Begegnung mit zwei Gedichten
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Begegnung mit zwei Gedichten
EINÜBUNG UND WEISUNG Poesie als andere Art Theologie Begegnung mit zwei Gedichten Eine dichterische Übersetzung und Fortschreibung der Geschichte von Kain und Abel legte in eindrucksvoller Weise die jüdische Lyrikerin Hilde Domin1 vor, womit sie auch einen gewichtigen Lösungsvorschlag für die oben behandelte Thematik von Schuld und Sühne geben kann (Siehe Seite 39-51): Abel steh auf (1965) Abel steh auf es muß neu gespielt werden täglich muß es neu gespielt werden täglich muß die Antwort noch vor uns sein die Antwort muß ja sein können wenn du nicht aufstehst Abel wie soll die Antwort diese einzig wichtige Antwort sich je verändern wir können alle Kirchen schließen und alle Gesetzbücher abschaffen in allen Sprachen der Erde wenn du nur aufstehst und es rückgängig machst die erste falsche Antwort auf die einzige Frage auf die es ankommt steh auf damit Kain sagt damit er es sagen kann Ich bin dein Hüter Bruder wie sollte ich nicht dein Hüter sein Täglich steh auf damit wir es vor uns haben dies Ja ich bin hier ich dein Bruder Damit die Kinder Abels sich nicht mehr fürchten weil Kain nicht Kain wird Ich schreibe dies ich ein Kind Abels und fürchte mich täglich vor der Antwort die Luft in meiner Lunge wird weniger wie ich auf die Antwort warte Abel steh auf damit es anders anfängt zwischen uns allen Das Gedicht setzt da ein, wo die biblische Geschichte eigentlich zu Ende ist: Abel liegt erschlagen auf dem Feld, sein Bruder Kain entzieht sich mit einer Geste unschuldig-ahnungslosen Schulterzuckens der Verantwortung. Anders als zu erwarten, richtet Hilde Domin ihren flehenden Appell nicht etwa an Kain, den Täter, sie wendet sich an Abel, das Opfer der Schuld. Mit einem fast beschwörend-verzweifelten H. Domin, Gesammelte Gedichte. Frankfurt/M. 1987, 364f. Einübung und Weisung 64 Ton (das viermalige •muß" zu Beginn) fordert sie Abel auf, aufzustehen und dadurch zu allererst einen neuen Anfang zu ermöglichen. Das wiederholte •täglich" deutet dabei darauf hin, daß es sich wohl um einen Vorgang handelt, der die konkrete Urszene übersteigt und immer neu gültig ist. Sie greift dadurch eminent in den Verlauf der biblischen Geschichte ein und vertieft doch eben so seinen Gehalt: Die Frage Gottes nach dem Bruder steht inhaltlich vor der eigentlichen Tat und ermöglicht diese zu allererst. Daß Kain seinen Bruder nicht als solchen und sich selbst damit als dessen Hüter wahrnimmt, ist die Grundlage für alle folgenden Untaten. Und eben die achselzuckende Geste der kainschen Frage •Bin ich denn der Hüter meines Bruders?" (Gen 4,9) kehrt Hilde Domin um: Das Gedicht erscheint als die beschwörend formulierte Hoffnung auf eine ganz andere Welt, in der Menschen einander Brüder sein können und sich fraglos zueinander bekennen. Diese Antwort eines einander Behütens ist für die Dichterin die alles entscheidende, die alle anderen Antwortversuche unnötig macht und sie gleichzeitig zu allererst ermöglicht. Domin unterstützt die Bedeutsamkeit dieser Antwort, indem sie die gesamte erste Strophe auf sie zulaufen läßt. Immer wieder wird die Spannung erhöht, schon frühzeitig war sie angesprochen worden, doch der Leser blieb über viele Zeilen im Unklaren, wie denn die Antwort lautet. An dieser Stelle wird die zweite Fortschreibung gegenüber der biblischen Geschichte deutlich und bedeutsam: Es ist nicht mehr Gott, der Kain nach seinem Bruder fragt, sondern Frage und Antwort spielen sich direkt zwischen den Brüdern ab. Hilde Domin unterstützt diese Zuspitzung noch dadurch, daß am Ende der ersten Strophe offenbleibt, welcher Bruder das •Ja ich bin hier" spricht: In einer ersten Lesart sicherlich Kain, der in einem neuen Anlauf sich anders zu seiner Verantwortung stellt. Möglich aber ist es auch, das Gedicht so zu lesen, daß Abel aufsteht und einen neuen Schritt auf Kain zugeht, ihm eine neue Chance gibt, indem er sich als seinen Bruder bekennt. Aber liegt hier nicht die ungeheure Zumutung: Verlangt die Dichterin nicht schier Unmenschliches, wenn sie vom Opfer verlangt, aufzustehen und erneut auf den Täter zuzugehen? Die Erwartung wird wohl nur dadurch glaubwürdig und zu allererst erträglich, weil sich die Dichterin in der zweiten Strophe als •Kind Abels" zu erkennen gibt. Sie formuliert ihre Hoffnung nicht als unbeteiligte Zuschauerin oder gar von Seiten der Täter aus, die nun vom Opfer um Nachsicht und eine neue Chance bitten. (Dabei ist sie eine überaus genaue Beobachterin, indem sie festhält, daß Kain nicht immer schon Kain ist, sondern durch die Umstände, Entwicklung und - wer weiß - womöglich durch Abel selbst zu Kain wird.) Die flehende Stimme der Dichterin erhält dadurch große Glaubwürdigkeit und verlangt zugleich ungeheure Achtung, daß sie mit Abel ihre eigene Lage in eindringlicher Verdichtung beschreibt. Dabei ist sie durchaus realistisch in der Annahme, daß auch eine erneute Antwort wieder negativ ausfallen könnte. Mit großer Intensität beschreibt sie ihre nachlassenden Kräfte im wiederholten Setzen auf eine neue, andere Antwort. Hierbei bleibt offen, ob die letzte Zeile der zweiten Strophe eine Zustandsbeschreibung (während ich warte) oder ein letzter verzweifelter Flehruf (in welchem Ausmaß ich warte) ist. Denn alles hängt von dieser Antwort ab. Und wenn die Hoffnung auch immer wieder enttäuscht wird, es bleibt nichts als die Hoffnung. Einübung und Weisung 65 Daß diese Hoffnung und Bitte letztlich immer am Rand zum Irrealen steht, verdeutlicht auch ein Blick auf die zu Beginn genannte Gesprächssituation: Der beschwörende Imperativ setzt da ein, wo Abel bereits erschlagen auf dem Feld liegt. Natürlich ist es jetzt möglich, in leicht verharmlosender Interpretation an die vielen kleinen Tode des Alltags zu denken und an die schon dort schwer genug fallenden nötigen Neubeginne. Das wiederholt betonte •täglich" stützt sicher ein solches Verständnis. Aber es ist ebenso möglich, darüber hinaus an die reale biblische Urszene zu denken und die Aufforderung als formulierte Hoffnung wider jede Hoffnung zu hören. Es handelt sich dann um den Einsatz des ganzen Lebens auf jene verheißungsvolle Alternative, die einen ganz neuen Anfang möglich macht. Unterstützt wird diese Lesart sicher durch die umgedrehte Wortstellung in der Zeile •wenn du nur aufstehst", in der womöglich ganz zart die Hoffnung auf Auferstehung, und sei es mitten im Leben, mitschwingt. Auch wenn das Gedicht durch den Hinweis auf tägliche Wiederholung und ein immer neu notwendiges Spiel auch unter den Kindern von Kain und Abel auf die Menschen und ihre Geschichte bezogen bleibt, scheint mir doch diese ganz andere Komponente eben so im Hintergrund zu stehen. Ein solcher Gedanke ließe vielleicht auch nachvollziehen, woher denn das Opfer die Kraft nimmt, immer wieder neu aufzustehen und dem Täter ein neues Spiel anbietend entgegenzugehen. Kain und Abel sind in eine gemeinsame Geschichte von Schuld und Sühne verwickelt, die Kraft zu einem unbedingt notwendigen Neubeginn liegt in der Hoffnung auf jene verheißungsvolle Alternative, daß •alles anders anfängt zwischen uns allen". Ohne hier nun das Gedicht christologisch ausdeuten und überhöhen zu wollen, sei auf ein zweites Gedicht Hilde Domins hingewiesen, in dem auf ähnliche Weise die Sache des Menschen in einen ganz anderen Raum hineinragt oder doch zumindest offenbleibt.-2 EcceHomo (1970) Weniger als die Hoffnung auf ihn das ist der Mensch einarmig immer Nur der gekreuzigte beide Arme weit offen der Hier-Bin-Ich In zwei Teilen wird nach einer Eingangszeile der Titel antithetisch ausgeführt: Auf der einen Seite der Mensch, auf der anderen der Gekreuzigte, der durch das •nur" als Gegensatz und Ausnahme zum •immer" vorgestellt wird. Das •Ecce Homo" erhält so eine doppelte Antwort: es leitet im ersten Teil eine lyrisch-knappe AnthroH. Domin, Gesammelte Gedichte. Frankfurt/M. 1987. 345. Einübung und Weisung 66 pologie ein und gibt darüber Auskunft, was und wie der Mensch ist. Mit Karl-Josef Kuschel: •Die Bestimmung des Menschen als .einarmig' ist Ausdruck für sein verstümmeltes, verkürztes Menschsein. Der Mensch ist nie ganz zur Hingabe fähig."3 Im Gegensatz dazu steht - parallel konstruiert - der Gekreuzigte: Er hat beide Arme einladend geöffnet, ist durch seine Geste zugleich völlig offen für den anderen aber eben auch wehrlos ausgeliefert. Als eine •zur höchsten Intensität gesteigerte Form der Präsenz"4 wird gerade der Gekreuzigte zum gelebten •Hier-Bin-Ich", zur Präsenz in Person. Während der Mensch immer hinter der Hoffnung auf ihn zurückbleibt, drängt der Gekreuzigte sein Angebot geradezu auf, nimmt das hinweisende •Ecce" des Titels (und damit den Gestus des Pilatus! Joh 19,5) auf und zeigt sich selbst als die Wahrwerdung seines Wortes. Hätte man das Gedicht in seinem offenen, äußerst verknappten Duktus genug ernst, beim Wort genommen, wenn es so eindeutig, quasi kreuzestheologisch aufzulösen wäre? Es bleiben einige Fragen, Haken, an denen der Leser hängenbleibt und - erneut liest: Wer ist mit der vorgestellten Frage gemeint, auf wen richtet sich diese zarte, fast verzweifelte Bewegung, die noch hinter Hoffnung zurückbleibt? Es bleibt offen, die nächste Zeile schließt wohl eher an den Titel an und versucht in einem ersten Anlauf eine inhaltliche Füllung, die mit dem auslaufenden •immer" auch zum Abschluß kommt: verstümmelt, auf Hilfe der anderen angewiesen, das ist der Mensch. - Darauf wird in einem zweiten Versuch eine Ausnahme vorgestellt, der Strophenabschnitt, der Satzbeginn, vor allem aber das dem •immer" kontrastive •Nur" signalisieren deutlich einen Wendepunkt, der sich auch auf den Leser überträgt und ihn zu einer regelrechten Atemwende führt. Lesefluß und Verständnis stocken erneut: denn die Zeile endet adjektivisch und spart das Substantiv aus! •Nur der gekreuzigte" wird dadurch polyvalent und womöglich zur tragenden Achse des ganzen Gedichtes. Es bleibt offen, ob das Subjekt der ersten Versgruppe wieder mitzulesen ist und sich so eine fast bittere, verzweifelte Lesart des Gedichtes ergäbe, die tatsächlich weniger als die Hoffnung zuließe: Während der Mensch im Regelfall immer hinter dem ihm möglichen Menschsein der offenen Arme zurückbleibt und einarmig zugleich verschlossen und verkrüppelt ist, hat gerade (und allein) der •gekreuzigte Mensch" beide Arme weit, einladend offen, ist aber eben •als bedingungslos Offener gerade auch der Gekreuzigte."5 Die Zeile ließe sich dann wie eine Übersetzung von Joh 15,13 lesen, daß •keiner größere Liebe hat, als wer sein Leben gibt für seine Freunde". Das Gedicht würde somit zu einem Bild, das unter Aufnahme des Kreuzmotivs ein anderes, mitleidend-liebendes Menschsein benennt, das in der Selbst-Gabe seine Erfüllung findet. Bitter wäre der Klang dieser Lesart deshalb, weil gerade diese eine Ausnahme zur Regel als am Kreuz hängend gezeigt wird: Nur (und erst ?!) am Kreuz sind beide Arme weit offen. K.-J. Kuschel, Jesus in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Gütersloh 21978, 278. Ebd. Kuschel, ebd. Einübung und Weisung 67 Aber das Gedicht ist auch in die andere Richtung lesbar. Dann folgt auf •der gekreuzigte" ein verzögertes Subjekt und es eröffnet sich vielleicht6, ganz zart, eine christologische Leseweise, in der die beidarmige, weit offene Gabe präzise als der •gekreuzigte Hier-Bin-Ich" zu lesen wäre. Die Hinweise auf Neues (Ecce Homo, der gekreuzigte) und Hebräische Bibel (Brennender Dornbusch, Ex 3,4) sind dabei zusammenzulesen, wobei der Blick auf ein Angebot fällt, in dem sich der Helfer selbst als die Hilfe präsent macht: Im Verlauf der Dornbuschszene antwortet Gott auf die Frage nach seinem Namen: •Ich bin der Ich-Bin-Da" (Ex 3,14). Diesen Gestus der Zu-Sage scheint die Dichterin hier aufzugreifen und an das Kreuz rückzubinden Gerade (•nur"!) im und am Kreuz offenbart sich höchste Präsenz. - Doch wessen Präsenz? Die Gottes oder die des Menschen? Es bleibt offen, vielleicht liegt hier die Kühnheit des Gedichtes, in der Offenheit die Präsenz Gottes und die des Menschen für einen Augenblick, eine Atemwende zusammenzusehen. Das Gedicht •Ecce Homo" versucht, eine Geschichte des Menschen zu erzählen, beschreibt sein oft hinter den Möglichkeiten bleibendes, schuldhaftes Leben - und wird somit indirekt auch als dessen Kritik und als Einforderung dialogischen, entgegenkommenden Menschseins lesbar; es entwirft ein Gegen-Bild und bleibt dabei paradox. Gerade dies andere Leben, das man durchaus als glückende Alternative zur Einarmigkeit, als gelebte Pro-Existenz, beschrieben findet, gerade dies andere Leben ist präsent - am Kreuz. Die paradoxe Spannung wird nicht aufgehoben, ist und bleibt auszuhalten, und sie ist vermutlich gerade der schmale Grat über dem Abgrund, der zwischen der Hoffnung und dem •weniger als die Hoffnung" entlangführt. Es mag sich um einen Abgrund handeln, der sich als ein Ab-Grund bergender Liebe offenbart, der die Züge des liebenden Vaters trägt - und nicht zuletzt die Züge des gekreuzigten Auferstandenen. Er ist uns nur (und oft nicht einmal das) im Modus der Hoffnung erreichbar und Aufgabe der Theologie wäre demnach, diese Wunde des Dennoch nicht zu verdrängen, sondern bewußt und im Modus der Hoffnung als eigentlichen Ort der Erfahrung offen zu halten. Christlicher Glaube gäbe gerade so •Rechenschaft über den Grund der Hoffnung, die uns erfüllt" (1 Petr 3,15). Dirk Steinfort, Fleischwangen 6 Man kann diese Deutung mitlesen, muß es aber nicht, muß sich dagegen vielmehr immer vor Augen halten, daß die jüdische Lyrikerin Hilde Domin vor allem die vielen Opfer der jüdischen Geschichte zu Wort bringen will.