Jagd auf den Riesenkalmar - mensch

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Jagd auf den Riesenkalmar - mensch
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Sonntag/Montag,
15./16. Dezember 2013
BLICKPUNKT
3
Im eigenen U-Boot auf Tiefseejagd
Im U-Boot auf den
Spuren von
Architeuthis: Eine
Bad Oldesloerin
sucht in der Tiefsee
nach dem
Riesenkalmar.
Von Susanne Böllert
Kirsten Jakobsen weiß, was sie
will. Aber muss es gleich Architeuthis sein? Ein Riesenkalmar, bis zu
18 Metern groß und dazu noch gut
versteckt in den Tiefen des Ozeans? Ja, genau der muss es sein.
„Wir werden ihn so lange suchen,
bis wir ihn vor die Linse bekommen
haben“, erklärt sie, bevor sie und
ihr Mann wieder abtauchen – in die
Tiefsee vor den Azoren.
Immer wenn es das Wetter zulässt, klettern die Tierfilmer Kirsten
und Joachim Jakobsen in die auf ihrem Katamaran vertäute „Lula1000“. Die „Lula“ ist ein von Joachim Jakobsen entworfenes und
fast zu 100 Prozent in Deutschland
konstruiertes U-Boot, das den
56-Jährigen und seine Frau in eine
Tiefe von bis zu 1000 Metern
bringt. Nur zehn Boote weltweit
sind derzeit in der Lage, so tief zu
tauchen. Immerhin herrscht dort
unten ein Druck von etwa 100 bar.
Für Taucher mit Tauchflasche wird
es schon ab 50 Metern brenzlig.
Pioniere der
Unterwasser-Forschung
Die „Lula“, portugiesisch für Kalmar, das unangefochtene Lieblingstier der beiden auf der Azoreninsel
Faial lebenden Tiefseeforscher,
hat rund eine Million Euro gekostet. „Plus die Arbeitsstunden, die
wir selbst hineingesteckt haben“,
erklärt die 43-jährige Kirsten Jakobsen, die aus Bad Oldesloe
stammt und ihre Liebe zum Meer
bereits als Kind in den Ferien auf
Föhr entdeckt hat. Der Faszination
der Tiefsee ist die Verwaltungswirtin indes erst nach der Begegnung
mit ihrem Mann erlegen. Jakobsen, ein Schüler der Unterwassertechnik-Pioniere Dimitri und Ada
Rebikoff, lebte damals schon auf
den Azoren und führte eine Werkstatt für Unterwasserkameras. Es
sei nicht schwer gewesen, die junge Diplomatin aus der deutschen
Botschaft in Lissabon zum Tausch
„Schreibtisch gegen Tauchboot“
zu überreden, erinnert er sich.
Drei Leute passen in die „Lula1000“, die wie eine überdimensionierte Unterwasserkamera funktioniert. „Und wir sitzen im Objektiv“, freut sich Kirsten Jakobsen.
Denn der wichtigste Bestandteil ihres Gefährts ist die 1,40 Meter große Plexiglaskuppel, durch die das
Paar die fremdartigen Bewohner
Fenster mit Meerblick: Kirsten und Joachim Jakobsen an Bord ihrer „Lula1000“.
der Tiefsee betrachten kann. Egal,
ob Leuchtqualle, Garnele, Tiefwasserkalmar oder Grauhai, wer auch
immer an der „Lula“ vorbeischwimmt, ist zum Greifen nah.
Die Jakobsens sind sich einig:
„Nur wer selbst durch das Freiwasser schwebt oder über den Meeresboden gleitet und mit eigenen Augen die Unterwasserorganismen
verfolgt, dem erschließt sich die
Schönheit der Tiefsee ganz.“ Die
Jakobsens trennt von der geheimnisvollen Unterwasserwelt nur diese Plexiglasscheibe, die selbst an ihrer dünnsten Stelle noch 14 Zenti-
meter dick und dennoch lupenrein
gearbeitet ist. „Es ist ein tolles Gefühl zu wissen, dass wir die ersten
Menschen sind, die einen neuen
Organismus zu Gesicht bekommen“, schwärmt Kirsten Jakobsen.
„Je tiefer wir kommen, desto verrückter werden die Fische, Quallen, Garnelen und Kalmare.“
Schon 80, spätestens 100 Meter
unter der Oberfläche färbt sich das
Wasser tiefblau, und die Jakobsens
müssen die Schweinwerfer werden
einschalten. Wie aber haben sich
die Tiere diesem Lebensraum angepasst? Wie orientieren sie sich in
Foto: Christiph Bauer/Evonik, Stiftung Rebikoff-Niggeler, LN-Archiv, Geomar
der ewigen Nacht? Und wie ist der
Meeresboden der Tiefsee beschaffen – aus Sedimenten, aus Fels, aus
prähistorischen Korallenriffs?
Die Geheimnisse der
Tiefsee sind unerforscht
Mehr als 40 Jahre ist es her, dass
der Mensch zum ersten Mal auf
dem Mond landete. Die Tiefsee
aber behält die meisten ihrer Geheimnisse noch immer für sich.
Dass die Meeresgründe noch immer so unerforscht sind, halten die
Jakobsens „für eine Schande“. Sie
glauben, es liege daran, dass die
Mensch und Maschine
Kirsten Jakobsen wurde vor 43 Jahren
in Bad Oldesloe geboren und arbeitete
als Verwaltungswirtin bei der deutschen Botschaft in Lissabon, bevor sie
ihren Job zugunsten der Forschungsarbeit aufgab.
Die „Lula1000“ ist 7,5 Meter lang,
wird von fünf Elektromotoren getrieben und verfügt über hochauflösende,
extrem lichtempfindliche Kameras. Außerdem ist ein Unterwasser-Navigationsgerät, ein Sedimentsauger zur Probenentnahme und ein Sonar an Bord.
Gut eine Million Euro stecken in der „Lula1000“, die gefahrlos eine
Tauchtiefe von einem Kilometer erreichen kann.
TV-Tipp: „stern-TV“, Mittwoch, 18.12.,
RTL, 22:15 Uhr.
Forschung so teuer ist. „Wie schützenswert die Tiefsee ist, können
wir aber erst wissen, wenn wir sie
besser kennen“, erklärt Kerstin Jakobsen angesichts des wachsenden wirtschaftlichen Interesses an
den Bodenschätzen der Tiefsee.
Es ist diese Forscherneugier, die
die Wahl-Azoreaner seit dem Sommer immer wieder auf Unterwasserjagd gehen lässt. Besonders stolz
sind die Eltern eines Sohnes und einer Tochter auf zwei Funde: das älteste lebende Tier der Welt, eine
500 Jahre alte Austern-Oma, sowie
das Dendrophyllia-Korallenriff in
300 Metern Tiefe kurz vor „ihrer“
Insel Faial. Noch nie zuvor ist man
vor den Azoren auf ein Korallenriff
gestoßen. Seine Entstehung und
Beschaffenheit beschäftigen nun
die Wissenschaft. Wie auch alle anderen Entdeckungen, die die Jakobsens auf ihren bis zu fünf Stunden langen, hoch konzentrierten
Tauchgängen machen.
Mit Forschungsaufträgen von
Hochschulen, Museen – darunter
das Meeresmuseum Stralsund –
und der Azorenregierung finanzieren die Jakobsens ihr Tiefseeabenteuer. Dafür teilen sie ihr wertvolles Filmmaterial, die ozeanographischen Daten, die Dokumentation
der unbekannten Unterwasserorganismen. „Aber natürlich ist der
eigene Tierfilm um 20.15 Uhr im
Seltene Begegnung: Ein Sechskiemenhai schwimmt gemächlich vor
der „Lula1000“ vorbei.
Ersten der Motor, der immer mitläuft.“
Mindestens ebenso viel Antrieb
gibt ihnen die Hoffnung, endlich
auf Architeuthis zu stoßen. Dass sie
den scheuen Riesenkalmar mit seinen zehn Tentakeln und den volleyballgroßen Augen hier vor den Azoreninseln vor die Linse kriegen, ist
für das Ehepaar nur eine Frage der
Zeit. Nicht nur, weil das große Pottwal-Vorkommen darauf schließen
lässt, dass sich Architeuthis in den
Meeresgründen vor den portugiesischen Atlantikinseln verbirgt – Kalmare die Leibspeise der Pottwale.
Zuversicht gibt ihnen vor allem das
unglaubliche Ereignis, das sie
gleich bei ihrer ersten Testfahrt mit
dem U-Boot erleben durften: In einer Tiefe von 593 Metern verschwand die „Lula1000“ plötzlich
in einer riesigen Wolke. Sieben Meter maß sie und bestand aus –Tinte.
Welcher Kalmar wäre wohl groß genug, eine solche Wolke auszustoßen, wenn nicht der 500 Kilo schwere Architeuthis?
Bislang ist es nur einmal gelungen, ein Exemplar dieses Ozeanriesen lebendig zu sehen. Japanische
Meeresbiologen hatten Anfang
des Jahres die Ehre. „Ihr Riesenkalmar war mit drei Metern aber eher
klein“, sagt Kirsten Jakobsen. Für
sie sollte es dann schon ein ausgewachsenes Exemplar sein.
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„Kalmare sind clever, charismatisch und scheu“
OYS TER PER PE TUA L DATE JUS T
Der Kieler Meereswissenschaftler Uwe Piatkowski zu Tatsachen und Gerüchten über die Tiefseegiganten.
Kiel – Uwe Piatkowski ist FischereiBiologe und arbeitet am Geomar
Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel.
Lübecker Nachrichten: Die Azoren gelten als wahrer Hotspot von Riesenkalmaren. Aber woher weiß man das,
wenn doch außer in Japan noch nie
ein lebendiger Architeuthis gesichtet
wurde?
Uwe Piatkowski: Ein wichtiges Indiz
für das Vorkommen von Riesenkalmaren ist das Auftreten von Pottwalen,
denn die ernähren sich vor allem von
Tintenfisch. In einem Jahr fressen sie
fast 100 Millionen Tonnen Tintenfisch, das entspricht etwa der Gesamt-
So soll er aussehen – nur viel größer: Die Zeichnung von 1883 zeigt einen toten Riesenkalmar, der an die Küste Neufundlands gespült wurde.
menge an Fischen, Algen, TinLN: Aber auch so ein Allesfrestenfischen und anderen Orgaser wie Architeuthis ist mit 18
nismen, die der Mensch jährMetern maximaler Körpergrölich fischt. Bis 1987 wurden
ße ein ziemliches Ungeheuer.
Pottwale vor den Azoren gefanPiatkowski: Man will bei eigen. Bei der Auswertung ihrer
nem gestrandeten Exemplar
Mageninhalte fand man die für
sogar knapp 21 Meter gemesWale unverdaulichen, hornartisen haben. Aber da wäre ich
gen Schnäbel der Kalmare,
vorsichtig. Kalmare gehören
Uwe
auch die von Architeuthis.
wie Schnecken und MuPiatkowski.
scheln zu den Mollusken, also
LN: Andererseits haben die
zu den Weichtieren. Sie hascheinwerfergroßen Abdrücke von ben kein Skelett wie Fische. Ihre weiSaugnäpfen auf der Haut von Walen chen Arme und Tentakel lassen sich
die Vermutung genährt, dass umge- wie ein Gummiband in die Länge ziekehrt auch Riesenkalmare die Pottwa- hen. Eindeutiger ist das Gewicht: Riele fressen.
senkalmare können bis zu 500 KiloPiatkowski: Angaben von scheinwer- gramm wiegen.
fergroßen Saugnäpfen sind Unsinn.
Man muss bedenken, dass die Nar- LN: Dann ist die Suche mit einem kleiben alt gewesen sein können und mit nen U-Boot nach Architeuthis also
dem Pottwal mitgewachsen sein müs- gar nicht so ungefährlich?
sen. Nein, Kalmare fressen keine Wa- Piatkowski: Theoretisch könnte er so
le, sie verteidigen sich aber mutig ge- ein U-Boot mit seinen zehn Armen pagen sie. Ein Riesenkalmar könnte kei- cken und in die Tiefe ziehen. Aber
nen gleichgroßen Pottwal besiegen, das wird er nicht tun. Kalmare sind
dafür ist der Wal viel zu stark. Pottwa- nicht nur sehr clever und charismale sind die unbestrittenen Herrscher tisch, sondern auch sehr scheu.
der Tiefsee.
Interview: Susanne Böllert
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