Anschaffen abschaffen

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Anschaffen abschaffen
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W W W. F T D. D E / WEEKEND
FINANCIAL TIMES DEUTSCHLAND
Out of Office
F R E I TA G , 2 0. N OV E M B E R 2 0 0 9
VON ANGELIKA DEHMEL, AMSTERDAM
Alltag im Amsterdamer
Rotlichtviertel: Zumindest
wissen die Gäste, was sie
in diesem Laden erwartet
Peter Blok (4)
Vormittags sind die Nutten am hässlichsten. „Je später der Abend, umso
hübscher sind die Frauen in den
Fenstern“, sagt Rinaldo Ghisa, Besitzer der Red Light Bar in Amsterdam.
Ein paar Fenster im berühmtesten
Vergnügungsviertel der Welt sind immer besetzt, egal zu welcher Stunde.
Nur werden es insgesamt immer weniger – denn die Stadt will ihr Rotlichtviertel domestizieren.
Im Keller seiner Red Light Bar verkauft Ghisa Cannabis. Der süßlichwürzige Jointgeruch hängt so fest in
dem kleinen roten Raum, dass er
auch durch Lüften nicht mehr weggeht. Ghisa aber raucht kein Pot, und
trotz der Bob-Marley-Musik im Hintergrund ist er alles andere als entspannt. „Asscher und Bürgermeister
Cohen machen uns allen hier das Leben schwer“, schimpft er und
streicht sich über seine schwarzen,
gegelten Haare. Seit zwei Jahren versucht Ghisa, seine Lizenz zu erneuern – bisher vergeblich.
„Ich habe denen alles geschickt“,
sagt er, und holt zum Beweis einen
prall gefüllten Ordner hervor, den er
in seinem Büro auf den Eichenholzschreibtisch legt. Wenn Kontrollen
kommen, muss alles stimmen: der
Stempel, dass die Waage fürs Haschabwiegen geeicht ist. Kopien der
Pässe aller Mitarbeiter. Eine genaue
Liste, welcher Vorrat an Drogen vorhanden ist, „und zwar auf den Tag genau“. Aber die Lizenz bekommt er
trotzdem nicht verlängert. „Es kann
passieren, dass sie mich einfach
schließen“, sagt Ghisa und fummelt
nervös an seinem Stahlarmband herum. Dabei habe er seine Bar doch
schon fast 16 Jahre, und nie gab es
Probleme – bis heute.
Amsterdam will sein Rotlichtviertel De Wallen von Geldwäsche, Menschenhandel und organisierter Kriminalität befreien. 110 Bordellfenster
wurden deswegen schon geschlossen. Insgesamt möchte die Stadt die
Hälfte der ursprünglich fast 500
Fenster und rund 40 Coffeeshops
dichtmachen. Die meisten davon
liegen in den Gassen und Nebenstraßen, die von den zwei wichtigsten Amüsiermeilen abgehen – Oudezijds Achterburgwal und Oudezijds
Voorburgwal. „Operation 1012“ haben die Verantwortlichen den Plan
getauft. 1012 steht für den Bezirk, in
dem das Viertel liegt, ganz in der
Nähe des Hauptbahnhofs, nur wenige Meter von den Amsterdamer
Einkaufsmeilen entfernt. Statt der
leichten Damen stehen in vielen
Fenstern jetzt schick gekleidete
Schaufensterpuppen von jungen
Modedesignern.
Mit der Entscheidung für „Operation 1012“ hagelte es Proteste. „Das ist
ein Teil von Amsterdam“, ist die vorherrschende Meinung der Bürger zu
den Maßnahmen der Stadt. Denn die
Schließungen verstoßen gegen das
ungeschriebene Gesetz, dass in Amsterdam jeder tun und lassen kann,
was er will, solange er nicht gegen
das Gesetz verstößt – und Prostitution und Cannabis sind in den Niederlanden legal.
„Wir wollen das Viertel nicht
schließen. Aber wir wollen die Kriminalität dort aufhalten“, sagt Lodewijk
Asscher. Er ist Vizebürgermeister
und Beigeordneter der Stadt für
Finanzen – und er steht bei der Säuberungsaktion an vorderster Front.
In vielen Coffeeshops und Bordellen
werde schließlich Geld gewaschen,
und viele Frauen würden zur Prostitution gezwungen. „Das ist nun mal
kein Job wie jeder andere“, sagt er,
„die Branche hat auch dunkle Seiten.“ Um diese unter Kontrolle zu bekommen, patrouillieren Polizisten
durchs Viertel, überall hängen Überwachungskameras.
Von denen lassen sich die Teilnehmer eines Junggesellenabschieds
in De Wallen nicht stören. Wie Kinder
vor dem Weihnachtsbaum stehen sie
vor einem der Fenster und betrachten die Auslage: eine schlanke Brünette in glitzernder und blinkender
Unterwäsche. Keck wirft sie ihre
Haare zurück, lächelt und fängt an zu
tanzen. Plötzlich aber hämmert sie
Anschaffen abschaffen
Die Stadt Amsterdam will ihrer spektakulärsten Attraktion ans Leder: Das weltberühmte Rotlichtviertel wird
zum großen Teil geschlossen. Prostituierte und Coffeeshopbesitzer kämpfen um ihre Existenz
wütend an die Scheibe und gestikuliert heftig in Richtung eines Touristen, der sie fotografieren will.
Schließlich öffnet sie ihr Fenster,
stürmt in knappen Dessous auf die
Straße und schreit: „No pictures,
bastard!“ Ihre glühende Zigarette
wirft sie hinter dem Mann mit der
Kamera her, der erschrocken die
Flucht ergreift. Die Frau geht derweil
zurück an ihren Fensterplatz,
schließt die Tür und lässt erneut provozierend langsam ihre Hüften zu
einer unhörbaren Musik kreisen.
Fotografieren ist nicht erlaubt im
Viertel, auch nicht in Zeiten von
„Operation 1012“.
Viel mehr als knipsende Touristen
erregt die Anwohner des Viertels
aber ohnehin ein Gesetz namens
Bibob – eine griffige niederländische
Abkürzung für das Gesetz zur
Förderung der Integritätsprüfung
durch die öffentliche Hand. „Einfach
nur auf Verdacht können sie einen
Laden hier dank Bibob dichtmachen“, sagt Ghisa und greift
reflexartig nach seinem Ordner. Bibob ist schon seit 2003 in Kraft; die
Stadt versucht mit diesem Werkzeug,
Verstrickungen mit dem kriminellen
Milieu aufzubrechen – zum Beispiel
in Coffeeshops und Bordellen.
Seitdem reicht ein Verdacht auf illegale Machenschaften aus, um den
Geschäften sofort die Lizenz zu entziehen. So kam es auch zur Schließung des Bordells Yap Yum: Der Besitzer musste es zusammen mit
vielen Dirnenfenstern an die Stadt
verkaufen, weil der Verdacht auf
Geldwäsche bestand.
Mit Bibob haben sie es auch schon
bei Rinaldo Ghisa versucht. Bei ihm
war es der Verdacht auf Terrorismus.
Gerade das wurmt den Niederländer
mit indischen Wurzeln. „Ich bin doch
Hindu“, sagt er, und zeigt auf ein kleines goldenes Bild von einem Menschen mit Affengesicht – dem HinduGott Hanuman, der in seinem Büro
an einem Spiegel klemmt.
Kürzlich immerhin musste die
Stadt mit Bibob eine Niederlage hinnehmen: Vor Gesicht setzte sich der
Besitzer des Sextheaters Casa Rosso
durch – und feierte das, indem er an
all seinen Geschäften meterhohe Kopien des entsprechenden Schreibens
aufhängte.
Designer Jan Taminiau (l.) zog vor zwei Jahren in das Viertel mit den berühmten Dirnenfenstern (M.). Coffeeshopbesitzer Rinaldo Ghisa (r.) fürchtet um seine Lizenz
Ghisa sind vor allem seine neuen
Nachbarn ein Dorn im Auge, die Designer, die von Bibob indirekt profitiert haben. „Steht dort drüben etwa
jemand vor dem Fenster, um die Kleider anzuschauen?“, fragt er, und
zeigt auf die andere Seite des Kanals,
der Oudezijds Achterburgwal teilt.
Dort haben Schaufensterpuppen
von Redlightfashion die Fleischbeschau ersetzt. „Die Leute kommen
doch hierher wegen der Nutten und
wegen des Marihuanas“, sagt er und
guckt böse nach drüben.
Jan Taminiau, einer der 20 Modedesigner, ist schon seit fast zwei Jahren hier. An die Wohnung, in der er
nur die Nebenkosten bezahlen muss,
kam er dank der Berateragentur
HTNK, die ihr Büro ebenfalls in Oudezijds Achterburgwal hat. Nachdem
unter anderem die Fenster des YapYum-Chefs geschlossen waren,
brauchte man eine schnelle Lösung,
damit die leeren Häuser nicht besetzt
werden. Die Agentur schlug vor, Designer einziehen zu lassen – und
konnte die Stadt damit überzeugen.
Taminiau beobachtet gern. Besonders die Schwäne, die in den Grachten umherschwimmen, haben es
ihm angetan. „Auf der einen Seite haben wir die monogamen Schwäne,
auf der anderen Seite die Nutten“ ,
philosophiert er. „Diesen Gegensatz
finde ich schon sehr faszinierend.“
Nach anfänglichem Misstrauen habe
ihn die Nachbarschaft auch gut akzeptiert. „Und die Frauen gucken
sich manchmal mein Fenster an und
sagen dann: ,Hey, schönes Kleid!‘“
Rinaldo Ghisa bezweifelt, dass es
so ein glückliches Zusammenleben
wirklich gibt. Es kämen zum Beispiel
weniger Stag-Partys, Junggesellenabschiede, für die die Engländer früher
mit Billigfliegern scharenweise eingeflogen wurden. „Viele denken,
dass es das Rotlichtviertel nicht mehr
gibt, und kommen nicht mehr“, sagt
Ghisa. In der Folge hätten auch viele
Hotels Umsatzeinbußen.
Das Geschäft läuft schlecht, das
weiß auch Lodewijk Asscher. „Es
stimmt, wir haben dieses Jahr sechs
Prozent weniger Touristen als im vergangenen Jahr“, räumt er ein. Aber
das habe wohl eher mit der Finanzkrise zu tun als mit den Veränderungen im Rotlichtviertel. Vor allem die
Amerikaner und Japaner blieben nun
zu Hause. Auf die leichte Schulter
kann Asscher solche Einbußen nicht
nehmen: 21 Prozent des Umsatzes in
der Amsterdamer Hotel- und Gastronomiebranche werden im Viertel erzielt. De Wallen ist die berühmteste
Sehenswürdigkeit der Stadt.
„Gerade die Designer bringen aber
eine ganz neue internationale Klientel hierher“, argumentiert der Vizebürgermeister. Máxima zum Beispiel, die Frau des niederländischen
Kronprinzen, habe neulich ein Kleid
von Jan Taminiau getragen, heißt es.
Tatsächlich haben sich die Kundinnen des jungen Designers schnell an
die neue Umgebung gewöhnt. Taminiau selber bereiten nur noch wenige
Dinge Schwierigkeiten. „Manchmal
zahlen die Männer den Nutten extra
Geld, damit sie laut stöhnen“, sagt er
und lächelt verlegen. „Wenn man
diese Schreie zum ersten Mal hört, ist
das schon sehr befremdlich.“ 50 €
muss man für einfachen Sex in De
Wallen bezahlen; alles Weitere kostet
extra – auch die Freudenschreie.
Viel von dieser Atmosphäre gehört
bisher in Amsterdam einfach zum
Leben dazu. Dass das demnächst anders werden soll, darüber spricht
mittlerweile jeder in der Stadt: im
Reisebüro an der Utrechtsestraat, auf
den Einkaufsstraßen in der Nähe des
Hauptbahnhofs oder in einem der
Cafés am Rembrandtplein. Vor allem
Geschäftsleute haben Angst um ihre
Zukunft und fürchten, dass die Touristen fernbleiben. Am meisten aber
graut es den Amsterdamern davor,
dass Freiheit hier bald nicht mehr
das wichtigste Gut sein könnte.
Ghisa immerhin hat noch Hoffnung. „Im nächsten Jahr sind wieder
Wahlen in Amsterdam“, sagt er.
Dann werde die Regierung sicher abgelöst. „Und in zehn Jahren sieht es
hier vielleicht wieder genauso aus
wie früher.“

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