einzelnen Akteuren - den sogenannten Egos - erhoben. In dieser
Untersuchung ist die Größe des Netzwerkes als Indikator für die soziale Integration von Bedeutung. Ebenfalls interessiert der Beziehungstyp, d.h. zu welcher
Art von Personen (Verwandte, Freunde, Bekannte etc.) Ego Beziehungen unterhält. Die ego-zentrierte Netzwerkanalyse war ohne großen Aufwand im
Wohnprojekt durchzuführen und konnte gut in den Fragebogen integriert werden. Diese Methode zeigt nur die Beziehungen von Ego zu den genannten Personen und bildet nicht die wechselseitigen Beziehungen innerhalb der Gruppe
ab. Für die Analyse von unterschiedlichen Positionen und Rollenverflechtungen
ist sie nicht geeignet (Jansen 1998, S. 63).
Die Abgrenzung der Untersuchungseinheit im Wohnprojekt wurde durch die
Vereinsvorsitzende getroffen. Sie gab die Namen der Personen weiter, die sich
für ein Interview bereit erklärten.
Zur Erhebung des ego-zentrierten Netzwerkes wurden diverse Namensgeneratoren verwendet. Namensgeneratoren sind Fragen, die die Nennung von Namen provozieren, wie z.B. „Wer würde Sie versorgen, wenn Sie einmal länger
krank wären?“ „Ego“, als befragte Person, konnte eine beliebig große Zahl
„Alteri“ nennen. Alteri sind die Personen, zu denen eine Beziehung besteht
(z.B. „Tochter Angelika“). Mit Hilfe des sogenannten “bull’s eye“-Modells, einem
von Kahn & Antonucci (1980, S. 272) entworfenen grafischen Modell, wurden
die Bewohner gebeten, in einem vorgefertigten Schema, das aus drei konzentrischen Kreisen besteht und deren Mittelpunkt die befragte Person darstellt,
ihre Netzwerkmitglieder den einzelnen Kreisen zuzuordnen.
Im innersten Kreis sollte die befragte Person (Ego) diejenigen Personen (Alteri)
einordnen, zu denen eine sehr enge Verbindung besteht und die ihr am wichtigsten sind. Der mittlere Kreis sollte die Personen umfassen, zu der Ego eine
nicht ganz so enge Bindung hat, aber die sie doch auch als noch wichtig
betrachtet. Der äußerste Kreis sollte die Personen wiedergeben, die weniger
eng zur Person stehen, aber doch noch wichtig sind. Auf diese Art werden die
emotionalen Beziehungen abgefragt.
Die Namensgeneratoren wurden aus der SIMA-Studie von Töpfer et al. (1998,
S. 143) übernommen und an den Untersuchungsgegenstand angepasst.
25
Der Fragebogen, der als Interviewleitfaden diente, ist wie folgt gegliedert:
•
Fragen zur Wohnsituation
•
Bewertung des Wohnumfeldes
•
Motive/Erwartungen
•
Gegenseitige Hilfestellung im Wohnprojekt
•
Fragen zum sozialen Netzwerk
•
Fragen zum Wohnalltag
•
Persönliche Daten.
Nur die im beiliegenden Fragebogen mit Stern (*) gekennzeichneten Fragen
gehen in die Auswertung ein. Um die Verständlichkeit der wohnprojektspezifischen Fragen zu überprüfen, wurde das erste Interview als Probeinterview verwendet. Es zeigte sich, dass alle Fragen (bis auf die Frage 8.1 im Fragebogen)
gut verständlich waren und der Fragebogen mit der modifizierten Frage (vgl.
3.7.2 „Soziale Aktivitäten“ - 1. Abschnitt) eingesetzt werden konnte.
3.2.2 Zugang zum Projekt und Durchführung der Befragung
Anlässlich eines Wohnprojekttags konnte der Kontakt zur Vereinsvorsitzenden
des untersuchten Wohnprojektes geknüpft werden.
Mit einem Anschreiben wurde um Unterstützung für die Untersuchung gebeten
und die telefonische Kontaktaufnahme angekündigt. Das Interesse für die Studie war anfänglich verhalten, da „zu viel geschrieben und nichts umgesetzt“
würde (Interview 11). Nach mehrmaligem Nachfragen gab die Vereinsvorsitzende Namen und Telefonnummern von 12 Personen bekannt, die sich für die
Befragung gemeldet hatten. Bei der Terminvereinbarung erklärten sich 10 von
den 12 genannten Personen zur Befragung bereit.
Die Aussagen in den Interviews deuten darauf hin, dass nur die „Integrierten“
(Interview 5) für ein Interview von der Vereinsvorsitzenden vorgeschlagen wurden. Es konnte nicht geklärt werden, ob alle Bewohner/innen von der geplanten
Studie in Kenntnis gesetzt worden waren oder ob eine Selektion durch die Vereinsvorsitzende stattfand.
Da keine Dokumente über das Wohnprojekt bezüglich der Entstehungsgeschichte, Planung des Hauses, Vereinsaktivitäten, Satzung, Belegungsmodalitäten etc. zu erhalten waren, wurde mit der 1. Vereinsvorsitzenden, die als Initiatorin, Vorsitzende und Bewohnerin die Rolle der Expertin inne hat, ein Exper-
26
teninterview geführt. Aus terminlichen Gründen fand das Interview per Telefon
statt und wurde protokolliert.
Die Bewohnerinterviews wurden auf Band aufgezeichnet. Es sind nur diejenigen Interviewpassagen transkribiert, die in Zusammenhang mit der Fragestellung stehen. Dabei werden die Zitate wörtlich übernommen. Die in Klammern
gesetzten Worte in den Zitaten werden zur besseren Lesbarkeit von der Verfasserin hinzugefügt.
Von den insgesamt 10 Studienteilnehmern wurden fünf alleinstehende Frauen,
drei alleinstehende Männer sowie ein Ehepaar interviewt. Die Ehepartner wurden jeweils separat zu ihrem sozialen Netzwerk befragt, um eventuelle geschlechtsspezifische Unterschiede des sozialen Netzwerkes zu ermitteln. Neun
der 10 Interviews fanden in der jeweiligen Wohnung statt. Ein Interview wurde
im Gemeinschaftsraum durchgeführt. Die Bewohner/innen wurden vor Beginn
der Befragung über den Inhalt der Untersuchung und den Verbleib der Daten
informiert und ihnen wurde Vertraulichkeit zugesichert.
Die Interviews wurden gemäß dem Aufbau des Fragebogens geführt, der als
Leitfaden diente. Die Dauer der Interviews variierte zwischen 1,5 und 2,5 Stunden.
3.3
Beschreibung der Stichprobe
Die Stichprobe setzt sich aus 10 Personen zusammen. Für den Vergleich des
gemeinschaftsorientierten Wohnprojektes mit dem Betreuten Wohnen wurden
allerdings nur die Bewohner über 60 Jahre herangezogen.
Die 10 interviewten Personen sind zwischen 33 und 81 Jahre alt. Das durchschnittliche Alter liegt bei 62,8 Jahren. Bei den sechs Personen über 60 liegt
das Durchschnittsalter bei 76 Jahren.
Sechs Personen (60 %) sind Frauen und vier Personen (40 %) sind Männer.
Von den 10 Befragten haben zwei Personen (20 %) eine nichtdeutsche Staatsangehörigkeit, leben aber bereits seit Jahren in Deutschland. Zwei Befragte
(20 %) sind miteinander verheiratet und acht (80 %) sind alleinlebend. Davon
sind vier (40 %) verwitwet, drei (30 %) ledig und eine Person (10 %) geschieden.
Sieben von den zehn interviewten Bewohnern zogen bei Fertigstellung des
Hauses im Oktober 2001 ein. Zwei Wohnungen wurden seitdem von einer
27
Familie und einer alleinstehenden Person neu belegt. Die Fluktuation war durch
Tod bzw. durch berufsbedingte Mobilität bedingt.
Alle Bewohner waren vor ihrem Einzug Mieter und haben diesen Status auch in
diesem Wohnprojekt beibehalten. Die frühere Wohnungsgröße der Personen,
die alleine lebten, lag bei ca. 35-39 qm und entspricht in etwa der jetzigen
Wohnungsgröße von ca. 40 qm. Die verwitweten Personen lebten vor Einzug in
das Mehrgenerationenhaus in ca. 72 qm großen Wohnungen und reduzierten
ihre Wohnfläche auf 40 qm. Die junge Familie mit einem dreijährigen Kind lebte
vorher in einer 33 qm großen Wohnung und vergrößerte sich auf 73 qm.
3.4
Ergebnisdarstellung - Gemeinschaftsorientiertes Wohnprojekt
3.4.1 Entstehungsgeschichte und Beschreibung des Projektes
Der Verein ging aus der Seniorenbewegung der Grauen Panther hervor. Die
Gründerinnen des Vereins hatten sich mit der Situation des Wohnens im Alter
- insbesondere aber mit der Situation in den Altersheimen - auseinander gesetzt
und gesehen, wie die „Menschen dort total vereinsamen“ (Interview 11). Da das
Altwerden in einem Altersheim für sie nicht in Frage kam, gründeten sie 1993
einen Verein mit dem Ziel, Wohnalternativen für ein selbstbestimmtes Leben im
Alter zu schaffen.
Die Objektsuche gestaltete sich schwierig. Zunächst wollten die Vereinsmitglieder ein Objekt kaufen. Die angebotenen Häuser waren jedoch für ein Wohnprojekt räumlich nicht geeignet oder nicht bezahlbar. Nach acht Jahren vergeblicher Suche nach einem geeigneten Wohnhaus wurde klar, dass dies von den
Vereinsmitgliedern nicht zu finanzieren war. Schließlich kam es zu einer Kooperation zwischen dem Verein und einer städtischen Wohnungsbaugesellschaft,
die mit diesem Wohnprojekt ein Pilotprojekt im sozialen Wohnungsbau initiierte.
Im Herbst 2001 wurde das freistehende Mehrfamilienhaus, bestehend aus drei
Stockwerken und ausgebautem Dachgeschoss, fertig gestellt und bezogen.
Jeder Bewohner hat einen eigenen Mietvertrag mit der Wohnungsbaugesellschaft. Das Belegungsrecht liegt beim Verein. In der Regel dürfen Personen,
die öffentlich geförderte Wohnungen bewohnen, bestimmte Einkommensgrenzen nicht überschreiten. Die Mitglieder des Vereins verfügen jedoch teilweise
über höhere Einkommen. Um allen Vereinsmitgliedern das Wohnen in der Gemeinschaft zu ermöglichen, wurden die Einkommensgrenzen „aufgeweicht“,
d.h. nach oben gesetzt. Die Bewohner/innen, die wesentlich über der Einkom-
28
mensgrenze liegen, bezahlen eine Fehlbelegungsabgabe. Zum Bezug der
Wohnung ist ein Wohnungsberechtigungsschein2 erforderlich. Des Weiteren ist
die Mitgliedschaft im Verein Voraussetzung für den Einzug und das Wohnen im
Wohnprojekt.
Das Ziel des Wohnprojektes ist es, „ein selbstbestimmtes Leben für alte und
junge Menschen, für Familien und Alleinstehende auf der Basis gegenseitiger
Hilfeleistung mit Schwerpunkt Alterswürde und Sorge für die Älteren“ zu ermöglichen (Faltblatt des Vereins). Die gegenseitige Hilfestellung ist eine moralische
Verpflichtung und sollte auf freiwilliger Basis erfolgen, da sie nicht als Bedingung im Mietvertrag fixiert werden kann.
Der Verein umfasst zur Zeit 127 Personen. Die Mitglieder sind meist weiblich,
alleinlebend und älter als 55 Jahre. Ende 2004 hat eine zweite Wohngruppe
des Vereins, bestehend aus sechs Personen, Wohnungen bezogen, die in eine
größere Wohnanlage eingestreut sind. Ein weiteres Gemeinschaftsprojekt in
einem innerstädtischen Viertel ist bereits in Planung und soll Ende 2006 bezugsfertig sein.
Ein Merkmal von gemeinschaftsorientierten Wohnprojekten ist die Mitwirkung
der zukünftigen Bewohner/innen bei der Planung des Projekts. Der Planungsprozess war zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme mit der Wohnungsbaugesellschaft jedoch bereits weitgehend abgeschlossen. Soweit wie möglich, wurden
die zukünftigen Bewohner/innen noch an der Planung beteiligt. Die Entscheidung über Fenster in Küche oder Bad, Dusch- oder Badewanne sowie Art der
Bodenbeläge konnten sie selbst treffen.
Sie setzten den Einbau eines Aufzugs in dem dreigeschossigen Mehrfamilienhaus durch. Des Weiteren bestanden Sie auf einen Gemeinschaftsraum, der
allerdings nur anstelle des ursprünglich geplanten Trockenraumes im Keller
Platz fand. Die zum Gemeinschaftsraum gehörende Gästetoilette befindet sich
aus Platzgründen im 2. Stockwerk.
Der Verein war froh, dass das Wohnprojekt endlich realisiert werden konnte und
„...äußerte keine Wünsche, die nicht realisierbar gewesen wären. Aber um den Gemeinschaftsraum mussten wir ganz schön kämpfen, da ja über das soziale Wohnungsbauprogramm kein Gemeinschaftsraum bezahlt und gefördert wird, mussten
wir den Trockenraum hierfür nehmen.“ (Interview 11)
2
Ein Wohnungsberechtigungsschein berechtigt zum Bezug einer öffentlich-geförderten Wohnung. Die Ausstellung ist
einkommensabhängig.
29
3.4.2 Objektive Deskription der Wohnbedingungen
Umweltbedingungen, wie die Ausstattung der Wohnung und der Wohnanlage,
Naherholungsmöglichkeiten, der Anschluss an das öffentliche Nahverkehrsnetz,
die Entfernung von der Wohnung zu Geschäften, Ärzten und soziokulturellen
Einrichtungen - all diese Faktoren wirken sich auf das Verhalten und Erleben
des älteren Menschen in verstärktem Maße aus. Deshalb folgt zunächst die Beschreibung der räumlichen Umwelt, um anschließend das subjektive Urteil der
Bewohner in Bezug auf Barrierefreiheit und Wohnumfeldqualität einzuholen.
3.4.2.1 Merkmale des halböffentlichen Wohnumfeldes
Die nachfolgenden Abbildungen zeigen das freistehende Wohnhaus.
Abb. 3:
Das Wohnhaus (Nord-Ost-Ansicht und Südansicht)
Die Größe der insgesamt 16 Wohnungen ist wie folgt:
•
13 Appartements in der Größe von 39-40 qm
•
Eine Drei-Zimmer-Wohnung
•
Eine Vier-Zimmer-Wohnung
•
Eine Fünf-Zimmer-Wohnung
Die Appartements mit ca. 40 qm Wohnfläche bestehen aus einem WohnSchlafraum und einer Kochnische, die je nach Grundriss teilweise mit bzw. ohne Fenster ausgestattet ist und zum Wohnraum hin offen ist. Die besichtigten
Badezimmer der befragten Bewohner sind innenliegend und nicht barrierefrei
und wurden (auf Wunsch der Bewohner/innen) mit einer Duschwanne ausgestattet. Ein Abstellraum in der Wohnung ist nicht vorhanden. Alle Wohnungen
verfügen über eine Terrasse bzw. einen Balkon.
Das Haus wurde nicht nach den Richtlinien der DIN 18 025 - Teil 1 für barrierefreie Wohnungen gebaut. Zum Hauseingang führen zwei Stufen sowie eine
30
Rampe für Rollstuhlfahrer und für Kinderwägen. Die Rampe wurde nachträglich
errichtet, als eine Rollstuhlfahrerin in das Projekt einzog. Am unteren Ende der
Rampe wurde Kopfsteinpflaster ausgelegt, was die Befahrbarkeit für Rollstuhlfahrer erschwert.
Im Haus befindet sich ein Aufzug, der alle Etagen miteinander verbindet und
von der Eingangstüre ebenerdig zu erreichen ist. In einem dreigeschossigen
Haus gehört ein Aufzug nicht zur Standardausstattung und wurde auf ausdrücklichen Wunsch der Bewohner/innen eingebaut. Die Terrassen bzw. die Balkone
sind nicht schwellenlos erreichbar. Im Falle der Rollstuhlfahrerin wurden Wohnungsanpassungsmaßnahmen durch das Anbringen einer mobilen Rampe von
der Wohnung zur Terrasse vorgenommen.
Der Gemeinschaftraum liegt im Keller und ist normalerweise verschlossen, da
sich dort auch das Vereinsbüro befindet. Der Schlüssel wird bei Bedarf von der
1. oder 2. Vereinsvorsitzenden ausgegeben. Dieser ca. 40 qm große Raum ist
ausgestattet mit einer Küchenzeile mit Spülmaschine, einem großen runden
Holztisch, einem großen Bücherregal mit vielen Büchern und einer Büroecke
mit Telefon, PC und Regalen. Er wird für die offiziellen Bürostunden des Vereins, die zweimal wöchentlich zwei Stunden abgehalten werden, benutzt. Des
Weiteren finden dort Vereinsaktivitäten wie Vereins- und Bewohnerversammlungen, Brunch, Malkurse, Geburtstagsfeiern und Kaffeetrinken statt und die
älteren Bewohner/innen setzten sich dort auch manchmal mittags zum gemeinsamen Essen zusammen. Der Raum wird nicht anderweitig vermietet. Aufgrund
der Kellerlage ist der Raum dunkel und verfügt nur über kleine Lüftungsschächte.
Der Garten ist für alle Hausbewohner zugänglich und wird zum geselligen Zusammensitzen, Gärtnern, Grillen und als Spielwiese benutzt. Neben der Rasenfläche haben die Bewohner Blumenbeete angelegt. Drei Terrassen grenzen an
den Garten an. Zwischen diesen Terrassen gibt es keine Abtrennung und keinerlei Sichtschutz. Auch ist keine Abgrenzung zur übrigen Gartenfläche vorhanden. Im Sommer finden die wöchentlichen Treffen der Älteren auf der Terrasse einer Bewohnerin statt. Der sonntägliche Brunch wird im Sommer ebenfalls im Garten veranstaltet, da der Gemeinschaftsraum im Keller dann zu kühl
und zu dunkel ist. Auch Grillfeste werden von Zeit zu Zeit von den Hausbewohnern organisiert.
31
3.4.2.2 Merkmale des öffentlichen Wohnumfeldes
Das Haus steht auf einem Eckgrundstück am Stadtrand und grenzt an eine
vierspurige Ausfallstraße. Es ist umgeben von Mehrfamilienhäusern und Reihenhäusern des freien Wohnungsbaus sowie von Wohnungen des sozialen
Wohnungsbaus mit hohem Migrantenanteil.
Die Wohnanlage ist von Naherholungsgebieten umgeben. In ca. 10 Gehminuten ist eine große parkähnliche Freifläche zu erreichen. Zwischen den umliegenden Häusern befinden sich Grünflächen und Kinderspielplätze mit Sitzbänken. Sportplätze sind ebenfalls in der Nähe und in 5-minütiger Entfernung mit
dem Bus gibt es ein Winter- und Sommerbad. Weitere Parkanlagen sind in
30-40 Minuten zu Fuß erreichbar.
Das Haus ist gut an den öffentlichen Nahverkehr angeschlossen. Ca. 20 Meter
vom Hauseingang entfernt liegt eine Bushaltestelle mit zwei bzw. in Schulzeiten
drei Buslinien, die im 10-Minuten-Takt zur U-Bahn- bzw. S-Bahn-Haltestelle und
zu Einkaufszentren fahren. Auf einer der drei Buslinien verkehrt im 20-MinutenTakt ein rollstuhlgeeigneter Niederflurbus. Am Sonntag ist der Takt des Busnetzes etwas ausgedünnt.
Die einzige Einkaufsmöglichkeit, die fußläufig unter 10 Minuten zu erreichen ist,
ist eine Tankstelle mit angeschlossenem „Shop“ auf der gegenüberliegenden
Seite der Ausfallstraße. Zu Fuß kann eine Bäckerei, eine Metzgerei und ein
Baumarkt in ca. 20 Minuten erreicht werden. Der Weg führt entlang der stark
befahrenen vierspurigen Straße und eine gewisse Steigung ist zu überwinden,
da die Straße eine breite Bahntrasse überquert.
Die vielfältigste Infrastruktur ist mit dem Bus in 10 Minuten zu erreichen. Dort
gibt es eine Post, Banken, Ärzte, Apotheken, Optiker, Hörgeräteakustiker, Drogerie, Friseur, Schuh- und Bekleidungsgeschäfte, Bäckerei, Metzgerei,
Lebensmittelmärkte und ein Café. Eine Kirche und ein Krankenhaus befinden
sich ebenfalls dort. Für die Fahrt zu diesen Einrichtungen befindet sich die Bushaltestelle direkt vorm Haus. Bei der Rückfahrt nimmt der Bus einen anderen
Verlauf und hält ca. 500 m vom Haus entfernt. Die Bewohner nehmen für diese
Entfernung meist einen Umweg von ca. 15 Minuten in Kauf, indem sie in eine
andere Buslinie umsteigen, die dann wieder vor dem Haus hält.
32
3.4.3 Subjektive Bewertung der Wohnbedingungen durch die Bewohner
Auf welche Art und Weise sich die Wohnbedingungen auf das Erleben und Verhalten des Menschen auswirken, ist nicht nur abhängig von den objektiv vorhandenen Gegebenheiten der sozial-räumlichen Wohnumwelt, sondern insbesondere davon, wie der Mensch seine Umwelt wahrnimmt und erlebt.
In dieser Untersuchung liegt der Fokus weniger auf der Bewertung der Wohnung und der halböffentlichen Bereiche (Garten, Gemeinschaftsraum) als vielmehr auf der subjektiven Beurteilung der Zugänglichkeit und Erreichbarkeit der
Wohnung und der Gegebenheiten des Wohnumfeldes (Infrastruktur, Naherholung, Verkehrsanbindung).
Wie im Kapitel 2.4.1 „Erreichbarkeit und Zugänglichkeit“ näher erläutert, wirken
sich Defizite oder Barrieren im räumlichen Wohnumfeld negativ auf die Nutzung
dieser Räume aus und können sich bei älteren Menschen mit altersbedingten
Einbußen als Nutzungsbarrieren erweisen, die die selbstständige Haushaltsführung erschweren. Der Punkt wird in diese Arbeit aufgenommen, um zu analysieren, wie die unterschiedlich alten Bewohner des gemeinschaftsorientierten
intergenerativen Wohnprojektes die Merkmale des Standortes wahrnehmen und
bewerten und ob die Bewohner Wege finden, wahrgenommene räumliche Defizite durch soziale Ressourcen ihres Wohnumfeldes zu kompensieren.
Die Interviewpartner/innen wurden gebeten, ihr Wohnumfeld im Hinblick auf die
Verkehrsanbindung, die Nähe zu Grünflächen, die Wohnlage, die barrierefreie
Zugänglichkeit der Wohnung sowie die Erreichbarkeit der Einkaufs- und Versorgungsmöglichkeiten subjektiv zu bewerten. Die Bewertung wurde anhand
einer 4-stufigen Skala (3 = sehr gut, 2 = gut, 1 = befriedigend, 0 = unbefriedigend) vorgenommen und die verbalen Erläuterungen wurden auf Tonband festgehalten und ausgewertet.
(Allgemeine Anmerkung: Alle Werte und Prozentangaben in den folgenden
Darstellungen werden generell auf ganze Zahlen auf- bzw. abgerundet).
33
Häufigkeiten in %
80
60
sehr gut
gut
zufriedenstellend
schlecht
40
20
Abb. 4:
N
Ve
rk
eh
r
sa
nb
.
ah
er
ho
lu
ng
Ba
rri
er
ef
re
ih
.
W
oh
nl
ag
Ei
e
nk
au
fs
m
ög
l.
0
Bewertung des Wohnumfeldes (n = 10)
Die Abbildung zeigt, dass die Verkehrsanbindung sowie die Naherholungsmöglichkeiten mit „gut“ bzw. „sehr gut“ bewertet werden. Diese Bewertungen stehen
in Einklang mit der tatsächlichen Ausstattung, die oben unter Punkt 3.4.2.2
„Merkmale des öffentlichen Wohnumfeldes“ bereits näher beschrieben wurde.
Die barrierefreie Zugänglichkeit der Wohnung wird von 70 % der Bewohner mit
„sehr gut“ und von 30 % mit „gut“ bewertet. Bei diesem Item denken die Bewohner an den Aufzug und an die nachträglich eingebaute Rampe für Rollstuhlfahrer. Eine Bewohnerin ergänzt ihre Bewertung:
„...ja da haben wir ja nen Fahrstuhl - den ham sie ja hier genehmigt bekommen. Das
ist ja optimal. Stauraum hab ich im Keller und da muss ich ja viel runterbringen. Und
da kann ich bis in den Keller runterfahren - grade für ältere Leute - wie gesagt, ich
kann von mir noch sagen, ich bin noch gut beweglich, aber ich werde das sicher gut
empfinden, wenn es nicht so gut geht. Und für unsere behinderte Dame haben sie
sogar eine Rampe gebaut, nachträglich - denn man weiß ja auch nicht, man kann ja
auch mal...“ (Interview 1)
Die Wohnlage wird von 10 % mit „sehr gut“ und von 60 % mit „gut“ bewertet.
Von den 30 %, die die Wohnlage mit „zufriedenstellend“ bewerten, leben zwei
Drittel in einer Wohnung, deren Fenster ausschließlich auf die vierspurige Ausfallstraße ausgerichtet sind. Sie klagen über den Lärm der anfahrenden Autos
und Motorräder an der Ampel und empfinden dies insbesondere im Sommer als
sehr belastend. Das andere Drittel hat das Gefühl, „in der Pampa“ (Interview
10) zu leben, da das Wohnhaus am Stadtrand liegt und sich keinerlei kulturelle
oder infrastrukturelle Einrichtungen in unmittelbarer Nähe befinden.
34
Die Einkaufs- und Versorgungsmöglichkeiten beurteilen die Bewohner/innen
ambivalent. 20 % bewerten sie mit „sehr gut“, 40 % mit „gut“, 30 % mit „zufriedenstellend“ und 10 % mit „schlecht“. Dieser Aspekt wird in der nächsten Darstellung genauer betrachtet, wenn die subjektive Bewertung nach Altersgruppen
differenziert wird.
Häufigkeiten in %
100
80
sehr gut
gut
zufriedenstellend
schlecht
60
40
20
0
30-50
Abb. 5:
51-60
61-70
71-80
81-90
Bewertung der Einkaufsmöglichkeiten nach Altersgruppen
Die Anzahl der Personen in den verschiedenen Altersklassen setzt sich wie
folgt zusammen: In den Altersgruppen 30-50, 51-60 und 61-70 sind jeweils zwei
Personen, die Gruppe der 71-80-jährigen beinhaltet drei Personen und die der
81-90-jährigen eine Person.
Dieses Diagramm zeigt, dass die Einkaufsmöglichkeiten sowohl von den jüngeren als auch von den älteren Bewohnern mit „zufriedenstellend“ und „schlecht“
beurteilt werden. Von der Altersgruppe 30-50 bewerten je 50 % die Einkaufsmöglichkeiten als zufriedenstellend bzw. schlecht. Diese Aussage ist darauf zurückzuführen, dass es sich um junge Leute mit einem Kleinkind handelt, die es
ähnlich wie die älteren Menschen (vgl. Altersgruppe 71-90) beschwerlich finden,
für die Deckung des täglichen Bedarfs weite bzw. unattraktive Wege in Kauf zu
nehmen. Das folgende Zitat einer jüngeren Bewohnerin begründet die Unzufriedenheit:
„Wir haben hier in der Nähe nichts. Also, einfach so zu Fuß hinzuspringen. Für uns
geht es noch - wir haben ein Auto, aber für die Ömchen hier im Haus ist es ungünstig.“ (Interview 8)
35
Die 51-60-Jährigen bewerten die Einkaufsmöglichkeiten mit „gut“. Sie verfügen
jeweils über die „Ressource Pkw“ und sind somit unabhängig vom Angebot des
Wohnumfeldes.
Die 71-80-Jährigen sind relativ mobil. Eine Person fährt selbst mit dem Auto,
eine andere erledigt ihre Einkäufe mit dem Fahrrad weitgehend selbst, bzw. bittet Nachbarn, schwerere Dinge wie „Blumenerde, Waschpulver oder Öl“ mitzubringen.
Die Gruppe der 61-70-jährigen und die der 81-90-jährigen ist auf öffentliche
Verkehrsmittel angewiesen. Ihr subjektiv bewerteter Gesundheitszustand
bewegt sich im Bereich „es geht“ und „schlecht“. Herz-Kreislaufprobleme,
Schwindel und Gelenkschmerzen werden von dieser Gruppe als gesundheitliche Probleme genannt. Eine ältere Bewohnerin beschreibt die Situation
folgendermaßen:
„Einkaufsmöglichkeiten, die sind nicht so gut - die sind nicht so gut. In der Nähe haben wir nichts. Ich meine, das ist so eine große Wohnanlage - ich meine das man
sich Brot oder Butter kaufen könnte - alle anderen Einkäufe könnte man alle Monate
oder zweimal pro Monat machen. Entweder kauft meine Tochter einmal im Monat ein
und bringt es mir. Oder mein Nachbar, mit dem fahren wir und kaufen ein. Ich meine
die anderen, die nicht so Familie haben, da ist es nicht so einfach.“ (Interview 6)
Die subjektive Bewertung des Wohnumfeldes in Bezug auf Verkehrsanbindung,
Barrierefreiheit, Wohnlage, Naherholungsmöglichkeiten, Einkaufs- und Versorgungsmöglichkeiten zeigt, wie unterschiedlich die einzelnen Bewohner das gleiche Wohnumfeld wahrnehmen. Bei der Bewertung der Einkaufs- und Versorgungsmöglichkeiten wird die Interdependenz zwischen der Kompetenz der Person im Sinne von körperlichen Einbußen und der Standortqualität besonders
deutlich. Nach dem Komplementaritäts-Modell von Carp & Carp (vgl. Kapitel
2.5.2) ist die Aufrechterhaltung der selbstständigen Lebensweise ein Grundbedürfnis des Menschen. Eine niedrige Standortqualität stellt somit eine
Nutzungsbarriere dar, die es zu kompensieren gilt, um die Eigenständigkeit zu
bewahren. Die Bewohner des Wohnprojektes kompensieren dieses Defizit je
nach Möglichkeit entweder durch die Nutzung des Pkws bzw. des öffentlichen
Nahverkehrs oder durch soziale Ressourcen, nämlich durch die Inanspruchnahme ihres informellen sozialen Netzwerkes. Den Bewohnern des untersuchten Wohnprojektes stehen neben den familiären auch nachbarschaftliche Unterstützungspotenziale zur Verfügung, mit denen sie Defizite des Wohnumfeldes
kompensieren können.
36
3.5
Einzugsgründe
Die subjektiven Beweggründe der Bewohner/innen, die für den Einzug relevant
waren, wurden mit der offenen Frage „Welches waren ihre Gründe, in das
Wohnprojekt zu ziehen?“ erhoben.
Die Gründe für die Beschäftigung mit dem Gedanken, in ein gemeinschaftsorientiertes Projekt zu ziehen, sind im untersuchten Wohnprojekt vielfältig. In
dieser explorativen Studie wurden die Antworten auf die offene Frage nach dem
Einzugsgrund in Kategorien eingeordnet und Mehrfachnennungen zugelassen.
40 % der Bewohner waren gezwungen, neuen Wohnraum zu suchen. Bei der
Hälfte dieser Gruppe war die Wohnung wegen Familienzuwachs zu klein geworden. Der anderen Hälfte war die bisherige Wohnung gekündigt worden.
Bezahlbarer Wohnraum und Wohnsicherheit gehören zu den existentiellen
Bedürfnissen des Menschen. Insbesondere in Ballungsräumen ist das Angebot
an bezahlbarem Wohnraum, der den finanziellen Ressourcen bestimmter Einkommensgruppen entspricht, knapp. Der Einzug in das Wohnprojekt erfolgte
bei diesen Personen nicht in erster Linie aufgrund der Gemeinschaftsorientierung, sondern hatte die Befriedigung des Grundbedürfnisses nach bezahlbarem Wohnraum zum Ziel.
Die durch den Tod des Partners zu groß gewordene Wohnung war bei 20 % der
Befragten Auslöser, sich mit dem Thema Umzug auseinander zu setzen und
nach einer adäquaten Wohnalternative zu suchen. Herr E. beschreibt seine
Situation:
„Mein Frau ist 2000 gestorben - ich wollt ja - und da war des Haus im Bau und weil
ich früher am Bau gearbeitet habe - hab (ich) des immer wieder angeschaut - und als
meine Frau dann gestorben ist, hab ich angerufen, ob noch was frei ist. Was tu ich
mit einer Drei-Zimmer-Wohnung, mir reicht ein Zimmer.“ (Interview 5)
All diese Nennungen wurden unter die Kategorie „wohnraumbedingte Gründe“
subsumiert.
Bei 30 % der (älteren) Studienteilnehmer war der Wunsch sehr ausgeprägt, ihre
Wohnsituation im Alter so zu gestalten, dass sie auch weiterhin selbstständig
und selbstbestimmt leben konnten. Die Gründe für den Einzug sind geprägt von
dem Bedürfnis nach Selbstständigkeit und Selbstbestimmtheit und wurden der
Kategorie „Autonomie“ zugeordnet. Frau F. schildert ihre Gedanken:
„Ja das war - ich hatte mich schon vorher umgeschaut - ich wollte mich ja verändern und da hab ich gedacht, da war ich ja schon 76 oder 77 - ich dachte, du musst ja
37
irgendwas machen - alleinstehend bin ich. Ich hab gedacht, du musst selbstständig
bleiben, damit du niemand zur Last fällst.“ (Interview 1)
Die Beschäftigung mit der Veränderung der Wohnsituation impliziert bereits
indirekt den Gedanken der antizipierten Vorsorge im Hinblick auf eventuelle
Kompetenzeinbußen. Aber nur 10 % nahmen die sich bereits ankündigenden
gesundheitlichen Einschränkungen und die nicht mehr optimal an die zu erwartenden Einschränkungen angepasste Wohnumwelt zum Anlass, um durch den
Umzug die Umwelt an ihre Kompetenz anzupassen und gleichzeitig das
Bedürfnis nach Sicherheit im Bedarfsfall und nach Gemeinschaft zu befriedigen.
Allerdings wurde in diesem Fall die Umzugsentscheidung durch eine frei werdende Wohnung im Wohnprojekt vorgezogen. Diese Aussage wurde unter die
Kategorie „Vorsorge“ aufgenommen.
Bei 30 % der Bewohner beruhte die Beschäftigung mit dem gemeinschaftsorientierten Wohnen und die Entscheidung in das Wohnprojekt einzuziehen auf
einem eher politischen Interesse. Sie setzten sich mit der Situation der Altenheime intensiv auseinander und ihr Ziel war, eine alternative Wohnform ins
Leben zu rufen, die die Lücke zwischen dem Alleinwohnen und dem Wohnen
im Heim schließt und selbstbestimmtes Leben und Wohnen im Alter ermöglichen sollte. Dieses Motiv wird der Kategorie „etwas Neues schaffen“ zugeordnet.
Von 50 % wurde der Wunsch nach Gemeinschaft explizit genannt. Insbesondere die älteren Menschen gaben an, „im Alter nicht alleine leben“ oder den
„Alltag gemeinsam mit anderen gestalten“ zu wollen. Dieser Einzugsgrund
wurde unter der Kategorie „Gemeinschaft“ aufgenommen.
Basierend auf den Aussagen wird eine Zuordnung zu fünf verschiedenen Kategorien vorgenommen:
•
Wohnraumbedingte Gründe
•
Streben nach Autonomie
•
Wunsch nach Gemeinschaft
•
Vorsorge
•
Wunsch, etwas Neues zu schaffen
Um die Einzugsgründe mit denen der Bewohner des Betreuten Wohnens vergleichen zu können, wird aus der Stichprobe des intergenerativen Wohnprojektes die Gruppe der über 60-jährigen und ihre Einzugsgründe getrennt in der
38
folgenden Abbildung betrachtet. Wie bereits oben erwähnt, wurden Mehrfachnennungen zugelassen.
Nennungen in %
100%
80%
60%
40%
20%
Abb. 6:
Vo
rs
or
ge
nd
e
G
rü
Ex
te
rn
e
sc
ha
ffe
n
N
eu
es
Au
to
no
m
ie
G
em
ei
ns
ch
af
t
0%
Einzugsgründe der Bewohner ab Alter 60 (n = 6)
Wie die Grafik verdeutlicht, ist das Bedürfnis, im Alter nicht alleine, sondern zusammen mit anderen zu wohnen und zu leben, in dieser Gruppe mit 83 % sehr
ausgeprägt. Das Bedürfnis nach Autonomie und der Wunsch, etwas Neues zu
schaffen, werden jeweils von 50 % der befragten Älteren genannt. Ebenso häufig werden wohnraumbedingte Gründe erwähnt. An letzter Stelle rangiert die
Kategorie Vorsorge mit nur 17%.
Zusammenfassend kann konstatiert werden, dass die Einzugsgründe bei den
jüngeren und älteren Bewohnern des gemeinschaftsorientierten intergenerativen Wohnprojektes differieren. Spielt bei den jüngeren Studienteilnehmern in
diesem Wohnprojekt in erster Linie die Befriedigung des Grundbedürfnisses
nach bezahlbarem Wohnraum eine Rolle für den Einzug, so sind die Umzugsgründe bei den älteren Bewohnern eher geprägt durch Veränderungen in ihrer
jeweiligen Lebenssituation, wie z.B. dem Tod des Partners. Gleichzeitig kommen die Älteren durch den Umzug Bedürfnissen höherer Ordnung („higherorder needs“) nach, indem sie sich ihren Wunsch nach einem eigenständigen
Leben in der Gemeinschaft erfüllen und die Altersphase nach ihren eigenen
Vorstellungen gestalten.
Die unterschiedlichen Einzugsgründe lassen auch auf differierende Erwartungen schließen, die im nachfolgenden Kapitel untersucht werden.
39
3.6
Erwartungen
Die Auswertung der Frage „Haben sich ihre Vorstellungen vom Leben in einem
Wohnprojekt erfüllt?“ zeigt, dass einige Bewohner keine besonderen Erwartungen an das Projekt hatten. Einige ältere Bewohner äußerten jedoch dezidierte
Vorstellungen vom Miteinander von Jung und Alt.
Eine Bewohnerin fasst ihre Enttäuschung in Worte:
„Na ja, manchmal ärgere ich mich ein wenig über die jungen Mitbewohner. Die - da
denk ich mir - die könnten auch mal ein bisschen was beitragen - das stört mich ein
bisschen und da denk ich mir, warum, warum tun sie das nicht? Sie sind ja auch in
der Gemeinschaft da hier drin. Es ist ja an und für sich ein Gemeinschaftshaus. An
und für sich haben wir das ja auch so in der Satzung gehabt - aber es ist - aber leider
- also ich meine, wenn man sie braucht - ich will jetzt nicht ganz abwegig - wenn ich
z.B. im Garten (bin), da brauch ich mal Blumenerde und da sag ich dann mal zu dem
einen, du, kannst du mir (die) mal am Wochenende besorgen - also wenn man sie
anspricht, dann sind sie schon mit dabei. Also, die klopfen nicht. Also, die würden
mal von alleine kommen und sagen, wie geht’s dir. Aber da kommt nichts hier.“
(Interview 1)
Auf die Frage, ob es für die Gemeinschaft besser wäre, wenn Menschen gleichen Alters zusammen wohnen würden, antwortet sie:
„Ich würde schon - wir haben es ja schon mit der E. erlebt, die da war - also meine
Nachbarin, die ausgezogen ist. Und das war optimal. Da haben wir so das Gefühl
gehabt, das ist sehr schön mit den jungen Leuten. Die haben ja auch ein Kind gehabt
und das haben wir alles so miterlebt. Also, ich find es ja schon schön mit Alt und
Jung. Muss ich schon sagen.“ (Interview 1)
Dass die Erwartungen an die jüngeren Menschen im Wohnprojekt nicht ganz
kongruent sind mit den Vorstellungen der älteren Menschen, die sich im Wohnprojekt sehr für die Gemeinschaft engagieren, kann auf die unterschiedlichen
Lebenssituationen der einzelnen Bewohner/innen zurückgeführt werden.
Ein jüngerer Mitbewohner, beschreibt die Situation:
„(die) Rentner sind zu Hause. Wenn mal was ist, ist man auf Arbeit oder schläft.
Wenn es zu viele sind, die unterstützen, ist es auch nicht gut - ein oder zwei. Es ist
Vertrauenssache.“ (Interview 3)
Berufstätige, Alleinerziehende, Familien mit Kindern, ältere Menschen haben
jeweils unterschiedliche zeitliche Ressourcen, einen anderen Tagesrhythmus
und je nach Lebensphase sind sie in andere soziale Beziehungen eingebunden,
die für soziale Kontakte entscheidend sind. Jüngere Menschen verbringen in
der Regel mehr Zeit außerhalb des Hauses als ältere Menschen, für die die
nachbarschaftlichen Beziehungen im Alter eine zunehmend wichtigere Rolle
spielen (Borchers, 1998, S. 185). Auch ändert sich im Lebenszyklus das inner-
40
und außerhäusliche Aktivitätsmuster. Im frühen und mittleren Erwachsenalter
stehen berufs- und freizeitbezogene Aktivitäten meist im Vordergrund. Diese
finden in unterschiedlichem räumlich-sozialen Kontext meist außerhalb der
eigenen Wohnung statt. Mit zunehmendem Alter wird die Wohnung dagegen
intensiver genutzt. Es wird mehr Zeit für die Haushaltsführung verwendet, spielerische und schöpferische Betätigung erfolgt stärker wohnungs- und nachbarschaftszentriert und Medien werden häufiger genutzt (Saup, 1993, S. 18).
Ein zweiter Grund für die enttäuschten Erwartungen der älteren Bewohner/innen liegt in der Belegung. Kurz vor Einzug in das Wohnprojekt revidierten
zwei ältere Damen ihre Umzugsentscheidung. Die für sie reservierten Wohnungen mussten kurzfristig an Personen vergeben werden, die bislang keine
Beziehungen zum Verein hatten. Obwohl der Verein das Belegungsrecht hat
und die Mitbewohner/innen selbst auswählen kann, ist er darin doch etwas eingeschränkt. Da es sich um öffentlich geförderte Wohnungen handelt, kommen
nur Bewerber/innen in Frage, die Anspruch auf einen Wohnungsberechtigungsschein besitzen und die die für das Wohnprojekt geltenden „aufgeweichten“
Einkommensgrenzen nicht überschreiten dürfen. Auch für die größeren
familiengerechten Wohnungen stehen im Verein selbst keine potenziellen Bewohner/innen zur Verfügung, da die meisten Vereinsmitglieder alleinstehende
ältere Frauen sind und somit externe Bewerber genommen werden müssen.
Ein jüngerer Mitbewohner sieht diese Belegungsproblematik wie folgt:
„Ich denke, die (älteren Bewohner/innen) - die sind ein bisserl unzufrieden mit dieser
Konstellation, die sich auch ein bisserl daraus ergibt, das man hier den Sozialwohnungsschein haben muss. Und ohne jetzt irgendwie - da zieht man natürlich auch zu
einem bestimmten Prozentsatz ein gewisses Klientel an - von den Rentnern abgesehen - so dass so manchmal nicht ganz unproblematische Fälle hier wohnen. Deshalb
wollen sie auch ein Projekt in H., das in drei Jahren fertig ist und das soll nicht einkommensgebunden sein - und da erhoffen sie sich, dass auch andere Leute reinkommen.“ (Interview 9)
Die Auswahl der Bewohner erfolgt durch die beiden Vereinsvorsitzenden in
Form eines Bewerbungsgesprächs. Sie machen sich den Vorwurf, die Auswahl
nicht gut genug getroffen zu haben
„Was wir hätten noch machen müssen - besser Aussieben. Da haben wir zu wenig
(darauf) geachtet - dass hätten wir noch anders machen müssen. Aber so was lernt
man nur durch die Erfahrung.“ (Interview 11)
Gerade die älteren Menschen engagieren sich sehr für die Gemeinschaft und
gehen von ihrem Selbstverständnis der gegenseitigen Hilfestellung aus. Sie
41
sind enttäuscht über die unterschiedliche Interpretation durch andere Mitbewohner/innen.
„Gegenseitige Hilfe ist eine moralische Verpflichtung, das kann man nicht im Mietvertrag festschreiben. Aber die Leute suchen meist nur eine günstige Wohnung. Es wird
immer so sein, dass die einen es ganz selbstverständlich machen, den anderen
muss man einen Tritt geben.“ (Interview 10)
Ein jüngerer Mitbewohner antwortet auf die Frage, ob sich seine Vorstellungen
vom Leben in der Gemeinschaft erfüllt hätten, wie folgt:
„Ja! Zwang ist nichts. Nicht ankommen und gleich etwas haben wollen, sondern anmelden. Es muss freiwillig sein. Ich kann mich nicht beschweren.“ (Interview 3)
Die Erwartungen wurden auch enttäuscht, als sich herausstellte, dass einige
Personen psychisch krank bzw. suchtkrank waren, dies vor ihrem Einzug „verschwiegen“ hatten und nun das Projekt zum Teil erheblich belasten, indem sie
sich auf die Hilfestellung verlassen, zu der sich insbesondere die älteren
Bewohnerinnen verpflichtet fühlen.
Für Frau N. haben sich die Erwartungen in Bezug auf Autonomie auf der einen
Seite und Gemeinschaft auf der anderen Seite erfüllt. Sie schildert ihre Zufriedenheit:
„Ich hab meine kleine Wohnung - ich bin mit mir selber. Ich möchte jetzt nicht wo
sein, wo ich mit jemand eine Küche habe, ich bin keine ganz so penible. Da hab ich
meinen eigenen Bereich, das ist mir sehr wichtig. Wenn ich alleine sein will, dann
kann ich dies. Also, total frei und trotzdem ist man nicht allein.“ (Interview 10)
In Anlehnung an das Ähnlichkeitsmodell von Carp & Carp (1984), lässt sich
diese Äußerung dahingehend interpretieren, dass eine Passung erzielt wurde
zwischen dem Bedürfnis der Person nach Autonomie und Affiliation und einer
Umwelt die Eigenständigkeit und Gemeinschaft ermöglicht. (vgl. Kapitel 2.5.2).
Die Interviewaussagen zeigen, dass das Wohnprojekt eher von den Vorstellungen der älteren Bewohner geprägt ist, die dieses initiierten und sich wesentlich
für die Realisierung eingesetzt haben. Sie haben auch die Vereinssatzung erstellt und die Ziele des Vereins definiert. Wie auch noch in den Kapiteln 3.7.2
„Soziale Aktivitäten“ und 3.7.3 „Vereinsaktivitäten“ aufgezeigt wird, haben die
Älteren für sich eine Wohnumwelt gestaltet, die mit ihren Bedürfnissen nach
Gemeinschaft aber auch im Hinblick auf Autonomie und Privatheit kongruent ist.
Bei den jüngeren Bewohnern, die derzeit in der Hausgemeinschaft leben,
scheint das Bedürfnis nach mehr Gemeinschaft mit den älteren Menschen nicht
so stark ausgeprägt zu sein. Sie leisten instrumentelle Hilfestellung, wenn es
42
nötig ist und auf Anfrage. Ansonsten gestalten sie ihren Alltag aber meist in der
Familie oder außerhalb der Hausgemeinschaft.
3.7
Soziales Netzwerk der Bewohner
Mit der Methode der ego-zentrierten Netzwerkanalyse wird die Größe des
Netzwerkes in Abhängigkeit von Familienstand und Alter ermittelt und erfragt,
von welchen Personen Ego Unterstützung bei längerer Krankheit erwartet.
3.7.1 Netzwerkgröße
Insgesamt nennen die 10 befragten Personen des Wohnprojektes 130 Alteri.
Dies bedeutet, dass durchschnittlich 13 Alteri genannt werden bei einer Spannbreite von 5 bis 17 Personen. Betrachtet man nur die Teilstichprobe der sechs
Personen über 60 Jahre, so nennen diese insgesamt 70 Alteri und somit kommen auf Ego durchschnittlich 11,7 Alteri.
Die Ergebnisse der ego-zentrierten Netzwerkanalyse der Berliner Altersstudie,
die die Netzwerkgröße von Menschen ab 65 untersuchte, ergab ein Mittel von
10,9 Netzwerkpartnern (Wagner et al, 1999, S. 310). Somit liegt die Anzahl der
Netzwerkpartner des Wohnprojektes leicht über den Werten dieser repräsentativen Studie.
Die nachfolgende Grafik zeigt die durchschnittliche Anzahl an Alteri nach Familienstand der Egos.
43
25
21
Anzahl Alteri
20
17
15
10
12
8
5
0
ledig
Abb. 7:
verwitwet
geschieden
verheiratet
Durchschnittliche Anzahl der Alteri nach Familienstand der Egos
3
(n = 10, Alteri = 130 )
Von den 10 Befragten leben 80 % (8 Personen) alleine. 20 % (2 Personen) sind
miteinander verheiratet und mit einem Durchschnittsalter von 34 Jahren im Vergleich zu den anderen interviewten Bewohnern, die alle über 50 Jahre sind,
relativ jung. Es zeigt sich, dass Verwitwete und Geschiedene im Mittel deutlich
mehr Alteri nennen als Ledige. Dieser Unterschied ist im Wesentlichen auf die
verringerte Anzahl der familiären Netzwerkmitglieder der ledigen Befragten zurückzuführen. Eine Determinante, die sich auf die Größe des Netzwerkes auswirkt, ist das interindividuell unterschiedliche Bedürfnis nach sozialen Kontakten
bzw. die im Lebenslauf erworbene soziale Kompetenz, Kontakte zu schließen
(Borchers, 1998, S. 194). Wie in Kapitel 2.3.1 „Modell des sozialen Konvois“ bereits dargestellt, wirkt sich auch die Einnahme diverser Rollen und Positionen
im Lebenslauf (z.B. Ehepartner, Vater oder Mutter, Vereinsmitglied, berufliche
Position etc.) unterschiedlich auf die Entstehung und den Bestand von sozialen
Netzwerken aus. Wie Kahn & Antonucci (1980) in ihrer Forschungsarbeit zeigen, stellen die Beziehungen zur Familie und zu engeren Verwandten ein relativ
stabiles Netzwerk und somit auch ein stabiles soziales Unterstützungspotenzial
über die gesamte Lebensspanne dar.
Die folgende Tabelle verdeutlicht die durchschnittliche Anzahl der von Ego
genannten Alteri und berücksichtigt dabei den Familienstand.
3
Von den verheirateten Egos werden jeweils 20,5 Alteri genannt. Die Zahl wurde gerundet, deshalb ergeben sich bei
der Darstellung 131 Alteri.
44
Familienstand
Alter
Durchschnittliche Anzahl
der verwandten Alteri
30 % ledig ohne Kinder
> 50
1,3
10 % geschieden mit Kindern
> 50
3,0
40 % verwitwet mit Kindern
> 50
4,3
20 % verheiratet mit Kindern
< 50
5,5
Tabelle 2:
Familienstand von Ego und die durchschnittliche Anzahl an verwandten Alteri
Die Gegenüberstellung verdeutlicht, dass Kinderlose über ein relativ kleines
familiäres Netzwerk verfügen und somit auch die Zahl der verlässlichen Unterstützungspartner entsprechend gering ist. Diese Lücke kann im Alter kaum
kompensiert werden. Es ist aber zu bedenken, dass das Vorhandensein von
Familie nicht automatisch auch soziale Unterstützung impliziert, da die vergangene Familienbiografie das Kontakt- und Unterstützungspotenzial wesentlich
mitbestimmt (Diewald, 1993, S. 751).
Ein Blick auf die gesellschaftliche Entwicklung zeigt, dass durch den anhaltenden Trend zur Singularisierung in Zukunft weniger soziale Unterstützung aus
familiären Netzwerken geleistet werden kann. Folgt man der von Cantor postulierten Rangfolge, so liegen dann die Unterstützungspotenziale bei näheren
Verwandten (wie Geschwister, Enkel, Nichten), bei Freunden, Nachbarn und
formellen Diensten. Gemeinschaftsorientierten Wohnprojekten kommt in dieser
Hinsicht eine wichtige Funktion zu, da durch die gegenseitige nachbarschaftliche Unterstützung im Projekt fehlende Netzwerkpotenziale teilweise kompensiert werden können. Ob aber nachbarschaftliche Unterstützungspotenziale
auch bei längerer Krankheit in Anspruch genommen werden, wird unter Punkt
3.9 „Versorgung im Krankheitsfall“ näher untersucht.
In der nächsten Grafik wird der Frage nachgegangen, ob die Größe des Netzwerkes in Zusammenhang mit dem Alter steht.
45
25
Zahl der Alteri
20
15
10
5
0
30
40
50
60
70
80
90
Alter
Abb. 8:
Durchschnittliche Anzahl der Alteri nach Alter (n = 10)
Bei der Gruppe der 10 Befragten zeigt sich, dass die Anzahl der Netzwerkpartner der 50-70-Jährigen (drei ledige und eine verwitwete Person) unter 10 Alteri
liegt und sich somit unter dem Mittel für diese Altersgruppe von 11,7 befindet.
Das Netzwerk der 71-80-Jährigen ist dagegen relativ groß. Wie aus der Analyse
der Beziehungsdauer hervorgeht, hatte diese Altersgruppe bereits vor dem Einzug ein großes Netzwerk, das sich aus Familienmitgliedern und langjährigen
Freunden zusammensetzt. Aus den Interviews geht hervor, dass diejenigen
Bewohner, die sich sehr für das Wohnprojekt engagieren, durchschnittlich fünf
neue Netzwerkpartner aus dem Haus hinzugewonnen haben. Die anderen
Altersgruppen nennen jeweils nur drei Personen aus dem Wohnprojekt als neue
Netzwerkpartner. Die Größe des Netzwerkes scheint also weniger in Zusammenhang mit dem Lebensalter zu stehen als vielmehr durch den Familienstand,
die Netzwerkorientierung und -offenheit der Person geprägt zu sein. Auch
Antonucci (1985) stellte - außer bei Hochaltrigen - keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen Lebensalter und Netzwerkgröße fest.
Wie die Ergebnisse hinsichtlich der Art der Netzwerkpartner und der Größe des
sozialen Netzwerkes zeigen, verfügen die Bewohner des Wohnprojektes über
ein relativ großes Netzwerk, wobei Ledige ohne Kinder durch das Fehlen von
familiären Beziehungen über eine geringere Anzahl an Netzwerkpartnern verfügen. Neben dieser Tatsache ist aber die Größe des Netzwerkes auch von Per-
46
sonenvariablen und den im Lebenslauf eingenommenen Rollen und Positionen
abhängig.
3.7.2 Soziale Aktivitäten
Zur Erhebung der sozialen Aktivitäten werden die von Göldner (2002) in Anlehnung an die SIMA-Studie (vgl. Töpfer et al., 1998, S. 143) verwendeten Fragen
übernommen. Der Zeitraum des nachfolgenden Namensgenerators wurde
allerdings von drei Monate auf vier Wochen verkürzt, da es sich im Probeinterview herausstellte, dass es schwierig war, sich an die Aktivitäten der letzten drei
Monate zu erinnern. Die Frage lautet: „Bitte sagen Sie mir, welche der folgenden Aktivitäten Sie in den letzten vier Wochen unternommen haben“ (vgl. hierzu
Frage 8.1.im beiliegenden Fragebogen).
Es wird unterschieden nach innerhäuslichen Aktivitäten
•
Anzahl Alteri, die Ego besucht haben
•
Anzahl Alteri, die Ego eingeladen hat
und nach außerhäuslichen Aktivitäten
•
Anzahl Alteri, die Ego besucht hat
•
Anzahl Alteri, bei denen Ego eingeladen war
•
Anzahl der Alteri, die Ego außerhalb des Wohnprojektes getroffen hat (z.B.
bei einem Spaziergang, kulturellem Ereignis, Restaurant- und Café-Besuch).
Um Vergleiche zum Betreuten Wohnen anzustellen, wird nicht die Gesamtstichprobe des intergenerativen Wohnprojektes verwendet, sondern nur die
Teilstichprobe der älteren Bewohner ab 60.
Bei der Ergebnisdarstellung muss allerdings kritisch angemerkt werden, dass
sich ein Zeitraum von vier Wochen für die Auswertung als zu kurz erwiesen hat,
da einige Personen aufgrund eigener Krankheit (Erkältung) bzw. der Betreuung
einer erkrankten Person im Wohnprojekt weniger Aktivitäten nachgingen als in
„normalen“ Zeiten.
47
18%
16%
14%
Prozent
12%
10%
Verwandte
8%
Freunde
6%
Nachbarn
4%
2%
0%
Besuch bei
ego
Abb. 9:
Ego lädt ein
Besuch bei
Alteri
Einladung bei
Alteri
Treffen
außerhalb
Soziale Aktivitäten (n = 6, Alteri = 46)
Von den insgesamt 70 genannten Alteri der sechs Bewohner über 60 Jahre
unternahmen 66 % (= 46 Personen) soziale Aktivitäten mit den befragten Egos.
Es fällt auf, dass die Bewohner/innen des Wohnprojektes sehr viele Aktivitäten
zusammen mit Freunden (47 %) und Nachbarn (39 %) unternehmen. Erst an
letzter Stelle rangieren Unternehmungen mit Familienmitgliedern (14 %).
11 % der „Besuche bei Ego“, wurden von Nachbarn, 7 % von Freunden und nur
4 % von Familienangehörigen abgestattet.
Bei der Aktivität „Ego lädt ein“ ist erstaunlich, dass die untersuchten Egos nur
Freunde aber keine Nachbarn und keine Familienangehörigen erwähnen. Dieses Ergebnis ist eventuell auf das Wort „Einladung“ zurückzuführen. Im Interview stellte sich heraus, dass Einladungen einen eher „offiziellen“ Charakter
besitzen und weniger an Familienmitglieder als vielmehr an Freunde und
Bekannte ausgesprochen werden. Verwandte werden mehr zu Geburtstagen
oder an Festtagen eingeladen.
Auch bei den außerhäuslichen Aktivitäten „Besuch bei Alteri“ und „Einladungen
bei Alteri“ wird deutlich, dass die Bewohner das Zusammensein mit Freunden
und Nachbarn bevorzugen und verhältnismäßig wenig mit Familienmitgliedern
unternehmen.
48
Jeweils 15 % der „Treffen außerhalb“ werden mit Freunden und Nachbarn unternommen. Der hohe Anteil der Nachbarn bei den außerhäuslichen Unternehmungen ist auf die gemeinsamen Vereinsaktivitäten wie wandern, Ausflüge
machen, gemeinsam Essen gehen, Ausstellungen besuchen etc. zurückzuführen (vgl. Punkt 3.7.3 „Vereinsaktivitäten“).
Die Präferenz für Freunde und Nachbarn bei sozialen Aktivitäten macht deutlich, dass den verschiedenen Beziehungstypen unterschiedliche soziale Funktionen zugesprochen werden. Während Verwandte eher instrumentelle Hilfe leisten, wie z.B. Einkaufen, Unterstützung im Haushalt und Pflege, gewähren
Freunde, Bekannte und Nachbarn vermehrt emotionale Hilfe und Begleitung bei
geselligen Aktivitäten und ermöglichen somit soziale Teilhabe. (Diehl 1988,
S. 277).
Die häufige Nennung von Nachbarn könnte ein Indiz dafür sein, dass das
Gemeinschaftsleben im Wohnprojekt die Bedürfnisse nach sozialer Aktivität im
Wohnprojekt befriedigt und deshalb die Unternehmungen vermehrt mit den
räumlich nahen und altershomogenen Nachbarn stattfinden, die im Alter eine
zunehmend wichtigere Rolle spielen.
Engel et al. (1996, S. 30) erwähnen, dass Interaktionen mit Freunden eher als
neu, abwechslungsreich und spontan empfunden werden, wohingegen Familieninteraktionen häufig als monoton und ritualisiert bezeichnet werden. In diesem Zusammenhang ist verständlich, dass die sozialen Aktivitäten vermehrt mit
Freunden, Bekannten und Nachbarn ausgeführt werden.
Eine weitere Interpretationsmöglichkeit für den geringen Anteil an Familienmitgliedern bei sozialen Aktivitäten ist, dass nur bei zwei Drittel der Bewohner die
Verwandten in der Nähe wohnen bzw. dass keine Familie mehr vorhanden ist.
Im Rahmen der Bonner Gerontologischen Längsschnittstudie (BOLSA) weisen
Lehr & Minnemann (1987) im Hinblick auf die oben genannte Thematik auf
einen interessanten Aspekt hin - nämlich auf einen möglichen Zusammenhang
zwischen der Kompetenz der Person und den von ihr bevorzugten Sozialkontakten.
Lehr & Minnemann (1987, S. 87f) zogen für ihre Untersuchung zur „Erklärung
der Veränderung von Quantität und Qualität sozialer Kontakte vom 7. bis 9.
Lebensjahrzehnt“ die Disengagement-Theorie von Cumming & Henry (1961)
heran. Sie stellten fest, dass je nach Persönlichkeitsstruktur und der speziellen
Lebens- und Rollensituation älterer Menschen das Ausmaß und die Ausrichtung
49
der Sozialkontakte sowie deren Bewertung variiert. So pflegen insbesondere
„kompetente Betagte“, die sich durch einen „höheren IQ, eine größere Interessensvielfalt, besseren Gesundheitszustand, weitreichenderen Zukunftsbezug“
(Lehr & Minnemann, 1979, S. 91) auszeichnen, weniger familiäre Kontakte,
ziehen sich aus familiären Rollen wie der Eltern- oder Großelternrolle eher
zurück und sind mit dem Rückzug aus familiären Rollen zufrieden. Sie suchen
stattdessen vermehrt Kontakte zu Menschen im außerfamiliären Bereich (wie
z.B. zu Freunden und Vereinsmitgliedern).
Bei Menschen mit Kompetenzeinschränkungen im Sinne von „geringerem IQ,
gesundheitlichen Belastungen, geringerer Anregbarkeit, eingeschränktem Zukunftsbezug“ (ebd.), wurde ein gegenteiliges Verhalten festgestellt. Sie ziehen
sich aus den außerfamiliären Rollenbezügen zurück, zentrieren ihren Alltag auf
häusliche Aktivitäten und pflegen soziale Kontakte verstärkt im Familien- und
Verwandtenkreis.
Setzt man die Erkenntnisse von Lehr & Minnemann (1987) in Bezug mit den in
der Abbildung 9 dargestellten Ergebnissen und vergleicht sie mit den Ergebnissen von Göldner (2002, S. 40), die das soziale Netzwerk der Bewohner/innen in
betreuten Wohnanlagen mit dem Aktivitäten-Namensgenerator „Bitte sagen Sie
mir, welche der folgenden Aktivitäten Sie in den letzten drei Monaten unternommen haben“ untersuchte, so zeigt sich folgender Unterschied zwischen den
Bewohnern der beiden Wohnformen: Im Betreuten Wohnen liegt der Anteil der
Familienmitglieder bei den sozialen Aktivitäten (Besuch und Einladung bei Ego,
Besuch und Einladung bei Alteri) deutlich höher als derjenige von Freunden,
Bekannten und Nachbarn. Nur bei “Treffen außerhalb“ überwiegen die Freunde,
Bekannten und Nachbarn geringfügig. Der hohe Stellenwert, der der Familie in
der Untersuchung von Göldner bei sozialen Aktivitäten zukommt, könnte mit
dem Gesundheitszustand der Bewohner in Zusammenhang gebracht werden,
denn 80 % der befragten Bewohner des Betreuten Wohnens gaben gesundheitliche Gründe als Umzugsgründe an (ebd. S. 50).
Einschränkend muss jedoch hinzugefügt werden, dass die Ergebnisse von
Göldner und die Ergebnisse dieser Studie methodisch nicht direkt vergleichbar
sind, da ein unterschiedlicher Zeitraum für die sozialen Aktivitäten erfragt wurde
50
(vier Wochen beim Wohnprojekt und drei Monate beim Betreuten Wohnen) und
zudem die Fragestellung, die der Auswertung zugrunde lag, variierte.4
Die Ergebnisse könnten ein Indiz dafür sein, dass es einen Zusammenhang gibt
zwischen dem Kompetenzgrad der Person und dem Grad des inner- bzw.
außerfamiliären Aktivitäts- bzw. Kontaktniveaus in den unterschiedlichen Wohnformen. In beiden Studien wurden allerdings die zusätzlichen Variablen, wie
Intelligenzquotient, Zukunftsbezug und Interessensvielfalt, die Lehr & Minnemann (1987) in Zusammenhang mit ihren Schlussfolgerungen brachten, nicht
untersucht.
Resümierend wird festgestellt, dass die älteren Bewohner/innen des gemeinschaftsorientierten Wohnprojektes soziale Aktivitäten in erster Linie mit Freunden und Nachbarn und weniger mit Familienangehörigen unternehmen. Die
hierfür genannten Erklärungsansätze sind vielfältig und umfassen die Kompetenz der Person, die unterschiedlichen sozialen und stimulierenden Funktionen,
die den diversen Netzwerkbeziehungen zugesprochen werden sowie die Persönlichkeitsstruktur und die jeweilige Lebenssituation.
3.7.3 Vereinsaktivitäten
Neben der gegenseitigen Hilfestellung im Wohnprojekt ist es eine primäre Aufgabe des Vereins, soziale Aktivitäten zu organisieren, damit sich die Mitglieder
untereinander besser kennen lernen, um später eigene Wohnprojekte zu gründen bzw. in frei werdende Wohnungen zu ziehen. Die Aktivitäten wie Brunch,
Malen und Wandern werden in erster Linie von den älteren Bewohner/innen für
die älteren Bewohner/innen und Vereinsmitglieder organisiert.
Die nachfolgene Abbildung zeigt die Teilnahme an Vereinsaktivitäten nach
Altersgruppe.
4
In dieser Studie fand die Auswertung nach Aktivitäten statt. Göldner wertete nach Beziehungstypen aus.
51
Häufigkeit in %
100
30-50
51-60
61-70
71-80
81-90
80
60
40
20
n
Ve
re
in
sa
rb
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Ab
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W
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ch
0
Abb. 10: Teilnahme an Vereinsaktivitäten nach Alter
Die Grafik zeigt, dass sich die Bewohner/innen der Altersgruppe 30-60 an
keinen Vereinsaktivitäten beteiligen, und sich - außer bei der Mitgliederversammlung - auch nicht in die Vereinsarbeit einbringen. Ein Grund hierfür
könnte sein, dass die Vereinsaktivitäten von älteren Vereinsmitgliedern für ältere Vereinsmitglieder organisiert werden und auf Seiten der jüngeren Mitbewohner andere Interessen vorhanden sind und durch die Berufstätigkeit die Zeit für
die Teilnahme fehlt.
Unter den jüngeren Bewohnern gibt es - soweit dies aus den Interviews hervorging - keine Untergruppierungen, die sich zu sozialen Aktivitäten zusammenschließen. Dies kann mit der sehr heterogenen Bewohnerstruktur im Wohnprojekt mit nur 16 Einheiten zusammenhängen. Die Bewohner differieren in Bezug
auf Alter, Bildung, Ethnie, Familienstand und Einkommen sehr stark. So bedauert z.B. eine jüngere Familie mit Kind, dass es nicht mehr „Gleichgesinnte“
gäbe, wie z.B. „mehrere Familien mit Kindern, mit denen man sich zusammenschließen könnte.“ (Interview 8)
Dagegen ist die Teilnahme bei den 71-90-Jährigen bei den verschiedenen Aktivitäten hoch. Die innerhäuslichen Angebote, wie der monatliche Sonntagsbrunch, für den die Bewohner die Verpflegung übernehmen, sowie der 14-tägig
stattfindende Malkurs, werden gerne angenommen. Auch die Wanderungen
und Ausflüge mit Restaurantbesuch, die im zweiwöchentlichen Rhythmus organisiert werden, finden regen Anklang.
52
Zu den abendlichen Treffen laden die älteren Bewohner spontan die eher
altershomogenen Mitbewohner/innen ein. Sie finden in den Wohnungen der
älteren Bewohner/innen des Wohnprojektes statt.
Frau S: beschreibt dieses Treffen:
„und dann sagt man, heut Abend kommen wir mal wieder - und dann treffen wir uns.
Dann wird ein Gläschen getrunken und geratscht. Das ist so wie in einer Familie,
dass man zusammenkommt.“ (Interview 2)
Interessant ist, dass diese Treffen bei der Frage nach den sozialen Aktivitäten
weder in der Rubrik „Besuche“ noch „Einladungen“ eingeordnet wurden, sondern nur im Interview erwähnt werden.
Die Vereinsarbeit wird in erster Linie durch die beiden Vereinsvorsitzenden mit
der Unterstützung der älteren Bewohnerinnen durchgeführt. Vereinzelt arbeiten
auch extern wohnende Vereinsmitglieder mit. Dass das Büro des Vereins und
somit fast alle (sozialen) Vereinsaktivitäten und die administrativen Arbeiten im
Gemeinschaftsraum des Hauses stattfinden, ist für die Bewohner von Vorteil
und trägt dazu bei, dass sie je nach Fähigkeiten unterschiedliche Aufgaben
wahrnehmen.
3.8
Entwicklungspotenziale im Wohnprojekt
Auf die Frage „Wie sehen Sie ihre Rolle in der Hausgemeinschaft?“ antwortet
eine hochaltrige Mitbewohnerin:
„Ich bin so ziemlich, ja nicht unbedingt Mädchen für alles. Die haben mir so schön
langsam die Buchhaltung zugeschoben, obwohl ich keine Ahnung hatte. Aber da hab
ich mich mittlerweile schon durchgefressen und da sind ja so viele Sachen die anstehen, und das können die zwei Damen (die Vereinsvorsitzenden) nicht allein bewältigen. Die eine hat ja das soziale Problem5 und die andere muss das ganze überschauen. Korrespondenz mit Vereinsmitgliedern, das mach ich nicht. Das macht die
K. Das ist ja mehr telefonisch und die Korrespondenz erledigt sie auch. Mit den Behörden und Finanzen mit dem Steuerberater - es ist viel Arbeit - obwohl der Verein
klein ist - es gibt schon immer was zu tun.“ (Interview 6)
Weitere Aktivitäten sind Essen für den Brunch zubereiten, Organisation von
Ausflügen, Kuchenbacken für Geburtstagsfeiern, Besorgen und Schreiben von
Geburtstagskarten, Küchendienst bei Vereinsaktivitäten etc. Diese Aktivitäten
tragen dazu bei, dass nicht nur die Kompetenz zur selbstständigen Lebensführung erhalten bleibt (z.B. Kochen). Vielmehr dienen diese Aktivitäten - im Sinne
der Definition von Kompetenz nach Kruse (1992, S. 25) dazu, Fähigkeiten und
5
Unter „sozialem Problem“ wird hier die Organisation der sozialen Aktivitäten verstanden.
53
Fertigkeiten zu erhalten, die ein aufgabenbezogenes und sinnerfülltes Leben in
einer anregenden Umwelt ermöglichen.
Dass sich im Wohnprojekt jeder nach seinen Fähigkeiten und Vorlieben aktiv
betätigen kann, verdeutlicht folgende Aussage:
„Also, was ich mache - ich koche zum Brunch und der Garten - das ist auch noch
mein Ressort. Im Büro da hab ich keine Aufgabe, da mach ich nichts.“ (Interview 1)
Die jüngeren und vor allem die männlichen Mitbewohner übernehmen andere
Aufgaben, die weniger sozialer als vielmehr instrumenteller Art sind. Sie erledigen den Einkauf schwerer Gegenstände (wie z.B. Blumenerde oder Getränke),
helfen Möbel aufzubauen, Löcher zu bohren und Lampen anzubringen, unternehmen Fahrdienste zum Arzt oder ins Krankenhaus oder helfen bei PCProblemen.
Zusammenfassend ist festzustellen, dass die älteren Bewohner diejenigen sind,
die die sozialen Aktivitäten organisieren, sie an ihren Bedürfnissen ausrichten
und sich auch rege daran beteiligen. Die jüngeren Mitbewohner/innen bringen
sich mit instrumentellen Hilfeleistungen ein, verlagern ihre sozialen Aktivitäten
aber in die Familie oder nach außen. Durch die Übernahme von bestimmten
Aufgaben je nach Fähigkeiten und Fertigkeiten im Wohnprojekt und in der Vereinsarbeit wird die Aufrechterhaltung vorhandener Kompetenzen aber auch die
Entwicklung neuer Potenziale gefördert.
3.9
Versorgung im Krankheitsfall
Um das Unterstützungspotenzial im Krankheitsfall zu eruieren, wurde folgende
Frage gestellt: „Wer würde Sie versorgen, wenn Sie einmal länger krank
wären?“
Wie aus dem Interview hervorgeht, verbinden ältere Menschen mit „längerer
Krankheit“ Pflegebedürftigkeit, wohingegen die jüngeren Bewohner mehr an
Operationen, Grippe und Knochenbrüche - also an vorübergehende Krankheiten - denken.
54
Die nachfolgende Tabelle zeigt die Antworten:
Nr. Geschlecht/
Familienstand
1
w/verheiratet
2
m/verheiratet
3
m/ledig
4
m/ledig
3-jährige Tochter
3-jährige Tochter
kinderlos
kinderlos
5
6
7
8
9
w/ledig
w/verwitwet
m/verwitwet
w/geschieden
w/verwitwet
kinderlos
Tochter
Tochter
Sohn/Tochter
Sohn
10
w/verwitwet
2 Töchter
Tabelle 3:
Kinder
Entfernung
der Kinder
0
0
Wer würde Sie
pflegen?
Ehepartner
Ehepartnerin
Freundin = Nachbarin
professionelle Dienste/
Nachbarn
professionelle Dienste
< 20 km
Schwester
> 300 km
Tochter
< 20 km
Tochter/Nachbarn
< 20 km
Schwiegertochter/
Enkelin
< 20 km/ >300 km professionelle Dienste
Von wem wird die Versorgung bei längerer Krankheit erwartet (n = 10)
Hier wird deutlich, dass die Hilfeerwartungen bei längerer Krankheit in hohem
Maße familienzentriert sind. Dieser Befund bestätigt das hierarchische Kompensationsmodell von Cantor (vgl. Kapitel 2.3.2). Von den Studienteilnehmern
erwarten 60 % in erster Linie Unterstützung durch Familienangehörige, 10 %
von Freunden und 30 % von externen professionellen Diensten (wie ambulanter
Pflegedienst oder Krankenhaus).
Ferner zeigt sich, dass bei der überwiegenden Mehrheit die Versorgung von
den weiblichen Familienangehörigen erwartet wird, auch wenn diese teilweise
nicht in der Nähe wohnen. Von Söhnen wird keine Versorgung im Krankheitsfall
erwartet. An ihre Stelle treten die Schwiegertöchter oder Enkelinnen. Von den
genannten potenziellen Pflegepersonen sind 60 % Frauen und 10 % Männer
(Ehepartner).
Eine Ausnahme bildet eine Bewohnerin (Nr. 10 in der Tabelle), die weder Hilfe
von den beiden Töchtern noch von Freunden oder Nachbarn erwartet. Wie aus
dem Interview hervorgeht, ist das Bedürfnis nach Selbstbestimmung bei dieser
Person sehr ausgeprägt. Vielleicht liegt es auch daran, dass diese Bewohnerin
bereits hochaltrig ist und eine längere Krankheit mit intensiver Pflegebedürftigkeit verbindet und damit niemanden zur Last fallen möchte.
Die Erwartung, dass bei längerer Krankheit bzw. Pflegebedürftigkeit Unterstützung im Sinne von Pflege durch die Bewohner des Wohnprojektes geleistet
55
wird, ist gering. Die Bewohner möchten sich dazu nicht verpflichten. Eine Bewohnerin äußert sich wie folgt:
Also, wir helfen uns schon gegenseitig. Wir fragen, wie geht’s dir. Aber wenn sie so
richtig mal eine Versorgung - wenn jemand schwerer krank ist, dann muss man Hilfe
von außen nehmen. Das geht nicht. Aber wir helfen uns schon, es ist ja schon, dass
jemand krank ist und Grippe hat, dann helfen wir uns schon, das machen wir. Aber
wenn er wirklich eine schwerere Sache hat - es geht gar nicht anders - da müssten
wir ja hier eine Krankenpflege leisten oder so was. Wenn einer - angenommen ein
Pflegefall wird, der kann hier nicht bleiben. Es ist eben wie in einer Wohnung.“ (Interview 1)
Über das Thema Pflege hatten sich die Gründerinnen des Projekts und die
Bewohner/innen vor Einzug nicht explizit Gedanken gemacht. Sie wurden
jedoch gleich zu Beginn des Zusammenlebens vor diese Situation gestellt.
Sechs Monate vor Einzug in das Wohnprojekt erkrankte ein engagiertes Vereinsmitglied und musste zunächst in ein Pflegeheim übersiedeln, da ihre bisherige Wohnung nicht an die veränderte Kompetenz, d.h. an das Leben im Rollstuhl, angepasst werden konnte. Die Bewohner beschlossen dennoch, die
„behinderte Dame“ in das Wohnprojekt aufzunehmen. So wurden unmittelbar
nach Einzug in dem neugebauten Haus Wohnungsanpassungsmaßnahmen
vorgenommen (wie das Anbringen einer Rampe im Eingangsbereich und einer
mobilen Rampe zur Terrasse sowie der Einbau einer unterfahrbaren Küche).
Des Weiteren wurde die benötigte pflegerische Unterstützung durch einen ambulanten Pflegedienst erbracht. Durch die Möglichkeit der Wohnungsanpassung, der Zuhilfenahme von ambulanten Diensten und der sozialen Unterstützung durch die Bewohner des Projektes war es der „behinderten Dame“ ermöglicht worden, noch drei Jahre bis zu ihrem Tod selbstständig und selbstbestimmt in den eigenen vier Wänden statt im Pflegeheim zu leben.
Eine Bewohnerin beschreibt die Art der Unterstützung, die für die pflegebedürftigen Person geleistet wurde:
„...wir haben ihr geholfen in jeder Situation. Immer! Wir waren immer da - es ist jeder
gucken gegangen. Sie hat selber gekocht, das wollte sie. Ich bin dann auch öfter mal
runter - K., ich hab was gekocht, ich bring dir was. Und ich hab sie auch mal zum
Essen hier eingeladen, da war sie froh und glücklich, dass sie auch in eine andere
Wohnung kam. Und wenn ich Zeit hatte, ich konnte das noch, ich hab sie im Rollstuhl
rumgefahren und da bin ich mit ihr weggefahren. Dann hat sie einen Fahrdienst
gehabt, da ist einer im Haus, der hat ein Taxi und da gab es so Fahrscheine und da
sind wir auch mal woanders hingefahren.“ (Interview 6)
56
Auf die Frage, ob sie diese Hilfestellung als Belastung empfunden hätte, meinte
sie
„Belastung? eigentlich nicht - es war ja nicht eine, sondern vier Personen. Ich hatte
zwar nicht immer Lust, aber ich dachte mir, wenn ich das wäre ...“ (Interview 6)
Dieses Beispiel verdeutlicht, wie das in einem gemeinschaftsorientierten Wohnprojekt vorhandene soziale Unterstützungspotenzial bei abnehmender körperlicher Kompetenz der älteren Bewohner einen wichtigen Beitrag zum Erhalt des
selbstständigen Lebens und somit zur Lebensqualität und Lebenszufriedenheit
beitragen kann.
Aus den Interviews geht hervor, dass die Bewohner nicht bereit sind,
„schwerstpflegebedürftige und an Demenz erkrankte Menschen“ (Interview 11)
im Wohnprojekt zu behalten. Auch sehen sie sich nicht in der Lage, pflegerische und hauswirtschaftliche Tätigkeiten für hilfebedürftige Bewohner/innen zu
übernehmen. Vielmehr konzentriert sich ihre Hilfestellung auf den sozialkommunikativen und emotionalen Aspekt.
Hier kann der von Lawton in seiner proactivity-Hypothese postulierte Zusammenhang zwischen der Kompetenz der Person in den Bereichen „biological
health, sensation-perception, motoric behavior, and cognition“ (1982, S. 38) und
der Nutzung der Umweltressourcen erweitert werden um die soziale Kompetenz
der Person. Denn je höher die soziale Kompetenz der Person ist, desto vielfältiger sind die sozialen Umweltressourcen, die zur Verfolgung individueller Wünsche und Bedürfnisse genutzt werden können und somit zur Leistungsfähigkeit
und zum Wohlbefinden beitragen. Die soziale Kompetenz der behinderten Person, mit der sie ihr Netzwerk über die gesamte Lebensspanne aufgebaut hat,
hat es ihr ermöglicht, bei abnehmender körperlicher Kompetenz und somit steigendem Umweltdruck, ein selbstbestimmtes Leben in einer an ihre Fähigkeiten
angepassten Wohnumgebung zu führen.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass das hierarchische Kompensationsmodell von Cantor auch heute noch weitgehend bestätigt werden kann.
Die Bewohner des gemeinschaftsorientierten Wohnprojektes erwarten in erster
Linie von Familienangehörigen Hilfe bei längerer Krankheit. Sie selbst sind zwar
zur gegenseitigen Unterstützung bei Krankheit bereit, wenn zusätzlich professionelle Hilfe organisiert wird und übernehmen eine sozial-kommunikative Funktion. Instrumentelle Hilfeleistung in Form von regelmäßigem Kochen und hauswirtschaftlichen Tätigkeiten ist nicht vorgesehen. Das Beispiel der pflegebedürf-
57
tigen Dame hat gezeigt, das sowohl die räumliche als auch die soziale Umwelt
einen wichtigen Beitrag zu einem selbstbestimmten, selbstständigen und qualitätsvollen Leben leisten, wenn die Kompetenz im Alter abnimmt.
3.10
Exkurs: Voraussetzungen für das Leben im Wohnprojekt
Um zu eruieren, welche Voraussetzungen für das Leben im Wohnprojekt erforderlich sind, wurde folgende Frage gestellt: „Welche Erfahrungen bzw. Tipps
können Sie denjenigen geben, die jetzt gerade dabei sind, das neues Projekt zu
gründen?“ Die unterschiedlichen Antworten werden nachfolgend dargestellt.
„Erst mal muss man sehr tolerant sein - dann man muss auch bereit sein, was zu tun,
wie gesagt, wenn die K. da war, die Behinderte, das man sich für die einsetzt - bis
hin, dass man auch in einer Gemeinschaft leben kann.“ (Interview 1)
Eine andere Bewohnerin meint:
„Man muss schon ein bisschen aufgeschlossen sein. Und wir haben auch Glück mit
unseren Älteren - ich sage Älteren, die wir hier haben. Wir haben eigentlich ein sehr
gutes Verhältnis. Es ist ja nicht so, man ist ja nicht immer zusammen.“ (Interview 6)
Dass sich das Leben in einem Wohnprojekt nicht vom Alltag unterscheidet, bestätigt Frau S.:
„Sie können nicht leicht 10 Menschen zusammentun und das funktioniert. Das kommt
ja auch noch dazu. Das weiß man ja vom Berufsleben, da weiß ich das noch - da hat
man ganz nette Kollegen gehabt und andere hätte man auf den Mond schießen
können. Das ist eben unter Menschen - das Zusammenleben ist eben kompliziert.“
(Interview 2)
Das vorangegangene Kapitel hatte das Ziel, das gemeinschaftsorientierte intergenerative Wohnprojekt zu beschreiben und die jeweiligen Personen in ihrer
Interaktion mit der räumlichen und sozialen Umwelt darzustellen. Es wurden
neben Einblicken in den Alltag des Wohnprojektes die Merkmale der Bewohner,
ihre Motive für den Einzug in das Wohnprojekt und die damit verbundenen Erwartungen sowie ihr soziales Netzwerk eruiert, um diese Befunde im nachfolgenden Kapitel mit empirischen Ergebnissen zum Betreuten Wohnen zu vergleichen.
Die angewandte Kombination des qualitativen Interviews mit der Netzwerkanalyse hat sich als geeignetes Erhebungsinstrumentarium für die Exploration des
Wohnprojektes erwiesen.
58
4
Vergleichende Diskussion
Sowohl gemeinschaftsorientiertes Wohnen als auch Betreutes Wohnen sind
Wohnkonzepte, die ein selbstständiges und selbstbestimmtes Leben im Alter
ermöglichen. Sie werden in der Regel von Menschen gewählt, die bewusst ihre
Entscheidung treffen, wo und wie sie im Alter wohnen möchten und die ihre
Altersphase selbst aktiv gestalten wollen. In der vergleichenden Diskussion sollen deshalb folgende Fragen erörtert werden:
•
Gibt es Unterschiede in der Bewohnerstruktur der beiden Wohnformen?
•
Welche Gründe waren ausschlaggebend für den Einzug?
•
Welche Erwartungen waren mit dem Einzug verbunden?
•
Welche Unterstützungspotenziale stehen den Bewohnern bei längerer
Krankheit in der jeweiligen Wohnform zur Verfügung?
Um die Ergebnisse des untersuchten gemeinschaftsorientierten Wohnprojektes
mit Erhebungen zu betreuten Wohnanlagen zu vergleichen, wird die Längsschnittstudie zum Betreuten Wohnen von Saup (2001; 2003) und die Untersuchung einer betreuten Wohnanlage mit Gemeinschaftsorientierung (Seidel,
2003) herangezogen.
Saup (2001; 2003) untersuchte in seiner Längsschnittstudie sieben verschieden
große und unterschiedlich konzipierte betreute Wohnanlagen während eines
Zeitraums von 3 Jahren.
Seidel (2003) verglich „herkömmliche“ betreute Wohnanlagen (Typ A) mit einer
betreuten Wohnanlage, deren Fokus auf Gemeinschaftsorientierung liegt
(Typ B). In dieser Arbeit wird zum Vergleich nur Typ B herangezogen. Der Unterschied zum Betreuten Wohnen besteht in dieser Anlage darin, dass sich
bereits vor dem Bau der Wohnanlage Interessenten zusammenschlossen, die
gemeinsam ein räumliches, organisatorisches und soziales Konzept auf anthropologischen Grundlagen erarbeiteten und umsetzten (Seidel, 2003, S. 38). Bei
der Errichtung herkömmlicher betreuter Wohnanlagen ist eine Bewohnerbeteiligung nicht üblich.
Das gemeinschaftsorientierte intergenerative Wohnprojekt wurde in Kapitel 3
beschrieben. Für den Vergleich werden jedoch nur die sechs Bewohner über 60
Jahre herangezogen, da die Bewohner von betreuten Wohnanlagen in der
Regel meist ältere Menschen sind.
59
Grundsätzliche Merkmale für betreute Wohnungen sind:
•
Barrierefreiheit nach DIN 18 025
•
möglichst gute Standortqualität
•
Grundleistungen (psychosoziale Beratung, Vermittlung von pflegerischen
und hauswirtschaftlichen Dienstleistungen durch eine Betreuungskraft, die
auch Freizeitaktivitäten organisiert, Notrufsystem). Diese Leistungen sind in
einer monatlich erhobenen Grundpauschale enthalten (BMFSFJ, 1998,
S. 114).
Gemeinschaftsorientierte Wohnprojekte sind im Wesentlichen durch folgende
Faktoren gekennzeichnet:
•
Mitwirkung bei der Entwicklung und Umsetzung des inhaltlichen und räumlichen Konzepts des Projektes durch die zukünftige Nutzergruppe
•
Gemeinschaftsorientierung, d.h. gegenseitige Hilfe ist ein wesentlicher
Bestandteil
•
Ausgestaltung und Organisation des Zusammenlebens, d.h. die wohnprojektbezogenen Angelegenheiten werden eigenverantwortlich geregelt
(Kremer-Preiß & Stolarz, 2003, S. 71).
Methodisch ist ein direkter Vergleich aufgrund der unterschiedlich konzipierten
Erhebungsinstrumentarien, der differierenden räumlichen, inhaltlichen und
organisatorischen Konzepte der Anlagen sowie der unterschiedlichen Stichprobengrößen nicht möglich.
Die geringe Untersuchungsstichprobe im gemeinschaftsorientierten Wohnprojekt ist dadurch zu begründen, dass es im Vergleich zum Betreuten Wohnen
relativ wenig (bekannte) Wohnprojekte gibt, in denen auch ältere Menschen
leben. Des Weiteren umfassen Wohnprojekte meist weniger Wohneinheiten als
betreute Wohnanlagen. Bei der Recherche fiel auf, dass sich in Deutschland ein
Nord-Süd-Gefälle bei der Anzahl der existierenden Wohnprojekte abzeichnet,
d.h. in süddeutschen Bundesländern wurden bisher weniger Wohnprojekte realisiert als zum Beispiel in Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen oder Hamburg
(vgl. Brech, 1999, S. 105).
Aus diesen Gründen können in dieser Arbeit nur Tendenzen herausgearbeitet
werden, die in weiteren umfangreicher angelegten Untersuchungen widerlegt
oder bestätigt werden sollten.
60
4.1
Merkmale der Bewohner
Im Folgenden werden die verschiedenen Merkmale der Bewohner in den jeweiligen Wohnanlagen vergleichend dargestellt.
4.1.1 Familienstand
Die Anzahl der Ein-Personen-Haushalte, in denen überwiegend verwitwete
Personen leben, überwiegt in allen drei Studien.
Aus den Untersuchungen zum Betreuten Wohnen (Saup 2001, S. 45) geht hervor, dass 79 % der Bewohner in einem Ein-Personen-Haushalt leben, der
überwiegende Teil (64 %) ist verwitwet, 9 % sind ledig und 6 % sind geschieden
(ebd. S. 31).
Im Betreuten Wohnen mit Gemeinschaftsorientierung leben 53 % der Bewohner
in einem Ein-Personen-Haushalt. Zum Familienstand finden sich bei Seidel für
Typ B keine detaillierten Angaben. In der Gesamtdarstellung der untersuchten
Wohnanlagen (Typ A und B) kristallisiert sich heraus, dass auch hier ein hoher
Anteil der Bewohner/innen (39 %) verwitwet ist (Seidel, 2003, S. 40).
Beim gemeinschaftsorientierten Wohnprojekt sind alle befragten Bewohner/innen über 60 Jahre alleinlebend. 66 % davon sind verwitwet, 17 % sind
ledig und 17 % sind geschieden. Somit ist auch hier der Anteil von verwitweten
Personen hoch.
Gemäß der Datenbasis von GeroStat (1999), die alle Haushalte der Altersgruppe über 59 einschließt, liegt der Durchschnitt der Alleinlebenden in Deutschland
nur bei 31 % (zit. n. Saup, 2001, S. 45). Aus den Ergebnissen der oben
genannten Studien kann abgeleitet werden, dass insbesondere Personen,
deren Lebenspartner bereits verstorben ist, bestrebt sind, ihre Wohnsituation zu
verändern.
4.1.2 Geschlecht
Der Frauenanteil liegt bei allen Studien deutlich über dem Anteil der Männer.
Die Daten von GeroStat (1999) zeigen, dass sich die Bewohner der deutschen
Haushalte über 59 Jahre, aus 58 % Frauen und 42 % Männer zusammensetzen
(zit. n. Saup 2001, S. 43).
Beim Betreuten Wohnen liegt der Frauenanteil mit 77 % (ebd.) bereits deutlich
über dem Durchschnitt. Im untersuchten gemeinschaftsorientierten Wohnprojekt
steigt er auf 83 % an.
61
In der Anlage mit Gemeinschaftsorientierung wohnen etwa zwei Drittel Frauen
und ein Drittel Männer (Seidel, 2003, S. 62).
4.1.3 Gesundheitszustand
Saup (2001, S. 55) kommt zu dem Ergebnis, dass 80 % der Bewohner bereits
bei Einzug ins Betreute Wohnen über dauerhafte gesundheitliche Beschwerden
berichten, wie z.B. Geh- und Bewegungsbeschwerden, Herz- und Kreislaufprobleme sowie Seh- und Hördefizite. 13 % der Bewohner/innen waren bereits
drei Monate nach Einzug als pflegebedürftig im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes eingestuft (ebd. S. 32).
Saup zieht zum Vergleich seiner Ergebnisse den Alters-Survey von Kohli &
Künemund aus dem Jahr 2000 heran und schließt aus der Gegenüberstellung,
dass die Bewohner in betreuten Wohnanlagen prozentual häufiger von gesundheitlichen Beschwerden betroffen sind als die 55-85-Jährigen, die in Privathaushalten leben (2001, S. 47).
Seidel ermittelte in ihrer Arbeit einen Index der Gebrechlichkeit und stellte fest,
dass 40 % der Stichprobe eine mittlere bis starke Gebrechlichkeit aufweisen.
(2003, S. 43).
Im gemeinschaftsorientierten Wohnprojekt wurde nicht explizit nach Krankheiten oder Einschränkungen gefragt, sondern lediglich um die subjektive Einschätzung des Gesundheitszustandes gebeten. Die Bewertung wurde von den
Bewohnern auf einer 5-stufigen Antwortskala (4 = sehr gut, 3 = gut, 2 = es geht,
1 = schlecht, 0 = sehr schlecht) vorgenommen (siehe Frage 10.10 im Fragebogen). 50 % der Befragten bewerteten ihren Gesundheitszustand mit „es geht“
und jeweils 17 % mit „sehr gut“, „gut“ und „schlecht“. Diese Einschätzung wurde
ergänzt durch die Aussagen zu altersbedingten Einschränkungen während des
Interviews. Es scheint, als ob die Bewohner des gemeinschaftsorientierten
Wohnprojektes weniger von motorischen Einschränkungen betroffen sind als
diejenigen betreuter Wohnanlagen, von denen 72 % über Geh- und Bewegungsbeschwerden berichten (Saup, 2001, S. 31). Auch vier Jahre nach Einzug
in das Wohnprojekt ist kein Bewohner auf eine Gehhilfe angewiesen oder in
eine Pflegestufe eingestuft.
Aufgrund der unterschiedlichen Skalen zur Bewertung von gesundheitlichen
Einschränkungen und der zahlenmäßig stark differierenden Stichprobengrößen
in den verschiedenen Wohnanlagen, kann keine vergleichbare Aussage getroffen werden. Betrachtet man jedoch das Einzugsalter und die Einzugsmotive, so
62
könnte die These aufgestellt werden, dass die Bewohner des gemeinschaftsorientierten Wohnprojektes in einem geringerem Maße gesundheitlich beeinträchtigt sind als diejenigen des Betreuten Wohnens.
4.1.4 Einzugsalter
Das durchschnittliche Einzugsalter in betreute Wohnanlagen liegt bei 77,9
Jahren. (Saup, 2001, S. 29 - Abb. 2). Die Altersverteilung stellt sich folgendermaßen dar:
•
27 % der Bewohner sind unter 75 Jahren
•
56 % zwischen 75 und 85 Jahren
•
18 % über 85 Jahre.
Seidel (2003, S. 64) kam in ihrer Untersuchung der betreuten Wohnanlage mit
Gemeinschaftsorientierung auf ein mittleres Einzugsalter von 70,3.
Im gemeinschaftsorientierten Wohnprojekt liegt das durchschnittliche Einzugsalter der sechs älteren Bewohner bei 72,6 Jahren.
Die Daten belegen, dass sich die Bewohner der betreuten Wohnanlage mit
Gemeinschaftsorientierung und des gemeinschaftsorientierten Wohnprojektes
bereits zu einem Zeitpunkt mit dem Thema Umzug auseinander setzten, zu
dem die körperlichen Einbußen noch nicht das primäre Motiv für eine Veränderung der Wohnsituation waren.
Reduziert man im untersuchten Wohnprojekt das Einzugsalter um die achtjährige Planungsphase, so kann vermutet werden, dass sich diejenigen Personen, die sich für diese Wohnform entscheiden, bereits mit dem Übergang vom
Berufsleben in das Rentenalter mit der Frage beschäftigen, wie sie das vor
ihnen liegende 3. und 4. Lebensalter selbstverantwortlich, sinnvoll und aktiv zusammen mit anderen gestalten können.
4.1.5 Wohnsituation vor und nach dem Umzug
Aus den Daten der Längsschnittstudie von Saup (2001, S. 68-71) wird ersichtlich, dass der überwiegende Teil (72 %) vor dem Einzug als Mieter lebte. Nach
dem Einzug hatten 78 % der Bewohner diesen Status. Der Anteil der Wohnungs- bzw. Hauseigentümer in den betreuten Wohnanlagen lag vor Einzug bei
28 %. Nach dem Einzug leben 9 % in einer Wohnung, die von den Kindern
gekauft wurde und 13 % in einer eigenen Seniorenwohnung.
63
Beim Betreuten Wohnen mit Gemeinschaftsorientierung wohnten 53 % der Befragten vor dem Einzug im Eigentum (Seidel, 2003, S. 45). Nach dem Einzug in
die freifinanzierte Anlage stellen sie dem Betreiberverein ein zinslosen Darlehen, das sich nach der Größe der Wohnung richtet, zur Verfügung und mieten
die Wohnung (ebd. S. 38). Diese Finanzierungsart setzt eine gewisse wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Bewohner voraus.
Im gemeinschaftsorientierten Wohnprojekt hatten alle Bewohner/innen bereits
vor dem Einzug den Mieterstatus und behalten diesen auch bei, da die Wohnungen mit öffentlichen Mitteln errichtet wurden und in diesem Gebäude keine
Eigentumswohnungen angeboten werden.
Die Daten zeigen, dass Mieter eine höhere Umzugsbereitschaft aufweisen als
Eigentümer. Dieser Befund korrespondiert mit den Ergebnissen von Heinze et
al. (1997, S. 16), die Wohnungs- bzw. Hauseigentümern eine geringere Umzugsaktivität bescheinigen.
4.1.6 Einzugsbereich der Wohnanlagen
Die Mehrzahl der Bewohner/innen in den betreuten Wohnanlagen kamen aus
der näheren Umgebung. 7 % zogen aus dem gleichen Siedlungsgebiet zu,
29 % aus der gleichen Gemeinde bzw. dem gleichen Stadtteil und 32 % aus
dem Nachbarort bzw. -stadtteil. Nur 17 % kamen aus dem gleichen Landkreis
und 15 % lebten außerhalb des Landkreises (Saup, 2001, S. 73).
Bei der betreuten Anlage, deren Schwerpunkt auf dem gemeinschaftlichen
Wohnen liegt, kamen 47 % aus dem gleichen Ort und 53 % aus einer weiteren
Entfernung (> 20 km). Seidel (2003, S. 46) verbindet mit dem großen Einzugsbereich der Wohnanlage die Motivation der Bewohner, für einen „gewollten
Neuanfang“ die vertraute Umgebung zu verlassen. Sie bringt dies mit der anthropologischen Ausrichtung der Wohnanlage in Zusammenhang.
Im gemeinschaftsorientierten Wohnprojekt kommen alle Bewohner aus der gleichen Stadt, jedoch keiner aus dem gleichen Siedlungsgebiet oder dem gleichen
Stadtteil. Der Einzugsbereich dieser Wohnanlage ist allerdings auf das Stadtgebiet begrenzt, da nach den spezifischen städtischen Regularien der Bezug
einer öffentlich geförderten Wohnung erst nach fünfjähriger Wohndauer im
Stadtgebiet möglich ist.
64
4.1.7 Zusammenfassung der Bewohnermerkmale
Die folgende Tabelle zeigt eine Zusammenfassung der oben ausgeführten
Ergebnisse.
Betreutes Woh- Betr. Wohnen
nen
mit Gemeinschaftsorient.
Saup (2001)
Seidel (2003)
Gesamtzahl der Wohnungen
252
Gemeinschaftsorientiertes
Wohnprojekt
102
16
Wohnungen
verteilt auf 7 unterschiedliche Anlagen
Untersuchte Stichprobe
173 Personen
Einpersonenhaushalt
verwitwet
geschieden
ledig
79 %
64 %
9%
6%
Frauenanteil
Durchschnittl. Einzugsalter
Status vor/nach Einzug
Mieter
Eigentümer
15 Personen 6 Personen älter als 60 Jahre
53 %
k.A.
k.A.
k.A.
100 %
66 %
17 %
17 %
77 %
ca. 66 %
83 %
78 Jahre
70,3 Jahre
72,6 Jahre
72 % / 78 %
28 % / 13 %
47 % / 100 %
53 % / 0 %
100 % / 100 %
0%/ 0%
6
Gesundheitszustand
Große Einbußen
80 %
(vgl. Kap. 4.1.3)
40 %
0%
Einzugsgebiet
aus Nachbarort/-stadtteil
> 20 km
68 %
32 %
47 %
53 %
Tabelle 4:
100 %
0%
Zusammenfassung der Bewohnermerkmale
Das Ergebnis dieser Gegenüberstellung weist sowohl Gemeinsamkeiten als
auch Unterschiede bezüglich der Bewohnerstruktur auf. Es zeigt sich, dass
insbesondere verwitwete Frauen, die meist den Status der Mieterin inne hatten,
aktiv ihre Wohnsituation ändern. Allerdings scheinen diejenigen, die ins Betreute Wohnen ziehen, im Durchschnitt älter und gebrechlicher zu sein als die
Personen, die Wohnformen mit Gemeinschaftsorientierung bevorzugen.
6
Die Anmerkung k.A (keine Angaben) weist darauf hin, dass bei Seidel (2003) zu diesem Merkmal für Typ B keine Angaben gemacht werden.
65
4.2
Einzugsgründe
In den zum Vergleich herangezogenen Studien differieren die Einzugsgründe je
nach Wohnform. Auch hier lässt die Gegenüberstellung der Daten aufgrund der
unterschiedlich gestalteten Erhebungsinstrumentarien und der verwendeten
Kategorien nur tendenzielle Aussagen zu, die im Folgenden dargestellt werden.
4.2.1 Gesundheitliche Gründe
Wie bereits im Kapitel 4.1.3 „Gesundheitszustand“ beschrieben, zeigen sich
Unterschiede im Hinblick auf den Gesundheitszustand der Bewohner in den
einzelnen Wohnformen.
Die Untersuchungsergebnisse von Saup (2001, S. 57f) weisen darauf hin, dass
bei vier von fünf Bewohnern die „Krisenvorsorge“ ein sehr wichtiger Grund ist,
der in Zusammenhang mit der Einzugsentscheidung ins Betreute Wohnen
steht. Dieses Bedürfnis korreliert mit dem Gesundheitszustand der Bewohner
und dem daraus resultierenden Wunsch, im Notfall Hilfe und im Pflegefall
Betreuung zu erhalten.
Auch bei Seidel (2003, S. 49f) zeigte sich, dass gesundheitsbezogene Gründe
den höchsten Stellenwert für den Einzug in die betreute Anlage mit Gemeinschaftsorientierung besaßen. Sie ordnete die diesbezüglichen Nennungen unter
die Kategorien „aktueller Gesundheitszustand“ (20 %) und „Vorsorge“ (33 %)
ein.
Ganz anders präsentiert sich die Motivlage der Bewohner des gemeinschaftsorientierten Wohnprojektes. Aus den Interviews, die mit den sechs Bewohnern
über 60 Jahre geführt wurden, geht hervor, dass akute gesundheitliche Einschränkungen als Umzugsmotiv keine Rolle spielten. Lediglich 17 % trafen
durch den Umzug frühzeitig Vorsorge für eine bereits wahrgenommene, aber
als noch nicht so gravierend erlebte mangelhafte Passung zwischen ihrem Gesundheitszustand und der Wohnsituation. Die Umzugsentscheidung wäre allerdings noch nicht gefällt worden, wenn nicht zufällig eine Wohnung im Wohnprojekt zur Nachbelegung frei geworden wäre. Auffällig ist, dass die Bewohner/innen des Wohnprojektes begannen, sich zu einem Zeitpunkt mit dem
Thema Wohnen und Leben im Alter zu beschäftigen, als ihr Gesundheitszustand noch keinen Anlass gab, eine kompensatorische Umwelt zu suchen.
Diese Gegenüberstellung lässt vermuten, dass für einen Teil der Bewohner des
Betreuten Wohnens, die Suche nach einer kompensatorischen Umwelt auf-
66
grund des aktuellen bzw. antizipierten Gesundheitszustandes ein wichtiges
Umzugsmotiv darstellt. In Anlehnung an das im Kapitel 2.5.2.1 erläuterte Partialmodell 1 von Carp & Carp (1984) wird hier die Passung zwischen der Kompetenz der Person und den Anforderungen der Umwelt durch einen Umzug in eine
barrierefreie und den Not- und Bedarfsfall weitgehend absichernde Umwelt des
Betreuten Wohnens hergestellt. Es handelt sich hierbei um die Befriedigung des
Basisbedürfnisses nach Wiederherstellung bzw. Aufrechterhaltung der Alltagskompetenz, die eine wesentliche Voraussetzung für eine selbstständige
Lebensführung bietet und sich positiv auf das Leistungspotenzial und das
Wohlbefinden der Person auswirkt.
Bei den Bewohnern des gemeinschaftsorientierten Wohnprojektes ist das
Basisbedürfnis nach einer selbstständigen Lebensführung aufgrund der Passung von Kompetenz und Umweltanforderungen befriedigt. Für diesen Personenkreis scheint die Erfüllung von Wachstumsbedürfnissen im Vordergrund zu
stehen. Sie suchen - gemäß dem Partialmodell 2 von Carp & Carp (1984) - eine
ihren Bedürfnissen ähnliche Umwelt bzw. gestalten diese selbst (vgl. Kapitel
2.5.2.2).
4.2.2 Absicherung im Not- und Bedarfsfall
Das Bedürfnis nach Sicherheit nimmt insbesondere im Alter mit der Wahrnehmung von persönlichen und umweltbedingten Einschränkungen zu. Damit wird
bei der Suche nach einer adäquaten Wohnform für das dritte und vierte
Lebensalter dem Wunsch nach Absicherung für den Not- und Bedarfsfall mehr
Gewicht verliehen. Die zum Vergleich herangezogenen Wohnkonzepte bieten
diesbezüglich unterschiedliche Unterstützungspotenziale.
Den Bewohnern des Betreuten Wohnens wird durch die in der monatlichen
Pauschale enthaltenen Grundleistungen (Notrufsystem, Hausbesuch, Bereithaltung von ambulanter Pflege und hauswirtschaftlicher Versorgung, Beratung und
Vermittlung von Dienstleistungen, Anwesenheit einer Betreuungskraft) die notwendige professionelle Absicherung und somit die subjektive Sicherheit für Notund Bedarfslagen gewährleistet. Aber auch die sich im Laufe der Zeit entwickelnden nachbarschaftlichen Kontakte tragen dazu bei, dass sich das Sicherheitsgefühl erhöht. Saup weist darauf hin, dass 15,7 % der Bewohner drei Jahre
nach ihrem Einzug berichten, dass die Nachbarn regelmäßig nach ihnen sehen.
(2003, S. 110).
67
Das Konzept des gemeinschaftsorientierten Wohnens basiert auf der gegenseitigen Hilfe im Alltag. Hier übernimmt die Hausgemeinschaft sowohl die Funktion
des Notrufs (durch den täglichen Kontakt und durch die Wachsamkeit der
Bewohner/innen), als auch die Aufgaben der Betreuungskraft in Form von Unterstützung bei der Informationssuche und Organisation von externen Dienstleistungen sowie der Organisation von Freizeitaktivitäten. Eine Bewohnerin
beschreibt, wie sich für sie die Absicherung für Not- und Bedarfslagen im
Wohnprojekt darstellt:
„Wenn mal irgendwas ist, kann ich um Rat fragen, kann mal runtergehen. Da gibt es
ja Hilfe, wenn ich mal krank bin, oder - Gott sei Dank war ich es noch nicht. Wenn ich
da jemand bitte, kannst du mir das mal mitbringen vom Einkaufen - oder das - also,
dass man sich nicht alleine fühlt - es ist immer einer da.“ (Interview 1)
Die Leistungen sogenannter niedrigschwelliger Hilfen, wie Einkaufen, Begleitdienst zum Arzt oder ins Krankenhaus und auch in bestimmtem Maße Hilfe bei
instrumentellen Tätigkeiten im Haushalt (Bilder aufhängen, Lampen auswechseln, Gardinen abnehmen etc.), werden von den Nachbarn im Wohnprojekt bei
Bedarf und auf Anfrage erbracht. Allerdings übernehmen die Bewohner keine
haushaltsbezogenen Arbeiten, wie z.B. regelmäßige Essenszubereitung,
Wäschepflege oder Reinigung der Wohnung.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass in beiden Wohnformen die
Absicherung für den Not- und Bedarfsfall gewährleistet ist, wobei die Unterstützung im Betreuten Wohnen durch professionelle Hilfe erfolgt und im gemeinschaftsorientierten Wohnprojekt die Hausgemeinschaft diese Leistungen weitgehend erbringt.
4.2.3 Wunsch nach einer altersgerechten Wohnung
In der Untersuchung von Saup äußerten 70 % der Befragten den Wunsch nach
einer altersgerechten Wohnung (2001, S. 58). Sie gaben an, dass gesundheitliche Gründe einen Umzug in eine bequemere Wohnung notwendig machten.
Die Befragungsergebnisse zur Wohnsituation vor dem Einzug ergaben, dass
vor allem das Treppensteigen für die meisten Bewohner ein Problem zu sein
schien, denn 75 % der Älteren, die ins Betreute Wohnen umziehen, konnten
ihre Wohnung bzw. die Zimmer in ihrem Haus nur über eine Treppe erreichen
(ebd. S. 76). Hier wird deutlich, wie wichtig es ist, Wohnungen künftig so zu
planen, dass eine barrierefreie Zugänglichkeit gewährleistet ist bzw. Wohnungsanpassungen durch Treppenlift und Rampen möglich werden, damit ein
Verbleib im vertrauten Umfeld möglichst lange gewährleistet werden kann.
68
In der Untersuchung von Seidel (2003, S. 49) wurde die von ihr genannte
Kategorie „Wohnungsausstattung“ von 53 % der Befragten als Umzugsgrund
ins Betreute Wohnen mit Gemeinschaftsorientierung genannt. Unter diese
Kategorie wurde auch der erhöhte „Pflege- und Erhaltungsaufwand von Haus
und Grundstück“ (ebd., S. 48) subsumiert. Auch hier zeigt sich ein Zusammenhang zwischen der körperlichen Gesundheit der Person und der „Nicht-mehrPassung“ der räumlichen Umwelt.
Im Vergleich zu den Bewohnern des Betreuten Wohnens spielt das Bedürfnis
nach einer kompensatorischen räumlichen Umwelt im gemeinschaftsorientierten Wohnprojekt nur bei 17 % der Bewohner eine Rolle. Dass die Initiatorinnen des Wohnprojektes auf den Einbau eines Aufzugs beharrten, weist darauf
hin, dass sie mit dieser Präventivmaßnahme die Erreichbarkeit der Wohnung
bei Einbußen der körperlichen Leistungsfähigkeit erleichtern und sichern wollten. Die Tatsache, dass die Bewohner/innen des untersuchten Wohnprojektes
in ein ursprünglich nicht barrierefrei zugängliches neu gebautes Haus am Rande der Stadt einzogen, das zudem eine ungünstige Wohnlage in Bezug auf Einkaufsmöglichkeiten für den täglichen Bedarf aufweist, könnte die Vermutung
bestätigen, dass das Bedürfnis nach einer kompensatorischen Umwelt nicht
vorrangig war. Es könnte aber auch sein, dass die Bewohner aufgrund der
langwierigen Objektsuche ihre Vorstellungen in Bezug auf eine altersgerechte
Ausstattung der Wohnung auf ein Minimum reduzierten, um das Wohnprojekt
realisieren zu können. In diesem Zusammenhang ist eine Feststellung von Narten (2003) interessant, die beklagt, dass viele Wohnprojekte, die über einen
langen Zeitraum das Wohnen im Alter vorbereiten, die barrierefreie Gestaltung
letztendlich vernachlässigen.
4.2.4 Nähe zur Filialgeneration
Der Wunsch, in der Nähe der Kinder zu wohnen, wurde von 38 % der Befragten
in der Studie von Saup (2001, S. 58) geäußert. Er verglich die Sozialkontakte
der Älteren vor Einzug in das Betreute Wohnen mit den Ergebnissen aus Untersuchungen von Normalhaushalten und kam zu dem Schluss, dass der Anteil
der Älteren, die regelmäßig persönliche Kontakte zur Filialgeneration unterhielten, im Betreuten Wohnen höher war als im Normalhaushalt. Auch wurden
als Kontaktpersonen weniger andere Verwandte und sonstige Personen, wie
Freunde oder Nachbarn genannt als in Privathaushalten (ebd. S. 52).
69
Saup folgert daraus, dass bei den Menschen, die ins Betreute Wohnen einziehen, die Beziehung zu ihren Kindern besonders intensiv zu sein scheint und
dass die Konzentration auf diese eventuell zu einer Reduzierung des weiteren
sozialen Netzwerkes führt (ebd.). Er vermutet auch, dass die älteren Menschen
sich durch den Umzug ein „doppeltes Sicherungsnetz“ schaffen, denn seine
Daten belegen, dass neben dem Leistungsangebot des Betreuten Wohnens die
Kinder - und hier insbesondere die Töchter - auch drei Jahre nach Einzug noch
hauswirtschaftliche Hilfestellungen geben (2003, S. 111).
Beim Betreuten Wohnen mit Gemeinschaftsorientierung wird von nur 7 % der
Bewohner der Wunsch, in die Nähe der Kinder zu ziehen, als Umzugsgrund
angegeben.
Keine Rolle spielt die Nähe zur Filialgeneration bei den Bewohnern des gemeinschaftsorientierten Wohnprojektes.
Die Ergebnisse dieser Gegenüberstellung unterstreichen auch die in Kapitel
3.7.2 „Soziale Aktivitäten“ beschriebenen Erkenntnisse, die auf einen Zusammenhang zwischen dem Kompetenzgrad der Person und der Einnahme von
inner- oder außerfamiliären Rollen verweisen. Denn, wie die vorhergehenden
Analysen zeigen, verfügt ein Teil der Personen, die in betreute Wohnanlagen
umziehen, über einen geringeren Kompetenzgrad als die Bewohner des Betreuten Wohnens mit Gemeinschaftsorientierung und des gemeinschaftsorientierten
Wohnprojektes. Die Bewohner herkömmlicher betreuter Wohnanlagen weisen
zum Teil eine hohe Kinderzentriertheit auf, die verbunden ist mit dem Bedürfnis,
in die Nähe der Kinder zu ziehen. Dieses Bedürfnis ist bei den Bewohnern des
Betreuten Wohnens mit Gemeinschaftsorientierung relativ gering ausgeprägt
und beim gemeinschaftsorientierten Wohnprojekt nicht vorhanden.
Der hier vermutete Zusammenhang zwischen Kompetenz und den inner- bzw.
außerfamiliären Aktivitätsmustern verfestigt sich, kann aber aufgrund der
mangelnden Repräsentativität der durchgeführten Studie nicht sicher bestätigt
werden. Auch hier müssten wieder die unterschiedlichen Fragestellungen in
den verschiedenen Arbeiten berücksichtigt werden, die zu diesen Aussagen
führen. Eine weiterführende Untersuchung mit identischen Fragestellungen
könnte hierfür Belege liefern.
4.2.5 Wunsch nach Gemeinschaft
Unter der Kategorie „Mitmenschliche Nähe“ wurde bei Saup der Wunsch nach
mehr Kontakt mit Mitbewohnern eingeordnet und von 41 % der Bewohner in der
70
ersten Erhebungswelle als wichtig erachtet (2001, S. 58). Dieses Bedürfnis
steht bei Saup jedoch erst nach den oben genannten Gründen wie Krisenvorsorge, Hilfe im Not- und Bedarfsfall und altersgerechte Wohnung.
Seidel differenziert die Einzugsgründe in das Betreute Wohnen mit Gemeinschaftsorientierung in sogenannte Push- und Pull-Faktoren7. 62 % der Nennungen werden in Zusammenhang mit den Pull-Faktoren gebracht, die auf die
besondere anthropologische Orientierung der Wohnanlage zurückzuführen sind
(2003, S. 66).
Die Analyse der Einzugsgründe im gemeinschaftsorientierten Wohnprojekt
zeigt, dass für 80 % der älteren Bewohner/innen das gemeinschaftliche Leben
ein wichtiger Grund war, der die Umzugsentscheidung beeinflusste. Der
Wunsch, mit anderen gemeinsam zu leben, die bevorstehende Lebensphase
selbst zu gestalten und sich mit Ausdauer und Engagement dafür einzusetzen,
dass eine neue Wohnform auch in die Praxis umgesetzt wird, zeugt davon,
dass die Basisbedürfnisse dieses Personenkreises weitgehend befriedigt sind
und die Möglichkeit genutzt wird, nach Umwelten zu suchen bzw. diese zu
gestalten, die den sogenannten Wachstumsbedürfnissen ähnlich sind. Die
Bewohner des Wohnprojektes haben die Gelegenheit genutzt, um die größtmögliche Passung zwischen ihren Bedürfnissen nach Eigenständigkeit,
Privatheit und Gemeinschaft und der sozial-räumlichen Umwelt zu erzielen.
Diese Passung zwischen Person und Umwelt wirkt sich positiv auf die psychosoziale Gesundheit und die Lebenszufriedenheit aus.
4.2.6 Zusammenfassung der Einzugsgründe
Beim Vergleich der unterschiedlichen Wohnformen kristallisiert sich heraus,
dass die interindividuell unterschiedlich ausgeprägte Kompetenz des Menschen
und die jeweilige Lebenssituation in der räumlich-sozialen Umwelt den Ausschlag dafür geben, wie und wann die Person ihre Wohnsituation verändert.
Es scheint, als ob die überwiegende Mehrheit im Betreuten Wohnen den Umzug vornimmt, um die Umweltanforderungen an ihre abnehmende Kompetenz
anzupassen und wieder in den Bereich der optimalen Leistungsfähigkeit und
des Wohlbefindens zu gelangen. Auch bei den von Seidel (2003, S. 66) befrag-
7
Nach Heinze et al. werden als Push-Faktoren diejenigen Faktoren bezeichnet, die aufgrund einer Nicht-mehr-Passung
von Person und Umwelt zu einer Veränderung der Wohnsituation zwingen. Pull-Faktoren hingegen lassen eine
konkrete Wohnalternative attraktiver erscheinen als die aktuelle Wohnung (1997, S. 43).
71
ten Bewohner/innen des Betreuten Wohnens mit Gemeinschaftsorientierung
sind Anpassungsvorgänge zu beobachten, allerdings nicht im gleichen Ausmaß
wie bei den Bewohnern von betreuten Wohnanlagen, die Saup (2001; 2003)
untersuchte. Gegenüber dem herkömmlichen Betreuten Wohnen kommen in
der Anlage mit Gemeinschaftsorientierung Gründe zum Tragen, die auf Basisbedürfnissen beruhen, die zur Wiedererlangung oder Fortsetzung der selbstständigen Lebensführung beitragen. Parallel suchen die Bewohner nach einer
Umwelt, die ihren Bedürfnissen nach gemeinschaftlichem Zusammenleben mit
Menschen einer gleichen weltanschaulichen Einstellung entgegenkommt.
Beim untersuchten gemeinschaftsorientierten Wohnprojekt war die Suche nach
einer kompensatorischen Umwelt sowie die Absicherung im Not- und Bedarfsfall nicht von primärer Bedeutung für den Umzug. Vielmehr sind die Gründe, die
für den Einzug in das Wohnprojekt genannt werden, gekennzeichnet durch das
individuelle Bedürfnis, eine Umwelt zu gestalten und in einer Umwelt zu leben,
die den Bedürfnissen der Bewohner/innen nach Gemeinschaft entspricht, d.h. in
einer sich gegenseitig stützenden Gemeinschaft zu leben und sich auch für
diese zu engagieren.
4.3
Erwartungen
4.3.1 Letzte Station der Wohnbiografie
Die Studie von Saup, die auch die Erwartungen der Bewohner des Betreuten
Wohnens zum Einzugszeitpunkt erhob, ergab, dass 96 % diesen Umzug als
letzte Station ihrer Wohnbiografie betrachteten und davon ausgingen, dass sie
auch bei Pflegebedürftigkeit nicht mehr umziehen müssen (2001, S. 63). Die
Erwartungen diesbezüglich schwankten jedoch je nach Organisationstyp der
Anlage. So waren die Erwartungen der Personen, die in eine heimverbundene
betreute Seniorenwohnanlage zogen, höher als bei denjenigen, „die in eine
betreute Wohnanlage mit integriertem Pflegestützpunkt oder in eine solitäre
betreute Wohnanlage zogen.“ (Saup, 2001, S. 63).
Die Befragungsergebnisse nach dreijähriger Wohndauer zeigen, dass die
ursprüngliche Erwartung, einen nochmaligen Wohnungswechsel bei hohem
Betreuungs- und Pflegebedarf vermeiden zu können, reduziert wird. Sie sank in
den untersuchten Wohnanlagen von anfänglich 96 % auf 79 % (Saup, 2003,
S. 115).
72
Dieser Aspekt ist in Zusammenhang zu bringen mit der „Desillusionierung“ der
Bewohner/innen des Betreuten Wohnens, die mit der Erkenntnis einhergeht,
dass die Versorgungsmöglichkeiten bei schwerer Pflegebedürftigkeit nicht gegeben sind. Waren es bei der ersten Erhebung zum Einzugszeitpunkt noch
73 % die glaubten, einen Heimeinzug bei schwerer Pflegebedürftigkeit vermeiden zu können, so sank diese Zahl auf 32 % nach drei Jahren (ebd.)
Noch gravierender ist die Veränderung der Prozentzahlen bei der Erwartung,
dass die Pflege und Versorgung bis zum Tod möglich ist. Sie reduzierten sich
von 71 % im Jahre 2001 auf 19 % in 2003.
Ebenso sank die Erwartung, bei Desorientierung und Verwirrtheit weiterhin im
Betreuten Wohnen zu bleiben, von 65 % in der ersten Erhebungswelle auf 20 %
in der Erhebung nach drei Jahren (ebd.).
Diese Fakten zeigen, dass der Begriff „Betreutes Wohnen“ oftmals falsche
Erwartungen im Hinblick auf Pflege und umfassende Betreuung und Versorgung weckt. Hierzu besteht weiterhin Aufklärungsbedarf und eine trägerneutrale
Erstberatung sowie bundesweit einheitliche Qualitätskriterien, die das breite
Angebot für den Verbraucher transparent machen und helfen, die richtige Entscheidung zu treffen. Die in 2005 in Kraft tretende DIN Norm zum Betreuten
Wohnen ist ein Schritt in diese Richtung.
Bei Seidel (2003) finden sich zu diesem Punkt keine Ergebnisse.
Im gemeinschaftsorientierten Wohnprojekt hoffen einige Bewohner/innen, dass
der Umzug in dieses Projekt der letzte Umzug in ihrem Leben gewesen ist,
andere hingegen wollen nochmals umziehen - allerdings nach Möglichkeit nicht
in ein Pflegeheim, sondern in das neue Projekt, dass gerade in einem innerstädtischen Viertel in Planung ist und bis Ende 2006 bezugsfertig sein soll. Wie
beschrieben, konnten die Bewohner selbst die Erfahrung sammeln, unter welchen Umständen ein pflegebedürftiger Mensch im Wohnprojekt bleiben kann
und wissen, dass ein Umzug in ein Pflegeheim durch die Hilfestellung der
Hausgemeinschaft und durch die Inanspruchnahme formeller Dienste hinausgezögert, aber nicht vermieden werden kann.
In dieser Hinsicht stimmen ihre Aussagen auch mit denen der Bewohner von
betreuten Wohnanlagen überein. Bei Einzug waren 66 % der Meinung, durch
ihre Entscheidung einen Heimeinzug hinauszögern zu können. Bei der zweiten
Erhebungswelle nach 36 Monaten ist der Anteil auf 84 % gestiegen (Saup,
2003, S. 115).
73
4.3.2 Hilfe bei längerer Krankheit
Saup erfragte in seiner Studie die Hilfeerwartungen bei „vorübergehender
Erkrankung“ sowie die erwartete Hilfe bei „längerer Pflegebedürftigkeit“. Er
differenzierte dabei nach Partnern, Kindern, Verwandten, sonstigen Personen
und dem Pflegedienst (2001, S. 42). Die Ergebnisse zeigen, dass die Mehrheit
der Befragten bei vorübergehender Erkrankung Hilfestellung von den Kindern
bzw. dem Ehepartner erhoffen und alleinstehende Ältere ohne Kinder auf die
Unterstützung von Verwandten zählten. Bei längerer Pflegebedürftigkeit wird
allerdings mit der Versorgung durch einen Pflegedienst gerechnet und parallel
die Unterstützung durch den Partner bzw. die Kinder erwartet.
Seidel (2003) untersuchte diese Frage in ihrer Arbeit nicht.
Im gemeinschaftsorientierten Wohnprojekt war die Frage auf die Versorgung
bei „längerer Krankheit“ gerichtet. Betrachtet man in der Tabelle 3 (Kapitel 3.9)
die unteren sechs Personen, die über 60 Jahre alt sind, so wird deutlich, dass
die Bewohner/innen im gemeinschaftsorientierten Wohnprojekt bei längerer
Krankheit auf die Unterstützung durch die Töchter oder engere Verwandten
setzen. Die kinderlosen Bewohner/innen zählen eher auf professionelle Dienste
oder auf Nachbarn. Wie aus den Interviews hervorgeht, verlassen sich die
Bewohner bei vorübergehender Erkrankung, wie z.B. Erkältung, auf die Unterstützung durch die Hausgemeinschaft.
Zusammenfassend kann jedoch konstatiert werden, dass sowohl die Bewohner
des Betreuten Wohnens als auch diejenigen des gemeinschaftsorientierten
Wohnprojektes im Krankheitsfall mit der Unterstützung ihrer Töchter rechnen.
Diese Erwartungshaltung steht in Einklang mit dem hierarchischen Kompensationsmodell von Cantor (vgl. Kapitel 2.3.2). Anzumerken ist, dass die Begriffe
„vorübergehende„ und „längere“ Krankheit nicht exakt definiert sind somit unterschiedlich ausgelegt werden können.
4.3.3 Zusammenfassung der Erwartungen
Vergleicht man die ursprünglichen Erwartungen der Bewohner der verschiedenen Wohnformen und ihre subjektiven Aussagen zum Zeitpunkt der Befragung,
so äußern sie ihre Enttäuschung zu unterschiedlichen Punkten.
Während die Bewohner des Betreuten Wohnens ihre Erwartung im Hinblick auf
die Möglichkeiten und Grenzen der Versorgung bei schwerer Pflegebedürftigkeit und Demenz korrigieren mussten, zeigen sich vor allem die älteren Bewoh-
74
ner/innen des gemeinschaftsorientierten Wohnprojektes enttäuscht über die
unterschiedlichen Auffassungen von gegenseitiger Hilfestellung im Wohnprojekt
(vgl. Kapitel 3.6 „Erwartungen“).
Die enttäuschten Erwartungen machen deutlich, welche Einzugsmotive für die
Bewohner der unterschiedlichen Wohnkonzepte eine wichtige Rolle spielten.
Rangiert bei den Bewohnern des Betreuten Wohnens das Bedürfnis nach Versorgung im Not- und Bedarfsfall und Betreuung im Pflegefall bei der Angabe der
Umzugsgründe sehr weit oben, so messen die Bewohner/innen des gemeinschaftsorientierten Wohnprojektes dem gemeinschaftlichen Leben und der
gegenseitigen Hilfestellung eine hohe Wichtigkeit bei.
Die Gegenüberstellung der Erwartungen zeigt, dass es den Bewohnern betreuter Wohnanlagen zu einem großen Teil um die Befriedigung der Basisbedürfnisse geht, wohingegen die Bewohner des gemeinschaftsorientierten Wohnprojektes danach streben, ihren Wachstumsbedürfnissen gerecht zu werden.
In Bezug auf die erwartete Unterstützung bei längerer Krankheit kann auf die
Gültigkeit des hierarchischen Kompensationsmodells von Cantor (1979)
verwiesen werden.
75
5
Schlussbetrachtung
Die Ergebnisse dieser Arbeit bestätigen, dass die untersuchten Wohnformen
die selbstständige und selbstbestimmte Bewältigung des Alltags des älteren
Menschen ermöglichen und unterstützen. Es wird deutlich, dass es nicht das
ideale Wohnkonzept für selbstständiges Wohnen im Alter gibt, sondern dass die
Bewohner die Wohnform wählen, die ihren individuellen Bedürfnissen und Ressourcen am nächsten kommt. Die gewählte Wohnform ermöglicht dann im
Idealfall die größtmögliche Passung zwischen den Bedürfnissen und Präferenzen der Person sowie den Gegebenheiten und Anforderungen der sozialräumlichen Umwelt und wirkt sich förderlich auf die Selbstständigkeit, die
Lebenszufriedenheit und die Lebensqualität aus.
Das Konzept des Betreuten Wohnens in seinen verschiedenen Organisationsformen kommt den unterschiedlich ausgeprägten Kompetenzen und Bedürfnissen der älteren Menschen nach einer kompensatorischen Umwelt, nach
Sicherheit und Versorgung im Not- und Bedarfsfall sowie nach sozialen Kontakten entgegen. Es trägt dazu bei, dass durch den Umzug die selbstständige
Lebensführung wiedererlangt, beibehalten oder gefördert wird. Besteht eine
Kongruenz zwischen den Basisbedürfnissen der Person und der Umwelt, so
können - je nach Motivationslage - Bedürfnisse höherer Ordnung zum Tragen
kommen - wie z.B. der Wunsch, sich im Betreuten Wohnen zu engagieren (vgl.
Saup, 2003, S. 115).
Im Vergleich zum Betreuten Wohnen geht es den älteren Bewohnern des
gemeinschaftsorientierten Wohnprojektes neben dem Bedürfnis nach selbstbestimmtem und selbstständigem Wohnen darum, die dritte Lebensphase
zusammen mit anderen zu gestalten und in einer sich gegenseitig unterstützenden Gemeinschaft zu leben. Hierbei werden Selbstgestaltungskräfte mobilisiert
und neue Handlungs- und Partizipationsspielräume erschlossen. Aufgeschlossenheit, Toleranz und Konfliktfähigkeit sowie gegenseitige Wertschätzung sind
wesentliche Voraussetzungen für das Zusammenleben in der Gemeinschaft.
Im Rahmen dieser Arbeit wurden die Fragen zu geleisteten und empfangenen
Hilfeleistungen - die Teil der Befragung waren - aufgrund der zu geringen Stichprobe nicht ausgewertet. Aus sozialpsychologischer Sicht ist jedoch die Frage
der Reziprozität von Geben und Nehmen in einem Wohnprojekt ein interessanter Forschungsgegenstand. Wenn Beziehungen auf Dauer durch hohe Einseitigkeit gekennzeichnet sind, werden sie in der Regel als unbefriedigend erlebt
76
und aufgelöst. Wie wirkt sich ein Ungleichgewicht von Geben und Nehmen
langfristig in einem Wohnprojekt aus, das auf gegenseitige Hilfe ausgerichtet
ist? Untersuchungen auf der Basis austausch- und ressourcentheoretischer
Modelle könnten hierüber Aufschluss geben.
Wie die Ergebnisse des Vergleichs zeigen, können weder im Betreuten
Wohnen noch im gemeinschaftsorientierten Wohnen dementiell erkrankte Menschen auf Dauer wohnen bleiben. Für die stetig ansteigende Anzahl der Betroffenen müssen neue Wohnformen geschaffen werden, wie z.B. „Betreute Wohngemeinschaften“. Diese alternative Wohnform, die ein weitgehend selbstbestimmtes Wohnen und Leben in einer an das Krankheitsbild angepassten
Umwelt ermöglichen soll, sollte Gegenstand weiterer Forschungsarbeiten der
ökologischen Gerontologie sein.
Im untersuchten gemeinschaftsorientierten Wohnprojekt leben fünf unterschiedliche Nationalitäten zusammen. Prognosen zufolge werden im Jahr 2010 rund
1,3 Millionen Migranten älter als 60 Jahre sein (BMFSFJ, 2000, S.11). Damit
rückt ein bislang noch vernachlässigtes Forschungsgebiet in den Blickpunkt,
das sich mit der Frage beschäftigt, welche Wohn- und Versorgungsstrukturen
den Bedürfnissen der unterschiedlichen Migrantengruppen mit ihren kulturell
unterschiedlichen Lebenswelten und Lebenslagen entsprechen. Um die Forschung auf diesem Gebiet voranzutreiben, ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Forschern mit Migrationshintergrund erforderlich.
In Bezug auf das Betreute Wohnen stellt sich die Frage, welche Organisationsform in Zukunft nachgefragt wird, wenn das Einzugsalter und das damit verbundene Risiko der Pflegebedürftigkeit steigt. Angesichts der zunehmenden Anzahl
an älteren Menschen und der gesellschaftlichen Veränderungen des sozialen
Sicherungssystems ist es fraglich, ob zukünftig genügend betreute Wohnanlagen für mittlere und niedrigere Einkommensgruppen zur Verfügung stehen
werden oder ob die oben genannten Bedürfnisse nicht zusätzlich durch alternative Wohn- und Versorgungskonzepte befriedigt werden können. Ein Modell,
dass sich derzeit in der Erprobungsphase befindet ist das „Betreute Wohnen zu
Hause“. Dieses Konzept ermöglicht es dem alternden Menschen in der vertrauten Wohnumwelt und Nachbarschaft zu bleiben, solange die Wohnung an seine
sich verändernden Kompetenzen angepasst werden kann. Die Installation eines
Notrufsystems verleiht Sicherheit. Professionelle und ehrenamtliche Betreuung
und Unterstützung ergänzen sich zu einem lokalen Netzwerk. Durch organisierte Treffen und ehrenamtliche Hausbesuche wird dem Bedürfnis nach sozialem
Kontakt entsprochen (vgl. Kremer-Preiß & Stolarz, 2003, S. 53f). Längsschnitt77
studien könnten zeigen, ob dieses Modell das Grundbedürfnis der älteren Menschen nach einem selbstständigen und selbstbestimmten Leben befriedigt und
unter welchen Voraussetzungen und in welchen Siedlungsstrukturen sich dieses Modell bewährt.
In Anbetracht der demografischen Entwicklung und der eingangs beschriebenen Folgen ist es von Bedeutung, zu erforschen, wie sich die bereits bestehenden gemeinschaftsorientierten Wohnprojekte langfristig entwickeln und ob sie
eine tragfähige und nachhaltige Alternative zwischen dem „nicht alleine
wohnen“ und „dem Wohnen im Heim“ darstellen. Hierbei ist ein Vergleich von
altershomogenen und altersheterogenen Hausgemeinschaften interessant. Wie
sehen die Unterstützungspotenziale in den unterschiedlich konzipierten Wohnprojekten aus, wenn die Zahl der Bewohner steigt, die gebrechlich und hilfebedürftig werden? Welche Erfahrungen liegen hierzu bereits vor und wie können diese Erfahrungen in die Konzeption neuer Wohnprojekte einfließen?
Bislang gibt es keine exakten Daten über die zur Zeit in Deutschland tatsächlich
existierenden Wohnprojekte, ihre unterschiedlichen Konzepte sowie über den
„sozialen Mehrwert“ dieser Wohnform. Hierzu sind sowohl quantitative als auch
qualitative Untersuchungen notwendig, die letztendlich eine Argumentationsbasis für die Kooperation mit Kommunen und Wohnungsbaugesellschaften
liefern können, um entsprechende Rahmenbedingungen für die leichtere Realisierbarkeit von Wohnprojekten zu schaffen.
In diesem Zusammenhang sind die regionalen Unterschiede der Rahmenbedingungen interessant. Es ist der Frage nachzugehen, welche Bedingungen in
den Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Hamburg gegeben sind, in denen die Anzahl der existierenden Wohnprojekte deutlich höher ist
als im Süden Deutschlands. Auch ein Blick ins benachbarte Ausland könnte
hierzu interessante Aufschlüsse liefern.
Wie in dieser Arbeit aufgezeigt, wird sich aufgrund der demografischen Entwicklung das familiäre Unterstützungspotenzial verkleinern. Diese Tatsache macht
deutlich, dass neue Wege gesucht und gefunden werden müssen, um soziale
Netzwerke zwischen den Generationen und außerhalb der Familie aufzubauen.
Das gemeinschaftsorientierte intergenerative Wohnen ist ein Schritt in diese
Richtung. Aber auch das Konzept des Betreuten Wohnen birgt noch Potenziale,
die soziale Netzwerkbildung zu fördern, wie das Beispiel des Betreuten Wohnen
mit Gemeinschaftsorientierung zeigt. Die Begleitung all dieser Projekte für die
unterschiedlichsten Zielgruppen bleibt Aufgabe der sozialwissenschaftlichen
Forschung.
78
6
Literatur
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behavior. In Binstock, R.H. & Shanas, E. (Eds.). Handbook of aging
and the social sciences, 2nd edition (pp. 94-128). New York: Van
Nostrand.
Baltes, P.B. & Baltes, M.M. (Hrsg) (1990). Successful aging: perspectives
from the behavioral sciences. Cambridge: Cambridge University Press.
Behrens, M. & Brümmer, A. (1997). Selbstinitiierte Hausgemeinschaften - eine Antwort auf gesellschaftliche Veränderungen? Thema 135. Köln:
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