1 Einleitung – Der fehlende Leitfaden

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1 Einleitung – Der fehlende Leitfaden
1 Einleitung – Der fehlende Leitfaden
Was ist „Comic-Journalismus“? Die Antwort scheint zunächst banal: Eine Mischung aus
„Comics“ und „Journalismus“. Comics können allerdings sehr unterschiedlich sein –
und auch Journalismus ist ein unscharfer Sammelbegriff für eine Vielzahl an Darstellungsformen und Herangehens- bzw. Arbeitsweisen. Was genau bedeutet ComicJournalismus also? Der Comiczeichner und Journalist Dan Archer (2011b) versucht,
diese Frage zu beantworten – in einem Comic. Archer widmet sich dabei allerdings
nicht nur der Frage, was Comic-Journalismus ist. Er thematisiert auch einen Vorwurf:
„The news in comic format? Impossible“, lässt er einen Kritiker zu Wort kommen.
„Because it’s drawn, therefore subjective!“. Für Archer gilt dieses Argument nicht, um
Comic-Journalismus als „unjournalistisch“ zu disqualifizieren. In Zeiten von Bildbearbeitungsprogrammen wie Photoshop könne man selbst Fotos nicht mehr unhinterfragt als
unverfälschtes Abbild der Wirklichkeit hinnehmen. Einige Jahre später kommt Archer
(2013) in einem Vortrag einmal mehr auf das Thema zu sprechen. Sein ironischer
Kommentar zu heimlich manipulierten Fotos: „So, don’t believe everything that you
see.“ Und lächelnd fügt er hinzu: „Unless it’s comics.“ Anders als Fotos geben Comics
nämlich nicht vor, eine Wirklichkeit ohne Manipulation abzubilden. Klickt man bei Archers (2011b) online Comic What is Comics Journalism? auf einzelne Panels, gelangt man
via Link auf das Quellenmaterial, auf dem die jeweilige Darstellung basiert. „[...] We are
substantiating everything that we are saying in drawing with hard facts and evidence“,
erklärt Archer (2012a) andernorts bei einer Podiumsdiskussion. Die Rezipientinnen und
Rezipienten werden mit der Subjektivität des Comics konfrontiert und können sich
selbst ein Bild davon machen, auf welchen Informationen die jeweiligen Darstellungen
beruhen.
Transparenz und offene Subjektivität sollen scheinbare Objektivität ersetzen – ähnlich
sehen es auch andere Comic-Journalistinnen und -Journalisten.1 Diese Sichtweise bringt
allerdings zwei Fragen mit sich: Wie genau können Comic-Journalistinnen und -Journalisten
Transparenz gewährleisten? Und: Wo verläuft die Grenze zwischen subjektiver künstlerischer Freiheit
und journalistischer Faktentreue?
Was dies bedeuten kann, zeigt folgende Anekdote des Comic-Journalisten und ComicVerlegers Matt Bors (2012a) sehr deutlich: In einem journalistischen Comic, das er auf
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siehe dazu exemplarisch Delisle (2012b), Polgreen/Ryce (2012) sowie Sacco (2012, S. XI-XIV).
In Aufzeichnungen aus Jerusalem zeichnet Guy Delisle (2012a, S. 4-5) eine Szene im Flugzeug und schreibt: „Als er
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der Website Cartoon Movement (2012) veröffentlichte, wurde ein Wissenschaftler mit Bart
und Brille abgebildet. Bors war etwas misstrauisch und fragte den Zeichner: „Does he
look like that?“ Und dieser antwortete: „No, I just wanted to make him look a little
more interesting. He looked boring.“ Bors’ Antwort: „You can’t do that.“
Bors Beispiel mag besonders drastisch sein, es ist aber bei weitem nicht das einzige. So
zeichnet der Comic-Künstler Arne Jysch ein Comic über den Afghanistan-Einsatz der
Deutschen Bundeswehr, ohne je selbst dort gewesen zu sein (vgl. Eggers, 2012). Guy
Delisle (2012a) manipuliert in einem journalistischen Comic über seine Erlebnisse in Jerusalem offenbar Fakten zu Gunsten der Erzählstruktur.2 Und Diffee (2012) tut dies
ebenfalls, allerdings zu Gunsten von Humor.3 Diese und viele andere Beispiele zeigen,
dass die Aussage, man müsse Objektivität durch offene Subjektivität und Transparenz
ersetzten, zu vage ist. Damit Comic-Journalistinnen und -Journalisten wissen, was sie
bedenken müssen, wenn sie ein journalistisches Comic produzieren und damit Rezipientinnen und Rezipienten klar ist, was sie erwarten können, bedarf es eines Leitfadens für
qualitativen Comic-Journalismus. Dann kann Dan Archers Aussage tatsächlich bis zu einem
gewissen Grad ernst genommen werden: „Don’t believe everything that you see. Unless
it’s comics.“
1.1 Problemstellung – Wo bleibt die Wissenschaft?
Literatur- und autobiografischen Comics bzw. Graphic Novels kommt in den letzten
Jahren vermehrt Aufmerksamkeit von Verlagen, Kritikerinnen- und Kritikern, Leserinnen und Lesern und nicht zuletzt von Vertreterinnen und Vertretern der Literatur- und
Kulturwissenschaft zu (vgl. Ditschke, 2009, S. 277-278 sowie vgl. Ditschke/Kroucheva/Stein, 2009, S. 7-8). Längst gibt es zahlreiche Unterkategorien, in welche
Comics, je nach Inhalt oder Stil, eingeordnet werden können. Spätestens Art Spiegelmans (2011a) Maus und Joe Saccos (2012, 2011, 2010 und 2009) detaillierte gezeichnete
Reportagen machen deutlich, dass Comics auch journalistisch sein können – ein Um-
2 In Aufzeichnungen aus Jerusalem zeichnet Guy Delisle (2012a, S. 4-5) eine Szene im Flugzeug und schreibt: „Als er
Alice hochhebt, haut mich fast um, was ich sehe: Eine tätowierte Zahlenreihe auf seinem Unterarm. Verdammt! Ein
KZ-Überlebender!“ [Hervorhebung hinzugefügt]. In den Panels sind nur der Erzähler, seine Tochter Alice und der
KZ-Überlebende deutlich zu erkennen. In einem Interview erklärt Guy Delisle (2012b) hierzu allerdings: „It was the
first time on the airplane. My wife told me: ,Did you notice? He has, like, this encryption on his arm.‘“ [Hervorhebung
hinzugefügt].
3 Auf der dritten Seite des Comics erklärt Herausgeber Josh Kramer: „Editor’s note: Some dialogue below and on the
following pages is comedic fiction inspired by reporting.“ (Diffee, 2012, o. S.).
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stand, der in der Fachliteratur durchaus Berücksichtigung findet und meist, geprägt von
Joe Saccos Begriffs-Verständnis, als „comics journalism“ und im Deutschen als „Comic-Reportage“ tituliert wird. Definiert werden diese Begriffe in der Regel allerdings
nicht; wenn überhaupt, wird die Comic-Reportage bzw. comics journalism über das
Werk oder einzelne Comics Joe Saccos beschrieben (vgl. Knigge, 2009a, S. 28).
Für einige Werke des Comic-Journalismus mag diese Annäherung an das Phänomen
ausreichend sein, neue Publikationen und Plattformen für journalistische Comics wie
die Website Cartoon Movement oder die Magazine Cartoon Picayune und Symbolia Magazine
machen jedoch deutlich, dass gezeichneter Journalismus nicht auf lange, subjektive Reportagen beschränkt ist.4 Neben anderen Themen und Herangehensweisen zeigt sich
zudem eine große Vielfalt an unterschiedlichen Stilen.
Es scheint daher angebracht, die Begriffe „Comic-Reportage“ und „comics journalism“
zu überdenken und konkretere Definitionen bzw. neue Begriffe zu diskutieren. ComicZeichnerinnen und -Zeichner bzw. Autorinnen und Autoren von journalistischen Comics tun dies bereits. Sie benennen ihre Tätigkeit bzw. Produkte durchaus unterschiedlich und nehmen an ersten kritischen Diskussionsrunden rund um ihr junges Genre teil.
Wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit der Thematik fehlen bisher allerdings
weitgehend. Bei der dokumentierten (nicht-wissenschaftlichen) Reflexion über die Arbeit von Comic-Journalistinnen und -Journalisten werden häufig Aspekte diskutiert, die
sich in folgender Frage zusammenfassen lassen: Wie journalistisch können Comics sein?5 So
wird häufig vermutet, Comic-Journalismus könne nicht objektiv sein, da es sich bei
Comics meist um stark reduzierte, in der Regel abstrahierte und manchmal sehr subjektive Bilder der Wirklichkeit handelt.
Betrachtet man den Begriff „Objektivität“ im journalistischen Kontext allerdings genauer, offenbart er sich als eine Dimension journalistischer Qualität. Damit wird deutlich,
dass sich eine umfassende wissenschaftliche Betrachtung des Journalismus-Aspekts
journalistischer Comics nicht alleine auf Objektivität beschränkten darf; sie muss Comic-Journalismus vor dem Hintergrund eines Modells journalistischer Qualität betrachten.
Aus der theoretischen Auseinandersetzung mit der Qualität von Comic-Journalismus
können auch konkrete Handlungsanleitungen für Comic-Journalistinnen und Comic-
Siehe dazu Cartoon Movement (2012), Kramer (2013 und 2012a) sowie Polgreen (2013a, 2013b und 2012a).
Siehe dazu exemplarisch News Panels: What Visual Narratives and Graphic Journalism can do for news. Dan
Archer, comics journalist (UK), The Association of American Editorial Cartoonists (2012) sowie The Online News
Association (2012).
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Journalisten abgeleitet werden. Dass dies angebracht erscheint, zeigen die in Kapitel 1
genannten Beispiele deutlich.
1.2 Zielsetzung, Forschungsfragen und Thesen
Mit der vorliegenden Kombinationsarbeit soll deutlich gemacht werden, wie ein Werk
des Comic-Journalismus konzipiert werden muss, um den Anforderungen journalistischer Qualität ideal gerecht zu werden. Da journalistische Qualität allerdings sehr unterschiedlich definiert ist, wird ein gängiges und bewährtes Modell für journalistische Qualität ausgewählt – das „Magische Vieleck“ von Ruß-Mohl. Die forschungsleitende Frage,
die sowohl den theoretischen wie auch den praktischen Teil der Arbeit bestimmt, lautet
daher:
Wie muss ein Werk des Comic-Journalismus konzipiert sein, um den Anforderungen
journalistischer Qualität nach Ruß-Mohl zu entsprechen? (FF1)
Für diese Forschungsfrage wird folgende These aufgestellt:
Um den Anforderungen journalistischer Qualität nach Ruß-Mohl zu entsprechen, muss ein
Werk des Comic-Journalismus so konzipiert sein, dass den Rezipientinnen und Rezipienten
gegenüber Transparenz gewährleistet ist. Manipulation von Information ist nicht zulässig. Auf
zeitliche Aktualität sollte verzichtet werden. Um „Transparenz/Reflexivität“ bzw.
„Interaktivität/Dialogfähigkeit“ zu erreichen, sollte auf digitale Medien zurückgegriffen
werden. (T1)
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Um die genannte Forschungsfrage umfassend beantworten zu können, sind zudem zwei
weitere Fragen wesentlich:
Was ist Comic-Journalismus? (FF2)
Inwieweit sind Werke des Comic-Journalismus strukturell geeignet, um Dimensionen
journalistischer Qualität nach Ruß-Mohl zu erfüllen? (FF2)
Die damit verbundenen Thesen lauten:
Comic-Journalismus bezeichnet zu räumlichen Sequenzen angeordnete, bildliche oder andere
Zeichen, die Informationen vermitteln sollen und eine ästhetische Wirkung bei der Betrachterin
bzw. beim Betrachter erzeugen können. Das Ziel der Informationsvermittlung steht über jenem
der ästhetischen Wirkung. Die Zeichen müssen wissenschaftlich publizierte journalistische
Qualitätskriterien jedenfalls teilweise und idealerweise bestmöglich erfüllen. (T2)
Werke des Comic-Journalismus können die Anforderungen journalistischer Qualität nach
Ruß-Mohl strukturell bei „Originalität“ ideal, bei
„Komplexitätsreduktion/Verständlichkeit“ weitgehend und bei „Objektivität“, „Aktualität“
bzw. „Relevanz“ sowie „Transparenz/Reflexivität“ bzw. „Interaktivität/Dialogfähigkeit“
teilweise erfüllen. (T3)
Auf Basis der im Theorieteil gewonnenen Erkenntnisse wird ein Leitfaden für qualitativ
hochwertigen Comic-Journalismus erstellt, der schließlich im praktischen Teil dieser
Arbeit eine beispielhafte Umsetzung findet: Es wird auszugsweise ein Comic erstellt,
welches die Dimensionen journalistischer Qualität nach Ruß-Mohl ideal erfüllt.
1.3 Methodik – Literatur, Online-Umfrage und Blogeinträge
Die Beantwortung der Forschungsfragen erfolgt hauptsächlich anhand vorhandener
Fachliteratur. Neben Darstellung und Diskussion des Qualitäts-Modells von Ruß-Mohl
werden die Struktur des Comics sowie der Begriff „Comic-Journalismus“ untersucht.
Letzterer wird, mangels eines existierenden, umfassenden Begriffsverständnisses in der
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Wissenschaft, definiert, wobei dabei auf die Comic-Definition von McCloud zurückgegriffen wird. Da wissenschaftliche Texte zum Thema Comic-Journalismus weitgehend
fehlen, wird zudem eine nicht repräsentative Online-Umfrage unter 27 Personen durchgeführt, die an der Produktion eines Werks beteiligt waren, das dem ComicJournalismus zugerechnet werden kann. Zudem fließen ausgewählte Artikel, Blogeinträge, Videos, Websites sowie E-Mails und Chatprotokolle zum Thema in die Betrachtung
des Phänomens Comic-Journalismus ein. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse finden
in erster Linie im praktischen Teil der Arbeit Einzug und wirken sich auf die Schwerpunktsetzung des Leitfadens aus, welcher den Übergang zwischen theoretischem und
praktischen Teil der Arbeit bildet.
Im praktischen Teil wird der Leitfaden an einem konkreten Beispiel angewandt. Dazu
werden vier Kapitel eines journalistischen Comics erstellt. Thema des Comics sowie die
Auswahl der ausgearbeiteten Kapitel sind im Leitfaden begründet.
Zitate, die nicht der neuen deutschen Rechtschreibung entsprechen, werden dieser angepasst.
1.4 Gliederung der Arbeit – Beschreibung, Definition, Umfrage, Leitfaden, Comic
Die vorliegende Arbeit gliedert sich in einen theoretischen und einen praktischen Teil,
wobei letzterer aus vier Kapiteln eines journalistischen Comics besteht. Im theoretischen Teil der Arbeit wird zunächst das Qualitäts-Modell von Ruß-Mohl diskutiert (Kapitel 1), bevor das facettenreiche Phänomen Comic untersucht wird (Kapitel 2), die
Problematik des Genres Comic-Journalismus behandelt und der Begriff schließlich definiert wird (Kapitel 3 und Kapitel 4). Anschließend wird auf die Struktur des Comics
eingegangen (Kapitel 5). Danach werden die angestellten Betrachtungen zum Thema
Comic sowie zum Begriff Comic-Journalismus einerseits und jene zur journalistischen
Qualität andererseits in Verbindung gebracht (Kapitel 6), bevor die wichtigsten Ergebnisse der Online-Befragung dargestellt werden (Kapitel 7). Auf Basis dieser theoretischen Grundlage und unter Berücksichtigung der aus der Online-Befragung gewonnenen Erkenntnisse wird ein Leitfaden für qualitativ hochwertigen Comic-Journalismus
erstellt (Kapitel 8). Diesem folgt die praktische Umsetzung in Form dreier Kapitel eines
journalistischen Comics (Kapitel 9).
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Für
das
Comic
wurde
außerdem
folgende
Website
eingerichtet:
www.synaesthesiecomic.tumblr.com. Die Website ist durch ein Passwort geschützt.
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