Alfred Schnittke Zwölf Bußverse für gemischten Chor

Transcrição

Alfred Schnittke Zwölf Bußverse für gemischten Chor
Alfred Schnittke
Zwölf Bußverse
für gemischten Chor
Fr 20. Februar 2015, 19 Uhr
Stunde der Kirchenmusik
Stuttgart, Stiftskirche
Sa 21. Februar 2015, 20 Uhr
Baden-Baden, Kurhaus, Weinbrenner-Saal
SWR Vokalensemble Stuttgart
Dirigent: Marcus Creed
Erstellt von Andreas Eckhardt
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Alfred Schnittke (1934 - 1998): Zwölf
Bußverse (1988) für gemischten Chor
Handreichung von Andreas Eckhardt
Konzerte des SWR-Vokalensembles
Freitag, 20. Februar 2015, 19 Uhr
Stuttgart, Stiftskirche (Stunde der Kirchenmusik)
Samstag, 21. Februar 2015, 20 Uhr
Baden-Baden, Kurhaus Casino, Weinbrennersaal
Inhalt
1. Einleitung
2. Kurzbiographie Alfred Schnittke
3. Hintergrundinformationen zum Werk
4. Übersetzung des Originaltextes
5. Anmerkungen zum Werk von Hans-Peter Jahn
6. Kommentierte Internetquellen
7. Anregungen für den Musikunterricht
8. Quellen / Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Von Arroganz, Heuchelei und Geldgier handeln die Texte eines anonymen russischen
Autors des 16. Jahrhunderts. In deren Vertonung vermischt Alfred Schnittke musikalische
Vergangenheit und Gegenwart, orthodoxe Gesänge, gregorianische Choräle, Cluster und
raffinierte Rhythmen“1
Nach einer kurzen Biographie Alfred Schnittkes, die als Informationsblatt im Unterricht
direkt eingesetzt werden kann, werden Hintergrundinformationen zum Werk angeboten.
Das Hörprotokoll zu den Zwölf Bußversen (Hans-Peter Jahn) wurde vom SWR zur
Verfügung gestellt und stellt einen wertvollen Beitrag zum Verständnis des Werkes dar,
der analytische Details und Wirkungsbeschreibungen verbindet.
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http://www.swr.de/orchester-und-ensembles/schnittke-zwoelf-bussverse-stimmen-der-natur-creed//id=100730/nid=100730/did=9320420/8geqoe/index.html
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Die kommentierten Internetquellen bieten zum einen die Möglichkeit, sich umfassend zu
Leben und Werk Schnittkes zu informieren. Zum anderen zeigen Videoclips auf Youtube
bereits Möglichkeiten einer medialen Produktion im Musikunterricht. Abschließend werden
weitere Ideen für den Unterricht skizziert.
2. Kurzbiografie Alfred Schnittke
Schnittke wurde am 24. November 1934 in Engels (der Hauptstadt der ehemaligen
autonomen Wolgadeutschen Republik) geboren.
Schon die Herkunft seiner Eltern spiegelt seine biographische und musikalische Position
„zwischen allen Stühlen“ wider. Seine Mutter Maria (geb. Vogel) war eine in Russland
geborene Wolga-Deutsche, sein Vater Harry Schnittke, ein jüdischer Journalist, stammte
aus Frankfurt am Main.
Alfred Schnittkes musikalische Ausbildung begann nach dem Zweiten Weltkrieg in Wien.
Hier bekam er ab 1946 Unterricht am Klavier und am Akkordeon, seine ersten
Kompositionsversuche stammen aus dieser Zeit.
Nach dem Umzug der Familie Schnittke nach Moskau wurde Alfred Schnittke an der
Moskauer Musikfachschule mit Hauptfach Chorleitung aufgenommen. Im Rahmen dieser
ersten spezialisierten Ausbildung nahm er auch verstärkt Klavierunterricht und widmete
sich umfangreichen Kompositionsstudien.
Diese mündeten von 1953 bis 1958 in ein Kompositionsstudium am Moskauer
Tschaikowsky-Konservatorium (u.a. mit Sofia Gubaidulina als Studienkollegin). Prägende
Komponisten dieser Zeit waren für ihn Dimitri Schostakowitsch, Igor Strawinsky, Paul
Hindemith, Arthur Honegger und auch die Komponisten der „Zweiten Wiener Schule“,
Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton Webern. Dieses Umfeld deutet darauf hin, dass
sich der Komponist nicht einer bestimmten kompositorischen Richtung zuordnen lässt,
sondern die ganze Bandbreite zwischen Avantgarde, Neoklassizismus und zwölftönigen
Techniken auslotet.
In der Zeit nach seinen Studien (ab ca. 1962) war Alfred Schnittke Lehrbeauftragter für
Instrumentation an seiner ehemaligen Hochschule. Kompositorisch suchte er weitere
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Anregungen in den Werken von Luigi Nono, Karlheinz Stockhausen und Györgi Ligeti.
Dabei kam er mit serieller Technik ebenso in Kontakt wie mit der Dodekaphonie.
Seine Schaffensphasen sind in verschiedene Perioden zu unterteilen. Während die
kompositorischen Frühwerke deutlich vom Stil Schostakowitschs geprägt waren, widmete
Schnittke sich ab ca. 1963 der Zwölftönigkeit. Prägendes kompositorisches Kennzeichen
jedoch war ein erkennbarer Stilpluralismus („Polystilistik“, ab 1968), der mit der zweiten
Sonate für Violine „quasi una fantasia“ beginnt. In den Neunziger Jahren wendet sich
Alfred Schnittke von diesem kompositorischen Verfahren ab. Seine Werke kreisen
vorrangig um religiösen Fragestellungen.
In diese Zeit datieren auch die „Zwölf
Bußverse“ (1986, UA 1988).
Neben dieser Arbeit war die Filmkomposition ein fester Bestandteil seines Schaffens.
Damit verdiente der Komponist seinen Lebensunterhalt. Er experimentierte mit neuen
Klangfarbeneffekten (vgl. Schönberg), wendete sich der Clustertechnik und der Aleatorik
zu und arbeitete mit Tonbändern (vgl. Musique concrète). In dieser Arbeit mit
„Alltagsmusik“ lernte Schnittke die Suche nach dramaturgischen Lösungen und Flexibilität
(„Spielen Sie was Sie wollen, aber im vorgegebenen Rhythmus“).
Die Anerkennung seiner kompositorischen Arbeit erfolgte recht spät, dafür aber umso
deutlicher. Eine enge Zusammenarbeit bestand mit Gidon Kremer, Yury Bashmet, Natalia
Gutman, Mstislav Rostropovich und Orchestern wie dem Boston Symphony Orchestra,
dem Cleveland Orchestra und den New York Philharmonics. Alfred Schnittke wurde mit
einer Vielzahl an Preisen und Auszeichnungen geehrt (Österreichischer Staatspreis, BachPreis der Stadt Hamburg, Russischer Staatspreis,...) und lehrte von 1989 bis 1994 an der
Hamburger Musikhochschule als Professor für Komposition.
Nach einigen gesundheitlichen Rückschlägen starb Alfred Schnittke am 3. August 1998 in
Hamburg.
3. Hintergrundinformationen zum Werk
Im Jahr 1975 begann Alfred Schnittke sich mit geistlicher Musik auseinanderzusetzen. Zu
nennen sind in diesem Zusammenhang sein Requiem, das Konzert für Chor und eben die
zwölf Bußverse. Schnittke steht biografisch wie musikalisch zwischen jüdischen und
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katholischen bzw. orthodoxen Traditionen. Genauso stehen die Traditionen russischer und
deutscher Musik bei ihm nebeneinander.
Die zwölf Bußverse tragen den Untertitel „Zur 1000-jährigen Christianisierung Rußlands“
und wurden 1988 von Valery Polansky mit dem staatlichen Kammerchor der UdSSR im
Konzertsaal der Moskauer Universität uraufgeführt.
Ursprünglich sollte Schnittke aus o.g. Anlass einen Orgelpart für einen orthodoxen
Gottesdienst komponieren. Diesen Auftrag lehnte er ab.
Die Texte von elf Versen stammen von einem anonym gebliebenen russischen Mönch aus
dem Spätmittelalter (Schriftdenkmäler des alten Russlands), der zwölfte ist textlos. Die
vertonten Texte wurden in der Fastenzeit gesungen. Die Tradition des russischorthodoxen Chorgesangs ist deutlich zu erkennen. Die Verse werden a capella aufgeführt,
tiefliegende Bassstimmen liegen oft wie Orgelpunkte unter einem Organum, während
große dynamische Wechsel und extreme Lagen den Satz auffächern. Auffällig sind in
einigen Sätzen des Werkes textlose, instrumental gedachte Bordunklänge (bocca chiusa,
„mit geschlossenem Mund“).
Alfred Schnittke sieht in den Bußversen die Möglichkeit, „den Ausdruck jedes einzelnen
Moments einzufangen, wo Worte die Musik bestimmen (wie es beim Gesang im
orthodoxen Gottesdienst der Fall ist).“
Satzfolge:
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
Adam saß vor dem Paradies
Es nimmt mich die Wüste auf wie die Mutter ihr Kind
Weshalb lebe ich in Armut
Meine Seele
Oh Mensch - verdammt und armselig
Als sie sahen das Schiff
Oh meine Seele, warum hast du keine Angst
Wenn du die Zeitlosigkeit der Trauer überwinden willst
Über mein Leben als das eines Geistlichen
Sammelt euch, ihr christlichen Menschen!
Ich bin in dieses elende Leben gekommen
[Ohne Text]
Aufführungsdauer: ca. 50 Minuten
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4. Übersetzung des Originaltextes
I
Adam saß vor dem Paradies und weint:
"Mein Paradies, mein herrliches Paradies!
Für mich warst du geschaffen,
Nur Eva wegen bist du mir verschlossen.
Ich habe gegen meinen Gott gesündigt.
Und ich habe das Gebot gebrochen.
Ich werde nie mehr paradiesische Speisen sehen,
Ich werde nie mehr die Stimme des Erzengels hören.
Ich habe gesündigt, mein Gott!
O Gott, vergib mir Gefallenen!
II
Es nimmt mich die Wüste auf wie die Mutter ihr Kind.
Leise und stumm birgt sie mich in ihren Schößen.
Drohe mir nicht, Wüste, mit deinen Ungeheuern;
dem Flüchtling ohne Rückkehr in fremder Welt.
O schöne Wüste, du freundlicher Eichenwald!
Du bist mir lieber
als es die Prunkgemächer und
Goldkammern des Zaren sein könnten.
ich werde auf den Weisen deines Wundergartens gehen,
mit ihren vielen Blumen,
wo die Luft von leisen Winden bewegt wird;
wo die lockigen Zweige der Blumen sich bewegen.
Ich werde leben als Wolf,
allein durch die Welt treiben, die Menschen
und ihr heuchlerisches Leben meiden.
Ich werde mich verstecken, weinend und heulend,
in deinen wilden Schößen.
Oh Herr, Oh Zar!
Du hast mich erfreut mit irdischen Gütern.
Entziehe mir nicht dein himmlisches Reich!
III
Weshalb lebe ich in Armut:
Ich besitze keine Erde,
ich habe keinen eigenen Hof,
ich pflüge nicht den eigenen Garten,
in der Seefahrt suche ich nicht Gewinn,
mit Kaufleuten handele ich nicht,
den Fürsten diene ich nicht,
den Bojaren bin ich nicht nützlich,
als Diener tauge ich nicht.
Zu Büchergelehrsamkeit bin ich ungeeignet,
an die Kirche glaube ich nicht,
die Vorschriften meiner geistlichen Väter mißachte ich,
so ziehe ich göttlichen Zorn auf mich.
Gute Taten sind meine Sache nicht,
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ich bin voll der Unehre,
mit Sünden beladen.
Gib mir, mein Gott, vor dem Ende die Möglichkeit zur Beichte.
IV
Mein Seele Warum befindest du dich in Sünden.
Welchem Willen gehorchst du.
Wie verwirrend handelst du?
Erhebe dich - laß alles...
und weine bitterlich über deine Taten,
solange du noch wartest auf deine Todesstunde.
Dann wird es zu spät sein, Tränen zu vergießen.
Bedenke, meine Seele,
die bitteren Stunden
der Angst und des Schreckens,
bedenke die ewige Qual,
die die Sündigen erwartet.
Ermahne dich, oh Seele,
laut schreiend:
Gnädiger, bewahre mich!
V
Oh Mensch - verdammt und armselig,
deine Lebenszeit geht zuende,
dein Ende naht
ein schreckliches Gericht wird kommen über dich.
Wehe dir, armselige Seele!
Deine Sonne geht unter,
und der Tag dämmert,
die Streitaxt liegt bei den Wurzeln.
Seele, oh Seele,
warum klagst du über die Vergänglichkeit?
Seele erzittere,
bevor du vor deinem Schöpfer erscheinst,
und den Todesbecher trinkst
und bevor du leidest unter dem stinkenden Teufel,
und vor ewiger Qual.
Vor ihr, Christus,
befreie unsere Seele erhöre unsere Gebete.
VI
Als sie sahen das Schiff, das plötzlich kam,
schrieen die beiden schönen Brüder Boris und Glebo:
Oh Brüder Swjatopolk, vernichte uns nicht,
wir sind beide noch sehr jung!
Schneide nicht die Sprößlinge, die noch keine Früchte
hervorgebracht haben.
7
Schneide nicht mit der Sichel die unreife Ähre,
vergieße kein unschuldiges Blut.
Bereite unserer Mutter keinen Kummer!
Bestatte nur in der russischen Erde im Vyschgorod,
Unserm Gott sei Dank!
VII
Oh meine Seele, warum hast du keine Angst
vor den Toten in den Gräbern,
vor den bloßen und schrecklichen Knochen.
Erkenne und schaue:
Wo ist Fürst und wo ist der Herrscher?
Wo ist der Reiche, wo der Arme?
Wo ist die Schönheit des Gesichts?
Wo ist die Redekunst der Weisheit?
Wo sind die Hochmütigen, wo die Ruhmsüchtigen?
Wo sind jene, die mit ihrem Gold und ihren Perlen
vor anderen prahlen?
Wo ist Stolz, wo ist Liebe?
Wo sind die Habgierigen?
Wo ist das wahrhaftige Gericht,
das dem Schuldigen keine Ruhe gibt?
Wo ist der Herrscher, wo der Sklave?
Ist nicht alles gleich:
Staub und Erde und stinkender Schmutz?
Oh meine Seele, warum zitterst du nicht vor Schreck?
Wieso hast du keine Angst
vor dem schrecklichen Gericht
und den ewigen Qualen?
Oh armselige Seele!
Erinnere dich, wie du den Worten
des irdischen Zaren, eines vergnüglichen Menschen,
mit Aufmerksamkeit folgtest,
aber den Geboten deines himmlischen Schöpfers
nicht gehorchtest.
Du lebst in ewiger Sünde,
Di Lehre der Schrift
nimmst du nicht ernst, du spottest über sie.
Oh meine Seele!
Weine, schreie Christus zu:
Jesus rette mich!
Befreie mich - folgend den Gebeten der Heiligen vor ewigen und bitteren Qualen.
VIII
Wenn du die Zeitlosigkeit der Trauer überwinden willst,
dann sei nie traurig
vom zeitlichem Unglück.
Wenn du einmal geschlagen wirst,
oder wenn dir die Ehre genommen wird,
oder wenn du verjagst würdest,
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sei nicht traurig,
sondern sei immer frohen Herzens.
Sei nur dann traurig,
wenn du gesündigt hast.
Doch selbst dann nur mit Maßen.
Dann gerätst du nicht in Verzweiflung
und zerstörst dich nicht.
IX
Über mein Leben als das eines Geistlichen habe ich
nachgedacht - über mein trauriges und unsicheres Leben.
Ich habe mir gesagt: Weh mir!
Was unternehme ich alles,
Wo lebe ich, und was ertrage ich.
Im Kloster gibt es Mönche und Arbeiter
und viele Untergeordnete,
dazu ältere und geschwätzige Mönche.
Alle sind sie vom Hochmut besessen
und gierig nach Geld.
Sie hassen ihre Freunde.
Ihr Geiz verbindet sie.
In ihrer Tücke sind sie verknöcherte Verdammte.
Sie selber tun nie Abscheuliches,
aber uns werfen sie kleine Fehler vor.
Sie haben zu jeder Zeit die verschiedenen Speisen genossen.
Uns aber wollen sie nicht einmal ein schlechtes Essen gönnen.
Wein und andere Getränke
haben sie immer getrunken.
Töricht vor Gier gaben sie uns verschmäht.
Sie haben von allem mehr als genug.
Uns hat man keinen einzigen Becher angeboten.
Oh wahnsinniger Geiz!
Oh Abneigung gegenüber den Nahestehenden!
Sie haben nicht darüber nachgedacht,
daß die göttlichen Güter allen zugedacht sind.
Sie haben vergessen die mönchischen Gelübde:
Wenn sie das nicht vergessen haben,
dann waren sie in allem unehrlich.
Ihre Bäuche haben sie vollgestopft.
Kleidung haben sie in Mengen angehäuft.
Den irdischen Menschen haben sie damit geprahlt.
Wanderer und Arme haben sie nicht beachtet,
sondern sogar beleidigt.
Oh Christus, unser Gott, unser Herr
und himmlischer Zar, gib uns die Geduld,
um ihre Kränkungen zu ertragen.
Befreie uns aus ihrer Gewalt.
Rette uns, Herr,
rette uns, du Menschenfreund!
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X
Sammelt Euch, Ihr christlichen Menschen!
Laßt uns preisen das Leiden der Märtyrer,
die Christus im Leiden nachfolgten
und viel Leid erduldeten.
Sie haben ihren Leib mißachtet
in dem einzigen Vertrauen auf Gott.
Vor Zaren und Fürsten haben sie Christus bezeugt
und ihre Seele dem echten Glauben geschenkt.
Jetzt, Freunde und Brüder,
leiden auch wir für den christlichen Glauben
und für das heilige Reich,
für unseren rechtgläubigen Zar
und für das christliche Volk.
Widerstehen wir unseren Verfolgern
und beschmutzen wir nicht unser Gesicht.
weichen wir nicht zurück,
sondern treten den Feinden
und Ungläubigen entgegen,
die unseren Glauben zerstören wollen.
XI
Ich bin in dieses elende Leben
gekommen als nackter Säugling.
Nackt werde ich auch aus dem Leben gehen.
Ohnmächtig - warum muß man Beschwerde führen,
Nackte - warum seid ihr grundlos besorgt,
wissend, daß unser Leben nicht ewig währt.
Wunderschön, wie wir gehen nach gleicher Art
aus der Dunkelheit ins Licht,
und aus dem Hellen ins Dunkel,
aus dem Mutterleib mit Schreien in die Welt
und aus der traurigen Welt ins Grab.
Der Anfang ist Weinen - das Ende ist Weinen.
Welche Notwendigkeit ist in unserem Gehen?
Traum, Schatten, Verlockung,
das ist die Schönheit des Alltags.
Oh Zauber des vielfältigen Lebens!
Wie Blumen, wie Staub und wie Schatten geht es vorüber.
XII
ohne Worte
(Texte aus: Schriftdenkmäler des alten Russlands, zweite Hälfte des 16. Jahrhundert)
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5. Anmerkungen zum Werk von Hans-Peter Jahn
Alfred Schnittkes "12 Bußverse", am 17. April 1988 kompositorisch beendet, beginnen mit
einer ausschließlich von Männerstimmen intonierten Selbstbezichtigungsorgie. Auf
liegenden Tönen im Abstand einer Quart, also zunächst die ersten acht Takte auf dem
Ton C, dann 22 Takte auf dem Ton G federn Achtelligaturen stimmengegenläufig
zueinander, bevor in den letzten sieben Takten die Organumstechnik zugunsten einer
dreistimmigen Spreizung aufgegeben wird. Als Einleitung ist dieser kompositorische Einfall
deshalb so interessant, weil er subtil die christlich-orthodoxe-russische Musiktradition
einfängt und dennoch eigenständig und in verwandelter Form in Klang setzt. Eine
Widmung im übrigen zur 1000-jährigen Christianisierung Russlands.
Mit tenoraler Gregorianik beginnt der zweite Bußvers. Was im ersten Bußvers die
Männerstimmen leisten, wird hier in den Frauenstimmen fortgesetzt. Liegende Klänge , auf
denen sich das Tenorsolo entfaltet. Gegen Mitte des Stücks stellt Schnittke dann erstmals
die Mittel vor, die im gesamten Zyklus zur Wirkung kommen sollen: Bordunartige Cluster,
bewegte tonale harmonische Felder und schließlich expressive, in polystilistischer Weise
sich homophon behauptende Choralmanifestationen, die in gewaltiger Achtstimmigkeit
sich über eine atonale Ausbreitung am Ende im Durdreiklang bündeln.
Der dritte Bußvers scheut den emotionalen Affekt. In kanonisch geführten Stimmen bleibt
zwar durch die dynamische Steigerung etwas übrig von effektvoller Textbehandlung, aber
die strukturelle Bauweise des Satzes reinigt jede Art von Vordergründigkeit. Der
Grundklang ist eher heller als das Vorausgegangene. Das liegt vor allem daran, daß
Schnittke die Spreizung des Tonraums - also zwischen dem hohen Sopran und dem tiefen
Baß - ausreizt.
Im vierten Bußvers zieht Alfred Schnittke - wie zuvor Orlando di Lasso - alle Register der
Vokalkunst... und er wandert in diesem 44 Takte langen Werk durch alle Stile der
Vokalkunst der letzten vierhundert Jahre. Der Beginn mit den Frauenstimmen erinnert an
falsch besetzte, zweistimmige Gregorianik, in welcher die Phrasenenden in ihrer
Quintqualität sehr schnell in barocke Zweistimmigkeit münden. Dann, wenn sich die
Männer hinzu gesellen, entwickelt sich über den Weg der erweiterten klassischfunktionellen Harmonik plötzlich Temperament in allen Stimmen, die in atonalen
Kleinsekundreibungen
Furore
machen,
um
sich
schließlich
dem
achttaktigen
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Schlusshöhepunkt zuzusingen. Hier läßt Schnittke die Bruckner'sche enharmonische
Mediantentechnik aufmarschieren, direkt und geradezu klassisch im Abschluß.
Was bei dem Esten Arvo Pärt, mit dem Schnittke ja nicht nur kollegial verbunden war, in
der entrückten Gleichförmigkeit der Stimmbehandlung geradezu zur Antikomplexität wird,
ist im fünften Bußvers ähnlich intendiert. Nur daß Schnittke sich ausschließlich in den
kontrapunktischen Mitteln und in den rhythmisch vereinfachten Strukturen bescheidet, im
harmonischen Satz jedoch wieder alle Register zieht, die für seine polystilistische
Schreibweise so typisch ist. Der Hörer dieser Musik fühlt sich vertraut in den mit Affekt
geladenen Harmonien, deren Zentren in g-moll, Es-dur, c-moll, e-moll, F-dur und a-moll
liegen. Also: vertraute harmonische Beziehungen, aber auch völlig überraschende
Wendungen, die aus ekklektizistischen Gefahren bewußt herausführen.
Die dramatischsten Texte der Bußverse sind die Nummern 6 und 7.
Sie nähern sich den liturgischen Teilen des Requiems, insbesondere dem "Recordare",
und schleudern in apostrophischem Reden und in einer Frageklimax alles an
Verzweiflung, an Befangenheit, an Angst und schließlich an entsetzlicher Bittforderung
heraus, was die christliche Tradition dem christlichen Bewußtsein eingeimpft hat.
Schnittke ist sich der Gefahr einer direkten Umsetzung des Textinhalts bewußt. Er
kollektiviert in beiden Teilen den Gesang, indem er vor allem die imponierenden Stellen
aufspaltet in größtmögliche Mehrstimmigkeit. Diese marschiert auf in deklamierender,
manchmal fast schon minimalistisch repetitiver Homophonie.
Damit entschärft er die dem Text innewohnende Dramatik und abstrahiert die Konvention
der musikalischen Emphase.
Alles klingt groß und dennoch distanziert, wie aus weiter Ferne.
"Jesus, rette mich! Befreie mich -folgend den Gebeten der Heiligen - von ewigen und
bitteren Qualen" lautet der Schluß des siebten Bußverses. Diese katholische
Forderungsästhetik an den Heilsbringer kappt Schnittke, indem er allenfalls den Ausruf
"Jesus"
emotionalisiert, dann aber sehr schnell die dynamischen Register reduziert und
in einer konsequenten neuartigen Stufenharmonik eine Engführung erreicht - eine Art
Einschnürung der Stimmen auf einen engen intervallischen Raum - , um schließlich in
einem atonalen Mischklang, der alle dominantischen Funktionen vertritt, in einen a-moll
Akkord zu münden.
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Text und musikalische Intelligenz klaffen hier weit auseinander. Fast scheint es, als habe
Schnittke sich dieses emphatischen Rigorismus des Textes kompositorisch widersetzt und
eine neue, emanzipiertere Selbstbetrachtung des Individuums in Töne gesetzt.
Glissandi der Stimmen, ohne die Tonhöhen zu schmieren. Das gelingt Schnittke im achten
Bußvers, wenn die Einzelstimmen sich - wie in einer Schiene eingekeilt - parallel von oben
nach unten oder von unten nach oben verschieben lassen müssen. Die Aura des Klagens
ist zwar durch die Kleinsekundschritte der aneinandergereihten Harmonien intendiert, sie
steht jedoch kraft ihrer kompromißlosen Radikalität plötzlich als ganz andere Qualität im
Raum und bedient nicht mehr die bekannten Affekte des Jammerns.
Der neunte Bußvers korrespondiert mit dem zweiten. Auch hier treffen sich alle
kompositorischen Konstanten, die für Schnittke in dieser Komposition wesentlich sind: die
in der Höhe aufgetürmten, immer um ein Tonzentrum kreisenden Frauenstimmen, der
solistische Tenor, der den Introitus intoniert und schließlich die Baßstimmen, die der
russischen Gesangstradition verpflichtet sind, indem sie auf gleicher Tonhöhe ein
Fundament setzen, das dem Stück die Dunkelheit und Schwere verleiht.
Daß Schnittke nun nicht bei dieser hier sehr einfach beschriebenen kompositorischen
Sturheit der Mittel und ihres gleichförmigen Einsatzes verweilt, zeigt dieser Satz. Die
kompositorischen Modi, die hier genannt sind, werden erweitert, miteinander in Beziehung
gesetzt und ausgetauscht. Durch die Übereinanderlagerung der Mittel wächst dieser wohl
längste Teil zum zentralen Baustein des gesamten Zyklus.
Obschon solcherart Vokalkunst im 20. Jahrhundert etwas Retrospektives besitzt und nicht
auf der Höhe des katastrophischen Zeitalters adäquate Ausdrucksmittel einsetzt, ist
Schnittke dennoch ein Kunstwerk gelungen, das den Brückenschlag von gegenwärtiger
Satzkunst zu derjenigen der Vergangenheit kompetent meistert.
Aus heutigem musikalischen Bewußtsein läßt sich auch Alfred Schnittkes Textbehandlung
kaum als eine dem Text gemäße beurteilen. Hier im zehnten Bußvers geht es erstmals um
eine Wir-Haltung eines christlichen Kollektivs, das den Anfeindungen im Glauben
widerstehen soll.
Die Preisung der Märtyrer ist eher in einer Moll-Dunkelheit gehalten, die Schnittke aus
Polytonalität schafft: zwei Durdreiklänge werden so ineinander verschränkt, daß ihre
Terzbeziehungen Mollfärbungen erzeugen.
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Der elfte und zwölfte Bußvers gehen attacca ineinander über.
Noch einmal faßt Schnittke alle vorausgegangenen Techniken in diesen beiden Stücken
zusammen. Allerdings bleibt, durch die Bordunpräsenz, die emphatische Ausweitung
verhindert. So wie auf dem Dominantton A die letzte Textvertonung des elften Bußverses
verebbt, so beginnt im zwölften Bußvers über dem endgültigen Tonikaton D eine zarte, in
allen Stimmen eigenständige Kantilene sich immer mehr in die tiefen Regionen zu
bewegen. Dort klingt der zwölfte Bußvers, textlos (bocca chiusa - also mit geschlossenem
Mund) in einem lang gehaltenen, auf der Stelle tretenden D-dur-Klang aus. Dieser Klang
wird in der Tenorstimme durch eine kleine Sekunde zum Grundton gefärbt und in dieser
Unabgeschlossenheit zu Ende gebracht.
Vielleicht noch ein paar allgemeine Sätze zu Alfred Schnittke.
Groß war er im eigentlichen Sinne nicht. Aber Größe hatte er ... nicht nur im
Menschlichen, sondern viel kompromißloser in seiner komponierenden Sturheit -, nämlich
alles, was zu Klang und reproduzierbar geworden war -, zu verwenden wie skrupellose
Kinder den Sand beim Bau von Sandburgen. Diese zerfallen, weil die Gezeiten
unbarmherzig an ihnen anschwappen und den Einsturz verlangen.
Alfred Schnittke und Polystilismus - das Zauberwort - meint eben diese GlobetrotterManie, mit welcher das Barockzeitalter, die Klassik und Reste der Romantik erwandert,
besetzt und in die avantgardistischen Zonen hineinverstrickt werden konnten.
Schnittkes Musik ist mehr als Collage und kompositorische Erinnerung an Bekanntes. Sie
ist aber auch weniger als das gelobte Land der Überraschungen und der Überwältigungen
durch Neues. Aus dem Blickwinkel des Westens kann die Musik Schnittkes Indizien
minimalistischen Surrens und ostinativen Hämmerns für sich vereinnahmen. Unter der
Sicht des rigiden und verabscheuungswürdigen Regimes der Sowjets sind die Klänge des
Halbrussen systemfeindlich und gefährlich für die alle geistige Freiheit versperrende
Gruftie-Riege der russischen Politik.
Was läßt sich - wenn man Alfred Schnittkes Musik geschätzt und mißbilligt hat - in
knappen Sätzen über sie sagen?
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Sie ist wenig geprägt von den Vorbildern Prokofieff und Schostakowitsch, weil sie sich stur
behauptet hat gegen das sowohl ausgeklügelte als auch wehleidige Pathos russischer
Melodienseligkeit. Und weil sie sich mittels repetitiver Muster verbarrikadiert gegen jeden
Vorwurf emphatischer Individualität. Dennoch hört derjenige, der kompetente Ohren hat,
inmitten des figurativen Gewusels jene Trostlosigkeit und Grimassen schneidende
Traurigkeit, also einen Ton, der sich über das rein Pekuniäre hinweg zu Geistigem
emporhebt. Dieses Geheimnis, trotz technischer Rasterungen in allen Kompositionen - bis
hin zu den erst spät geschriebenen Musiktheaterwerken - , trotz aller Schablonen einen
wehmütigen, ganz tief die unbekannten Seelenzonen anrührenden Ton gefunden zu
haben, hat Alfred Schnittke mitgenommen ins Totenreich, in das er sich nach neuerlichem
Schlaganfall zurückgezogen, ohne einer ihm nachfolgenden Schülerschaft Gelehriges zu
hinterlassen. Einer der Großen im Humanen, viel größer als groß, 1989 gestorben.
6. Kommentierte Internetquellen
http://www.schnittke.de
Deutschsprachige Seite mit einer Kurzbiographie des Komponisten sowie
eigenen Anmerkungen zu seinen Werken, Ausschnitten aus Briefen und mp3Klangbeispielen.
http://www.schnittke-gesellschaft.de/
Seite
zu
Leben
und
Werk
des
Komponisten.
Neben
der
Vorbereitung
und
wissenschaftlichen Unterstützung verschiedener Schriften will die Deutsche SchnittkeGesellschaft eine Online-Plattform („SchnittkePedia“) und einen Online-Katalog einrichten.
http://www.schnittke-akademie.de/
Hamburger Akademie (privates Konservatorium), die sich u.a.
Meisterkursen,
Wettbewerben und Konzerten widmet.
http://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Schnittke
Einblick in das Leben des Komponisten, unvollständiges Werkverzeichnis.
http://www.schirmer.com/default.aspx?TabId=2419&State_2872=2&ComposerId
_2872=1389
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Englischsprachige Kurzbiographie des Verlages Schirmer Inc. mit Hörbeispielen
http://www.sikorski.de/334/de/schnittke_alfred.html
Auf der Seite des Verlages Sikorski werden PDF-Dateien zu Biographie,
Werkverzeichnis und Diskographie angeboten.
http://www.universaledition.com/Alfred-Schnittke/komponisten-undwerke/komponist/651/biographie
Tabellarischer Lebenslauf und kleine Hörbeispiele aus dem Werk Schnittkes.
http://www.russisches-musikarchiv.de/werkverzeichnisse/schnittke-werkverzeichnis.htm
Vollständiges Werkverzeichnis.
http://www.e-filmmusik.de/filmmusik/alfred-schnittke.html
Portrait Schnittkes mit Schwerpunkt auf seiner Filmmusik
Videoclips auf Youtube
Neben vielen Ausschnitten aus Werken Schnittkes finden sich auch die beiden u.g. Links.
Ein kurzer Überblick zeigt dass sich verschiedene Werke des Komponisten auch zur
medialen „Rekomposition“, z.B. im Sinne einer Video-Installation eignen können.
Alfred Schnittke - Between two worlds
Trailer mit verschiedenen Werken Schnittkes (Gogol Suite, Historia von D. Johann
Fausten, Concerto for Choir, The Yellow Sound, Piano Concerto, Piano Quintet,
Symphony No 3, Cello Concerto No 2, String Trio). Festival des London Philharmonic
Orchestra.
http://www.youtube.com/watch?v=EN-E_e8NVrE
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The unreal world of Alfred Schnittke
Siebenteilige Dokumentation mit Ausschnitten aus dem Werk Schnittkes. Englisch und
russisch mit französischen Untertiteln.
http://www.youtube.com/watch?v=ahNSKcnVfE4
[ohne Anspruch auf Vollständigkeit, zuletzt eingesehen: 07.02.2015]
7. Anregungen für den Musikunterricht
Die zwölf Chorstücke von Schnittke werden in russischer Sprache gesungen. Deswegen
biete sich als erster Zugang der kompositorische Affekt des Werkes an.
Malen zur Musik - die „5-Sekunden-Methode“
Angelehnt an ein Verfahren aus der Bildenden Kunst (ein Werk wird den
Schülerinnen und Schülern nur für kurze Zeit - einige Sekunden - gezeigt, um
danach von ihnen „re-konstruiert“ bzw. nachgezeichnet zu werden) wird ein kurzer
Ausschnitt aus einem Werk vorgespielt. Der erste Eindruck wird zu Papier gebracht.
Als Präsentation kann ein „Ausstellungsrundgang“ erfolgen, währenddessen die
Musik dann ganz abläuft.
Danach kann der Text in den Mittelpunkt gestellt werden. Die drei Schlagworte „Arroganz
– Heuchelei – Geldgier“ (vgl. Booklet zur CD-Produktion des Werkes vom SWRVokalensemble) durchziehen das Werk und können Ansatzpunkt für eine inhaltliche
Auseinandersetzung sein.
Neue Textvertonungen zu Schnittke
Die Texte der einzelnen Verse bieten die Möglichkeit, aphoristisch kurz vokal oder
mit vorhandenem Instrumentarium neu vertont zu werden, um sie danach mit dem
Werk Schnittkes zu vergleichen.
Höranalyse: Überschriften finden
Die einzelnen Verse können (ohne vorherige Vorlage der Textübersetzungen) mit
Überschriften versehen werden.
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„Ohne Worte“ - der Vers 12
Der Intention des Werks entsprechend sollte zunächst der Frage nachgegangen
werden, warum dem zwölften Vers wohl kein Text unterlegt wurde. Hier bietet sich
evtl. auch biographische Forschung als Herangehensweise an.
Darüber hinaus können geeignete Texte gesucht werden, die der Intention des
Verses entsprechen können.
8. Quellen / Literaturverzeichnis
Audioaufnahme:
Alfred Schnittke: Zwölf Bußverse & Stimmen der Natur
SWR Vokalensemble Stuttgart, Marcus Creed (Leitung)
SWRmusic/hänsslerCLASSIC
Bestellnummer: 093.281.000
Notenausgaben:
Alfred Schnittke: Zwölf Bussverse für gemischten Chor. Partitur, Verlag M.P. Belaieff,
Frankfurt 1995.
Literatur:
Burde, Tamara: Zum Leben und Schaffen des Komponisten Alfred Schnittke. Kludenbach
1993.
Finscher, Ludwig (Hg.) Musik in Geschichte und Gegenwart: Schnittke, Alfred Spalte
1543-1539. Stuttgart 1999-2008.
Gebhard, Hans (Hg.): Harenberg Chormusikführer. Dortmund 2001 (2.Auflage).
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