K3 8/2012 Schwerpunkt - Kreisjugendring München
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K3 8/2012 Schwerpunkt - Kreisjugendring München
20 EXTREM Gut, dass wir darüber gesprochen haben extrem kurz … Bei sogenannten Extremsportarten ist die riskante Situation entweder in der Sportart selbst enthalten oder wird durch den Verzicht sonst üblicher Hilfsmittel, durch Ausübung in ungünstigen Klimazonen oder durch die Steigerung der Belastungsdauer und Massivität (Höhe, Geschwindigkeit) hervorgerufen und verstärkt. Letztlich kann alles extrem sein, wenn es über ein gängiges Maß hinausgeht … Die Zitate im Schwerpunktteil sind von Jungs und Mädchen aus den SBZ Sendling und aus dem frei.raum, die wir gefragt haben, was für sie „extrem“ ist Die aktuelle Debatte um Fan-Kultur wird leider von wenigen aber massiv sichtbaren gewaltbereiten Zuschauern geprägt. Fans zwischen Leben, Liebe und Leiden Unsere Heimat ist die Kurve Die Medien-Öffentlichkeit nimmt Fans meist so wahr: grölend und betrunken, mit Pyrotechnik bewaffnet und jederzeit bereit zur (verbalen oder gar handgreiflichen) Auseinandersetzung mit anderen Fans. Es ist schon richtig; das Handeln der Fans ist oft irrational und von puren Emotionen getrieben – wie das Spiel auf dem Platz auch. Und Emotionen führen schnell zur Leidenschaft, die manchmal maß- und grenzenlos sein kann. Wann man in den 1970er Jahren zu einem Fußballspiel ging, fand man sich als Fan meist unter seinesgleichen wieder – in der Öffentlichkeit wurde man als Exot wahrgenommen. Das Münchner Olympia-Stadion war damals nur dann ausverkauft, wenn die Bayern gegen Gladbach oder den HSV spielten. Lawinen von angeblich fußball-beseelten Müttern, Vätern, Familien und Jugendlichen oder Kolonnen von Pseudo-V.I.P.s, die rund um die Uhr den „Mega-Store“ in der Arena fluten, gab es nicht. Die Fans waren unter sich und keiner nahm Notiz von dieser Fan-Kultur. Die gängige Beschreibung eines Fußballfans lautete „asozialer Rowdy“. Langhaarig, betrunken 8|12 und mit damals topmodischen Schlaghosen torkelten sie durch die Innenstädte. Leben – lieben – leiden Die Fans besaßen aber eines: Leidenschaft, Hingabe für dieses Spiel – meist schon seit dem Vorschulalter. Die Faszination der Stadion-Atmosphäre, die Begeisterung für die Fan-Gesänge und die farbenfrohe Süd-Kurve kannte schier keine Grenzen. Fußball war und ist Magie. Alles drehte sich um das Spiel mit dem Ball auf dem Rasen, das ebenso aufregend, schnell und dynamisch wie langweilig und ermüdend sein konnte. Glück und Leid liegen auch heute noch dicht beieinander – eben ein Tor geschossen, am Ende doch verloren. Denn es geht immer um seine eigene Mannschaft, zu der es fast eine Art Liebesbeziehung gibt. Wochenende für Wochenende – während der sogenannten englischen Wochen sogar alle drei Tage – begleitet man sein Team quer durch die Republik oder gar ins „Was ist für dich extrem? Und warum?“ „Wenn man mit Freunden Fußball spielt, sich umhaut und so. Das ist extrem, weil es lustig ist.“ (m, 13) Ausland. Bei so viel Nähe und Begeisterung für diese Kicker verhallt jedes rationale Argument: Stehen sündhaft teure Eintrittskarten, immense Fahrtkosten und beträchtliche Investitionen für die eigene Verpflegung dafür, dass man einer Mannschaft zujubelt, die den einzelnen Fan weder persönlich kennt noch ihn vermutlich wirklich wertschätzt? Foto: Daniel Hannes, pixelio.de … „extrem“ bedeutet unübertrefflich, außerordentlich, besonders – als das Gegenteil von normal und durchschnittlich. Etwas Extremes impliziert eine Herausforderung, die oft mit Risiko, Gefahr und Nervenkitzel verbunden ist. EXTREM Im schlimmsten Fall ist dem Spieler „XY“ der Fan in der Kurve gleichgültig. Hier wird deutlich, dass sich das Wort „Leidenschaft“ nicht nur phonetisch nah am Verb „leiden“ wiederfindet. Aber auch wenn die eigene Mannschaft verliert, überwiegt das positive Erlebnis im Stadion und bleibt haften. Zwischen Fanatisierung und Gewaltbereitschaft Die sogenannten „Ultras“ – fanatische Anhänger einer Mannschaft, deren oberstes Ziel es ist, ihren Verein immer und überall bestmöglich zu unterstützen –, leben diese Leidenschaft in allem, was sie tun. Im Gegensatz zu Hooligans tun sie dies meist gewaltfrei. In den 1950er und 1960er Jahren in Italien als lose, unorganisierte Fangruppen entstanden, verkörpern die Ultras heute eine extrem leidenschaftliche und dabei gut strukturierte Fan-Kultur. Genau diese Ultras prägen aber das (negative) Bild des Fußballfans in den Medien. Ultras stehen sowohl der Vereinsführung als auch den Ordnern bzw. der Polizei kritisch gegenüber, weil es ihnen vor allem um den Erhalt der eigenen Fan-Kultur und um die Vermeidung einer grenzenlosen Kommerzialisierung des Sports geht. Innerhalb der Ultra-Kultur gibt es – wie in jeder anderen Jugendbewegung auch – gemäßigte aber auch radikalere Gruppen. Medien bedienen oft und gern die Klischees von randalierenden Fans – zeichnen dabei ein Szenario, dass Fans stigmatisiert und ein falsches Bild eines durchschnittlichen Stadion-Besuchers bzw. Besucherin vermittelt. In der Folge wächst der Handlungsdruck auf Politik, Verbände und die Vereine. Als „Schnellschuss“ 21 werden Sicherheitsbestimmungen verschärft und die Fankurven zu Käfigen ausgebaut. Der Radikalisierung einiger Zuschauer/innen liefert das eher Vorschub. Dabei sind die aktuellen gesetzlichen Regelungen ausreichend, um straffällige Fans aus dem Verkehr zu ziehen. Die Fußball-Stadien der ersten und zweiten Bundesliga sind meist auf modernstem Stand und die Polizeipräsenz ist absolut ausreichend. Im Umgang mit extremen – will heißen gewaltbereiten – Fans lautet die Zauberformel „Kommunikation auf Augenhöhe“. Wenn Verbände und Politik allerdings nur über Fans statt gleichberechtigt mit ihnen sprechen, wird es in wenigen Jahren leer sein auf den Rängen – das leidenschaftliche Stadion-Erlebnis könnte dann der Vergangenheit angehören. Toni Meyer Ausbeutung von Tieren zerstört Lebensgrundlagen „Vegxtrem!?“ Ist man schon extrem, wenn man sich gegen ein allgemein akzeptiertes Verhalten stellt und eben nicht mal schnell einen Burger kauft? „Das muss doch schwierig sein?“, „Was kann man denn dann überhaupt noch essen?“, lauten die Fragen, die nicht zwingend negativ intendiert sind, sondern oft von Überforderung und Unwissenheit zeugen. Wann ist also das eigene Ernährungsverhalten extrem? Industrielle Tierhaltung verschlingt etwa ein Drittel der gesamten Land oberfläche der Erde, ist für über 50 Prozent der weltweiten CO 2 -Emissionen verantwortlich (mehr als der gesamte weltweite Verkehr), benötigt enorme Mengen an Wasser (für ein Kilogramm Rindfleisch so viel, wie man in etwa einem Jahr fürs Duschen verbraucht). Dabei essen wir längst nicht alles selbst, sondern exportieren zudem Schlachtabfälle zu Dumpingpreisen in afrikanische Länder. Dort zerstören diese Exporte die heimische Produktion und verschärfen ohnehin schon bestehende Abhängigkeitsverhältnisse. Ende des „weiter so“ Zur Bilanz der (Massen-)Tiernutzung zählen darüber hinaus zahlreiche Krankheiten, Antibiotika-Resistenzen, Epidemien und Foto: Uschi Dreiucker, pixelio.de „Immer die Mitte nehmen, extrem ist nie gut.“ Ein Satz, den man schon zu oft gehört, vielleicht selbst schon formuliert hat. Dahinter stecken meist billige Ausreden im Kampf gegen das schlechte Gewissen. Wenn man hin- statt wegsieht, wenn man sich informiert, seine Verhaltensmuster reflektiert und präventiv agiert, mag man als extrem in seinen Ernährungsgewohnheiten gelten; extrem ist allerdings eher, einfach so weiterzumachen wie bisher. Lust auf Putenschnitzel? jährlich über 50 Milliarden geschlachteter Tiere (ohne Meerestiere). Diese Tiere erleiden nach einem meist sehr kurzen Leben – oder besser Dasein, denn ein Leben ist es nicht – einen gewaltsamen Exodus, denn auch in der Bio-Branche singt und streichelt man Tiere nicht in den Tod. Diese gesamte damit verbundene Industrie tut dies alles eines vergänglichen kulinarischen Genusses wegen. Extreme Vorwürfe – für eine ebenso „Was ist für dich extrem? Und warum?“ „Extrem heißt für mich, verrückte Sachen machen, zum Beispiel Chilis essen – immer eine höhere Stufe.“ (m, 12) extreme Realität. „Warum aber gleich vegan und nicht vegetarisch?“ wird in diesem Kontext schnell nachgeschoben. Eine durchaus berechtigte Frage mit einer verblüffend einfachen Antwort: Eine Milchkuh wird etwa fünf Jahre lang unter schlimmsten Bedingungen und auf engstem Raum gehalten, gegen ihren Willen künstlich befruchtet, nach der Geburt ihrer Kälber beraubt, die dann als zartes Kalbfleisch auf unseren Tellern landen. Lässt diese überzüchtete „Leistungsmaschine“ nach, werden ihre ausgemergelten Überreste geschlachtet und sie folgt ihren Kindern in unsere Mägen. Trotz dieser (bekannten) Umstände und der ökologisch unausweichlichen Folgen wird den Konsument/en/innen die ewige Milchlüge aufgetischt, werden Milchprodukte als „gesund“ verkauft, negative Folgen verschleiert, Milch als notwendig und natürlich für den menschlichen Körper vermarktet. Dabei trinkt kein anderes Lebewesen über die Kindheit hinaus Milch – schon gar nicht artfremde. Widernatürliche Ernährung Auch der Konsum von Eiern hat dramatische Folgen: So gibt es heute zwei unterschiedliche Hühnerrassen; eine zum Eierlegen, eine fürs Fleisch. Bei der erstgenannten Rasse sind 50 Prozent unbrauchbar, weil männlich. Sie werden lebendig geschreddert, vergast oder 8|12 22 EXTREM landen im Müll. Die übrigen Hühner, auch die zur Fleischproduktion gezüchteten, fristen bis zu ihrem Tod auf engstem Raum ein grausames Dasein. Aber Veganismus bedeutet mehr als das Ablehnen tierischer Produkte. Als Lebenseinstellung meint er den gänzlichen Boykott jeglicher Ausbeutung von Tieren, sei es für Nahrung, Kosmetik, Mode oder zu Arbeitsund Unterhaltungszwecken. Denn auch hier werden Tiere gegen ihren Willen misshandelt und oft getötet. Von der Kenntnis zur Erkenntnis ist es kein leichter Schritt; zum tatsächlichen Handeln ein vielfach schwererer. Es genügt nicht, sich über die bekannten Fakten hin und wieder bestürzt zu zeigen, um beim nächsten Einkauf erneut gegen besseres Wissen zu entscheiden. Es genügt nicht, die Wahrheit unbequem zu nennen, man muss ernsthafte Veränderungen anstreben. Wie und wo ginge das leichter als im eigenen Verhalten!? Die Nachfrage bestimmt das Angebot, unsere täglichen Entscheidungen sind daher von Gewicht. Vegan sein bedeutet keinesfalls Verzicht und Mehrkosten, sondern eine Bereicherung. Menschen sind offensichtlich zu selten einsichtig und erheben sich nur zu gern über Tiere, obwohl sie doch – biologisch gesehen – eben solche sind. Wäre der Mensch so lernfähig, wie er dies immer hervorhebt, würde er nicht durch den Konsum tierischer Produkte mittel- und langfristig die Erde zugrunde richten. Ist extrem also wirklich nie gut ..? Viktor Gebhart, AnimalsUnited e.V. Wave-Gotik-Treffen in Leipzig Mein „Schwarzes Pfingsten“ Ich wollte auf keinen Fall als Voyeur auffallen, wollte nur die Stimmung erleben – vielleicht ein paar Fotos machen. Leipzig Hauptbahnhof. Schon auf unserem Weg in die Innenstadt trafen wir auf kleinere Gruppen unterschiedlich „verkleideter“ Menschen: Schwarze und weiße Bräute mit Spitzen verzierten Sonnenschirmen, Latex bekleidete, auf roten Plateaustiefeln balancierende junge Männer und Frauen, schwarz gekleidete Leute, blass geschminkt – in langen Mänteln mit Nieten und Ösen – boten ein Bild, das ich so noch nie gesehen hatte. Laufsteg der Eitelkeiten Die Leipziger Innenstadt verwandelt sich während der jährlich stattfindenden WaveGotik-Treffen zu einem gigantischen Laufsteg, auf dem sich allen Stilrichtungen dieser Bewegung mischen. Vom Baby im Fledermaus-Strampelanzug und von Eltern in Latex mit Schweißerbrillen im Kinderwagen geschoben bis zu Gruppen, die im Modestil des 19. Jahrhunderts gekleidet sind. Daneben Mittelalterfreunde, Menschen in militärisch anmutendem Outfit und Stachel durchbohrten Stahlhelmen und Tierschädel am Gürtel. Dass sich nicht alle immer ganz ernst nehmen, zeigt mir beispielsweise ein rosa Pandabär-Rucksack, der das martialische Gehabe konterkariert. Schüchterne Emos inszenieren sich gleichzeitig im Schottenrock und kunstvoll zerrissenen Strümpfen. Wohin man schaut – immer neue Gestalten und faszinierende Outfits: Eine schwarze Krankenschwester mit rotem Rettungsköfferchen, schwarze Geishas, Jugendliche im Manga-Stil verkleidet, eine Gruppe die einen 8|12 Keine Berührungsängste – letztlich ist die ganze Sache ein riesiger Spaß. Sarg mit ihrer Brotzeit durch die Stadt zieht, ein Vampir, der Stofffledermäuse verkauft und mir dabei in breitestem Berliner Dialekt zuflüstert: „Weste, normal bin ick Schreiner. Et jibt hier och Rechtsanwälte und Ärzte. Goth bleibt man, dit hätte ich früher och nich jeglobt“. Die ganze Vielfalt zeigte sich in aufwendig angefertigten Kostümen, die mit ihren Träger/innen durch die gesamte Stadt ziehen. Die Stimmung verblüfft mich, sehr relaxt, freundlich und offen. Ein Foto zu machen, ist kein Problem. Man posiert gern für die Kamera. Aber nicht nur die Szene freut sich, mindestens einmal im Jahr zusammenzukommen, auch die Leipziger Bevölkerung mischt sich dazwischen. Ein Foto mit Omi im Arm eines schwarzen Priesters ist keine Seltenheit. So viele Kulturen – und kaum Konflikte Das bunt gemischte Publikum spiegelt das gesamte Spektrum der schwarzen Szene – von Goths über Elektro- und Neofolk bis zu BDSM- und Fetisch-Anhängern – wider. Punks, Metaller und Angehörige der Cyberkultur mischen sich ganz selbstverständlich mit Leuten aus der Mittelalter-, der Steampunk- oder Visual-Kei-Szene. Vielleicht funktioniert das alles so gut, weil sich alle Szenen als unpolitisch verstehen – so gibt es keine ideologischen Gräben. Leipzig ist mittlerweile zum Mekka dieses Treffens geworden. Aber warum nur? Ein Vorläufer des heutigen Treffens fand bereits 1988 in Potsdam statt. Anlass war die Walpurgisnacht – 20 Leute waren damals angereist. Hinzu gesellten sich Anhänger der schwarzen Szene, sodass die Veranstaltung schließlich sogar 150 Teilnehmende zählte. „Was ist für dich extrem? Und warum?“ „Horrorfilme wie Scary Movie sind extrem, weil‘s gruselig ist und weil es Spaß macht.“ (w, 13) Für die DDR-Führung ein unkalkulierbares Risiko und höchst unerwünschter Ausdruck von Jugendkultur. Das Regime unterband das Treffen. Erst nach 1989 kam es zur Fortsetzung. Das erste Wave-Gotik-Treffen fand 1992 im damaligen „Eiskeller“ (heute Jugendkulturzentrum „Conne Island“) statt. Bereits zu diesem Treffen kamen über 1.500 Besucher/innen, im Jahr darauf gar 2.000. Das Fotos: Karin Malorny Den Begriff „Schwarzes Pfingsten“ hatte ich bis dato noch nie gehört. Eine befreundete Künstlerin und Fotografin, erzählte mir davon. Kurz entschlossen verabredeten wir uns in Leipzig zu einem echten kulturellen Highlight. Bis zu 20.000 Anhänger/innen aus dem In- und Ausland treffen sich jährlich in der Sachsen-Metropole, um für vier Tage ihre Fantasien auszuleben. Ein Erfahrungsbericht. EXTREM beständig wachsende Festival fand allerdings im Jahr 2000 ein jähes Ende: Insolvenz des Veranstalters. Seit 2001 wird das WaveGotik-Treffen unter neuer Leitung und mit Unterstützung der Stadt Leipzig organisiert; ist sogar Teil des offiziellen Kulturprogramms der Stadt. Die zahlreichen Konzerte während der Pfingsttage umfassen das gesamte musikalische Spektrum der schwarzen Szene. Mittlerweile ist die Zahl der auftretenden Musikgruppen von acht auf 200 gestiegen, verteilt auf Bühnen im gesamten Stadtgebiet. Ein Mittelaltermarkt, heidnisches Dorf, Kino, Lesungen, eine Szenemesse, Kirchen mit Requiem-Konzerten, sogar Veranstaltungen im Leipziger Gewandhaus, im Schauspielhaus, im Parkschloss und im berühmten „Auerbachs Keller“ zählen zu den Programm- 23 Highlights. Übrigens: Nachdem ich mich damals entschlossen hatte, eine nach Weihrauch duftende Stofffledermaus zu kaufen, um sie an meinen Rucksack zu hängen, sprach mich ein Tourist an und fragte mich, ob er ein Foto von machen dürfte. Ich habe natürlich zugestimmt und mich in Pose gestellt … Astrid Weindl, Färberei, KJR Literatur Von albern über unpraktisch bis fantasievoll – Hauptsache es gefällt einem selbst. Alexander Nym, Jennifer Hoffert (Hrsg.) Black celebration, 20 Jahre / 20 years WaveGotik-Treffen, Plöttner Verlag, Leipzig 2011, ISBN 978-3-86211-037-7 Zwischen Statuskonsum und dem Ringen um Anerkennung Identifikation an der Ladenkasse Wann spricht man von einem problematischen Konsumverhalten bei Kindern und Jugendlichen? Axel Dammler Problematisch wird es, wenn mehr Geld ausgegeben wird als vorhanden ist. Auch ein fehlendes Budgetmanagement kann zu Verschuldung führen. Manche Heranwachsende neigen dazu, das Geld, das ihnen beispielsweise in Form von Taschengeld zur Verfügung steht, sofort auszugeben. Es ist allerdings nicht notwendig, dass Kinder und Jugendliche etwas vom Taschengeld zur Seite legen – wenn sie es sofort und ganz ausgeben, ist das dann in Ordnung, so lange sie Dinge dafür kaufen, die sie brauchen. „Ich kaufe – also bin ich.“ Hat Konsum etwas mit Identitätsfindung zu tun? Ja und nein. Kinder haben eigentlich noch keine eigene Identität und definieren sich auch deswegen gerne über den Besitz von Dingen. Man kann das beispielsweise gut am Thema Sammelkarten beobachten. Sie glauben, erst dann zu einer Gruppe zu gehören, wenn sie möglichst viele Star-Wars-Karten haben. Sie konsumieren, um zur Gemeinschaft zu gehören. Leben im Gegensatz dazu Jugendliche eher ihr Streben nach Individualität aus? Im Jugendmarkt gewinnt Individualität tatsächlich stärkere Bedeutung. Es geht zwar gleichfalls um Integration in die Gemeinschaft – aber eben auch um eine Individuali- Kant als Absatzargument: Statuskonsum ist weit verbreitet – ein echter Kaufrausch kommt eher selten vor. sierung im Rahmen dessen, was mir die Clique zulässt; Dinge zu besitzen, die sie als Person beschreiben. Bei Jugendlichen kann man den Satz „Ich kaufe, also bin ich“ letztlich gelten lassen. Besitz von Dingen ist übrigens kulturübergreifend sinnstiftend. Dem Wunsch nach Individualität durch Konsum steht der Gruppenzwang entgegen. Wie wird das aufgelöst? Indem man sich im groben Rahmen gruppenkonform verhält und sich dann in den Details differenziert. Wenn man Sachen bei H+M kauft, ist man z.B. immer auf der sicheren Seite, hat aber doch viel Auswahl für den Foto: Stihl024, pixelio.de Eltern und Medien scheinen sich in der Debatte gegenseitig zu befeuern: Kinder und Jugendliche seien heute vor allem eines – kaufsüchtig und markengeil. Das ist nur ein kleiner Teil der Wahrheit, sagt Axel Dammler, Geschäftsführer iconkids & youth – einem renommierten Jugendforschungsinstitut in München. persönlichen Stil. Und viele Jugendliche tragen adidas und Nike, aber eben jeweils andere Modelle. „Was ist für dich extrem? Und warum?“ „Englisch ist EXTREM schwer.“ (m, 13) Dabei wählen die meisten Jugendlichen sehr pragmatisch die Dinge aus, für die sie Geld ausgeben wollen. Den oft in den Medien zitierten Kaufrausch sehe ich also nicht. Aber es gibt so etwas wie Status-Konsum. Davon sind eher Jugendliche aus sozial schwachen Milieus betroffen. Bei ihnen muss es eine 8|12 EXTREM Foto: G, pixelio.de 24 Rabatt-Aktionen gaukeln vor, dass sich jeder alles leisten kann – oft mit fatalen Folgen. bestimmte Marke bei Sportschuhen oder das iPhone sein. Mangels anderer Möglichkeiten der Partizipation oder Beachtung flüchten sie sich in den Kauf cooler Markenprodukte und wollen sich darüber die Anerkennung sichern. Kinder und Jugendliche, die über ein normal ausgeprägtes Selbstbewusstsein verfügen, brauchen dieses kompensatorische Handeln hingegen nicht. Ich bin deshalb auch ein vehementer Gegner des Betreuungsgeldes, weil meine Erfahrung zeigt, dass zusätzliches Geld zu oft in StatusKonsum fließt und nicht in die Erziehung. Familien in diesem Umfeld suggerieren sich dann selbst das Gefühl, Teil der Gemeinschaft zu sein, weil sie ihre Freunde am Wochenende – dank des Sky-Abos – nach Hause einladen können, um gemeinsam Fußball zu schauen. Was kann getan werden? Zwei Ebenen sind zu beachten. Punkt eins – Gelderziehung. Kinder müssen lernen, mit Taschengeld umzugehen, Konsumfehler zu vermeiden und dass jeder Euro nur einmal ausgegeben werden kann. Punkt zwei – Selbstvertrauen; wie bringe ich Jugendliche dazu, dass sie sich nicht über gekaufte Produkte definieren, sondern über ihre Person. Beide Dinge haben zwar nicht direkt miteinander zu tun – müssen aber parallel vermittelt werden. habe fehlen, hat das auch Folgen für das Konsumverhalten. Weil immer mehr Menschen von Entscheidungsprozessen und aktiver Teilhabe ausgeschlossen sind, wird Ersatzbefriedigung im (sinnlosen) Konsum gesucht. Diese Tendenz wird eher zunehmen. „Was ist für dich extrem? Und warum?“ Ist den Eltern oder der Schule die Dimension des Problems bewusst? Gelderziehung geschieht im Alltag. Aber genau deshalb vermute ich, dass das Problem nicht ausreichend im Blick ist. Dabei prägen vor allem Eltern mit ihrem Konsumstil die Kinder. Auch Status-Konsum der Eltern als Ersatz für gesellschaftliche Teilhabe wird so auf die Kinder weitergegeben. „Bei mir ist alles normal, nicht extrem. Aber wenn ich in einem anderen Land wäre und niemanden kennen würde, das wäre für mich extrem langweilig.“ (w, 14) Andererseits – das Phänomen der massiven Verschuldung von Jugendlichen betrifft nach wie vor nur eine Minderheit. Trotzdem müssen wir uns diesem Problem immer wieder annehmen. Hier müssen alle Akteure und Akteurinnen der schulischen und außerschulischen Bildung aktiv werden. Letztlich helfen nur mehr Selbstbewusstsein und die Einbindung aller gesellschaftlicher Instanzen aus dem Dilemma. Letztlich ist also nicht der Konsum selbst problematisch, sondern eine mangelnde Anerkennungskultur ..? Richtig, es geht hier zunächst um die Ursache. Bestimmte Einstellungsmuster werden nicht durch die Medien produziert, sondern kommen aus der Mitte der Gesellschaft. Das unmittelbare Umfeld prägt. Und wenn hier die Anerkennung und Möglichkeiten zur Teil- Interview: Marko Junghänel Kostenlose Aufklärung zur Lawinengefahr „Bitte! Ich bin noch so jung, ich will nicht sterben.“ Es ist mucksmäuschenstill, als Silke, eine junge Frau die von einer Lawine begraben wurde, von ihrem dramatischen Erlebnis berichtet. Die ganze Schulklasse schaut gebannt auf die Leinwand und erfährt, dass Silke nur überlebt hat, weil ihr Freund schnell und systematisch mit seiner Lawinen-Notfallausrüstung umgehen konnte. Das Interview ist Teil der Unterrichtseinheit von „Check Your Risk“ (CYR), einer Initiative der Jugend des Deutschen Alpenvereins, die seit 2007 schon über 37.000 Schülerinnen und Schüler auf die Gefahren beim Freeriden aufmerksam gemacht hat. Der 8|12 Überleben in der Lawine – durch professionelles Training erlernbar Foto: Jugend des Deutschen Alpenvereins Check Your Risk Deutsche Alpenverein (DAV) reagiert damit auf einen Trend, dass das Fahren abseits gesicherter Pisten immer beliebter wird. Animiert durch einschlägige Videos und Zeitschriften und unterstützt durch die immer besser werdende Ausrüstung trauen sich vermehrt junge Menschen ohne alpine Erfahrung einen Ausflug ins sogenannte „backcountry“ zu. Dabei kommt es immer wieder zu schweren Lawinenunfällen, die vielleicht verhindert hätten werden können. Damit aus Spaß kein Leichtsinn wird „Check Your Risk“ verfolgt das Ziel, junge Schneesportlerinnen und -sportler für die Gefahren von Lawinenabgängen zu sensibi- EXTREM lisieren – ohne ihnen dabei Angst vor dem einmaligen Erlebnis von Abfahrten in unberührtem Pulverschnee zu machen. Vielmehr wird anschaulich und verständlich gezeigt, wie viel Kompetenz die Beurteilung des winterlichen Gebirges benötigt. Der Name „Was ist für dich extrem? Und warum?“ „Ich finde Bungeespringen extrem, weil man sich das nicht einfach so traut und es etwas Besonderes ist, wenn man es dann schafft.“ (m, 12) „Check Your Risk“ ist in diesem Zusammenhang wörtlich zu verstehen: Prüf dein Risiko, begib dich nicht ohne Gefahrenbewusstsein in eine Situation, die dich unter Umständen dein Leben kosten kann! Die Sensibilisierung durch CYR ist dabei nur ein erster Schritt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollen in einem zweiten Schritt nach dem Motto „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ motiviert werden, eine Lawinenausbildung im Rahmen des DAV oder einer Bergschule zu absolvieren. „Check Your Risk“ folgt in seinen Einheiten einem erlebnispädagogischen Ansatz, um den Schüler/inne/n auf angemessene aber doch spielerische Art die notwendigen Inhalte zu vermitteln. Es ist wichtig, auf der Höhe der Zeit zu sein, um die jungen Freerider für „Check Your Risk“ zu gewinnen. Check this list! In der kommenden Wintersaison bietet CYR die folgenden Angebote an: Level 1.0: Auf Anfrage kommen die CYRTrainer kostenlos ins Skilager. Die 90-minütigen Unterrichtseinheiten umfassen einen spannenden Film, Gruppenarbeit und Experimente zum Thema Lawinengefahr und Freeriden. Level 1.5: Der kostenlose CYR-Workshop besteht aus zwei Teilen. Zunächst wird drinnen das Level 1.0 durchgeführt. Draußen Foto: Jugend des Deutschen Alpenvereins Wer sein Leistungsvermögen kennt und richtig beurteilt, erlebt grenzenlosen Ski-Spaß in den Bergen 25 vertiefen die Schülerinnen und Schüler im Anschluss spielerisch die wichtigsten Aspekte zum Thema Lawinengefahr (DAV SnowCard, Notfallausrüstung, Gruppendynamik). Level 2.0: Die CYR-Academy ist die optimale Verbindung von Theorie und Praxis. Das kostenlose Training mit der Notfallausrüstung, dem Lawinenlagebericht und der DAV SnowCard wird exklusiv für Skilageraufenthalte in der Jugendbildungsstätte der JDAV in Bad Hindelang angeboten. Level 3.0: Das CYR-Freeride-Camp wurde speziell für Jugendliche und junge Erwachsene entwickelt: Sie arbeiten eine Woche lang mit erfahrenen CYR-Trainern an ihrer Freeridetechnik und -taktik. Dazu gehören das intensive Training mit der Notfallausrüstung, die Vertiefung der modernen Lawinenkunde und die Optimierung des individuellen Risikoverhaltens. Florian Bischof, JDAV Extreme Hobbys Spaß macht, was extrem ist Der Puls steigt, das Adrenalin schießt durch den Körper, die Sinne sind scharf. Spaß, Action, Risiko, Erfolgserlebnis. Schneller, höher, tiefer, abgefahrener: Extremen Hobbys sind buchstäblich keine Grenzen gesetzt. Einige habe ich mir mal genauer angeschaut. „Was ist für dich extrem? Und warum?“ „Extrem ist, wenn man vom Universum runter springt. So wie der Felix Baumgartner.“ (m, 10) Apnoe-Tauchen – der Rausch der Tiefe Nur beim Anschauen der YouTube-Videos überkommt dem/der Betrachter/in das beklemmende Gefühl, vergebens nach Luft zu ringen. Apnoe-Tauchen, auch Freitauchen genannt, ist die ursprünglichste Form des Tauchens: das Erkunden der Unterwasserwelt ohne Sauerstoffflaschen. Die Kunst des Apnoe-Tauchens besteht in einer speziellen Atemtechnik und -meditation, was der/dem Taucher/in ermöglicht, minutenlang ohne Sauerstoff unter Wasser zu bleiben. Apnoe-Tauchen unterteilt sich in Zeit-, Tiefen- und Streckentauchen, bei denen jeweils unvorstellbare Rekordleistungen erbracht werden. Antrieb für dieses extreme und risikoreiche Hobby ist vor allem die Begeisterung für die Unterwasserwelt, das Erleben von absoluter Ungebundenheit und Freiheit unter Wasser sowie die athletische Herausforderung – das Ertasten und Erreichen der persönlichen Leistungsgrenze. Der aktuelle Rekord beim Zeittauchen im Pool liegt bei 8:23 Minuten (Frauen) und 11:35 Minuten (Männer). Der Rekord beim Tieftauchen ohne technische Beschränkungen liegt bei 160 Meter (Frauen) und 214 Meter (Männer) – extrem faszinierend! Weitere Infos: www.aidainternational.org Sport Stacking Ein neueres extremes Hobby ist das sogenannte „Sport Stacking“ oder auch „Speed Stacking“: ein Geschicklichkeitssport, bei dem man mit zwölf speziellen Plastikbechern Pyramiden in bestimmten Mustern möglichst schnell auf- und wieder abstapelt. Die Sportart entstand in den 1980er Jahren in den USA und kam 2004 nach Deutschland. Inzwischen gibt es weltweit Wettkämpfe in allen Altersklassen, von unter vier bis über 70 Jahren. Antrieb für Sport Stacker ist vor allem der Spaß und der Ehrgeiz, die eigene Leistungsgrenze auszureizen. Sport Stacking ist eine große Herausforderung für die Hand8|12 26 EXTREM Auge-Koordination und fördert Motorik, Geschicklichkeit, Reaktionsgeschwindigkeit und Beidhändigkeit. Im SBZ Sendling gab es im Juni 2012 einen Sport-Stacking-Workshop. „Am Anfang waren viele interessiert und haben es ausprobiert, aber die Kids merkten schnell, dass es viel Übung bedarf, um richtig schnell zu werden“, erzählte Wolfgang Petzold, Einrichtungsleiter und Hobby-Sport-Stacker. Neben anderen Teilnehmenden zeigte der 13-jährige Obi dabei, wie gekonntes Stacking aussieht – so schnell konnten die Gäste nicht schauen: Becher hier, neue Pyramide da; innerhalb von „Was ist für dich extrem? Und warum?“ 15 Sekunden stapelte er den „Cycle“ (eine spezielle Formation). Mit dieser Geschwindigkeit gehört er schon zu den fortgeschrittenen Speed Stackern. „Maaan Obi, du hast echt geschickte Finger“, bewunderte ihn ein Zuschauer, der mühsam versuchte mitzuhalten. „Es macht Spaß, wenn man das so schnell aufstapelt. Da kriegt man fast nix mehr mit, aber es ist auch sehr anstrengend“, betonte Obi aufgeregt und rieb sich die Arme. Der aktuelle Weltrekord (2012) für den „Cycle“ liegt bei der Altersgruppe 13 bis 14 Jahre bei 6:44 Sekunden (Mädchen) und 5:68 Sekunden (Jungen). Weitere Infos www.thewssa.com Ein ganz anderes Extrem: „LAN Partys“ Ein Lichtermeer von Bildschirmen, Kabelsalat, laute Musik und bunte Scheinwerfer – willkommen auf der weltgrößten LANParty „DreamHack 2011“. 12.000 begeisterte PC-Spieler/innen jeden Alters besuchten 2011 die „Zocker-Party“ der Superlative in Foto: Flash Cups GmbH „Extrem finde ich, auf der Bühne stehen und rocken – da kriegt man so ein kribbelndes Gefühl.“ (w, 12) So schnell ist kein Auge … Schweden, um sich vier Tage lang rund um die Uhr bei PC-Spielen wie „Counter-Strike“ und „StarCraft II“ zu messen. Eine LAN-Party ist ein Zusammenschluss von privaten Computern, die durch ein lokales Netzwerk (Local Area Network) verbunden werden. Dabei messen sich die Teilnehmenden in Computerspielen, bei denen Taktik, Strategie, Geschick und Teamwork gefordert werden. Der Ursprung der LAN-Partys liegt in den 1990er Jahren. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts entwickelte sich eine richtige LAN-Party-Szene mit immer größeren LANVeranstaltungen, bei denen bis zu Tausende miteinander bzw. gegeneinander Computer spielen – wenn das nicht extrem ist!? Egal, um welches extreme Hobby es geht – es erfordert große Begeisterung, Ausdauer, Training und vielleicht ein wenig Verrücktheit, um sich zu den „Extremen“ zählen zu können. Den bunten Zauberwürfel (Rubik‘s Cube) in weniger als sieben Sekunden zu „lösen“, mit Schallgeschwindigkeit aus 39.045 Metern aus der Stratosphäre zu springen, über zehn Minuten ohne Atmen in die Tiefen zu tauchen, sich von Brücken, aus Flugzeugen oder von Klippen zu stürzen … „extrem“ fasziniert! Tanja Wirth, Öffentlichkeitsarbeit, KJR Eine persönliche Abrechnung mit dem „Extremen“ Außergewöhnlich, sagenhaft, extravagant Wenn der eigene Body-Mass-Index (BMI) jenseits der 30 liegt, ist man grundsätzlich misstrauisch. Erst recht dann, wenn man den Auftrag erhält, einen Artikel zum Thema extremes Gewicht zu schreiben. Was tun: Die Empfehlungen einschlägiger Ärzte zitieren? Feierlich Besserung – respektive Abspecken zu geloben? Oder vielleicht doch das Wort „extrem“ an sich auf den linguistischen Prüfstand zu stellen. Erstes Aufatmen beim Nachschlagen im guten alten Wörterbuch der Brüder Grimm. Die Vokabel „extrem“ ist dort – zumindest im Nachdruck der Erstausgabe von 1862 – gar 8|12 nicht gelistet. Als Lehnwort findet sich dort maximal die Formulierung „extra“. Bin ich also gar nicht – ob des oben zitierten BMI – extrem dick, sondern nur extra geformt? „Was ist für dich extrem? Und warum?“ „Extrem ist, vom Himmel fallen, wie Felix Baumgartner.“ (w, 12) Zweites Aufatmen: Der Artikel, so versichert man mir auf Nachfrage in der Redaktion, solle ganz allgemein Körperlichkeit und die dabei diagnostizierbaren (extremen) Auffälligkeiten beschreiben. Auf keinen Fall wolle man Pathologisches oder Krankhaftes zur Schau stellen und bewerten. Aber was bliebe dann, wenn nicht von Menschen zu berichten ist, die zwei Meter dreißig und mehr messen, die durch Piercings so durchlöchert sind, dass chronische Inkontinenz zu befürchten ist, oder die, wie unlängst Ercan Demir in dem Film „Pumping Ercan“, zeigen, dass man auch jenseits der 40 noch ein Bodybuilder sein kann, der – würde man ihn mit einer Nadel pieken – wie ein leckender Ballon durch die Luft sauste. Ich beschließe, mich zunächst dem eigentlichen Wort linguistisch zu nähern und stelle bald fest, dass ich es mit einem wirklich unschönen – ja phonetisch fast unangenehmen – Wort zu tun habe. Es schwingt zwar darin etwas scheinbar Faszinierendes mit; für mich persönlich ist es allerdings mit einer Kette negativer Assoziationen verbunden: Extrem EXTREM Was heißt hier „zu viel“? Ist der BMI hinreichendes Kriterium für „extrem sein“? gültigen Indikator für ein langes (gesundes) Leben sehen. Ähnliche Analogien ließen sich leicht für die Anhänger der Körpermodellierung durch Tätowiernadel, Silikon-Implantate oder Hantelbänke herstellen. Denn die Bewertungen reichen auch dort von ästhetischer Meisterleistung bis zu Verbrechen am eigenen Körper – je nach Sichtweise und persönlichem (auch finanziellem) Interesse. Der Artikel könnte bis zu dieser Stelle als „extrem gelabert“ abgetan werden. Und es wäre nicht falsch. Will heißen: „extrem“ ist tatsächlich kein Adjektiv, dessen die deutsche Sprache bedarf. Es ist eine Phrase und verstellt den Blick auf Wesentliches, den Kern einer Person, einer Sache. Es erzeugt – um mit Thomas Bernhard zu sprechen – eine gekünstelte Spannung und traut dem Substantiv, zu dem es gehört, nicht zu, allein zu wirken. Wozu also sollte man es dann benutzen? Unsere extremsten Links ■ Felix Baumgartner Stratos Sprung: www.youtube.com/watch?v=daVaC0chPOI ■ Wingsuit Base Jumping: www.youtube.com/watch?v=I4U6T_BB1N8, http://www.youtube.com/watch?v=ZHw7N8hhUMQ ■ Apnoetauchen in the Blue Hole: www.youtube.com/watch?v=uQITWbAaDx0 ■ Kajaking im Wasserfall Weltrekord (2009): www.youtube.com/watch?v=uNXh9gXDd2Y ■ Longboarding in München: www.youtube.com/watch?v=OX4o-ajcxL8 ■ Bike Jumps: www.youtube.com/watch?v=B3GribQCg6c ■ Buildering (Gebäudeklettern): www.youtube.com/watch?v=tlPk9Ykvz4w ■ Kajak (Rissbachfliegen 2009): http://www.youtube.com/watch?v=JGrIJYAR8Fo ■ Snowboarden: www.youtube.com/watch?v=kh29_SERH0Y ■ Mountainbiken in der Stadt: www.youtube.com/watch?v=Z19zFlPah-o ■ Slackline Worldcup München 2011: www.youtube.com/watch?v=U8v4_4eJaz4 ■ Cup Stacking: www.youtube.com/watch?v=zDjj2ArlIu4&feature=relmfu ■ Pen Spinning Weltrekord 2010: www.youtube.com/watch?v=mTIbc7WKoKs&feature=related ■ Zauberwürfel Rekord 2008: www.youtube.com/watch?v=h6GnxKGicyg&feature=fvwrel Zusammengestellt von Armin Schroth und Gerhard Wagner Foto: Rainer Sturm, pixelio.de ist gleich ungesund, ist gleich unvernünftig, ist gleich leichtsinnig oder ist gar krankhaft. Ich mag dieses Wort nicht und reihe es in meine individuell erstellte Liste verhasster Wörter neben „total“, „Ambiente“ oder „Begrüßungsgeld“ ein. Allerdings: Das Wort ist in der Welt – es zu leugnen scheint albern. Dann vielleicht eine Richtigstellung oder Kommentierung? Wohl an! Vielleicht gelingt sogar eine Auseinandersetzung entlang des schmalen Grats des vermeintlich normalen Körperlichen, ohne der Versuchung zu erliegen, Übergewicht, Tattoos oder auch plastische Chirurgie als extrem und damit anormal zu verteufeln. Was heißt also extrem dick, gar fettleibig? Was sagt es aus? Welcher Maßstab liegt zugrunde und wer hat diesen Maßstab als die gültige Richtschnur festgelegt? Der BMI scheint mir so willkürlich festgelegt wie die Reihenfolge der als Gewinnzahlen beim Samstagslotto ermittelten Kugeln. Andersherum – und das scheint der eigentliche Kern der Diskussion zu sein – führt der leichtfertige Umgang mit dem Wörtchen „extrem“ schnell zu Missbilligung, Ausgrenzung oder gar gewaltsam ausgetragenen Konflikten. Nein, keiner darf sich jetzt in Sicherheit wiegen, denn diese Ausgrenzung hat zwei Perspektiven. Derjenige, der beispielsweise als extrem übergewichtig beschrieben wird, damit sehr schnell als willensschwach, unterschichtzugehörig oder gar suizidal veranlagt stigmatisiert wird, ist ebenso Opfer wie derjenige, der aus der Perspektive des Extremsportlers herablassend auf die Normalen schaut. Gibt es dann überhaupt ein „gesundes Maß“? Ich tendiere in dieser Frage eher zu einem „Nein“. Nicht aus Selbstschutz, sondern ob des (Ver-)Zweifelns an wissenschaftlichen Expertisen, die heute mindestens ein Glas Rotwein pro Tag als gesund und empfehlenswert anpreisen und morgen davon sprechen, dass Alkohol per se zu verbieten sei. Die heute den Laborwert für Cholesterin als überschätzt abtun und morgen darin den einzig 27 Sprache ist verräterisch – vor allem, wenn es um (Be-)Wertung geht. Kennzeichne ich eine Person als in irgendeiner Form extrem, spricht daraus nur selten Bewunderung und Anerkennung. Bezieht sich das Extreme auf Körperdetails, gerät die Beschreibung in der Regel zum Vorwurf, zur Besserwisserei, zur Abgrenzung. Ich mache mich davon nicht frei. „Schau mal, diese extrem dünne Frau“, höre ich mich sagen und meine wohl damit, dass sie sicher ein psychisches Problem hat, „Was ist für dich extrem? Und warum?“ „Extrem!? Vorwärts- und Rückwärtssalto, weil es gefährlich ist – das ist extrem.“ (m, 13) das diese Magersucht hervorruft. „Hast du diese extremen Bodybuilder gesehen?“ und will damit eigentlich ausdrücken, dass diejenigen, die Bodybuilding exzessiv betreiben, in der Regel zur sozialen Unterschicht gehören. Und was hat das alles mit dem Schwerpunkt dieses Heftes zu tun? Vielleicht bleibt am Ende nur eine Botschaft übrig. „Extrem“ ist ein untaugliches – ich würde sogar sagen unerlaubtes – Mittel, Dinge, die jenseits des eigenen Erfahrungs- und Erlebnishorizonts liegen, zu charakterisieren. Denn es sagt alles und nichts – aber schafft persönliche und emotionale Distanz. Die sorgsam gepflegten Vorurteile tun das Übrige dazu. Das Wort aus dem Duden zu streichen (in dem wird es im Gegensatz zum Grimm übrigens erwähnt), scheint auch keine Lösung. Ich entscheide für mich, einzugestehen, dass ich zwar zugegebenermaßen mit einer gewissen Körperfülle ausgestattet bin, mir aber nicht suggerieren lassen will, dies sei extrem im Sinne von kompromisslos und radikal. Mir gefällt eine andere Übersetzung, die der Thesaurus anbietet: extravagant. Marko Junghänel 8|12 28 EXTREM Hilfe zu einem selbstbestimmten Glauben Extrem glauben ... Religion extrem – was versteckt sich hinter diesem Begriff? Gibt es objektive Merkmale, die eine Organisation extremistisch erscheinen lassen? Ab wann ist diese Organisation dann extrem? Zunächst scheint ein Widerspruch aufzutauchen: Es geht bei diesem Thema um Religion, um Glaubensgemeinschaften, um Kirchen. Alle drei stiften ihren Sinn darin, dem Menschen bei der Gestaltung des Lebens eine Hilfe zu sein, Halt und Sinn zu geben, eine Perspektive über das Leben hinaus zu entwickeln. Glaube erfüllt eben diese Aufgaben. Glauben wird aber nicht so verstanden, dass ich etwas „für wahr halte“. Es geht nicht darum, Beweise oder Erklärungen zu finden. Glaube wird im religiösen Sinn als Vertrauen in eine göttliche Macht oder eine höhere Instanz verstanden. „Ich vertraue mein Leben einer höheren Instanz an, ich liefere mich in gewisser Weise einer Religion, einer Weltanschauung aus.“ Sicher geht es in den meisten Glaubensgemeinschaften in erster Linie genau darum. Menschen fühlen sich in einer Gemeinschaft, im Kreis von Gleichgesinnten, die alle (an) das Gleiche glauben, wohl. Sei es eine christliche Gemeinde in traditioneller Form der evangelischen, katholischen oder orthodoxen Kirche oder eine freie Gemeinde. Letztere hat oft eine eigene Prägung, spricht durch mitunter unkonventionelle Formen der Versammlungen ganz andere – oft junge – Menschen an. Oder die islamischen Gemeinden, in denen Menschen ihren Glauben und ihre Kultur pflegen können, oder die vielen anderen religiösen Gruppen und Angebote für die unterschiedlichsten Nationalitäten und spirituellen Bedürfnisse. Ein großer Reichtum für München, in der die gelebte Religionsfreiheit ein Abbild der multikulturellen Gesellschaft ist. Gewiss ist, dass die Auseinandersetzung, der Austausch und die Diskussionen über die jeweils andere Glaubensgemeinschaft dazugehören, dass der Dialog mit dem Andersdenkenden besonders in Glaubensfragen zu einer toleranten und offenen Gesellschaft gehört. Insbesondere deshalb, weil es in den Glaubensgemeinschaften um die Wahrheit geht, um das, was jeweils in einer Religion, in einer Gruppe als wahr erkannt worden ist. Allerdings ist es vom Wort „Wahrheit“ gedanklich nur ein kurzes Stück zum Wort „extrem“. „Wenn ich die Wahrheit habe, kann der mit der anderen Erkenntnis nur die 8|12 Die Evangelikalen (Massen-)Kirchen auf dem Vormarsch: ultrakonservativ, kommerziell, menschenverachtend Unwahrheit haben ...“, sagte ein Gesprächspartner während einer Diskussion. „Es kann doch nur eine Wahrheit geben!“ Was bedeutet das für den Umgang mit anderen? Menschen leiden extrem darunter, dass ihnen immer wieder deutlich gemacht wird: „Du musst genau das glauben, was wir dir sagen, was wir erkannt haben, was in unserer Gruppe als richtig gilt. Du musst funktionieren, du musst die Regeln beachten und dein Leben unter unsere Führung stellen. Wir wissen, was richtig für dich und für die Welt ist.“ Und damit diese Anforderungen erfüllt werden, gibt es die passenden Drohungen dazu: „Wir sind die Einzigen, die errettet „Was ist für dich extrem? Und warum?“ „Extrem heißt für mich, dass etwas brutal ist.“ (m, 13) werden / die das Paradies erreichen / die den Untergang der Erde überleben werden / die im Gericht überleben / die ihre Bestimmung leben können.“ Es ist eine Art „Arche-NoahBewusstsein“: Wir sind im rettenden Schiff, alle anderen sind draußen in der gefährdeten Welt, die demnächst untergehen wird. Angst, Schuldbewusstsein, Unzufriedenheit bzw. Unsicherheit werden angesprochen und es wird suggeriert, dass die Anhänger dieser Gruppe die Auserwählten sind, die mit den besseren Chancen in der Welt, die Überlebenden jeder Katastrophe. Extrem auserwählt, extrem richtig, extrem überzeugt ... Aber da gibt es noch die anderen: den Psychokult aus den USA, der vom Verfassungsschutz beobachtet wird, weil er Ziele und Methoden propagiert, die gegen das Grundgesetz gerichtet sind. Wo Menschen erleben, dass sie zu funktionierenden Rädern eines auf wirtschaftlichen Erfolg ausgerichteten Systems gemacht werden sollen, die die Verbreitung der Organisation durch hohe finanzielle Leistungen sicherstellen. Auch hier steht ein Elitebewusstsein der Mitglieder im Vordergrund: Fähige sollen die Bürgerrechte bekommen (... und die „Unfähigen“?), Tüchtige sollen Erfolg haben können (... und die „Schwachen“?). Letztlich ist es eine kleine Gruppe machthungriger Menschen, die ihre Opfer ausnutzen, um die eigenen Ziele zu verfolgen. Glaubensgemeinschaften, die ihre Mitglieder mit Angst und Drohungen an die Gruppe binden, die einen zornigen und strafenden Gott verkünden und eine ausweglose Situation außerhalb der Gruppe beschwört. Der oder das Böse lauert immer und überall und nur das Befolgen der Lebensregeln bis hinein in private und intime Lebensbereiche würde die Rettung bedeuten. Die Beispiele könnten erweitert werden. Wichtig ist jedoch: Jede Religion, jede Glaubensgemeinschaft birgt in sich das Potenzial, zu einer extremen Gruppe zu werden, eine extreme Form der Glaubenspraxis zu propagieren. Es geht um Menschen, die – wie anfangs beschrieben – auf der Suche nach Hilfe, Sinn und Perspektive für ihr Leben sind. Diese Menschen sind ansprechbar, sind im Zweifelsfall auch verführbar und können aufgrund von Angst und Unsicherheit für Machtphantasien missbraucht werden. Aufmerksam sein und Informationen einholen ist im Ernstfall die beste Möglichkeit, sich zu schützen, denn: Wer nichts weiß, muss alles glauben. Rudi Forstmeier, Evangelische Beratungsstelle Neue religiöse Bewegungen Foto: jesus.ch Immer wieder ist in den Medien von Gruppen und Organisationen die Rede, die als „extreme Glaubensgruppen“ oder auch als „extreme Sekten“ bezeichnet werden. Dabei wird von Menschen berichtet, die in das Umfeld einer religiösen Gruppe geraten sind und dort verletzende Erfahrungen im weitesten Sinn machen mussten.