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Beitrag 19
For. Snow Landsc. Res. 75, 1/2: 267–284 (2000)
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Zur Gefährdung seltener Baumarten in der Schweiz:
Grundsätzliche Überlegungen, Situationsanalyse und
zwei Fallbeispiele
Peter Rotach
Professur Waldbau, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, Rämistrasse 101,
CH-8092 Zürich
[email protected]
Abstract
Endangerment of rare tree species in Switzerland: basic considerations, current situation and two
examples
General considerations regarding the relationship between rarity and endangerment of tree species
are presented and some important requirements for a sound appreciation of the actual status of
threat are outlined. In spite of the rather scarce or totally absent knowledge of most of our rare tree
species this article tries to classify the currently rare tree species in Switzerland according to the
outlined requirements and estimate their current status of endangerment. Possible strategies for
conservation measures are proposed. Finally, results of a first genetic survey using isozymes are
presented for Sorbus torminalis and Sorbus domestica. The presented results show an astonishingly
high genetic diversity for both species which is comparable to abundant species such as beech or
oak. Vegetative propagation seems to be an important life history trait of both species. It is further
demonstrated that a phenotypic selection of 80 to 90 plus-trees for a seed orchard may be an
excellent tool to conserve a regional gene pool and to produce offsprings with a high genetic
diversity.
Keywords: rarity, endangerment, conservation, genetic diversity, ex situ conservation, Sorbus spp.
Zur Gefährdung seltener Baumarten in der Schweiz: Grundsätzliche Überlegungen, Situationsanalyse und zwei Fallbeispiele
Grundsätzliche Überlegungen zu Seltenheit und Gefährdung von Baumarten sowie einige wichtige
Voraussetzungen für die Beurteilung der Gefährdungsdisposition und Gefährdung solcher Arten
werden dargelegt und die seltenen Baumarten in der Schweiz diesbezüglich charakterisiert. Gestützt auf diese Ansprache werden mögliche sinnvolle Strategien für die Erhaltung der gefährdeten
Arten skizziert. Es werden zudem Ergebnisse von zwei ersten genetischen Inventuren von Elsbeere
(Sorbus torminalis) und Speierling (Sorbus domestica) mitgeteilt. Die Ergebnisse zeigen, dass beide
Baumarten trotz ihrer Seltenheit und Zerstreutheit über eine erstaunlich hohe genetische Variation verfügen, die durchaus mit bestandesbildenden Baumarten vergleichbar ist. Die vegetative
Vermehrung scheint für beide Baumarten eine wichtige Rolle zu spielen. Sie muss möglicherweise
als wichtiger Bestandteil des genetischen Systems dieser Arten gesehen werden, da sie zur Erhaltung seltener Allele und geeigneter Multilocus-Genotypen in kleinen Demen wesentlich beitragen
dürfte. Die Untersuchungen belegen auch, dass mit der Auswahl von 80 bis 90 Plusbäumen für die
Anlage einer Erhaltungs- und Produktionssamenplantage ein sehr wirksames Mittel zur Verfügung
steht, um einerseits den Genpool des gesamten Untersuchungsgebietes zu erhalten und um
andererseits genetisch repäsentatives, vielfältiges, phänotypisch leicht verbessertes Nachzuchtmaterial bereitzustellen.
Keywords: Seltene Arten, Gefährdung, Generhaltung, genetische Vielfalt, ex situ Massnahmen,
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Seltenheit und Gefährdung – einige grundsätzliche
Überlegungen
Seltene Arten gelten als besonders empfindlich und schutzbedürftig, verbreitete als weniger
gefährdet. Diese vereinfachte Annahme liegt beispielsweise den im Naturschutz weit verbreiteten, heute oft kritisierten «Roten Listen» zugrunde (SCOTT et al. 1987; MUNTON 1987).
Problematisch an dieser Verallgemeinerung ist zunächst der Umstand, dass es verschiedene
Ausprägungen von Seltenheit gibt und dass der Begriff Seltenheit deshalb nur schwierig zu
definieren ist. Die Gefährdung einer Art hängt überdies keineswegs nur von deren Häufigkeit
ab, sondern sie wird massgeblich von anderen Faktoren mitbestimmt wie etwa von populations- und vermehrungsbiologischen, von populationsgenetischen sowie demographischen
Faktoren (MUNTON 1987). Seltenheit beschreibt die Demographie einer Art zu einem bestimmten Zeitpunkt. Demographische Veränderungen und die Geschwindigkeit, mit der sie
eintreten, können aber für die Gefährdung einer Art mindestens so bedeutsam sein wie der
aktuelle Zustand. Ein bekanntes Beispiel dafür ist etwa die amerikanische Rotkiefer (Pinus
resinosa Ait.), die trotz ausgedehnter Bestände und grossem Verbreitungsgebiet kaum über
genetische und nur über sehr geringe phänotypische Variation verfügt. Demographische
Populationsschwankungen (Flaschenhalseffekt) in ihrer Vergangenheit werden als vermeintliche Ursache für diese genetische Verarmung angesehen. Schliesslich kann Gefährdung auf
unterschiedlichen Ebenen (Population, Metapopulation, Region, Gesamtverbreitung) betrachtet werden und sie kann verschiedenste Ursachen haben, die sich auf den einzelnen
Ebenen sehr unterschiedlich auswirken können und die in Bezug auf mögliche Erhaltungsstrategien entsprechend unterschiedlich zu bewerten sind.
Der Begriff «Seltenheit» wird zumeist verwendet, ohne dass er klar definiert wird. In der
Regel wird damit eine relative, und nicht eine absolute Häufigkeit ausgedrückt. Sieht man sich
in der Literatur um, so stösst man auf ganz unterschiedliche Bedeutungen des Begriffes
Seltenheit (STEBBINS 1978; TERBORGH und WINTER 1980; MAIN 1984; BAWA und ASHTON 1991;
RABINOWITZ 1981; ARITA et al. 1990; MUNTON 1987). Verschiedene Kriterien wie Häufigkeit,
Dichte, Anzahl Populationen, Populationsgrösse, Zerstreutheit, Populationsstruktur, Habitatsspezifität oder Grösse des Verbreitungsareals werden als Massstab für die Beurteilung
von Seltenheit verwendet. Eine Art kann beispielsweise als selten bezeichnet werden, wenn
sie nur ein kleines Verbreitungsareal aufweist. Innerhalb ihres Areals kann eine Art lokal
häufig und dazwischen selten oder aber überall selten sein. Auch Arten, die nur in einem oder
wenigen speziellen Lebensräumen vorkommen, oder solche, die lediglich in kleinen Populationen oder in sehr geringer Dichte auftreten, können als selten betrachtet werden. Es ist
offensichtlich, dass die Gefährdung einer seltenen Art stark von der «Form der Seltenheit»
abhängt, da die verschiedenen Prozesse, die zu einer Gefährdung führen können, je nach
Häufigkeit, Dichte, Populationsstruktur oder Populationsgrösse stark unterschiedlich verlaufen können. Sowohl in Bezug auf genetische Prozesse wie auch hinsichtlich möglicher
gefährdender Ereignisse (Stochastizitäten) sind verschiedene Formen von Seltenheit unterschiedlich zu bewerten. Für die Beurteilung möglicher Gefährdungen und für die Einleitung
von Erhaltungsmassnahmen ist es daher wesentlich, dass die verschiedenen Formen der
Seltenheit klar definiert und auseinander gehalten werden.
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Aus dem bisher Gesagten folgt, dass von der Häufigkeit einer Art nicht zwingend auf ihre
Gefährdung geschlossen werden darf. Seltenheit und Gefährdung sind nicht gleichbedeutend,
sondern sie bilden vielmehr zwei sich überschneidende Bereiche (Abb. 1), deren Schnittmenge sich je nach Art und Situation unterscheiden kann. Betrachten wir vorerst nur einmal die
genetische Vielfalt einer Art, die für ihre Anpassung und damit für ihr Überleben grundlegend ist. Ausmass und Verteilung der genetischen Variation innerhalb und zwischen Populationen hängt unter anderem davon ab, ob eine Art immer selten gewesen ist oder ob sie erst
kürzlich durch menschliche Einflüsse selten geworden ist. Gestützt auf Ergebnisse genetischer Untersuchungen scheinen Arten, die natürlicherweise in geringen Dichten bzw. in
kleinen Populationen vorkommen, über spezielle genetische Systeme zu verfügen, welche die
Erhaltung der genetischen Variation sicherstellen, beispielsweise durch Tolerierung gewisser
Inzuchterscheinungen, durch Ausbildung von Selbststerilität, durch Mechanismen, welche
Genfluss über grössere Distanzen ermöglichen oder durch Metapopulationsstrukturen, in
denen die genetische Vielfalt in einer grossen, weiträumigen Metapopulation erhalten wird.
Nicht nur krautige Pflanzen, sondern auch Bäume können solche, an geringe Dichten
angepasste genetische Systeme aufweisen. Neuere Untersuchungen zeigen, dass viele der
bisher untersuchten tropischen Baumarten mit Dichten von weniger als einem Individuum
pro Hektar, für die als Folge von Drift, Inzucht oder Verwandtenpaarung eine stark verringerte genetische Variation erwartet worden ist (FEDEROV 1966; VAN STEENIES 1969), über eine
erstaunlich hohe genetische Vielfalt und eine geringe genetische Differenzierung verfügen
(HAMRICK und LOVELESS 1986; BAWA 1992a; LOVELESS 1992; EGUIARTE et al. 1992; CHASE et al.
1996). Obwohl diese Arten stark zerstreut sind d.h. als Einzelindividuen in sehr geringer
Dichte auftreten, unterscheiden sie sich in Bezug auf ihre genetische Vielfalt nicht wesentlich
von bestandesbildenden Arten. Sie sind ganz offensichtlich an eine geringe natürliche Dichte
angepasst und haben Mechanismen entwickelt, die eine Paarung über weite Distanzen
ermöglichen bzw. einen ausreichenden Genfluss via Pollen und Samen über grosse Gebiete
sicherstellen (Bestäubung durch Vögel, Fledermäuse und stark flugfähige Insekten; Verbreitung der Samen durch Säugetiere und Vögel) (HAMRICK und MURAWSKI 1990; BAWA 1992b;
CHASE et al. 1996). Im Gegensatz dazu dürften Arten, die ursprünglich häufig waren und erst
durch den menschlichen Einfluss selten geworden sind (beispielsweise durch Zerstörung ihrer
Habitate oder durch zunehmende starke Fragmentierung der Populationen), viel anfälliger
sein für Verluste an genetischer Variation, die sich in kleinen Populationen und bei geringer
Dichte in diesem Fall zwangsläufig einstellen, weil das Paarungssystem nicht für solche
Verhältnisse konzipiert ist. Arten können also durchaus selten sein, ohne dass sie vom
Aussterben bedroht sind. Auch das umgekehrte ist möglich: Arten die heute noch nicht sehr
selten sind, können bereits potentiell gefährdet sein.
Gefährdung
?
Seltenheit
Abb. 1. Darstellung des Zusammenhangs zwischen Seltenheit und Gefährdung.
Fig. 1. Illustrated relationship between rarity and endangerment.
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Seltenheit und eine damit zusammenhängende Gefährdung lässt sich also nur richtig
beurteilen, wenn demographische, vermehrungsbiologische, ökologische und populationsgenetische Kenntnisse vorliegen und wenn die verschiedenen Formen der Seltenheit und die
Ursachen der Seltenheit bzw. die Prozesse, die zur momentanen Seltenheit geführt haben, bei
der Beurteilung berücksichtigt werden. Für fast alle unserer seltenen Baumarten fehlen
solche Grundlagen leider noch weitgehend. Bereits die Kenntnisse über die aktuelle Verbreitung der seltenen Baumarten in der Schweiz sind ungenügend. Über dynamische Veränderung der Vorkommen und Strukturen unserer seltenen Arten kann im besten Fall spekuliert
werden und vermehrungsbiologische Kenntnisse fehlen fast ganz. Im Moment ist es im
Grunde genommen nicht möglich, zuverlässige Angaben zur Gefährdung unserer seltenen
Baumarten zu machen. Trotz dieser grundsätzlichen Schwierigkeiten wird im folgenden
versucht, wenigstens eine grobe, vorläufige Einschätzung der heutigen Situation zu geben,
soweit es aufgrund des momentanen Wissensstandes überhaupt möglich ist.
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Formen der Seltenheit und Gefährdungsdisposition
Zumeist werden Arten als selten bezeichnet, die geringe Häufigkeit und/oder kleine Verbreitungsgebiete aufweisen. Mit dieser Definition ist aber lediglich gesagt, dass eine Art durch
biologische oder physische Faktoren in ihrer Häufigkeit oder in ihrem Areal weit stärker
begrenzt ist als die Mehrheit anderer Arten (REVEAL 1981). Über die Grenze, wo Häufigkeit
endet und Seltenheit beginnt, finden sich in der Literatur aber sehr unterschiedliche Auffassungen. Seltenheit kann zudem nicht allein aufgrund der absoluten Häufigkeit einer Art
definiert werden; zusätzliche Kriterien sind notwendig. Wie bereits erwähnt, kann eine Art bei
gleicher Häufigkeit ganz unterschiedlich im Raum verteilt sein, so dass verschiedene Formen
von Seltenheit existieren. Die verschiedenen Formen von Seltenheit weisen nicht nur eine
unterschiedliche Gefährdungsdisposition auf, sondern sie verlangen auch nach spezifischen
Erhaltungsstrategien. Die heute gebräuchlichste Klassierung der verschiedenen Formen von
Seltenheit stammt von RABINOWITZ (1981). Bei diesem Ansatz wird die Form der Seltenheit
anhand der drei Kriterien Verbreitungsareal, lokale Populationsgrösse und Habitatsspezifität
charakterisiert. Aus den 8 möglichen Kombinationen der drei Kriterien mit jeweils zwei
Zuständen ergeben sich 7 Formen von Seltenheit (die achte Form entspricht häufigem
Vorkommen) (Tab. 1).
Die angegebenen Beispiele beziehen sich auf die Situation in der Schweiz. Baumarten mit
grossem Verbreitungsgebiet sind also solche, die überall in der Schweiz vorkommen, jene mit
kleinem Areal sind Arten, die nur lückenhaft d.h. nur in bestimmten Gebieten auftreten. Es
handelt sich bei dieser Klassierung lediglich um eine grobe Einschätzung, die sich auf die
Ergebnisse des schweizerischen Landesforstinventares stützen (BRÄNDLI 1996), dessen demographische Daten für seltene Arten aufgrund der Stichprobendichte allerdings mit relativ
grosser Unsicherheit behaftet sind. Untersuchungen zur Demographie der seltenen Arten in
der Schweiz (Vorkommen, Verbreitungsschwerpunkte und -lücken, Zerstreutheitsgrad, Populationsgrössen), die im Moment durchgeführt werden, werden künftig eine genauere
Klassierung ermöglichen. Die Habitatsspezifität der Arten ist aus der Vegetationskunde
relativ gut bekannt; sie wurde aufgrund des natürlichen Vorkommens der Arten in den
verschiedenen Phytozönosetypen (ELLENBERG und KLÖTZLI 1972) eingeschätzt.
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Aufgrund dieser groben Klassierung ist nur der schneeballblättrige Ahorn ausgesprochen
selten, da er alle drei Kriterien von Seltenheit aufweist. Die übrigen Arten weisen einzelne
Charakteristika von Seltenheit auf; mit zwei erfüllten Kriterien müssen Weiss- und Schwarzpappel, Wildapfel und Wildbirne, Flatter- und Feldulme, Speierling, Elsbeere, Zerreiche,
Hopfenbuche und Flaumeiche als selten bezeichnet werden, wogegen Kirsche, Feldahorn,
Spitzahorn, Mehlbeere, Bergulme, Winter- und Sommerlinde, Moorbirke, Eibe, Bergföhre
und Schwarzerle mit einem Kriterium als relativ selten zu betrachten sind.
Tab. 1. Formen der Seltenheit nach RABINOWITZ (1981).
Table 1. Forms of rarity as proposed by RABINOWITZ (1981).
Form
Verbreitungsareal
Habitatsspezifität
Lokale Populationsgrösse
Beispiele für die Schweiz
1
klein
gross
klein
Schneeballblättriger
Ahorn
2
klein
gross
gross
Zerreiche, Hopfenbuche
Flaumeiche
3
klein
klein
klein
Speierling, Elsbeere
Wildapfel/Wildbirne,
4
klein
klein
gross
–
5
gross
gross
klein
Weiss-/Schwarzpappel
Flatterulme, Feldulme
6
gross
gross
gross
Moorbirke, Bergföhre
Eibe, Schwarzerle
7
gross
klein
klein
Kirsche
Feldahorn, Spitzahorn
Mehlbeere, Bergulme
Winter-/Sommerlinde
8
gross
klein
gross
Fichte, Buche, Tanne
Bereits diese einfache Klassifikation nach unterschiedlichen Ausprägungen von Seltenheit erlaubt eine etwas präzisere Ansprache einer möglichen Gefährdungsdisposition und
eine erste grobe Einschätzung von zweckmässigen Erhaltungsstrategien. Eine hohe Gefährdungsdisposition haben Arten mit kleinem Verbreitungsgebiet und speziellen Lebensraumansprüchen, die überdies nur in kleinen Populationen (Form 1) vorkommen wie der schneeballblättrige Ahorn in der Schweiz. Für ihre Erhaltung sind diese Arten auf den Schutz ihrer
Habitate zwingend angewiesen, damit die wenigen, zudem empfindlichen Populationen
erhalten werden können. Dieselbe Strategie ist grundsätzlich auch für zwei andere Ausprägungen von Seltenheit anzuwenden, wenngleich die Gefährdungsdisposition in beiden Fällen
etwas geringer sein dürfte. Arten mit kleinem Verbreitungsgebiet und enger Biotopbindung,
die aber noch in grösseren Populationen vorkommen (Form 2), sind einer genetischen
Erosion durch genetische Drift zwar wahrscheinlich weniger stark ausgesetzt, sie sind jedoch
ebenfalls zwingend auf die Erhaltung der wenigen Sonderstandorte angewiesen, auf denen sie
noch vorkommen (Zerreiche, Flaumeiche, Hopfenbuche). Eine erhöhte Gefährdungsdisposition weisen auch Arten auf, die zwar in der ganzen Schweiz verbreitet sind, die hingegen nur
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in geringer Dichte und nur auf speziellen Standorten auftreten (Form 5) wie etwa die Weissund Schwarzpappel oder die Flatter- und Feldulme. Die Gefährdungsdisposition dieser Arten
ist insbesondere deshalb als hoch zu beurteilen, weil die Habitate dieser Arten (Auenstandorte) in diesem Jahrhundert rasch und stark dezimiert oder degradiert worden sind, was mit
Sicherheit zu einer starken Fragmentierung der einst grösseren, zusammenhängenden Gebiete geführt hat. Auswirkungen auf die genetischen Strukturen sind unter solchen Umständen
als sehr wahrscheinlich anzusehen. Die Strategie der Erhaltung der wenigen noch vorhandenen Biotope dürfte in diesen Fällen alleine nicht ausreichen, um den fortschreitenden Verlust
von genetischer Vielfalt aufzuhalten. Dies gilt in besonderem Masse für die Schwarzpappel,
deren Genpool zusätzlich durch Hybridisierung mit Kulturpappeln beeinflusst wird. Für
Arten mit kleinem Areal und geringer Biotopbindung (Form 3) wie Speierling, Elsbeere,
Wildapfel und Wildbirne kann neben der Erhaltung der vorhandenen Vorkommen die
Förderung auf anderen, geeignet erscheinenden Standorten eine sinnvolle Strategie sein, da
diese Arten sich dort gut entwickeln, falls ihnen durch waldbauliche Massnahmen ausreichende Lebensbedingungen geschaffen werden (Pflege, lichte Waldstrukturen wie mittelwaldähnliche Bestände oder Waldränder usw.). Arten mit grossem Verbreitungsgebiet und weiter
Standortsamplitude scheinen für eine Gefährdung weniger disponiert, obwohl sie zwar
lediglich einzeln beigemischt, aber mehr oder weniger flächendeckend und vernetzt vorkommen (Kirsche, Feldahorn, Spitzahorn, Mehlbeere, Bergulme, Linden).
Die verschiedenen Formen von Seltenheit geben also erste Hinweise auf eine mögliche,
aktuelle Gefährdungsdisposition. Für die Einschätzung der tatsächlichen Gefährdung sind
jedoch, wie bereits erwähnt, weitere demographische und populationsbiologische Kriterien
notwendig. In Bezug auf die Demographie ist in erster Linie die Entwicklung und die
wahrscheinliche Ursache der heute zu beobachtenden Form der Seltenheit bedeutsam.
3
Demographie und Gefährdung
Weil die Verteilung der genetischen Vielfalt innerhalb und zwischen Populationen von
seltenen Arten mit einiger Wahrscheinlichkeit davon abhängt, ob eine Art schon immer selten
war oder ob sie erst durch menschlichen Einfluss selten geworden ist, ist es notwendig, die
Entstehung bzw. die möglichen Ursachen der heutigen «Seltenheit» zu kennen. Dies ist
allerdings schwierig, weil dafür das ursprüngliche bzw. natürliche Vorkommen der Arten
bekannt sein muss. Über die ursprüngliche Populationsstruktur und die natürliche Häufigkeit
der Arten wissen wir leider nicht Bescheid. Über die Häufigkeit der Arten unter natürlichen
Bedingungen lassen sich lediglich grobe Vermutungen anstellen, beispielsweise aufgrund
ihrer ökologischen Ansprüche und Eigenschaften, welche ihre Vorkommenshäufigkeit unter
natürlichen Verhältnissen bedingen (Standortsamplitude, Konkurrenzkraft, Ausbreitungskraft usw.).
Arten, die von Natur aus selten sind, zeichnen sich im allgemeinen durch folgende
Eigenschaften aus:
– Die Konkurrenzkraft der Art ist gering.
– Die Ausbreitungskraft der Art ist klein.
– Die Art kann lediglich ein schmales Spektrum der natürlichen Ressourcen nutzen; sie lebt
in Nischen oder auf Standorten, die natürlicherweise selten sind bzw. sie wird dorthin
verdrängt.
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Die meisten der heute als selten geltenden Baumarten haben in der Tat eine sehr geringe
Konkurrenzkraft. Sie können deshalb die vorhandenen Ressourcen nur vorübergehend
(Pionierbaumarten) oder aber nur teilweise nutzen (Spezialisten). Pioniere verfügen über
eine rasche und grosse Ausbreitungskraft und sind in Bezug auf den Standort wenig anspruchsvoll. Pioniere sind dafür auf dynamische Ereignisse in der Sukzession angewiesen,
welche die Konkurrenz anderer Arten vorübergehend eliminieren (Waldbrand, Wind usw.).
Die geregelte Forstwirtschaft lässt diese natürliche Dynamik heute kaum mehr zu, so dass
Pionierbaumarten wie Weiden und Birke im heutigen Waldaufbau selten geworden sind. Eine
andere Strategie haben die Standortspezialisten entwickelt, die auf Standorte ausweichen, auf
denen die Konkurrenz weniger stark ist und auf denen sie sich trotz ihrer Konkurrenzschwäche halten können. Ihr natürliches Vorkommen hängt somit von der Häufigkeit solcher
Nischenstandorte ab, die sie zu besiedeln vermögen. Nischen finden sich entweder im nasssauren bzw. im periodisch überschwemmten oder aber im trocken-warmen, basischen Bereich. Die typischen Auenwaldbaumarten Weisspappel, Schwarzpappel, Bruchweide sowie
Feld- und Flatterulme dürften im Naturwald in den einst ausgedehnten Überschwemmungsbereichen der Flüsse (Weich- und Hartholzaue) sowie im Uferbereich von Seen lokal relativ
häufig, teilweise gar in grösserer Dichte vorgekommen sein. Auf Hoch- und Niederungsmooren ebenfalls bestandesbildend und in der Naturlandschaft relativ häufig dürften zudem die
Bergföhre und die Moorbirke gewesen sein. Alle diese nassen Sonderstandorte sind durch
den Menschen in diesem Jahrhundert stark dezimiert worden, weshalb für die Nischenbesiedler im nassen Bereich eine starke und rasche demographische Veränderung anzunehmen ist.
Spezialisten im trocken-warmen Bereich sind Zerreiche, Flaumeiche, Hopfenbuche,
Blumenesche, Speierling, Elsbeere, Wildapfel und Wildbirne. Auf Extremstandorten kommen Zerreiche, Hopfenbuche und Flaumeiche natürlicherweise bestandesbildend vor. Solche
Extremstandorte sind von Natur aus in der Schweiz jedoch selten und nur von sehr geringer
Ausdehnung. Die übrigen Arten treten in ihren Nischenstandorten natürlicherweise nur
einzeln beigemischt, nie aber dominierend auf. Alle Standortspezialisten im trockenen Bereich dürften folglich auch im Naturwald nie sehr häufig gewesen sein. Dennoch sind gewisse
demographische Veränderungen als Folge der Waldbewirtschaftung auch bei diesen Arten
sehr wahrscheinlich.
Über die demographische Entwicklung von heute seltenen Arten gibt es keine verlässlichen Informationen. Eine grobe Einschätzung der Entwicklung ist immerhin möglich, indem
die heutigen Vorkommen, publiziert in der Flora Helvetica (LAUBER und WAGNER 1996) mit
früheren, in der Literatur beschriebenen oder in Herbarien vorhandenen Fundbelegen
(WELTEN und SUTTER 1982) verglichen werden. Der Anteil der Kartierflächen, in denen die
Arten heute nicht mehr vorkommen, früher aber aufgrund von Literatur- oder Herbarbelegen existiert haben müssen, vermittelt einen Eindruck über das in diesem Jahrhundert
vermutlich verlorene Verbreitungsareal (Tab. 2).
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Tab. 2. Geschätzter Rückgang des Areals aufgrund eines Vergleichs aktueller Vorkommen mit früheren
Vorkommen anhand von Literatur und Herbarbelegen (nach LAUBER und WAGNER 1996).
Table 2. Estimated decrease in species area based on a comparison between the current and the former
distributions as indicated by literature sources and botanical samples (according to LAUBER und WAGNER
1996).
Baumart
% Kartierflächen mit
heutigen Vorkommen
% Kartierflächen mit
früherem, heute
fehlendem Vorkommen
Rückgang in % der
heutigen Vorkommen
Zerreiche
Speierling
Blumenesche
Elsbeere
Bergföhre
Flatterulme
Schneeballblättriger Ahorn
Moorbirke
Feldulme
Bruchweide
Eibe
Hopfenbuche
Weisspappel
Flaumeiche
Schwarzerle
Winterlinde
Schwarzpappel
Feldahorn
Mehlbeere
Bergulme
Spitzahorn
Walnuss
Kirsche
Wildbirne
Vogelbeere
Sommerlinde
Wildapfel
2
2
1,5
10
32
2
8
31
16
20
37
3
28
15
40
40
36
48
63
53
46
47
57
47
77
52
keine Angaben
2
1
0,5
2
6
0,3
1
4
2
2
3
0,2
2
1
2
2
1
1
1
1
0
0
0
0
0
0
keine Angaben
100
50
33
20
19
15
13
13
13
10
8
7
7
7
5
5
3
2
2
2
0
0
0
0
0
0
keine Angaben
Standortspezialisten, die auf nassen, überfluteten Standorten oder Mooren vorkommen,
sind – wie bereits vermutet – durch umfangreiche Gewässerkorrekturen, Grundwasserabsenkungen und Trockenlegungen in den vergangenen 150 Jahren in ihrem Bestand deutlich
zurückgegangen. Wie die Zahlen belegen, trifft dies vor allem auf die Auenwaldarten
Bruchweide, Weisspappel, Flatter- und Feldulme zu. Eine Ausnahme bildet lediglich die
Schwarzpappel. Dass die Schwarzpappel bei dieser Betrachtung kaum Arealverluste zeigt,
hat wahrscheinlich damit zu tun, dass die autochthone Populus nigra taxonomisch nur sehr
schwer von Schwarzpappelhybriden unterschieden werden kann. Bei vielen der heute kartierten Vorkommen handelt es sich mit Sicherheit nicht um autochthone Schwarzpappeln,
sondern um Pappel-Hybriden, die in diesem Jahrhundert im grossen Stil künstlich angebaut
worden sind. Der Bestand der artreinen P. nigra in der Schweiz wird auf lediglich noch 1500
bis 5000 Exemplare geschätzt (BANG 1998). Markante Rückgänge der reinen, autochthonen
Schwarzpappel werden für ganz Europa berichtet (EUFORGEN 1994–1996). Einen markanten Rückgang weisen auch Moorbirke und Bergföhre auf; dieser Rückgang dürfte auf die
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starke Abnahme von Hoch- und Niederungsmoore zurückzuführen sein. Aufgrund einer
offensichtlich ausgeprägten, menschlich bedingten demographischen Veränderung in diesem
Jahrhundert muss für alle diese Standortspezialisten im nassen Bereich eine relativ hohe
Gefährdung angenommen werden. Grosse Flächenverluste verbunden mit einer starken
Fragmentierung von ursprünglich grösseren, zusammenhängenden Beständen mit einer zunehmenden Isolierung erhöhen nicht nur die Gefährdung für zufällige Verluste z.B. durch
natürliche Populationsschwankungen oder Schwankungen der Umwelt (Klima, Parasiten,
Krankheiten, Konkurrenzbedingungen usw.), sondern sie dürften auch negative Auswirkungen auf die genetischen Strukturen dieser Arten haben.
In ihren natürlichen Vorkommen kaum oder weniger stark beeinflusst sind offenbar jene
Arten, die auf den ihnen zusagenden Standorten über eine relativ gute Konkurrenzkraft
verfügen (Spitzahorn, Schwarzerle, Kirsche, Sommer-/Winterlinde). Obwohl die natürlichen
Populationsstrukturen auch bei diesen Arten mit Sicherheit durch die Waldbewirtschaftung
verändert worden sind, gibt es kaum Gründe, weder aufgrund ihrer momentanen Häufigkeit
noch aufgrund der mutmasslichen demographischen Entwicklung, eine grundsätzliche Gefährdung dieser Arten anzunehmen. Genetische Untersuchungen sind dennoch notwendig,
um diese Vermutung zu bestätigen oder zu widerlegen.
Komplexer präsentiert sich die Situation bei den Baumarten des trocken-warmen Bereiches (Elsbeere, Speierling, Mehlbeere, Wildbirne, Wildapfel, Zerreiche, Blumenesche). Diese Arten kommen natürlicherweise auf Standorten vor, wo die Buche in ihrer Konkurrenzkraft geschwächt ist d.h. entweder im armen und trockenen Bereich der Buchenwaldgesellschaften oder in Waldföhren- oder Eichenmischwäldern. In der Schweiz kommen solche
Standorte, insbesondere auf Jura-Unterlage, zwar oft nur kleinflächig begrenzt, aber dennoch
relativ häufig vor. Diese trocken-warmen, eher ärmeren Standorte sind zwar ebenfalls durch
die forstliche Bewirtschaftung beeinflusst, aber insgesamt doch deutlich weniger stark verändert worden als die wüchsigen, forstlich interessanteren Standorte. Die meisten der genannten Baumarten sind allerdings durch die jahrhundertelange Nieder- und Mittelwaldwirtschaft
auch auf Buchenwaldgesellschaften begünstigt worden. Lichte Waldstrukturen und die gezielte Eliminierung der Buche haben diese Arten auch auf jenen Standorten gefördert, auf
denen sie natürlicherweise nicht vorkommen würden. Wenn wir heute bei Elsbeere und
Speierling einen markanten Bestandes-Rückgang feststellen, ist dies zumindest teilweise
vermutlich ein Rückzug auf ihre natürlichen Standorte (Häufigkeiten). Beide Baumarten
dürften aber auch durch die Waldbewirtschaftung (hohe Vorratshaltung, geringes wirtschaftliches Interesse) auf ihren natürlichen Standorten negativ beeinflusst worden sein.
Erstaunlicherweise zeigt die Wildbirne keinen Rückgang, obwohl sie mit Sicherheit
ebenfalls durch Mittel- und Niederwald begünstigt worden ist. Möglicherweise ist die Datenbasis, d.h. die Anzahl der Fundbelege dieser selten vorkommenden Baumart, einfach zu
gering, um einen Nachweis zu ermöglichen. Der Rückgang der beiden nur in der Südschweiz
auftretenden Arten Zerreiche und Blumenesche sowie von Flaumeiche und schneeballblättrigem Ahorn dürfte waldbauliche Gründe haben; Abkehr vom Niederwald, geringe wirtschaftliche Bedeutung und damit Bevorzugung anderer, wirtschaftlich interessanterer Arten
bei der Bestandespflege kommen in erster Linie als Ursachen für den Rückgang in Frage.
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Demographische Veränderungen müssen an den natürlichen Voraussetzungen gemessen
werden, wenn auf eine Gefährdung geschlossen werden soll. Obwohl die natürliche Verbreitung einer Art nur grob und nur indirekt aufgrund ihrer ökologischen Eigenschaften und
Ansprüche eingeschätzt werden kann, ergeben sich daraus gleichwohl wertvolle Hinweise für
die Beurteilung der Gefährdung und der gefährdenden Prozesse. Zusätzliche Untersuchungen zur Populationsbiologie, zur genetischen Struktur und zum Paarungssystem der Art sind
dennoch unerlässlich, um eine abschliessende Beurteilung der tatsächlichen Gefährdung
vornehmen zu können. Solche Untersuchungen fehlen für alle seltenen Baumarten heute
noch fast gänzlich. Im Folgenden sollen erste Ergebnisse einer genetischen Untersuchung an
zwei seltenen Baumarten in der Schweiz präsentiert und mögliche Interpretationen und
Folgerungen daraus aufgezeigt werden.
4
Zwei Beispiele seltener Arten: Elsbeere und Speierling
4.1
Elsbeere
Obwohl die Elsbeere in der Schweiz insgesamt selten ist (gemäss Landesforstinventar ca.
60’000 Stück über BHD 12 cm, BRÄNDLI 1996), kommt sie in gewissen Regionen lokal auf den
ihr zusagenden, trocken-warmen Kalkstandorten gehäuft vor. In grösserer Häufigkeit findet
man sie heute vorwiegend in ehemaligen Mittelwäldern oder aber auf ärmeren, relativ
trockenen, weniger wüchsigen und meist südexponierten Standorten, wo sie natürlich vorkommt, zumeist aber nur im Unter- und Nebenbestand auftritt und in der Regel nur geringe
Dimensionen aufweist. Genaue Angaben über Vorkommen und Populationsstruktur fehlen
allerdings bislang für die Schweiz, so dass weder die Gefährdungsdisposition noch mögliche
gefährdende Ursachen bekannt sind. Unbekannt sind bisher auch die natürlichen genetischen
Strukturen, die Populationsbiologie, das Paarungssystem sowie das Ausmass des Genflusses
dieser zerstreut vorkommenden Baumart. Eine erste Untersuchung zur genetischen Struktur
der Elsbeere in der Nordostschweiz, die an ausgewählten Kollektiven unterschiedlicher
Grösse durchgeführt worden ist (MENN 1998), ergab insgesamt eine relativ hohe genetische
Vielfalt an 9 putativen Isoenzym-Genorten sowie eine relativ geringe Differenzierung zwischen den untersuchten, bis maximal 72 km auseinanderliegenden Kollektiven (Tab. 3).
Gemessen an der durchschnittlichen Anzahl Allele pro Genort (1,78 bis 2,11, im Mittel
1,97, Tab. 3) ist die genetische Vielfalt innerhalb der untersuchten Elsbeer-Kollektive zwar
deutlich geringer als jene bestandesbildender Laubholzarten (Buche [2,3], Stieleiche [3,2]
oder Traubeneiche [3,2]), sie entspricht jedoch in etwa den Werten bestandesbildender
Nadelhölzer (Tanne [2,1], Lärche [1,9], Fichte [2,1] [MÜLLER-STARCK 1991]). Die mittleren
beobachteten Heterozygotiegrade (16,6 bis 32,1%, im Mittel aller Kollektive 25,4%) liegen
hingegen in der Grössenordnung von bestandesbildenden Laubhölzern (Buche [28,2], Stieleiche [21,3], Traubeneiche [21,9] [MÜLLER-STARCK 1991]). Die genetische Variation unterscheidet sich zwischen den einzelnen Kollektiven, ohne dass ein Zusammenhang zur Individuenzahl der Kollektive gegeben ist. Auch Kollektive mit geringer Individuenzahl verfügen zum
Teil über hohe genetische Variation. Andererseits sind gewisse Anzeichen von Drift oder
fortgesetzter Inzucht in einzelnen Kollektiven zu beobachten (deutlich geringere Heterozygotiegrade, fixierte Allele an einzelnen Genorten).
277
For. Snow Landsc. Res. 75, 1/2 (2000)
Tab. 3. Genetische Strukturmerkmale von 10 Elsbeer-Kollektiven in der Nordostschweiz sowie von einer
Elsbeer-Plusbaumsammlung (Samenplantage) aus dem gleichen geographischen Gebiet, auf der Basis
von 9 Isoenzym-Genorten (2 monomorph), über alle untersuchten Individuen bzw. unter Ausschluss
mutmasslicher Klone mit identischen multilocus Genotypen (M: genische Vielfalt; A/L: Mittlere Anzahl
Allele pro Genort; v: genische Diversität; He: erwarteter Heterozygotiegrad; Ha: mittlerer beobachteter
Heterozygotiegrad; Dj: Differenzierung jedes Kollektives vom entsprechenden Komplement).
Table 3. Genetic structure of 10 populations of Sorbus torminalis in northeastern Switzerland and for a
collection of plus-trees from the same area, based on 9 isozyme loci (2 monomorphic), shown for all
individuals and for a sample excluding possible clones with identical multilocus genotypes (M: allelic
multiplicity; A/L: average number of alleles per locus; v: allelic diversity; He: expected heterozygosity; Ha:
observed heterozygosity; Dj: allelic subpopulation differentiation).
Kollektiv
Über alle untersuchten Individuen
M
A/L v
He
Ntot
Ha
Dj
Ohne Klone
Ne
v
He
Ha
Dj
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
142
118
113
83
60
49
48
42
37
11
0,321
0,300
0,283
0,166
0,226
0,241
0,260
0,299
0,274
0,172
0,089
0,045
0,082
0,095
0,117
0,055
0,052
0,092
0,061
0,134
65
80
86
38
33
32
36
28
28
4
1,330
1,351
1,335
1,285
1,262
1,292
1,315
1,329
1,363
1,274
0,250
0,262
0,253
0,225
0,211
0,230
0,243
0,252
0,265
0,246
0,305
0,306
0,265
0,204
0,226
0,237
0,279
0,311
0,274
0,278
0,087
0,045
0,078
0,072
0,116
0,065
0,045
0,107
0,055
0,104
–
430
89
1,314 0,244 0,269 0,077
1,375 0,260 0,274 –
1,365 0,269 0,273 0,027
Mittelwert –
Genpool
703
Plusbäume 89
18
17
19
18
17
18
17
19
18
16
2,00
1,89
2,11
2,00
1,89
2,00
1,89
2,11
2,00
1,78
1,328
1,335
1,359
1,239
1,260
1,285
1,290
1,309
1,349
1,147
0,248
0,252
0,265
0,194
0,208
0,224
0,227
0,239
0,262
0,134
17,7
20
20
1,97
2,22
2,22
1,290 0,225 0,254 0,082
1,339 0,254 0,270 –
1,365 0,269 0,273 0,027
Geht man davon aus, dass seltene, zerstreut vorkommende Arten natürlicherweise Metapopulationsstrukturen aufweisen (mit einer starken zeitlichen und räumlichen Dynamik,
insbesondere auf der Ebene der einzelnen Teilkollektive), so ist weniger die genetische
Variation innerhalb der Teilkollektive sondern vielmehr innerhalb der Metapopulation von
Bedeutung. Betrachtet man den gesamten Genpool der Elsbeere im Untersuchungsgebiet als
eine Metapopulation (was aufgrund des kleinen, eng umgrenzten Gebietes und des berechneten Genflusses zwischen den Teilkollektiven (siehe später) durchaus sinnvoll erscheint), so
zeichnet sich diese Metapopulation mit durchschnittlich 2,22 Allelen durch eine relativ hohe
genetische Vielfalt aus. Die durchschnittliche Anzahl Allele pro Genort des gesamten Genpools (703 Individuen) ist durchaus vergleichbar mit Werten von bestandesbildenden, häufigen Baumarten, zum Beispiel mit der Buche mit durchschnittlich 2,3 (MÜLLER-STARCK 1991)
bzw. 2,1 bis 2,8 Allelen pro Genort (TUROK 1996). Der Wert entspricht exakt dem von
HAMRICK et al. (1992) ermittelten Wert für langlebige Holzgewächse; er ist leicht höher als der
Durchschnitt für Angiospermen (2,10), deutlich höher als die Werte für seltene, endemische
(1,82) oder regional begrenzte Baumarten (2,08) und er übertrifft selbst die mittlere Anzahl
Allele bei Baumarten mit grossem Verbreitungsgebiet (2,11). Durchaus vergleichbar mit
Buche (0,282, MÜLLER-STARCK 1991) ist auch der mittlere Heterozygotiegrad des Genpools
der untersuchten Elsbeere. Er übertrifft die von HAMRICK et al. (1992) ermittelten Werte für
langlebige Holzpflanzen (0,177), für Angiospermen (0,183), für seltene (0,078–0,169) und
weitverbreitete Baumarten (0,257) zum Teil deutlich. Die mittlere genetische Diversität der
untersuchten Elsbeere (v = 1,339) ist hingegen leicht geringer als bei Eiche (Quercus robur: v
=1,37, Q. petraea: v = 1,39 [MÜLLER-STARCK und ZIEHE 1991] resp. v = 1,38 im Mittel über 32
Populationen beider Arten [KREMER et al. 1991]) oder Buche (v = 1,37 [MÜLLER-STARCK und
ZIEHE 1991] resp. v = 1,34–1,59 [TUROK 1996]).
278
Peter Rotach
In Bezug auf die genetische Variation an Enzym-Genorten ist also kaum ein Unterschied
zwischen der zerstreut vorkommenden Elsbeere und bestandesbildenden Arten festzustellen.
Dies gilt allerdings nur unter der Annahme, dass es sich im untersuchten Gebiet um eine
Metapopulation aus vernetzen Kollektiven handelt, die als Einheit für die Erhaltung der
genetischen Variation betrachtet werden kann. Obwohl es für diese Annahme gute Gründe
gibt (relativ geringe Differenzierung, hoher Genfluss), lässt sie sich aufgrund der bisherigen
Untersuchungen weder bestätigen noch verwerfen. Untersuchungen zum aktuellen Genfluss
und zum Paarungskontakt zwischen den Kollektiven sind notwendig, um konkrete Aussagen
über die «effektive Population» machen zu können. Einzelne Teilkollektive weisen aufgrund
ihrer begrenzten Grösse erwartungsgemäss einen verminderten Heterozygotiegrad und teilweise eine Fixierung an einzelnen Genorten auf; zum Teil sind auch erhebliche Unterschiede
in der allelischen Diversität zu beobachten. Dennoch ist die Subpopulationsdifferenzierung δ
(GREGORIUS und ROBERDS 1986) mit 0,082 nicht besonders ausgeprägt. Die Differenzierung ist
zwar grösser als bei Buche (δ = 0,045 [MÜLLER-STARCK und ZIEHE 1991]; δ = 0,055 [TUROK
1996]), sie liegt jedoch etwa in der Grössenordnung von Eiche (Quercus petraea [δ = 0,085],
Quercus robur [δ = 0,091], HERZOG und MÜLLER-STARCK 1993). Der ermittelte FST Wert nach
WRIGHT (1951) ist mit 0,078 für die untersuchten Elsbeer-Kollektive geringer als die von
HAMRICK et al. (1992) errechneten Durchschnittswerte für Angiospermen (0,102), für endemische (0,141) und regional verbreitete (0,124) oder insektenbestäubte Arten (0,099); er entspricht in etwa dem Durchsschnittswert von Gymnospermen (0,073) bzw. von windbestäubten Arten (0,077). Basierend auf dem ermittelten FST Wert von 0,078 errechnet sich nach der
Formel FST = [4αNm + 1]-1 mit α = (n/n-1)2 (CROW und AOKI 1984) ein Genfluss von Nm = 2,95.
Der Genfluss scheint damit, trotz erheblicher Distanz und Zerstreutheit der untersuchten
Kollektive, insgesamt als hoch und durchaus vergleichbar mit Werten von windbestäubten,
bestandesbildenden Baumarten (GOVINDARAJU 1988). Dieses Ergebnis ist eher überraschend,
da vor allem bei insektenbestäubten Arten ein reduzierter Genfluss über grössere Distanzen
zu erwarten ist (HAMRICK und GODT 1989). Dass diese Erwartung nicht unbedingt richtig ist,
zeigen auch verschiedene Untersuchungen an tropischen Baumarten (HAMRICK und LOVELESS
1986; BAWA 1992b; LOVELESS 1992; EGUIARTE et al. 1992; CHASE et al. 1996). In dieselbe
Richtung weisen zudem auch neuere Untersuchungen über die Auswirkungen einer Fragmentierung auf den Genfluss. Bei Acer saccharum, einer insektenbestäubten Baumart, wurde
trotz starker Fragmentierung ein hoher Eintrag an fremden Genen in isolierte Fragmente
festgestellt; der Genfluss zwischen einzelnen Fragmenten war in einigen Fällen gar höher als
in nicht fragmentierten Populationen (FORÉ et al. 1992; YOUNG et al. 1993; NANSON und
HAMRICK 1997; YOUNG et al 1996; BALLAL et al.1994).
Innerhalb grösserer Populationsstrukturen scheint die Elsbeere also durchaus über eine
relativ hohe genetische Vielfalt zu verfügen. Trotz geringer Dichte und zerstreutem Vorkommen scheint der Genfluss bisher ausreichend gewesen zu sein, um die Erhaltung der genetischen Variation in der «Grosspopulation» sicherzustellen. Aus genetischer Sicht scheint
aufgrund dieser ersten Ergebnisse im untersuchten Gebiet keine Gefährdung vorzuliegen.
Dies sind allerdings erst vorläufige Aussagen, die weiter abgestützt werden müssen. So
bezieht sich die Genfluss-Schätzung auf die Verhältnisse vor 50 bis 100 Jahren und es steht
nicht fest, ob die Verhältnisse sich seither nicht verändert haben. Eine abschliessende
Beurteilung wird erst möglich sein, wenn genauere Angaben zur Demographie, zur Populationsstruktur, zur Vernetzung innerhalb der Metapopulation und zum aktuellen Genfluss
vorliegen. Überdies basiert die Untersuchung auf relativ wenigen, nur putativen Genorten,
weshalb die Ergebnisse mit der nötigen Vorsicht interpretiert werden müssen.
For. Snow Landsc. Res. 75, 1/2 (2000)
279
Zwei weitere Ergebnisse der isoenzymatischen Untersuchung sind im Zusammenhang
mit der Erhaltung der genetischen Vielfalt der Elsbeere erwähnenswert. Elsbeere scheint sich
zu einem grossen Teil vegetativ fortzupflanzen. Unter den 703 untersuchten Individuen
fanden sich 111 Klone (definiert als gleicher Multilocustyp, räumlicher Abstand <10 m und
kein anderer Multilocustyp dazwischen liegend) mit zusammen 384 Individuen, so dass
lediglich 430 (703 – 384 + 111) vermeintlich unterschiedliche Genotypen vorhanden waren.
Unter der Annahme, dass ein durch Wurzelbrut entstandener Klon aus Mutterbaum und
seinen Sprösslingen besteht, heisst dies, dass rund 40% aller Individuen aus Wurzelbrut
hervorgegangen sein müssen. Geht man hingegen davon aus, dass die ursprünglichen Mutterbäume heute nicht mehr vorhanden sind, was eher der Wirklichkeit entspricht, so beträgt der
Anteil vegetativ entstandener Individuen im Mittel sogar 55%. Für die Erhaltung der
genetischen Vielfalt ist diese Feststellung bedeutsam. Zum einen ist der hohe Anteil vegetativer Vermehrung für die Erhaltung der genetischen Variation vorteilhaft, weil sie zur
Erhaltung seltener Allele und geeigneter Multilocus-Genotypen in kleinen Demen beiträgt.
Auf der anderen Seite reduziert sich dadurch die effektive Populationsgrösse auf etwa die
Hälfte (im besten Fall). Der hohe Anteil Klone führt zudem zu hohen Inzuchtraten in den
generativen Nachkommen (siehe dazu PRAT und DANIEL 1993), ein Umstand der insbesondere bei der Gewinnung von Nachzuchtmaterial oder bei der Einlagerung von Bestandessaatgut
für Erhaltungszwecke zu beachten ist. Insgesamt scheint das gemischte Reproduktionssystem
der Elsbeere (generativ, vegetative durch Wurzelbrut und Apomixis) für die Erhaltung der
genetischen Vielfalt aber eher vorteilhaft zu sein; auf Vorteile gemischter Reproduktionssystemen in Bezug auf die genetische Vielfalt bei Baumarten haben bereits HAMRICK et al. (1992)
und SCHNITTLER (1993) hingewiesen.
Für seltene, zerstreut vorkommende Arten werden für die Erhaltung der genetischen
Vielfalt in den meisten Ländern ex situ Erhaltungsplantagen angelegt. Dass solche Erhaltungsplantagen ein wirksames Instrument für die Generhaltung sein können, zeigen unsere
Ergebnisse. Die 89 über das gesamte Untersuchungsgebiet ausgelesenen Plusbäume (Bäume
mit phänotypisch besonders schöner, fehlerfreier Schaftform) repräsentieren nicht nur den
Genpool des Gebietes sehr gut (Dj = 0,027), sie enthalten auch eine leicht höhere genetische
Diversität (Tab. 3). Die hypothetische gametische Multilocusdiversität in der Plantage ist um
22% höher als im Gesamtgenpool (21,9 versus 17,9). Zu bedenken ist zudem, dass diese
Diversität in den Nachkommen viel eher realisiert wird, weil die Voraussetzungen für
Panmixie in der Plantage deutlich besser sind als in der Wildpopulation. Der Paarungskontakt
ist in der Plantage mit Sicherheit erheblich besser als im Feld. Zudem kann mit deutlich
geringeren Inzuchtraten gerechnet werden, da nur unterschiedliche Multilocus-Genotypen in
der Plantage vertreten sind. Obwohl anhand der wenigen untersuchten Genorte eine selektive
Wirkung der phänotypischen Auswahl nicht ausgeschlossen werden kann, stimmen die
Ergebnisse doch zuversichtlich. Es scheint, als ob sich mit lediglich einem Achtel der Individuenzahl des Gebietes die Vielfalt des Genpools relativ gut repräsentieren lässt. Obwohl es
sich in der Plantage nur um einen Ausschnitt aus dem Gesamtgenpool handelt, dürften das
Plantagensaatgut im allgemeinen dennoch vielfältiger sein als Saatgut aus «Bestandesernten», da bei einer Ernte im Wald aus praktischen und finanziellen Gründen kaum je eine
vergleichbare Anzahl an Mutterbäumen beerntet wird.
280
4.2
Peter Rotach
Speierling
Der Speierling ist die seltenste Baumart in der Schweiz. Er dürfte natürlicherweise immer
selten gewesen sein. Die Konkurrenzkraft dieser ausgesprochenen Lichtbaumart ist äusserst
gering. Nördlich der Alpen verfügt er zudem über eine ausgesprochen geringe Ausbreitungskraft. Überdies liegt die Schweiz am Rande seines natürlichen Verbreitungsareals, weshalb die
Standortbedingungen insbesondere das Klima lediglich suboptimal sind. Der Speierling dürfte
daher lediglich unter besonders günstigen Bedingungen (in warmen, niederschlagsarmen
Gebieten auf warm-trockenen Kalkstandorten) vereinzelt im Naturwald vorgekommen sein.
Es ist anzunehmen, dass er durch den Mittelwaldbetrieb und durch spezifische Massnahmen
(beispielsweise durch hohe Wertschätzung und frühe Unterschutzstellung im Kanton Schaffhausen) lokal gefördert worden ist.
Sowohl aufgrund der aktuellen Häufigkeit wie auch aufgrund der vermuteten demographischen Entwicklung in diesem Jahrhundert muss der Speierling als gefährdete Art betrachtet werden. Aktuell sind rund 400 Exemplare in zwei grösseren (180/100 Exemplare) und in
vier kleineren (10–40 Exemplare) getrennten Vorkommen bekannt. Eine hohe Gefährdung
ist auch deshalb anzunehmen, weil jüngere Exemplare praktisch vollständig fehlen. Die
Abkehr vom Mittel- und Niederwaldbetrieb und die Vorratsanreicherung in diesem Jahrhundert haben die Verjüngung dieser Baumart in den letzten 60 bis 80 Jahren praktisch gänzlich
unmöglich gemacht. Aufgrund der momentanen Häufigkeiten und des Vorkommens in
isolierten Teilgebieten ist theoretisch mit Drift, Verwandtenpaarung und Inzucht und folglich
mit einer reduzierten genetischen Vielfalt innerhalb und einer erheblichen Differenzierung
zwischen den Teilgebieten zu rechnen. Erstaunlicherweise jedoch bestätigt eine kürzlich
durchgeführte genetische Inventur des gesamten Bestandes mittels Isoenzymen diese Erwartung nicht (WAGNER 1998).
Wie aus Tabelle 4 zu ersehen ist, kann der Speierling in der Schweiz keineswegs als
genetisch eingeschränkte Baumart bezeichnet werden. Besonders überraschend ist, dass
selbst in den beiden kleinen Vorkommen Basel und Westschweiz noch immer eine erstaunlich
grosse Variation vorhanden ist, die durchaus derjenigen von bestandesbildenden Baumarten
entspricht. Beim Vorkommen West-Schweiz handelt es sich zumeist um gepflanzte Bäume in
Parks oder in der Feldflur, was die grosse Variation erklären könnte. Das Vorkommen Basel
hingegen besteht ausschliesslich aus Waldspeierlingen, die mit grosser Wahrscheinlichkeit
natürlichen Ursprungs sind. Bemerkenswert ist auch die Feststellung, dass der Speierling im
Randvorkommen Schweiz genetisch vielfältiger ist als in seiner heutigen Schwerpunktverbreitung in Deutschland, wo er noch viel zahlreicher auftritt.
Die grössere Variabilität der Population Schaffhausen könnte daher rühren, dass der
Speierling in diesem Gebiet infolge von extremeren Witterungsbedingungen und grösserer
Höhenausdehnung (488 bis 730 m ü. M.) eine grössere Populationsdifferenzierung aufweist
und gewisse seltene Allele gefördert worden sind.
Die Subpopolationsdifferenzierung δ ist mit 0,092 ausgeprägter als bei Buche oder Eiche.
Für isolierte, weit auseinanderliegende, standörtlich sehr verschiedene Populationen ist eine
höhere Differenzierung als Folge von Drift und geringerem Genfluss zwischen den Populationen zu erwarten. Gleichwohl ist die Differenzierung nicht sehr ausgeprägt. Der errechnete
GST Wert von 0,052 liegt beispielsweise deutlich unter den von HAMRICK et al. (1992)
ermittelten Werten für Angiospermen (0,102), Gymnospermen (0,073), endemischen (0,141)
oder nur regional verbreitete Arten (0,124).
281
For. Snow Landsc. Res. 75, 1/2 (2000)
Tab. 4. Genetische Strukturmerkmale von je 3 Speierling Vorkommen aus der Schweiz und Deutschland
sowie einer Plusbaumauswahl (Samenplantage) aus allen drei Schweizer Vorkommen, auf der Basis von
12 putativen Isoenzym-Genorten (M: allelische Vielfalt; G: genotypische Vielfalt; A/L: Mittlere Anzahl
Allele pro Genort; v: allelische Diversität; vgam: hypothetische gametische Multilocus Diversität; Ha: mittlerer
beobachteter Heterozygotiegrad; Dj: Differenzierung jedes Kollektives vom entsprechenden Komplement.
Table 4. Genetic structure of 3 populations of Sorbus domestica from Switzerland, Germany and a collection
of plus-trees from all 3 Swiss populations, based on 12 isozyme loci (M: allelic multiplicity; G: genotypic
multiplicity; A/L: average number of alleles per locus; v: allelic diversity; vgam: hypothetical gametic
multilocus diversity; Ha: observed heterozygosity; Dj: allelic subpopulation differentiation).
Kollektiv
Ntot
M
G
A/L
v
vgam
Ha
Dj
Schaffhausen
Basel
West-Schweiz
Tauberbischofsheim
Schweinfurt
Freiburg
132
22
39
119
102
20
28
28
28
29
29
26
41
39
38
40
37
30
2,33
2,33
2,33
2,42
2,42
2,17
1,435
1,488
1,451
1,397
1,380
1,310
108,1
180,8
116,5
71,5
60,3
33,6
0,265
0,303
0,273
0,260
0,265
0,242
0,113
0,129
0,081
0,066
0,083
0,108
Mittelwert
Genpool Schweiz
Plusbäume Schweiz
72,3
193
82
28
29
28
37,5
45
41
2,33
2,42
2,33
1,410
1,468
1,490
95,1
134,4
169,4
0,268
0,271
0,273
0,092
–
–
Auch beim Speierling scheint die vegetative Vermehrung aus Wurzelbrut eine wichtige
Rolle zu spielen. Von 46 Baumgruppen, in denen die Bäume weniger als 40 m voneinander
stehen, haben lediglich 37% einen unterschiedlichen Multilocus-Genotyp. 63% sind also
wahrscheinlich vegetativen Ursprungs. Bei Bäumen, die näher als 10 m zueinander stehen,
weisen lediglich 26% einen verschiedenen Multilocus-Genotyp auf. Besonders erwähnenswert ist eine Baumgruppe in der Westschweiz. Auf einer Fläche von 15 mal 22 m wachsen hier
33 jüngere Speierlinge mit demselben Multilocus-Genotypen, die offensichtlich alle aus
Wurzelbrut von einem Mutterbaum entstanden sind. Wie bei der Elsbeere muss also auch
beim Speierling bei der Saatguternte darauf geachtet werden, nur Bäume zu beernten, die
mehr als 50 m auseinanderstehen.
Auch beim Speierling zeigt sich, dass mit der Auswahl einer ausreichenden Anzahl
Plusbäumen das Gesamtvorkommen recht gut repräsentiert werden kann. Das aus 82 phänotypisch besonders schönen Plusbäumen bestehende Kollektiv der Samenplantage weist im
Vergleich zum Gesamtgenpool eine höhere genische Diversität, eine grössere hypothetische
gametische Multilocusdiversität und einen gleich hohen Heterozygotiegrad auf. 91% der in
der Schweiz gefundenen Genotypen sind im Plusbaumkollektiv enthalten.
282
5
Peter Rotach
Schlussbemerkung
Die Gefährdung einer Baumart hängt nicht allein von ihrer Häufigkeit ab. Um verlässliche
Aussagen machen zu können, sind umfassende demographische Kenntnisse notwendig.
Inventuren zur Beschaffung dieser wichtigen Grundlagen bilden daher einen ersten, wesentlichen Schritt für effiziente Erhaltungsmassnahmen. Unverzichtbar für die Beurteilung der
tatsächlichen Gefährdung einer Art sind zudem vermehrungsbiologische und genetische
Untersuchungen. Solche Untersuchungen fehlen für unsere seltenen Arten praktisch gänzlich.
Es besteht daher ein hoher Forschungsbedarf in verschiedensten Bereichen.
Dank
Die Ergebnisse der genetischen Untersuchung an Elsbeere sind der Diplomarbeit von Herrn
Christian Menn entnommen, die unter verdankenswerter Mithilfe von Herrn Reiner Finkeldey von der WSL an der Professur Waldbau der ETH Zürich angefertigt worden ist. Die
Ergebnisse der genetischen Untersuchung am Speierling verdanke ich der Diplomarbeit von
Herrn Klaus Wagner, die unter der Leitung von Herrn Müller-Starck an der Universität
München entstanden ist. Ein Dank gebührt auch Herrn Hansjörg Lüthy, der bei der Inventarisierung, Plusbaumauswahl und Probennahme von Elsbeere und Speierling mitgeholfen hat.
For. Snow Landsc. Res. 75, 1/2 (2000)
6
283
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