Bild und Wort

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Bild und Wort
3.3
ALTERNATIVE(N)
3.3.1
BILD(ER)GESCHICHTE ODER COMIC?
Im Zuge der Bemühungen, artspezifische Charakteristika zu selektieren, hat sich im Laufe der
Jahre eine Vorliebe für den Begriff der Comic149 herauskristallisiert. Damit wurde der Versuch unternommen, die angesprochenen Veröffentlichungsformen vom Erzähl- und Darstellungsprinzip Comic abzusetzen. GRÜNEWALD hat wie andere darauf verwiesen, daß die
Bezeichnung Comic der Vielfalt der Inhalte und Darstellungsweisen nicht gerecht werde, der
ausgeprägte traditionelle Gebrauch einer Änderung oder Erweiterung jedoch im Wege stehe.
Er verwendet deshalb den weit älteren, nach seiner Meinung eher übergeordneten Begriff der
Bildgeschichte150. Letztere wiederum wird jedoch von vielen, in Gleichsetzung mit dem Begriff Bildergeschichte, seit
langem und mit breiter Akzeptanz als in Bildern (ohne
Worte) erzählte Geschichte
betrachtet.
Eine typische Bildgeschichte, die
der eben erwähnten Auslegung
entspricht: Moral mit Wespen aus
der Reihe Vater und Sohn von
Erich Ohser. Verkl. Abb. aus Vater und Sohn: Die letzten 50 Streiche und Abenteuer. Konstanz:
Südverlag, 1952, 1982 (ren.).
Abb. 12
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Die kürzlich im Vorwort zum Ausstellungskatalog Wow! 100 Jahre Comics verwendete Bezeichnung „das
Comic“ suggeriert jedoch eine verniedlichende Verkleinerung und zugleich die assoziative Weiterführung
„das Comicheft, -buch“ usw., die dem Phänomen Comic nicht entspricht.
Vgl. GRÜNEWALD. „Bilderbuch“. a.a.O. 58-62.
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LORENZ meint dagegen noch in COMIXENE151: „Als ‚klassische‘ Comics werden Bilderserien bezeichnet, die mit so wenig wie möglich Text auskommen.“ Bildergeschichten müßten
nach dieser Auslegung also die reinste Form der Comics darstellen.
DOLLE-WEINKAUF spricht davon, daß die „unangefochtene Vorherrschaft der traditionellen Bildergeschichte (...) den Comics bzw. den bestimmten Stilelementen nur marginalen
Raum gewährte...“152. Der Autor unterscheidet also deutlich zwischen beiden Erzählformen.
Eine Verbindung der Begriffe Bildergeschichten und Comics, wie sie z.B. BÖHM in seinem Wörterbuch der Pädagogik anbietet, ergibt gleichfalls keine Klärung:
Als C.-Strips fortsetzungsweise in Zeitungen oder Zeitschriften oder als C.-Books in selbständiger Heftform erscheinende, sich an Kinder (z.B. „Micky Maus“) oder Jugendliche u. Erwachsene
(z.B. Batman) wendende Bildergeschichten; vereinzelt auch polit.-gesellschaftskritische C.s
(Underground-Comic).153
Darauf, was denn nun eine Bildergeschichte sei,
gibt der Autor keine Antwort. BÖHM erläutert lediglich, daß schon der Begriff Bilderbuch nicht fest definiert sei und bietet eine „Faustregel“ an, nach der
Bild- und Textteil sich bei Bilderbüchern ungefähr
die Waage hielten. Als Beispiele für Bildergeschichten erwähnt BÖHM Hofmans Struwelpeter und Wilhelm Buschs Max und Moritz.154
Abb. 13
Eines der bekanntesten Bilderbücher der Welt: Der Struwelpeter
von Dr. Heinrich Hoffmann in der 300. Auflage. Verkl. Abb.
aus Die Bilderwelt im Kinderbuch. a.a.O. 238.
Das große Lexikon der Graphik erklärt Bildergeschichten folgendermaßen:
Geschichten, deren Hauptteil die fortlaufende Bebilderung ausmacht und bei denen der Text in
den Hintergrund tritt. Die B. der Bilderbogen, etwa die berühmten von Wilhelm Busch, sind die
Vorläufer der heutigen Comics.155
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LORENZ. COMIXENE 10 (1976): 5.
DOLLE-WEINKAUF. Comics: Geschichte... a.a.O. 15.
BÖHM. Wörterbuch der Pädagogik. a.a.O. 130.
Vgl. ebd. 84.
Das große Lexikon der Graphik: Künstler-Techniken-Hinweise für Sammler. Braunschweig: Westermann,
1984. 448.
Abb. 14
Ein weiteres Beispiel einer reinen Bildergeschichte: Un nid confortable
von Benjamin Rabier. Verkl. Abb.
aus Bande desinée... a.a.O. 13.
Im Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur findet man einen
Definitionsversuch für Bildgeschichte, der diesen Begriff mit
Comics verbindet, lediglich
den Bildern Vorrang gibt:
Die B. ist eine Darstellungs- und Erzählform, die auf der kontinuierlichen narrativen Bild-aufBild-Folge beruht. Die B. kann völlig auf Text verzichten, kann ihn aber auch als Dialog, Erläuterung, Ergänzung einbeziehen, wobei jedoch die Bildfolge primärer Handlungsträger bleibt.156
Vollends setzt THIEL 1994 im Lexikon der Buchkunst und Bibliophilie die Begriffe Bildgeschichten und Comics gleich, verzichtet auf jede Differenzierung.157 Für ihn ist die „Synthese von Bild und Text (...) das ästhetische Spezifikum der Bildgeschichten. Gerade die Kombination von Bild und Text bietet dem meist ästhetisch ungeschulten Leser oder Betrachter eine
in ihrem gesellschaftlichen Stellenwert nicht zu unterschätzende Rezeptionshilfe, wie sie für
normale Werke der bildenden Kunst (Malerei, Graphik, Plastik) nicht existiert, die aber als
Bedürfnis zweifellos vorhanden ist“.158
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DODERER. a.a.O. 58.
Vgl. „Bildgeschichten. Comics“. Lexikon der Buchkunst... a.a.O. 57-59.
THIEL. „Bildgeschichten. Comics“. ebd. 57. Warum ein Comic-Leser „meist ästhetisch ungeschult“ sei,
darauf bleibt THIEL genauso eine Antwort schuldig wie auf die Frage, ob er Comics als Gegensatz zur „normalen“ Kunst als „unnormal“ einstufe und worin dann die Bewertungskategorien für die jeweilige Zuordnung zu sehen seien.
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GRÜNEWALD ist hier konsequenter und betont, daß er mit der Bezeichnung Bildgeschichte
ein Gestaltungsprinzip meine.159 Er führt weiter aus:
Hier allerdings liegt der Zusammenhang von vielen Bilderbögen und Comics. Auch wenn inhaltlich, gestalterisch und medial Unterschiede zu verzeichnen sind, so liegt doch die B.160 als gemeinsame Gestaltungsweise zugrunde. In seiner unterschiedlichen Prägung kann das Prinzip der
B. auf eine lange historische Entwicklung verweisen.161
Abb. 15
Dieser Argumentation
könnte man uneingeschränkt zustimmen,
wenn nicht die innige
Verknüpfung des WortBild-Phänomens Comic
inzwischen längst in vielen Erscheinungsformen
dem Wort den Vorrang (!)
gegeben hätte. Von seltenen Ausnahmeformen
kann hier längst nicht
mehr die Rede sein. Erinnert sei z.B. an Arbeiten
von Uli Stein (Abb. 15
rechts), Jules Feiffer oder
Garry Trudeau (Abb. 16
und 17, nächste Seite).
Mit karikierend übertreibenden Randzeichnungen macht Uli Stein hier einen
relativ trockenen Text attraktiver. Zugleich betont er durch die Art der Anordnung der Bilder die Kontraposition der Beteiligten. Verkl. Abb. aus
Spontan 1 (Jan. 1971): 15.
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GRÜNEWALD. a.a.O. 58.
B. = Bildergeschichte
GRÜNEWALD. ebd. 59-60.
Abb. 16
Zwei Strips von Garry Trudeau, in denen das Bild zur Nebensache gerät. Die skizzenhaften Zeichnungen zeigen
nur leichte Variationen, der Text stellt den eigentlich wichtigen Inhalt dar.
Abb. 17
Abb. 16 oben aus HARVEY. The Art of the Funnies. a.a.O. 228; Abb. 17 darunter aus TRUDEAU. Flashbacks... a.a.O. 185.
Noch deutlicher wird die anteilmäßige Verschiebung vom Bild zum Text bei den 1995 erschienenen Longshot Comics von Shane Simmon. Sein 150-Seiten-Skript wurde von ihm in
3840 winzige Panels umgesetzt. Darin erzählt er mit dialoghaft arrangierten Texten (ohne
Blasenumrandung), die lediglich mit einer Linie einem Punkt (!) als Ersatz für eine Person
zugeordnet werden, die Geschichte einer Familie. 162
Abb. 18
Longshot Comics von Shane Simmon: die ersten 20 Panels in Originalgröße. Abb. aus
Speedline 51 (1995), S. 63.
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Vgl. Comic Speedline 51 (1995): 63.
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