Die Sehnsucht des Menschen
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Die Sehnsucht des Menschen
Hermann Wohlgschaft Die Sehnsucht des Menschen eine Liebe, die nicht vergeht echter Wohlgschaft_Die Sehnsucht_Titelei.indd 2 09.02.12 17:08 Inhalt Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Elisabeth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das »Dialogische Prinzip« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gott und die Geschlechterliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zur Gedankenführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 11 13 15 Kapitel I Das verlorene Paradies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Erschaffung des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Adam und Eva im Gegenüber zu Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. »Wir verbannten Kinder Evas« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Eine Beziehungskatastrophe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Traum und Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Der Garten und die Königin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. »Ein verriegelter Garten ist meine Braut« . . . . . . . . . . . . . . 8. Lust und Gefährdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Hoffnungsbilder der Seele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 20 22 24 27 29 31 32 34 35 Kapitel II Der Stachel der Vergänglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1. Der Kreislauf der Vergeblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gestörtes Eheglück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Mächte und Gewalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Energie der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das ›Paradies‹ als Zukunftsvision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. ›Der Tod und das Mädchen‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. »Rose aus Asche du, Geliebte« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Das Leben in seiner Ambivalenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 42 43 46 48 50 52 53 Kapitel III Zerbrochene Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 1. Ein Roman von Eliade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Ende einer Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sexualität und Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Eros und ›das Heilige‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Wir sind kein Paar von dieser Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Die österliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Eine neue Chance . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 59 61 64 65 67 69 Kapitel IV Romeo und Julia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 1. Suizid im Trennungsschmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Liebe über den Tod hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur Erzähltradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Erlösung in der Todesnacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 75 77 79 Kapitel V Orpheus und Eurydike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 1. Die verlorene Geliebte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Thema mit Variationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Orpheus in der Monteverdi-Oper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Orpheus in der Gluck-Oper . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die Götter und das Liebespaar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Parodistische Verfremdungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Christus als der ›wahre Orpheus‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. »Abgestiegen in das Reich des Todes« . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Im Wurzelgrund der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Der liebende Spielmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 83 86 87 89 90 91 93 95 96 Kapitel VI Ungestillte Sehnsucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 1. Need-love und Gift-love . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2. ›Unglückliche‹ Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3. Sinnvolle Trauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 4. Tödliche Leidenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 5. Resignation und Verzweiflung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 6. Verwandelter Schmerz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 7. Schwere Prüfungszeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 8. Sehnsucht und Erfüllung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 9. Die Liebe und das Eheband . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Kapitel VII Liebe ohne Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 1. ›Schlafes Bruder‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 2. Das große Verlangen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 3. ›Das Herzenhören‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 4. ›Gut gegen Nordwind‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 5. Sehnsucht nach Unendlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 6. Teilhabe an der Liebe Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Kapitel VIII Die Sehnsucht Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 1. »Du bist schön, meine Freundin« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 2. »Gott ist die Liebe« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 3. »Gott ist der zu Suchende« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 4. »Ich traue dich mir an auf ewig« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 5. »Ich will sie in der Wüste umwerben« . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 6. »Mit Stricken der Liebe zog ich sie an« . . . . . . . . . . . . . . . . 153 7. »Mein Herz kehrt sich gegen mich« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Kapitel IX Gottesliebe und Menschenliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 1. »Gott hängt am Galgen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 2. »Und dennoch in der Liebe bleiben« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 3. »Du hast uns für dich erschaffen, o Gott« . . . . . . . . . . . . . . 164 4. »In einem Atemzug loben und klagen« . . . . . . . . . . . . . . . . 166 5. »Nach dir verlangt mein Leib« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 6. »Wer sich hingibt, der empfängt« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 7. »Als Mann und Frau schuf er sie« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 8. »Wir werden erwartet« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Aus Sehnsucht, nur aus Sehnsucht, ist das Weltall aufgebaut. Martin Gutl Einführung W as wäre das Leben ohne die Sehnsucht! Ohne Sehnsucht, ohne glühende Leidenschaft wäre das Leben wie eine Suppe ohne Salz, es wäre fad und nicht zu genießen. Ja, die Sehnsucht scheint mir neben der Liebe die stärkste und die wichtigste Energie des Lebens zu sein. Wir suchen das Glück und jagen ihm nach. Wir sehnen uns nach Anerkennung und wir verlangen nach Liebe, solange wir sind. Freilich hat die menschliche Sehnsucht viele Gesichter. Sie kann zerstörerisch sein, aber auch kreativ; sie kann freudvoll sein, aber auch äußerst leidvoll. »Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide.« Goethes Romanfigur Mignon, die ›Kindfrau‹, deren Liedern in ›Wilhelm Meisters Lehrjahre‹ dieser Klageruf entnommen ist, leidet unter ihrer Sehnsucht nach dem Heimatland Italien, dem »Land, wo die Zitronen blühn«. Und sie verzehrt sich in ungestillter Sehnsucht nach Wilhelm Meister, der geliebten Rettergestalt. Überhaupt hat die Sehnsucht – vor allem die Sehnsucht, die Mann und Frau zusammenführt – schon sehr viel Schmerz und sehr viel Leid hervorgebracht. Andererseits ist die Sehnsucht ja nichts Verwerfliches. Im Gegenteil, sie ist eine tragende Kraft, sie ist die Ur-Energie, die das Leben ermöglicht und die das Dasein lebendig macht. 9 Ich bin überzeugt: Wirklich lebendig ist der Mensch nur dann, wenn er eine Sehnsucht, eine unendliche Sehnsucht hat. »Wunschlos« glücklich zu sein, scheint mir irreal – und auch gar nicht erstrebenswert. Denn der Stillstand, die Wunschlosigkeit, das Aufhören jeglicher Art von Sehnsucht passt nicht zur Grundverfasstheit des Menschen. Als Geschöpf ist der Mensch ein bedürftiges Wesen. Wir hungern und dürsten – unserer Bestimmung gemäß – nach Gerechtigkeit, nach Erkenntnis und Wahrheit, nach Heimat und Geborgenheit, nach Glück und Erfüllung, nach Freundschaft und Liebe. Wohin zielt unsere Sehnsucht? Wenn der Mensch nach biblischem Zeugnis als Mann und Frau ein Spiegelbild Gottes ist (vgl. Gen 1,27) und wenn Gott – nach der christlichen Trinitätslehre – in sich selbst ein dialogisches Gegenüber, ein beziehungsreiches ›Wir‹ hat, dann ist der Mensch schon immer auf personale Beziehung, auf intensive Kommunikation, auf Begegnung von Angesicht zu Angesicht verwiesen. Diese letzte Verwiesenheit aber bewirkt eine Sehnsucht, die nie wirklich zum Ende kommt. 1. Elisabeth Meine erste große Sehnsucht hatte einen weiblichen Namen. Noch heute, wenn ich an himmlisch schöne Gesichter denke, fällt mir Elisabeth ein. Dies hat einen besonderen Hintergrund. Denn obwohl ich als Priester ehelos bin und obwohl mich diese Lebensform nicht unzufrieden und keineswegs unglücklich macht, spielte die Sehnsucht nach Paarbeziehung, nach Frauenliebe in meiner Biographie schon sehr früh eine bedeutende Rolle. Als fünfjähriger Junge verliebte ich mich so heftig in ein vierjähriges Mädchen mit langen schwarzen Haaren, dass ich 10 an nichts anderes mehr denken konnte als an – Elisabeth. Ich sah sie nur aus der Ferne. Da ich schüchtern war, habe ich es kein einziges Mal gewagt, sie anzusprechen. Bis zum heutigen Tag weiß ich von ihr nur dies eine: Sie hieß Elisabeth, sie hatte langes, prachtvolles, schwarzes Haar und ein wunderliebes Engelsgesicht. Im Alter von fünfzehn Jahren wiederholte sich mein Elisabeth-Erlebnis. Ich begegnete der gleichaltrigen Kathrin. Als ich sie zum ersten Mal sah, trug sie ein hellblaues Kleid. Sie war in meinen Augen das schönste Mädchen der Welt. Ich war total in sie verliebt, sie war der Inhalt meines Lebens. Es kam aber keine Beziehung zustande, noch nicht einmal ein loser Kontakt. Denn meine Liebe blieb einseitig. Gemildert wurde mein Unglücklichsein lediglich durch den – höchstwahrscheinlich illusionären – Gedanken: Sie liebt mich von ganzem Herzen, aber irgendwelche Mächte hindern sie daran, mir dies zu sagen und zu zeigen. Auf Kathrin folgte Angelika, später dann Monika. Das Muster war immer dasselbe: Diese ›Frauen‹ waren für mich nicht erreichbar! Heute würde ich sagen: Elisabeth und ihre Nachfolgerinnen hatten als sie selbst keine Bedeutung für mich, sie waren austauschbar. Denn sie standen für etwas Anderes, für etwas ›Mystisches‹ – vielleicht für das ›weibliche Prinzip‹ oder für die weibliche Seite Gottes. Elisabeth usw. waren für mich keine wirklichen Frauen, keine realen Bezugspersonen, sondern Projektionen meiner »Sehnsucht nach dem ganz Anderen« (Max Horkheimer). 2. Das »Dialogische Prinzip« Die Projektionen meiner kindlichen bzw. jugendlichen Seele standen für eine grenzenlose Sehnsucht in meinem Inners11 ten. Als ich vor der Priesterweihe das Zölibatsversprechen gab, war die Verpflichtung zur Ehelosigkeit kein ernstes Problem für mich: Wenn ich – so dachte ich – mit dieser einen Frau, mit Monika, nicht zusammenleben kann, dann kommt auch keine andere Frau für mich in Betracht. Allerdings bin ich nicht Priester geworden, um keiner Frau zu nahe zu kommen! Vielmehr bin ich Priester geworden, weil ich mit brennendem Interesse Theologie studiert hatte und weil ich Zeugnis geben wollte von der unsterblichen Liebe Gottes. Die Lebensform der Ehelosigkeit aber nahm ich in Kauf, weil ich ja ohnehin nur Monika zu lieben glaubte. In späteren Jahren sind mir noch viele Frauen begegnet, darunter auch solche, die mir sehr wichtig sind und denen ich ebenfalls sehr wichtig bin. Mit diesen wirklichen, nicht verwechselbaren Frauen verbindet mich – zum Teil seit Jahrzehnten – eine echte Beziehung, eine tiefe Freundschaft: eine jeweils verschiedenartige Seelenverwandtschaft, die meine Gottes- und Christusbeziehung in keiner Weise beeinträchtigt, sondern viel eher bestärkt und wesentlich fördert. Die Sehnsucht nach Erfüllung in Gott und die Sehnsucht nach liebender Nähe zwischen Mann und Frau gehören für mein Empfinden aufs engste zusammen. Wie gesagt, die weibliche Schönheit, überhaupt ›das Weibliche‹ – mit Goethe gesprochen: das »Ewig-Weibliche« – hat mich schon immer fasziniert. Freilich nehme ich an: Wo es zu einer realen wechselseitigen Beziehung zwischen zwei Personen kommt, stehen die Beziehungspartner nicht stellvertretend für etwas völlig Anderes. Sie sind nicht nur Abbilder des ›ewig Weiblichen‹ oder ›ewig Männlichen‹, das sie – wie in Goethes ›Faust‹ – emporhebt und »hinan«zieht zur göttlichen Fülle.1 Vielmehr sind die Partner eigenständige Personen, die ihre Individualität behalten und sich nicht auflösen in Gott oder einem höheren (›weiblichen‹ oder ›männlichen‹) ›Prinzip‹. 12 Zwar lebt die zwischenmenschliche Liebesbeziehung – laut biblischer Schöpfungstheologie – im Gegenüber zu Gott, dem Ursprung aller Sehnsucht und aller Erfüllung. Zugleich aber hat die menschliche Liebe ihren Rang und ihre Würde durchaus in sich selbst. Das »Dialogische Prinzip« des »Ich und Du« (Martin Buber), d. h. die liebende Beziehung einer konkreten Person zu einem realen menschlichen Du, ist eben nicht nur eine Art ›Sprungbrett‹ zu Gott! Nein – ohne sich selbst zu verlieren, partizipiert die zwischenmenschliche Liebe an der göttlichen Liebe, die sie trägt und belebt. 3. Gott und die Geschlechterliebe Menschliche Liebe ist immer mit Sehnsucht verknüpft. »Der Mensch ist Sehnsucht«, so lautet in Anlehnung an den französischen Existenzphilosophen Gabriel Marcel der Titel eines Buches von Hans-Georg Wiedemann. Der Autor – evangelischer Theologe und Leiter der Internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie – schreibt darin: Es gibt ein Gefühl, von dem ich glaube, dass es allen Menschen gemeinsam ist. Es ist die Sehnsucht, die daraus erwächst, dass wir nicht zufrieden sein können mit dem, was wir besitzen oder erreicht haben. Immer wollen wir mehr, immer wollen wir darüber hinaus; wir wollen das Ganze.2 Die Sehnsucht ist ihrem Wesen nach grenzenlos. Denn sie hat sehr viel mit der Unendlichkeit Gottes zu tun: Ich meine, dass es sich bei der Sehnsucht um eine universelle Konstante handeln muss, denn alles beginnt und endet mit der Sehnsucht, mit der Sehnsucht Gottes nach dem Menschen und mit der Sehnsucht des Menschen nach Wiederbegegnung mit seinem Schöpfer am Ende der ihm zugewiesenen Zeit. 13 Darin stimme ich Hans-Georg Wiedemann zu: Hinter der Suche nach irdischem Glück, hinter der Sehnsucht nach zwischenmenschlicher Liebe steht letztlich die Sehnsucht nach Gott als dem Urgrund des Seins. Denn »Gott ist die Liebe« (1 Joh 4,16), und wer die Liebe sucht, sucht – bewusst oder unbewusst – das Mysterium Gottes. Diese Sehnsucht nach Gott kennen, wenn sie ehrlich sind, auch ›Ungläubige‹ oder Agnostiker: »Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn.« Mit diesem Satz, mit diesem Bonmot beginnt das Buch ›Nichts, was man fürchten müsste‹ von Julian Barnes, einem bekannten Vertreter der literarischen Postmoderne. Wer aber, wie der britische Autor Julian Barnes oder der deutsche Schriftsteller Martin Walser,3 Gott vermisst, hat ja immerhin Sehnsucht nach Gott. Das aber ist – so die Schriftstellerin Gabriele Wohmann – »doch eigentlich schon wie Glauben – beinahe«.4 Da Gott »die Liebe« und das »Leben in Fülle« (Joh 10,10) ist, ist – nach christlicher Überzeugung – die Sehnsucht nach Gott die wichtigste Triebkraft des Menschen. Freilich stimme ich, wie später verdeutlicht werden soll,5 mit Hans-Georg Wiedemann auch darin überein: Der oft unbewussten, Sehnsucht des Menschen nach Gott entspricht – umgekehrt – eine Sehnsucht Gottes nach dem Menschen. Gleichzeitig aber lege ich größten Wert auf die These: Die tiefe zwischenmenschliche Liebe, einschließlich der Liebe von Mann und Frau, ist – wie Wiedemann sagt – »ein Vorschein«6 der Ewigkeit. Sie ist nicht nur ein schwacher, vergänglicher Abglanz der Liebe Gottes zu den Geschöpfen. Nein, sie ist in sich selbst (freilich aufgrund der göttlichen Liebe) eine transzendente Wirklichkeit, die in den Himmel hineinreicht. Die Sehnsucht Gottes nach dem Menschen und die Sehnsucht in der Geschlechterliebe sehe ich in einem sehr engen 14 Zusammenhang. Meine zentrale Aussage: In der zwischenmenschlichen Liebe, insbesondere in der Liebe von Mann und Frau, spiegelt sich die Sehnsucht des liebenden Gottes nach der Gegenliebe des Menschen. Diese Auffassung hat, wie ich zeigen möchte, entscheidende Konsequenzen für unser Gottesbild und zugleich für unser Verständnis der menschlichen Partnerliebe. Im Blick auf ›unsterbliche‹ Paare in Mythos und Literatur, im Blick auf Paare wie Orpheus und Eurydike, wie Romeo und Julia, wie Don Rodrigo und Doña Proëza (in Claudels Drama ›Der seidene Schuh‹) möchte ich eine große Hoffnung zum Ausdruck bringen: Die oft so problematische, zerbrechliche, unzureichende Liebe von Mann und Frau enthält ein Versprechen, eine Verheißung, die über die Erdenzeit hinausweist und die der irdischen Liebe – sofern sie echt ist und tief – die Unsterblichkeit verleiht. 4. Zur Gedankenführung Meine Darstellung beginnt mit Adam und Eva. Laut biblischem Schöpfungsbericht hat es Gott nicht gewollt, dass der Mensch allein bleibe. Also schuf er den Menschen als Mann und Frau, damit sie sich wechselseitig ergänzen sollten. Doch das Glück war nicht von Dauer. Im Mittelpunkt meiner Betrachtung steht der ›Paradiesgarten‹ als Symbol der ›heilen Welt‹ Gottes sowie der ›Gartenfrevel‹ als Symbol für den Verlust der ungetrübten Partnerbeziehung von Mann und Frau (Kapitel I: Das verlorene Paradies). Wenn Mann und Frau füreinander bestimmt sind, warum sind die Geschlechterbeziehungen dann trotzdem so schwierig? Vor dem Hintergrund des Sündenfalls und des ›verlorenen Paradieses‹ wird die innere Zerrissenheit des sterblichen 15 Menschen, die Hinfälligkeit gerade auch des sexuell-erotischen Liebesglücks erörtert. Zugleich wird die »Energie der Liebe« als göttliche Kraft beschrieben, die die Entfremdung und somit die Todverfallenheit des Menschen überwinden kann (Kapitel II: Der Stachel der Vergänglichkeit). Wir wissen es: Wer sich einlässt auf soziale Bindungen, riskiert das Misslingen. Die Sehnsucht nach Liebe kann leicht enttäuscht werden. Das mögliche Scheitern von Liebesbeziehungen ist jedoch auf einen tieferen, existenziellen und theologischen, Sinn hin zu befragen: Kann das Scheitern zugleich eine Chance sein – für eine neue Gottesbeziehung und auch sonst für ein neues, gelingendes Leben? Kann der gesunde Kern einer Liebesbeziehung, trotz des Versagens der Partner, zuletzt noch gerettet werden? Solche Fragen werden mit Bezug auf die ›Hochzeit im Himmel‹, einen Liebesroman des Religionswissenschaftlers Mircea Eliade, besprochen (Kapitel III: Zerbrochene Liebe). In allen Epochen finden wir das Sehnen nach einer Liebe, die niemals vergeht. Im Blick auf Trennung und Wiedervereinigung, im Blick auf eine Partnerliebe über den Tod hinaus werden die Tragödie von Romeo und Julia und ähnliche Mythen interpretiert. Warum begehen Romeo und Julia einen Doppelsuizid? Welche Sehnsucht steckt dahinter? Wird der gemeinsame Tod als Ende der Liebesbeziehung verstanden oder als Durchgang zu einer neuen, unvergänglichen Partnerliebe? Könnte dem Schicksal, das die Liebenden vereint und auseinanderreißt, eine eschatologische – über den Tod hinausweisende – Bedeutung zukommen? (Kapitel IV: Romeo und Julia). Das Verlangen nach Überwindung des Todes ist das eigentliche Thema im Mythos von Orpheus und Eurydike. Es geht um die Jenseits-Relevanz der Partnerliebe und zugleich um die Diesseits-Perspektive: Inwiefern bringt der Tod eines 16 Partners die Liebe auf den Prüfstand? Und was wird aus jungen – oder älteren – Paaren, wenn der Alltag ihre Liebe auf die Probe stellt? Da Orpheus’ Liebe von frühkirchlichen Theologen mit Jesu Liebe am Kreuz verglichen wurde, ist zu fragen: Inwiefern könnte Christus – als der »neue Orpheus« – dem gescheiterten Erlösungswerk des »alten Orpheus« doch noch zum Sieg verhelfen? (Kapitel V: Orpheus und Eurydike). Für viele Menschen ist die Liebe das Wichtigste. Welche Liebe aber könnte den Tod überdauern und Bestand haben in den Augen Gottes? Nur die allgemeine Nächstenliebe oder auch die erotische Liebe von Mann und Frau? Ausgehend von C. S. Lewis’ – nicht unproblematischer – Unterscheidung von bedürftiger und selbstloser Liebe wird entlang literarischer Beispiele die Sehnsucht nach der Rückkehr ins Paradies, d. h. nach erfüllter Liebe und nicht zuletzt nach beglückender, in Gottes Liebe gründender Paar-Beziehung erörtert (Kapitel VI: Ungestillte Sehnsucht). Am Beispiel von ausgewählten Liebespaaren in der Gegenwartsliteratur zeige ich auf: Da irdisches Glück nie von Dauer ist, weist die menschliche Sehnsucht immer schon hinaus ins Unerschöpfliche, Absolute. Freilich sehe ich im erotischen Verlangen, in der Geschlechterliebe, in der Partnerbeziehung ein ›eschatologisches Zeichen‹: eine Vorahnung des Himmels, eine, wenn auch noch unvollkommene, Vorwegnahme des Gottesreichs (Kapitel VII: Liebe ohne Grenzen). Des Menschen Sehnsucht nach Freundschaft und erfüllender Partnerliebe meint im letzten die Unendlichkeit Gottes. Dieser Sehnsucht nach Unendlichkeit entspricht, einem Augustinus-Wort zufolge, die Sehnsucht Gottes nach dem Menschen: Gott sucht die intime Beziehung zu mir, er wirbt um meine Gegenliebe. Anhand von biblischen Texten und eines wichtigen Gedichtes von Nelly Sachs wird dieses Liebeswer17 ben Gottes näher beschrieben und theologisch kommentiert (Kapitel VIII: Die Sehnsucht Gottes). Das göttliche Interesse an jedem einzelnen Menschen hat immense Bedeutung auch für die zwischenmenschliche Liebe, besonders für die Paarbeziehung von Mann und Frau. Die Geschlechterliebe verstehe ich als Teilhabe des Menschen an der göttlichen Liebe. Menschliche Partnerliebe wird durch die Gottesliebe also nicht abgewertet, sondern aufgewertet. Denn nur von Gott her gewinnt die zwischenmenschliche Liebe ihre eigentliche Tiefe und ihren unvergänglichen Wert (Kapitel IX: Gottesliebe und Menschenliebe). 18