Wissenschaft der Altersgesellschaft
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Wissenschaft der Altersgesellschaft
Kultur. | Mittwoch, 10. Oktober 2012 | Seite 21 Wissenschaft der Altersgesellschaft Freistil «Bitte lauter reden!» war das Hauptanliegen an den Badenweiler Literaturtagen Markier den Rothko! Von Christine Richard Von Daniel Morgenthaler Badenweiler. Es ist 9.30 Uhr im Grand Weshalb muss er auch Mark heissen! Auf Englisch heisst «to mark» nämlich «markieren», und genau das hat sich jemand nun zu Herzen genommen: Vladimir Umanets (Name von der Redaktion verraten) hat letzten Sonntag in der Londoner Tate Modern Gallery ein Gemälde von Mark Rothko markiert. Als ob er das Wandschildchen im Sinne eines Befehls gelesen hätte – «Mark Rothko!» –, hat er seine Unterschrift und einen Verweis auf die Kunstbewegung des «Yellowism» (keine Angst, kennt keiner) in die rechte untere Ecke des Bildes platziert. Mit offenbar sehr lautem Filzstift, denn erst durch den Klang von Stift auf Leinwand wurde ein anderer Besucher auf den Vandalismus aufmerksam – und tat sofort selbstlos das einzig Richtige: Er twitterte umgehend ein Foto davon in die Welt hinaus. Über diese Tatsache allein – twittern als erste Hilfe für verletzte Gemälde – liesse sich lange und intensiv nach denken, aber wir waren beim anderen Skandal: dem analogen Geschmiere. Umanets beruft sich nun auch noch auf Künstler wie Marcel Duchamp, der einfachste Gegenstände wie ein Pissoir durch Unterschreiben zum Kunstwerk erhoben hat. Er habe ja nur den Wert des ohnehin millionenschweren Rothkos gesteigert. Vielleicht hat er dabei die Tücken der englischen Sprache und die Mehrdeutigkeit des Wörtchens «mark» unterschätzt: «To mark something down» kann nämlich auch heissen, etwas im Preis heruntersetzen. Das ist ihm mit seiner Markierung nun gut gelungen. Hätte sich Umanets doch statt an Duchamp besser an Coop- und Migros angestellten orientiert: Mit 50%-Kle bern markieren sie vor dem Wochen ende alles, was gerade am Ablaufen ist. So ein Kleber auf den Rothko gepappt wäre weniger selbstverliebt, viel lustiger – und nicht zuletzt richtiger gewesen: Rothko ist durch die inflationäre Vermarktung in Kalendern und auf Katzenfutterpackungen (zwar noch nie gesehen, aber gibts bestimmt) als Künstler eh nur noch halb so viel wert. Als Marke dafür umso mehr – Marke Rothko! hotel Römerbad, Badenweiler. Der Philo soph steht wie Buridans Esel vor dem Frühstücksbuffet. Orangensaft, Apfel saft, Multivitaminsaft. Er überlegt. Was mag in seinem Kopf vorgehen? Viel, we nig, nichts? Saft, Sekt, Wasser? Gestern Abend sprach der Philo soph unter der Kuppel des schmucken Hofsaals zu uns. «Es gibt zu viel Spra che», sprach er. Wie wahr. Einerseits. Andererseits sind wir extra 30 Kilome ter nach Badenweiler gereist, um den Philosophen auch sprechen zu hören. Weil der Philosoph Peter Sloterdijk heisst, hat er zum Sprachüberschuss eine erfreulich offene Einstellung. Er sagt: «Selbst wenn es gar nichts zu sagen gibt, ist der sprechende Mensch der glücklichste.» So gesehen kann man hier sehr, sehr glücklich werden. Wenn einem Veranstalter (oder Kul turredaktor) nichts einfallen will, um das Niveau auf ein erträgliches Level zu heben, dann fallen ihm immer noch zwei Namen ein: Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski. In Badenweiler jetzt war die verschärfte Variante zu erleben: Safranski war Sloterdijk eingefallen. Fröhliche Wissenschaft! Peter Sloterdijk, der mit Safranski im kürzlich abgesetzten «Philosophi schen Quartett» (ZDF) sass, eröffnete am Wochenende die neuen Baden weiler Literaturtage. Nachdem die legendären Römerbad-Musiktage sangund klangvoll untergegangen waren, ebenso der 2008 mit Saus und Braus gestiftete Deutsche Erzählerpreis, war die Not im Hotel Römerbad gross – und Rüdiger Safranski zur Stelle. Safranski ist nicht nur als Autor von dicken, sondern auch wunderbar ver ständlichen Büchern über Schiller, Hei degger und Schopenhauer bekannt. Der zeit arbeitet er über Goethe und neuer dings als Mitglied des SF-Literaturclubs. Seine Frau und er leben seit 2008 in Ba denweiler. Und riefen jetzt mit einem kleinen Kreis kulturinteressierter Bürger die Literaturtage ins Leben – eine «Bür gerinitiative», ein «Akt der Zivilgesell schaft», sagt Safranski. Grosse Worte. Badenweiler im Herbst kann ziem lich tot sein. Wenn sich die kleine Kur stadt durch acht Literaturvorträge zu quirligem Leben erwecken lässt, dann ist ahnbar, wie tot sie ist. Und wie gross die Lust auf Kultur. Die Besucher strö men herbei. Man schleppt sich auf Krücken und an Stöcken. Es kommt zu Betteleien um Karten. Man steht Schlan ge. Man wartet lange. Man spitzt unauf Drängeln. fällig die Ellenbogen beim Man will einen Stuhl. Man sitzt. Das Schlimmste ist geschafft. Auftritt der Sprachverrückten Es ist 18 Uhr. Rüdiger Safranski gibt das Thema der drei tollen Tage vor: «Heilkraft der Literatur?». Heilkraft mit Fragezeichen. Weil richtige Literatur eigentlich nicht heilt, sondern schön wahnsinnig macht. Oder wenigstens heillos ist. Oder von einem stammt, dem auf Erden nicht zu helfen war. Von einem Sprachverrückten. Heile Menschen schreiben selten erhellende Literatur. Rilke verweigerte sich der Psychoanalyse, um «mit seinen Teufeln nicht auch seine Engel aus treiben zu lassen». Hermann Hesse dito. Kunst und Therapie schliessen einander geradezu aus. Für Selbstheiler und Heiltherapeuten ist die Tagung nichts. Der Philosoph des Sprachüberflusses hat das Wort. Peter Sloterdijk hat nichts Neues zu sagen, das aber gewaltig. An dere Autoren sondern auf dem Podium nur ab, was bereits in ihren Neuerschei Der Philosoph und der Initiant. Peter Sloterdijk (links) lauscht den Worten von Rüdiger Safranski. nungen steht; sie scheren sich nicht um das Tagungsthema. Sloterdijk ist besser. Er kombiniert. Er ist ein genialer Mehr fachverwerter. Er denkt in Stromkrei sen, die er zum beliebigen Thema jäh kurzzuschliessen vermag. Ein Begriffs elektriker? Ein Eklektiker? Egal. Es funkt bei Sloterdijk wenigstens, und wir sind hier nicht an der Philosophischen Fakultät, sondern im Hotel Römerbad. Heilkraft der Literatur Ihr wollt einen Beitrag über die «Heilkraft der Literatur»? Paah, nichts leichter als das, scheint der Philosoph des Sprachüberschusses zu sagen. Hier, bitte, da habt ihr sechs Anhaltspunkte für eure grauen Köpfe. Also, Sprache hat erstens eine allergische Funktion: Sie bringt etwas zum Ausschlagen. Oder zum Ausdruck? Weiter. Sprache hat zweitens eine immunologische Funktion: Wenn ich spreche, nehme ich Fremdkörper auf oder weise sie ab. Immunsystem, stopp, da fällt dem Meister eine tolle Definition ein. «Unser Leben», sagt Sloterdijk, «unser Leben ist die Erfolgsphase eines Immunsystems.» Leben als Erfolgsphase des Immun systems: Das klingt rasant – für Leute in einem relativ keimfreien Alter. Und für andere? Zum Nachdenken bleibt keine Zeit. Es folgen zur «Heilkraft der Literatur» die Punkte vier bis sechs. Oder fünf. Literatur hat eine Ein verleibungsfunktion, eine überreakti ve Funktion, und weil sie ins Endgülti ge auf Verklärung zielt, ist sie auch Transfiguration. Ihr eigentliches Ele ment, um mit Nietzsche zu sprechen, ist jedoch «das Jubilatorische». Wenn sie nichts zu sagen hat, feiert die Spra che sich selbst. Wie schön! Wie prächtig. Früher hätte man ge sagt: wie affirmativ. Hat Sprache nichts mehr über sich selbst hinaus zu sagen? Was ist eigentlich mit dem kommunika tiven Handeln im politischen Raum los? Alles weg? Sich ausklinken? Sloterdijk ist müde: «Ich lobe mir die selbst ge gebene Erlaubnis, an der Sorgentotali tät nicht mehr beteiligt zu sein.» Als geis tiges Widerstandsnest darf man sich die von der «Bürgerinitiative» ge gründeten Literaturtage nicht vorstel len. Sondern als Hort nachsommerli cher Einkehr, wo Sloterdijk Sätze weg murmelt wie: «Das aufrührerische Korn denkt, es zerstöre die Mühle, wenn es sich von ihr zermalmen lässt.» Sloterdijk ist eher der Müller, der altes Schrot und Korn zu neuen grossen und kleinen Brötchen backt. Seine «Notizen 2008–2011» (Suhrkamp Ver lag, Berlin 2012) sind von Maximen und Reflexionen seiner Vordenker ge spickt. Davon zehrt er. Das weiss er. Das sagt er auch. Er sagt es nur besser, spek takulärer: «Ich betreibe eine elegante Kannibalisierung von Kollegen und bringe sie in die Gegenwart.» Einen guten «Deal» nennt er das. Das Publikum schweigt. Erschüt tert? Getroffen? Gelangweilt? Man weiss es nicht. Es schweigt immer. Nach jedem Vortrag eine Wortmel dung. Höchstens zwei. Ansonsten: Schweigen im Walde. Hauptanliegen: Bitte lauter reden! Man hört nicht mehr gut. Man sagt nicht mehr viel. Es gibt bei älteren, gerade auch bei hochgebildeten Menschen eine Demuts haltung, die fast wehtut. Sie nehmen auf Vortragsveranstaltungen alles hin. Vielleicht ist es Unsicherheit. Vielleicht Nachsichtigkeit. Es gibt dieses gewisse Lächeln. Dieses Lächeln zieht beim ersten Wort des Vortragenden auto matisch auf die Gesichter, als wolle man ihm im Voraus alle folgenden Worte verzeihen und auch sich selbst, wenn man sie nicht versteht. Richtig fröhlich ist diese Wissenschaft noch nicht. Menschen im Hotel Es kam das Fernsehen. Es kamen Adolf Muschg und Martin Mosebach sowie Wilhelm Schmid. Hermann Hesse war schon 1909 als Kopfwehpa tient in Baden weiler gewesen; sein Biograf Heimo Schwilk und vor allem Hesse-Heraus geber Volker Michels entfalteten vorzüglich Hesses Haltung zur Psychoanalyse. Es las der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil, der bereits 2008 im Römerbad weilte und immer wieder gerne in ge diegenen Hotels Kontakt zum Publikum sucht («Liebesnähe», 2011) – wie viele seiner Kollegen. Sibylle Lewitscharoff etwa reiste von einer viertägigen «Lese runde» im «Waldhaus» (Sils-Maria) nach Badenweiler. Schriftsteller und Traditionshotels pflegen ein innigeres Verhältnis. Sie haben das gleiche Zielpublikum: Men schen, die viel Zeit haben und ein biss chen älter sind. Es werden immer mehr. Unser Lieblingsphilosoph des Sprach überschusses bringt den Wandel auf den Punkt: «Wir sind alle von Langlebig keit bedroht.» Schlimm? Im Gegenteil. Persönliche Note und Notizen Die Badenweiler Literaturtage sind nicht aufregend. Aber prominent be setzt und gediegen, mit einer sehr per sönlichen Note. Sie sind der Entwick lungstyp einer Veranstaltungsart, die Zukunft hat. Arbeitstitel: Fröhliche Wissenschaft in der Altersgesellschaft. Solche Veranstaltungen werden ge braucht. Warum? Am 29. Januar 2011 schrieb unser Lieblingsphilosoph ein ernstes Wort von Goethe in sein Notizbuch: «Der Alte verliert eines der grössten Menschen rechte: Er wird nicht mehr von seines gleichen beurteilt.» In Badenweiler ist das anders. Am 6. April 2011 notierte Peter Sloterdijk: «Sprunghaftes Leben, von Hotel zu Hotel, bis man den Ortswechsel nur noch an den verschiedenen Farben der Marmorbäder festmacht.» Am 3. Oktober 2012 steht der Philo soph im Hotel Römerbad. Das Bad ist nicht aus dickem Marmor. Das Grand hotel ist nicht mehr das, was es war. «Heilkraft der Literatur?» Das Römer bad könnte auch eine kräftigende Finanzspritze gebrauchen. Vielleicht ist es das, was ein Philosoph morgens um 9.30 Uhr am Frühstücksbuffet denkt. Badenweiler Literaturtage im Fernsehen: 18. 10., 23.45 Uhr, SWR 3. «Literatur im Foyer». Auf 3Sat: 25. 11., 10.15 Uhr. Badenweiler Literaturtage im nächsten Jahr: voraussichtlich ab 3. Oktober 2013. www.badenweiler-literaturtage.de www.hotel-roemerbad.de Nachrichten Hollywoodstar Turhan Bey 90-jährig gestorben Wien. Der österreichische Schauspieler Turhan Bey, der in den 1940ern in Hollywood an der Seite von Errol Flynn, John Wayne, Clark Gable und Katherine Hepburn Karriere machte, ist am 30. September im Alter von 90 Jahren in Wien gestorben. Geboren wurde Turhan Bey, eigentlich Gilbert Selahettin Schultavey, 1922 in Wien. 1938 emigrierte er mit seiner jüdischen Mutter in die USA. Sein erster Film hiess «Footsteps in the Dark», sein Partner darin war Errol Flynn. Rasch wurde Bey von den Universal Studios unter Vertrag genommen und spielte neben Berühmtheiten wie Boris Karloff, Walter Houston und Maria Montez. SDA Filmakademie ehrt Bernardo Bertolucci Berlin. Der Regisseur Bernardo Bertolucci (71) erhält den Ehrenpreis der Europäischen Filmakademie für sein Lebenswerk. Der Italiener, der Filme wie «The Last Tango in Paris» oder «1990» drehte, habe einen einzigartigen Beitrag zum Weltkino geleistet, begründete die Akademie die Auszeichnung. Bertolucci wird Ehrengast bei der Verleihung des Europäischen Filmpreises in Malta sein. Er begann seine Karriere als Regieassistent bei Pier Paolo Pasolini und führte bereits mit 21 Jahren Regie. Sein jüngster Film «Io e te» lief dieses Jahr im offiziellen Programm der Internationalen Filmfestspiele Cannes. SDA Die möglichen Gewinner Morgen Donnerstag wird der Literaturnobelpreis vergeben Stockholm. Während alle anderen Nobelpreise lange im Voraus ihre Ter mine festlegen, hält die Schwedische Akademie das Datum für die Bekannt gabe bei der Literatur jeweils lange ge heim. Morgen Donnerstag um 13 Uhr soll es nun aber so weit sein. Als Favo riten gelten dieses Jahr unter anderem der japanische Romancier Haruki Murakami und der Chinese Mo Yan. Während Murakami seit Jahren immer wieder ganz vorn bei den Spekulatio nen genannt wird, tauchte Mo Yan in diesem Jahr erstmals ganz oben auch bei den Wetteinsätzen auf. Im vergangenen Jahr wurde der schwedische Lyriker Tomas Tranströmer ausgezeichnet. Damals zogen beim Wettanbieter Ladbrokes die Einsätze auf Tranströmer unmittelbar vor der Be kanntgabe massiv an. Die Schwedische Akademie leitete eine Untersuchung über «undichte Stellen» in den eigenen Reihen ein, die aber ergebnislos blieb. Vier Tage vor der diesjährigen Bekannt gabe lag bei Ladbrokes Murakami auf dem ersten Platz vor Mo Yan. Als Dritt platzierter kräftig nach oben gerückt war der Ungar Péter Nádas. Allerdings gelten die Chancen auf einen weiteren europäischen Preisträger unter «No bel-Insidern» in Stockholm als begrenzt. Spekuliert wurde, dass es mögli cherweise an der Zeit sei, wieder eine Frau oder einen Nordamerikaner aus zuzeichnen. Unter 108 Preisträgern waren bisher nur zwölf Frauen – Toni Morrison erhielt zugleich als letzte Autorin aus Nordamerika 1993 den Preis. SDA