K3 8/2012 Schwerpunkt - Kreisjugendring München

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K3 8/2012 Schwerpunkt - Kreisjugendring München
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EXTREM
Gut, dass wir darüber gesprochen haben
extrem kurz …
Bei sogenannten Extremsportarten ist die
riskante Situation entweder in der Sportart selbst enthalten oder wird durch den
Verzicht sonst üblicher Hilfsmittel, durch
Ausübung in ungünstigen Klimazonen oder
durch die Steigerung der Belastungsdauer
und Massivität (Höhe, Geschwindigkeit)
hervorgerufen und verstärkt. Letztlich kann
alles extrem sein, wenn es über ein gängiges
Maß hinausgeht …
Die Zitate im Schwerpunktteil sind von
Jungs und Mädchen aus den SBZ Sendling und
aus dem frei.raum, die wir gefragt haben, was
für sie „extrem“ ist
Die aktuelle Debatte um Fan-Kultur wird leider von wenigen aber massiv sichtbaren gewaltbereiten Zuschauern geprägt.
Fans zwischen Leben, Liebe und Leiden
Unsere Heimat ist die Kurve
Die Medien-Öffentlichkeit nimmt Fans meist so wahr: grölend und betrunken,
mit Pyrotechnik bewaffnet und jederzeit bereit zur (verbalen oder gar handgreiflichen) Auseinandersetzung mit anderen Fans. Es ist schon richtig; das Handeln
der Fans ist oft irrational und von puren Emotionen getrieben – wie das Spiel auf
dem Platz auch. Und Emotionen führen schnell zur Leidenschaft, die manchmal
maß- und grenzenlos sein kann.
Wann man in den 1970er Jahren zu einem
Fußballspiel ging, fand man sich als Fan meist
unter seinesgleichen wieder – in der Öffentlichkeit wurde man als Exot wahrgenommen.
Das Münchner Olympia-Stadion war damals
nur dann ausverkauft, wenn die Bayern gegen
Gladbach oder den HSV spielten. Lawinen von
angeblich fußball-beseelten Müttern, Vätern, Familien und Jugendlichen oder Kolonnen von Pseudo-V.I.P.s, die rund um die Uhr
den „Mega-Store“ in der Arena fluten, gab es
nicht. Die Fans waren unter sich und keiner
nahm Notiz von dieser Fan-Kultur. Die gängige Beschreibung eines Fußballfans lautete
„asozialer Rowdy“. Langhaarig, betrunken
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und mit damals topmodischen Schlaghosen
torkelten sie durch die Innenstädte.
Leben – lieben – leiden
Die Fans besaßen aber eines: Leidenschaft,
Hingabe für dieses Spiel – meist schon seit
dem Vorschulalter. Die Faszination der Stadion-Atmosphäre, die Begeisterung für die
Fan-Gesänge und die farbenfrohe Süd-Kurve
kannte schier keine Grenzen. Fußball war und
ist Magie. Alles drehte sich um das Spiel mit
dem Ball auf dem Rasen, das ebenso aufregend, schnell und dynamisch wie langweilig
und ermüdend sein konnte. Glück und Leid
liegen auch heute noch dicht beieinander
– eben ein Tor geschossen, am Ende doch
verloren. Denn es geht immer um seine eigene
Mannschaft, zu der es fast eine Art Liebesbeziehung gibt. Wochenende für Wochenende
– während der sogenannten englischen Wochen sogar alle drei Tage – begleitet man sein
Team quer durch die Republik oder gar ins
„Was ist für dich extrem? Und warum?“
„Wenn man mit Freunden Fußball
spielt, sich umhaut und so. Das ist
extrem, weil es lustig ist.“ (m, 13)
Ausland. Bei so viel Nähe und Begeisterung
für diese Kicker verhallt jedes rationale Argument: Stehen sündhaft teure Eintrittskarten,
immense Fahrtkosten und beträchtliche
Investitionen für die eigene Verpflegung
dafür, dass man einer Mannschaft zujubelt,
die den einzelnen Fan weder persönlich kennt
noch ihn vermutlich wirklich wertschätzt?
Foto: Daniel Hannes, pixelio.de
… „extrem“ bedeutet unübertrefflich, außerordentlich, besonders – als
das Gegenteil von normal und durchschnittlich. Etwas Extremes impliziert
eine Herausforderung, die oft mit
Risiko, Gefahr und Nervenkitzel verbunden ist.
EXTREM
Im schlimmsten Fall ist dem Spieler „XY“ der
Fan in der Kurve gleichgültig.
Hier wird deutlich, dass sich das Wort
„Leidenschaft“ nicht nur phonetisch nah am
Verb „leiden“ wiederfindet. Aber auch wenn
die eigene Mannschaft verliert, überwiegt
das positive Erlebnis im Stadion und bleibt
haften.
Zwischen Fanatisierung
und Gewaltbereitschaft
Die sogenannten „Ultras“ – fanatische
Anhänger einer Mannschaft, deren oberstes
Ziel es ist, ihren Verein immer und überall
bestmöglich zu unterstützen –, leben diese Leidenschaft in allem, was sie tun. Im
Gegensatz zu Hooligans tun sie dies meist
gewaltfrei. In den 1950er und 1960er Jahren
in Italien als lose, unorganisierte Fangruppen
entstanden, verkörpern die Ultras heute
eine extrem leidenschaftliche und dabei gut
strukturierte Fan-Kultur. Genau diese Ultras
prägen aber das (negative) Bild des Fußballfans in den Medien. Ultras stehen sowohl der
Vereinsführung als auch den Ordnern bzw. der
Polizei kritisch gegenüber, weil es ihnen vor
allem um den Erhalt der eigenen Fan-Kultur
und um die Vermeidung einer grenzenlosen
Kommerzialisierung des Sports geht. Innerhalb der Ultra-Kultur gibt es – wie in jeder
anderen Jugendbewegung auch – gemäßigte
aber auch radikalere Gruppen. Medien bedienen oft und gern die Klischees von randalierenden Fans – zeichnen dabei ein Szenario,
dass Fans stigmatisiert und ein falsches Bild
eines durchschnittlichen Stadion-Besuchers
bzw. Besucherin vermittelt. In der Folge
wächst der Handlungsdruck auf Politik, Verbände und die Vereine. Als „Schnellschuss“
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werden Sicherheitsbestimmungen verschärft
und die Fankurven zu Käfigen ausgebaut. Der
Radikalisierung einiger Zuschauer/innen
liefert das eher Vorschub.
Dabei sind die aktuellen gesetzlichen Regelungen ausreichend, um straffällige Fans aus
dem Verkehr zu ziehen. Die Fußball-Stadien
der ersten und zweiten Bundesliga sind meist
auf modernstem Stand und die Polizeipräsenz
ist absolut ausreichend. Im Umgang mit extremen – will heißen gewaltbereiten – Fans
lautet die Zauberformel „Kommunikation
auf Augenhöhe“. Wenn Verbände und Politik
allerdings nur über Fans statt gleichberechtigt mit ihnen sprechen, wird es in wenigen
Jahren leer sein auf den Rängen – das leidenschaftliche Stadion-Erlebnis könnte dann der
Vergangenheit angehören.
Toni Meyer
Ausbeutung von Tieren zerstört Lebensgrundlagen
„Vegxtrem!?“
Ist man schon extrem, wenn man sich
gegen ein allgemein akzeptiertes Verhalten
stellt und eben nicht mal schnell einen Burger kauft? „Das muss doch schwierig sein?“,
„Was kann man denn dann überhaupt noch
essen?“, lauten die Fragen, die nicht zwingend negativ intendiert sind, sondern oft von
Überforderung und Unwissenheit zeugen.
Wann ist also das eigene Ernährungsverhalten extrem? Industrielle Tierhaltung
verschlingt etwa ein Drittel der gesamten
Land oberfläche der Erde, ist für über 50
Prozent der weltweiten CO 2 -Emissionen
verantwortlich (mehr als der gesamte weltweite Verkehr), benötigt enorme Mengen
an Wasser (für ein Kilogramm Rindfleisch
so viel, wie man in etwa einem Jahr fürs
Duschen verbraucht). Dabei essen wir längst
nicht alles selbst, sondern exportieren zudem
Schlachtabfälle zu Dumpingpreisen in afrikanische Länder. Dort zerstören diese Exporte
die heimische Produktion und verschärfen
ohnehin schon bestehende Abhängigkeitsverhältnisse.
Ende des „weiter so“
Zur Bilanz der (Massen-)Tiernutzung zählen darüber hinaus zahlreiche Krankheiten,
Antibiotika-Resistenzen, Epidemien und
Foto: Uschi Dreiucker, pixelio.de
„Immer die Mitte nehmen, extrem ist
nie gut.“ Ein Satz, den man schon zu oft
gehört, vielleicht selbst schon formuliert hat. Dahinter stecken meist billige
Ausreden im Kampf gegen das schlechte
Gewissen. Wenn man hin- statt wegsieht, wenn man sich informiert, seine
Verhaltensmuster reflektiert und präventiv agiert, mag man als extrem in
seinen Ernährungsgewohnheiten gelten; extrem ist allerdings eher, einfach
so weiterzumachen wie bisher.
Lust auf Putenschnitzel?
jährlich über 50 Milliarden geschlachteter
Tiere (ohne Meerestiere). Diese Tiere erleiden nach einem meist sehr kurzen Leben
– oder besser Dasein, denn ein Leben ist es
nicht – einen gewaltsamen Exodus, denn
auch in der Bio-Branche singt und streichelt
man Tiere nicht in den Tod. Diese gesamte
damit verbundene Industrie tut dies alles
eines vergänglichen kulinarischen Genusses
wegen. Extreme Vorwürfe – für eine ebenso
„Was ist für dich extrem? Und warum?“
„Extrem heißt für mich, verrückte Sachen machen, zum Beispiel
Chilis essen – immer eine höhere
Stufe.“ (m, 12)
extreme Realität.
„Warum aber gleich vegan und nicht vegetarisch?“ wird in diesem Kontext schnell
nachgeschoben. Eine durchaus berechtigte
Frage mit einer verblüffend einfachen Antwort: Eine Milchkuh wird etwa fünf Jahre
lang unter schlimmsten Bedingungen und
auf engstem Raum gehalten, gegen ihren
Willen künstlich befruchtet, nach der Geburt
ihrer Kälber beraubt, die dann als zartes
Kalbfleisch auf unseren Tellern landen. Lässt
diese überzüchtete „Leistungsmaschine“
nach, werden ihre ausgemergelten Überreste
geschlachtet und sie folgt ihren Kindern in
unsere Mägen.
Trotz dieser (bekannten) Umstände und der
ökologisch unausweichlichen Folgen wird den
Konsument/en/innen die ewige Milchlüge
aufgetischt, werden Milchprodukte als „gesund“ verkauft, negative Folgen verschleiert,
Milch als notwendig und natürlich für den
menschlichen Körper vermarktet. Dabei trinkt
kein anderes Lebewesen über die Kindheit
hinaus Milch – schon gar nicht artfremde.
Widernatürliche Ernährung
Auch der Konsum von Eiern hat dramatische
Folgen: So gibt es heute zwei unterschiedliche Hühnerrassen; eine zum Eierlegen, eine
fürs Fleisch. Bei der erstgenannten Rasse sind
50 Prozent unbrauchbar, weil männlich. Sie
werden lebendig geschreddert, vergast oder
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EXTREM
landen im Müll. Die übrigen Hühner, auch
die zur Fleischproduktion gezüchteten,
fristen bis zu ihrem Tod auf engstem Raum
ein grausames Dasein.
Aber Veganismus bedeutet mehr als das
Ablehnen tierischer Produkte. Als Lebenseinstellung meint er den gänzlichen Boykott
jeglicher Ausbeutung von Tieren, sei es für
Nahrung, Kosmetik, Mode oder zu Arbeitsund Unterhaltungszwecken. Denn auch hier
werden Tiere gegen ihren Willen misshandelt
und oft getötet.
Von der Kenntnis zur Erkenntnis ist es
kein leichter Schritt; zum tatsächlichen
Handeln ein vielfach schwererer. Es genügt
nicht, sich über die bekannten Fakten hin
und wieder bestürzt zu zeigen, um beim
nächsten Einkauf erneut gegen besseres
Wissen zu entscheiden. Es genügt nicht, die
Wahrheit unbequem zu nennen, man muss
ernsthafte Veränderungen anstreben. Wie
und wo ginge das leichter als im eigenen
Verhalten!? Die Nachfrage bestimmt das
Angebot, unsere täglichen Entscheidungen
sind daher von Gewicht. Vegan sein bedeutet
keinesfalls Verzicht und Mehrkosten, sondern
eine Bereicherung.
Menschen sind offensichtlich zu selten
einsichtig und erheben sich nur zu gern
über Tiere, obwohl sie doch – biologisch gesehen – eben solche sind. Wäre der Mensch
so lernfähig, wie er dies immer hervorhebt,
würde er nicht durch den Konsum tierischer
Produkte mittel- und langfristig die Erde
zugrunde richten. Ist extrem also wirklich
nie gut ..?
Viktor Gebhart, AnimalsUnited e.V.
Wave-Gotik-Treffen in Leipzig
Mein „Schwarzes Pfingsten“
Ich wollte auf keinen Fall als Voyeur
auffallen, wollte nur die Stimmung erleben
– vielleicht ein paar Fotos machen. Leipzig
Hauptbahnhof. Schon auf unserem Weg in die
Innenstadt trafen wir auf kleinere Gruppen
unterschiedlich „verkleideter“ Menschen:
Schwarze und weiße Bräute mit Spitzen verzierten Sonnenschirmen, Latex bekleidete,
auf roten Plateaustiefeln balancierende junge
Männer und Frauen, schwarz gekleidete Leute, blass geschminkt – in langen Mänteln mit
Nieten und Ösen – boten ein Bild, das ich so
noch nie gesehen hatte.
Laufsteg der Eitelkeiten
Die Leipziger Innenstadt verwandelt sich
während der jährlich stattfindenden WaveGotik-Treffen zu einem gigantischen Laufsteg, auf dem sich allen Stilrichtungen
dieser Bewegung mischen. Vom Baby im
Fledermaus-Strampelanzug und von Eltern
in Latex mit Schweißerbrillen im Kinderwagen geschoben bis zu Gruppen, die im
Modestil des 19. Jahrhunderts gekleidet sind.
Daneben Mittelalterfreunde, Menschen in
militärisch anmutendem Outfit und Stachel
durchbohrten Stahlhelmen und Tierschädel
am Gürtel. Dass sich nicht alle immer ganz
ernst nehmen, zeigt mir beispielsweise ein
rosa Pandabär-Rucksack, der das martialische
Gehabe konterkariert. Schüchterne Emos
inszenieren sich gleichzeitig im Schottenrock und kunstvoll zerrissenen Strümpfen.
Wohin man schaut – immer neue Gestalten
und faszinierende Outfits: Eine schwarze
Krankenschwester mit rotem Rettungsköfferchen, schwarze Geishas, Jugendliche im
Manga-Stil verkleidet, eine Gruppe die einen
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Keine Berührungsängste – letztlich ist die ganze Sache ein riesiger Spaß.
Sarg mit ihrer Brotzeit durch die Stadt zieht,
ein Vampir, der Stofffledermäuse verkauft
und mir dabei in breitestem Berliner Dialekt
zuflüstert: „Weste, normal bin ick Schreiner.
Et jibt hier och Rechtsanwälte und Ärzte.
Goth bleibt man, dit hätte ich früher och
nich jeglobt“.
Die ganze Vielfalt zeigte sich in aufwendig
angefertigten Kostümen, die mit ihren Träger/innen durch die gesamte Stadt ziehen.
Die Stimmung verblüfft mich, sehr relaxt,
freundlich und offen. Ein Foto zu machen,
ist kein Problem. Man posiert gern für die
Kamera. Aber nicht nur die Szene freut sich,
mindestens einmal im Jahr zusammenzukommen, auch die Leipziger Bevölkerung
mischt sich dazwischen. Ein Foto mit Omi
im Arm eines schwarzen Priesters ist keine
Seltenheit.
So viele Kulturen –
und kaum Konflikte
Das bunt gemischte Publikum spiegelt
das gesamte Spektrum der schwarzen Szene
– von Goths über Elektro- und Neofolk bis
zu BDSM- und Fetisch-Anhängern – wider.
Punks, Metaller und Angehörige der Cyberkultur mischen sich ganz selbstverständlich
mit Leuten aus der Mittelalter-, der Steampunk- oder Visual-Kei-Szene. Vielleicht
funktioniert das alles so gut, weil sich alle
Szenen als unpolitisch verstehen – so gibt
es keine ideologischen Gräben.
Leipzig ist mittlerweile zum Mekka dieses Treffens geworden. Aber warum nur?
Ein Vorläufer des heutigen Treffens fand
bereits 1988 in Potsdam statt. Anlass war
die Walpurgisnacht – 20 Leute waren damals
angereist. Hinzu gesellten sich Anhänger der
schwarzen Szene, sodass die Veranstaltung
schließlich sogar 150 Teilnehmende zählte.
„Was ist für dich extrem? Und warum?“
„Horrorfilme wie Scary Movie sind
extrem, weil‘s gruselig ist und weil
es Spaß macht.“ (w, 13)
Für die DDR-Führung ein unkalkulierbares
Risiko und höchst unerwünschter Ausdruck
von Jugendkultur. Das Regime unterband
das Treffen. Erst nach 1989 kam es zur
Fortsetzung.
Das erste Wave-Gotik-Treffen fand 1992
im damaligen „Eiskeller“ (heute Jugendkulturzentrum „Conne Island“) statt. Bereits
zu diesem Treffen kamen über 1.500 Besucher/innen, im Jahr darauf gar 2.000. Das
Fotos: Karin Malorny
Den Begriff „Schwarzes Pfingsten“
hatte ich bis dato noch nie gehört. Eine
befreundete Künstlerin und Fotografin,
erzählte mir davon. Kurz entschlossen
verabredeten wir uns in Leipzig zu einem echten kulturellen Highlight. Bis
zu 20.000 Anhänger/innen aus dem
In- und Ausland treffen sich jährlich
in der Sachsen-Metropole, um für vier
Tage ihre Fantasien auszuleben. Ein
Erfahrungsbericht.
EXTREM
beständig wachsende Festival fand allerdings
im Jahr 2000 ein jähes Ende: Insolvenz des
Veranstalters. Seit 2001 wird das WaveGotik-Treffen unter neuer Leitung und mit
Unterstützung der Stadt Leipzig organisiert;
ist sogar Teil des offiziellen Kulturprogramms
der Stadt.
Die zahlreichen Konzerte während der
Pfingsttage umfassen das gesamte musikalische Spektrum der schwarzen Szene.
Mittlerweile ist die Zahl der auftretenden
Musikgruppen von acht auf 200 gestiegen,
verteilt auf Bühnen im gesamten Stadtgebiet.
Ein Mittelaltermarkt, heidnisches Dorf, Kino,
Lesungen, eine Szenemesse, Kirchen mit
Requiem-Konzerten, sogar Veranstaltungen
im Leipziger Gewandhaus, im Schauspielhaus, im Parkschloss und im berühmten
„Auerbachs Keller“ zählen zu den Programm-
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Highlights.
Übrigens: Nachdem ich mich damals entschlossen hatte, eine nach Weihrauch duftende Stofffledermaus zu kaufen, um sie an
meinen Rucksack zu hängen, sprach mich
ein Tourist an und fragte mich, ob er ein
Foto von machen dürfte. Ich habe natürlich
zugestimmt und mich in Pose gestellt …
Astrid Weindl,
Färberei, KJR
Literatur
Von albern über unpraktisch bis fantasievoll – Hauptsache es gefällt einem
selbst.
Alexander Nym, Jennifer Hoffert (Hrsg.)
Black celebration, 20 Jahre / 20 years WaveGotik-Treffen, Plöttner Verlag, Leipzig 2011,
ISBN 978-3-86211-037-7
Zwischen Statuskonsum und dem Ringen um Anerkennung
Identifikation an der Ladenkasse
Wann spricht man von einem problematischen Konsumverhalten bei Kindern und
Jugendlichen?
Axel Dammler Problematisch wird es, wenn
mehr Geld ausgegeben wird als vorhanden
ist. Auch ein fehlendes Budgetmanagement
kann zu Verschuldung führen. Manche Heranwachsende neigen dazu, das Geld, das ihnen
beispielsweise in Form von Taschengeld zur
Verfügung steht, sofort auszugeben. Es ist
allerdings nicht notwendig, dass Kinder und
Jugendliche etwas vom Taschengeld zur Seite
legen – wenn sie es sofort und ganz ausgeben,
ist das dann in Ordnung, so lange sie Dinge
dafür kaufen, die sie brauchen.
„Ich kaufe – also bin ich.“ Hat Konsum
etwas mit Identitätsfindung zu tun?
Ja und nein. Kinder haben eigentlich noch
keine eigene Identität und definieren sich
auch deswegen gerne über den Besitz von
Dingen. Man kann das beispielsweise gut am
Thema Sammelkarten beobachten. Sie glauben, erst dann zu einer Gruppe zu gehören,
wenn sie möglichst viele Star-Wars-Karten
haben. Sie konsumieren, um zur Gemeinschaft zu gehören.
Leben im Gegensatz dazu Jugendliche eher
ihr Streben nach Individualität aus?
Im Jugendmarkt gewinnt Individualität
tatsächlich stärkere Bedeutung. Es geht zwar
gleichfalls um Integration in die Gemeinschaft – aber eben auch um eine Individuali-
Kant als Absatzargument: Statuskonsum ist weit verbreitet – ein echter Kaufrausch
kommt eher selten vor.
sierung im Rahmen dessen, was mir die Clique
zulässt; Dinge zu besitzen, die sie als Person
beschreiben. Bei Jugendlichen kann man
den Satz „Ich kaufe, also bin ich“ letztlich
gelten lassen. Besitz von Dingen ist übrigens
kulturübergreifend sinnstiftend.
Dem Wunsch nach Individualität durch
Konsum steht der Gruppenzwang entgegen. Wie wird das aufgelöst?
Indem man sich im groben Rahmen gruppenkonform verhält und sich dann in den Details
differenziert. Wenn man Sachen bei H+M
kauft, ist man z.B. immer auf der sicheren
Seite, hat aber doch viel Auswahl für den
Foto: Stihl024, pixelio.de
Eltern und Medien scheinen sich in
der Debatte gegenseitig zu befeuern:
Kinder und Jugendliche seien heute
vor allem eines – kaufsüchtig und
markengeil. Das ist nur ein kleiner Teil
der Wahrheit, sagt Axel Dammler, Geschäftsführer iconkids & youth – einem
renommierten Jugendforschungsinstitut in München.
persönlichen Stil. Und viele Jugendliche
tragen adidas und Nike, aber eben jeweils
andere Modelle.
„Was ist für dich extrem? Und warum?“
„Englisch ist EXTREM schwer.“
(m, 13)
Dabei wählen die meisten Jugendlichen sehr
pragmatisch die Dinge aus, für die sie Geld
ausgeben wollen. Den oft in den Medien zitierten Kaufrausch sehe ich also nicht.
Aber es gibt so etwas wie Status-Konsum. Davon sind eher Jugendliche aus sozial schwachen Milieus betroffen. Bei ihnen muss es eine
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EXTREM
Foto: G, pixelio.de
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Rabatt-Aktionen gaukeln vor, dass sich jeder alles leisten kann – oft mit fatalen Folgen.
bestimmte Marke bei Sportschuhen oder das
iPhone sein. Mangels anderer Möglichkeiten
der Partizipation oder Beachtung flüchten
sie sich in den Kauf cooler Markenprodukte
und wollen sich darüber die Anerkennung
sichern. Kinder und Jugendliche, die über
ein normal ausgeprägtes Selbstbewusstsein
verfügen, brauchen dieses kompensatorische
Handeln hingegen nicht.
Ich bin deshalb auch ein vehementer Gegner
des Betreuungsgeldes, weil meine Erfahrung
zeigt, dass zusätzliches Geld zu oft in StatusKonsum fließt und nicht in die Erziehung.
Familien in diesem Umfeld suggerieren sich
dann selbst das Gefühl, Teil der Gemeinschaft
zu sein, weil sie ihre Freunde am Wochenende – dank des Sky-Abos – nach Hause
einladen können, um gemeinsam Fußball
zu schauen.
Was kann getan werden?
Zwei Ebenen sind zu beachten. Punkt eins
– Gelderziehung. Kinder müssen lernen,
mit Taschengeld umzugehen, Konsumfehler
zu vermeiden und dass jeder Euro nur einmal ausgegeben werden kann. Punkt zwei
– Selbstvertrauen; wie bringe ich Jugendliche dazu, dass sie sich nicht über gekaufte
Produkte definieren, sondern über ihre
Person. Beide Dinge haben zwar nicht direkt
miteinander zu tun – müssen aber parallel
vermittelt werden.
habe fehlen, hat das auch Folgen für das Konsumverhalten. Weil immer mehr Menschen
von Entscheidungsprozessen und aktiver
Teilhabe ausgeschlossen sind, wird Ersatzbefriedigung im (sinnlosen) Konsum gesucht.
Diese Tendenz wird eher zunehmen.
„Was ist für dich extrem? Und warum?“
Ist den Eltern oder der Schule die Dimension des Problems bewusst?
Gelderziehung geschieht im Alltag. Aber
genau deshalb vermute ich, dass das Problem
nicht ausreichend im Blick ist. Dabei prägen
vor allem Eltern mit ihrem Konsumstil die
Kinder. Auch Status-Konsum der Eltern als
Ersatz für gesellschaftliche Teilhabe wird so
auf die Kinder weitergegeben.
„Bei mir ist alles normal, nicht
extrem. Aber wenn ich in einem
anderen Land wäre und niemanden
kennen würde, das wäre für mich
extrem langweilig.“ (w, 14)
Andererseits – das Phänomen der massiven
Verschuldung von Jugendlichen betrifft
nach wie vor nur eine Minderheit. Trotzdem
müssen wir uns diesem Problem immer wieder
annehmen. Hier müssen alle Akteure und
Akteurinnen der schulischen und außerschulischen Bildung aktiv werden. Letztlich
helfen nur mehr Selbstbewusstsein und die
Einbindung aller gesellschaftlicher Instanzen
aus dem Dilemma.
Letztlich ist also nicht der Konsum selbst
problematisch, sondern eine mangelnde
Anerkennungskultur ..?
Richtig, es geht hier zunächst um die Ursache. Bestimmte Einstellungsmuster werden
nicht durch die Medien produziert, sondern
kommen aus der Mitte der Gesellschaft. Das
unmittelbare Umfeld prägt. Und wenn hier
die Anerkennung und Möglichkeiten zur Teil-
Interview: Marko Junghänel
Kostenlose Aufklärung zur Lawinengefahr
„Bitte! Ich bin noch so jung, ich will
nicht sterben.“ Es ist mucksmäuschenstill, als Silke, eine junge Frau die von
einer Lawine begraben wurde, von ihrem dramatischen Erlebnis berichtet.
Die ganze Schulklasse schaut gebannt
auf die Leinwand und erfährt, dass
Silke nur überlebt hat, weil ihr Freund
schnell und systematisch mit seiner
Lawinen-Notfallausrüstung umgehen
konnte.
Das Interview ist Teil der Unterrichtseinheit von „Check Your Risk“ (CYR), einer
Initiative der Jugend des Deutschen Alpenvereins, die seit 2007 schon über 37.000
Schülerinnen und Schüler auf die Gefahren
beim Freeriden aufmerksam gemacht hat. Der
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Überleben in der Lawine – durch professionelles Training erlernbar
Foto: Jugend des Deutschen Alpenvereins
Check Your Risk
Deutsche Alpenverein (DAV) reagiert damit
auf einen Trend, dass das Fahren abseits gesicherter Pisten immer beliebter wird. Animiert
durch einschlägige Videos und Zeitschriften
und unterstützt durch die immer besser
werdende Ausrüstung trauen sich vermehrt
junge Menschen ohne alpine Erfahrung einen
Ausflug ins sogenannte „backcountry“ zu.
Dabei kommt es immer wieder zu schweren
Lawinenunfällen, die vielleicht verhindert
hätten werden können.
Damit aus Spaß
kein Leichtsinn wird
„Check Your Risk“ verfolgt das Ziel, junge
Schneesportlerinnen und -sportler für die
Gefahren von Lawinenabgängen zu sensibi-
EXTREM
lisieren – ohne ihnen dabei Angst vor dem
einmaligen Erlebnis von Abfahrten in unberührtem Pulverschnee zu machen. Vielmehr
wird anschaulich und verständlich gezeigt,
wie viel Kompetenz die Beurteilung des
winterlichen Gebirges benötigt. Der Name
„Was ist für dich extrem? Und warum?“
„Ich finde Bungeespringen extrem,
weil man sich das nicht einfach so
traut und es etwas Besonderes ist,
wenn man es dann schafft.“
(m, 12)
„Check Your Risk“ ist in diesem Zusammenhang wörtlich zu verstehen: Prüf dein Risiko,
begib dich nicht ohne Gefahrenbewusstsein
in eine Situation, die dich unter Umständen
dein Leben kosten kann! Die Sensibilisierung
durch CYR ist dabei nur ein erster Schritt.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollen
in einem zweiten Schritt nach dem Motto
„Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ motiviert
werden, eine Lawinenausbildung im Rahmen
des DAV oder einer Bergschule zu absolvieren.
„Check Your Risk“ folgt in seinen Einheiten
einem erlebnispädagogischen Ansatz, um den
Schüler/inne/n auf angemessene aber doch
spielerische Art die notwendigen Inhalte
zu vermitteln. Es ist wichtig, auf der Höhe
der Zeit zu sein, um die jungen Freerider für
„Check Your Risk“ zu gewinnen.
Check this list!
In der kommenden Wintersaison bietet CYR
die folgenden Angebote an:
Level 1.0: Auf Anfrage kommen die CYRTrainer kostenlos ins Skilager. Die 90-minütigen Unterrichtseinheiten umfassen
einen spannenden Film, Gruppenarbeit und
Experimente zum Thema Lawinengefahr und
Freeriden.
Level 1.5: Der kostenlose CYR-Workshop
besteht aus zwei Teilen. Zunächst wird drinnen das Level 1.0 durchgeführt. Draußen
Foto: Jugend des Deutschen Alpenvereins
Wer sein Leistungsvermögen kennt und richtig beurteilt, erlebt grenzenlosen Ski-Spaß in den Bergen
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vertiefen die Schülerinnen und Schüler im
Anschluss spielerisch die wichtigsten Aspekte zum Thema Lawinengefahr (DAV SnowCard,
Notfallausrüstung, Gruppendynamik).
Level 2.0: Die CYR-Academy ist die optimale
Verbindung von Theorie und Praxis. Das kostenlose Training mit der Notfallausrüstung,
dem Lawinenlagebericht und der DAV SnowCard wird exklusiv für Skilageraufenthalte
in der Jugendbildungsstätte der JDAV in Bad
Hindelang angeboten.
Level 3.0: Das CYR-Freeride-Camp wurde
speziell für Jugendliche und junge Erwachsene entwickelt: Sie arbeiten eine Woche lang
mit erfahrenen CYR-Trainern an ihrer Freeridetechnik und -taktik. Dazu gehören das
intensive Training mit der Notfallausrüstung,
die Vertiefung der modernen Lawinenkunde
und die Optimierung des individuellen Risikoverhaltens.
Florian Bischof, JDAV
Extreme Hobbys
Spaß macht, was extrem ist
Der Puls steigt, das Adrenalin schießt
durch den Körper, die Sinne sind scharf.
Spaß, Action, Risiko, Erfolgserlebnis.
Schneller, höher, tiefer, abgefahrener:
Extremen Hobbys sind buchstäblich
keine Grenzen gesetzt. Einige habe ich
mir mal genauer angeschaut.
„Was ist für dich extrem? Und warum?“
„Extrem ist, wenn man vom Universum runter springt. So wie der
Felix Baumgartner.“ (m, 10)
Apnoe-Tauchen –
der Rausch der Tiefe
Nur beim Anschauen der YouTube-Videos
überkommt dem/der Betrachter/in das beklemmende Gefühl, vergebens nach Luft zu
ringen. Apnoe-Tauchen, auch Freitauchen
genannt, ist die ursprünglichste Form des
Tauchens: das Erkunden der Unterwasserwelt ohne Sauerstoffflaschen. Die Kunst des
Apnoe-Tauchens besteht in einer speziellen
Atemtechnik und -meditation, was der/dem
Taucher/in ermöglicht, minutenlang ohne
Sauerstoff unter Wasser zu bleiben.
Apnoe-Tauchen unterteilt sich in Zeit-,
Tiefen- und Streckentauchen, bei denen
jeweils unvorstellbare Rekordleistungen
erbracht werden. Antrieb für dieses extreme
und risikoreiche Hobby ist vor allem die
Begeisterung für die Unterwasserwelt, das
Erleben von absoluter Ungebundenheit und
Freiheit unter Wasser sowie die athletische
Herausforderung – das Ertasten und Erreichen
der persönlichen Leistungsgrenze.
Der aktuelle Rekord beim Zeittauchen im
Pool liegt bei 8:23 Minuten (Frauen) und
11:35 Minuten (Männer). Der Rekord beim
Tieftauchen ohne technische Beschränkungen liegt bei 160 Meter (Frauen) und 214
Meter (Männer) – extrem faszinierend!
Weitere Infos: www.aidainternational.org
Sport Stacking
Ein neueres extremes Hobby ist das sogenannte „Sport Stacking“ oder auch „Speed
Stacking“: ein Geschicklichkeitssport, bei
dem man mit zwölf speziellen Plastikbechern Pyramiden in bestimmten Mustern
möglichst schnell auf- und wieder abstapelt.
Die Sportart entstand in den 1980er Jahren
in den USA und kam 2004 nach Deutschland.
Inzwischen gibt es weltweit Wettkämpfe in
allen Altersklassen, von unter vier bis über
70 Jahren. Antrieb für Sport Stacker ist vor
allem der Spaß und der Ehrgeiz, die eigene
Leistungsgrenze auszureizen. Sport Stacking
ist eine große Herausforderung für die Hand8|12
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EXTREM
Auge-Koordination und fördert Motorik,
Geschicklichkeit, Reaktionsgeschwindigkeit
und Beidhändigkeit.
Im SBZ Sendling gab es im Juni 2012 einen Sport-Stacking-Workshop. „Am Anfang
waren viele interessiert und haben es ausprobiert, aber die Kids merkten schnell, dass
es viel Übung bedarf, um richtig schnell zu
werden“, erzählte Wolfgang Petzold, Einrichtungsleiter und Hobby-Sport-Stacker. Neben
anderen Teilnehmenden zeigte der 13-jährige
Obi dabei, wie gekonntes Stacking aussieht
– so schnell konnten die Gäste nicht schauen:
Becher hier, neue Pyramide da; innerhalb von
„Was ist für dich extrem? Und warum?“
15 Sekunden stapelte er den „Cycle“ (eine
spezielle Formation). Mit dieser Geschwindigkeit gehört er schon zu den fortgeschrittenen Speed Stackern. „Maaan Obi, du hast
echt geschickte Finger“, bewunderte ihn ein
Zuschauer, der mühsam versuchte mitzuhalten. „Es macht Spaß, wenn man das so schnell
aufstapelt. Da kriegt man fast nix mehr mit,
aber es ist auch sehr anstrengend“, betonte
Obi aufgeregt und rieb sich die Arme.
Der aktuelle Weltrekord (2012) für den
„Cycle“ liegt bei der Altersgruppe 13 bis 14
Jahre bei 6:44 Sekunden (Mädchen) und 5:68
Sekunden (Jungen).
Weitere Infos www.thewssa.com
Ein ganz anderes Extrem:
„LAN Partys“
Ein Lichtermeer von Bildschirmen, Kabelsalat, laute Musik und bunte Scheinwerfer
– willkommen auf der weltgrößten LANParty „DreamHack 2011“. 12.000 begeisterte
PC-Spieler/innen jeden Alters besuchten
2011 die „Zocker-Party“ der Superlative in
Foto: Flash Cups GmbH
„Extrem finde ich, auf der Bühne
stehen und rocken – da kriegt man
so ein kribbelndes Gefühl.“
(w, 12)
So schnell ist kein Auge …
Schweden, um sich vier Tage lang rund um
die Uhr bei PC-Spielen wie „Counter-Strike“
und „StarCraft II“ zu messen.
Eine LAN-Party ist ein Zusammenschluss
von privaten Computern, die durch ein lokales Netzwerk (Local Area Network) verbunden
werden. Dabei messen sich die Teilnehmenden in Computerspielen, bei denen Taktik,
Strategie, Geschick und Teamwork gefordert
werden.
Der Ursprung der LAN-Partys liegt in den
1990er Jahren. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts entwickelte sich eine richtige
LAN-Party-Szene mit immer größeren LANVeranstaltungen, bei denen bis zu Tausende
miteinander bzw. gegeneinander Computer
spielen – wenn das nicht extrem ist!?
Egal, um welches extreme Hobby es geht
– es erfordert große Begeisterung, Ausdauer,
Training und vielleicht ein wenig Verrücktheit, um sich zu den „Extremen“ zählen zu
können.
Den bunten Zauberwürfel (Rubik‘s Cube)
in weniger als sieben Sekunden zu „lösen“,
mit Schallgeschwindigkeit aus 39.045 Metern aus der Stratosphäre zu springen, über
zehn Minuten ohne Atmen in die Tiefen zu
tauchen, sich von Brücken, aus Flugzeugen
oder von Klippen zu stürzen … „extrem“
fasziniert!
Tanja Wirth, Öffentlichkeitsarbeit, KJR
Eine persönliche Abrechnung mit dem „Extremen“
Außergewöhnlich, sagenhaft, extravagant
Wenn der eigene Body-Mass-Index
(BMI) jenseits der 30 liegt, ist man
grundsätzlich misstrauisch. Erst recht
dann, wenn man den Auftrag erhält,
einen Artikel zum Thema extremes
Gewicht zu schreiben. Was tun: Die
Empfehlungen einschlägiger Ärzte
zitieren? Feierlich Besserung – respektive Abspecken zu geloben? Oder
vielleicht doch das Wort „extrem“ an
sich auf den linguistischen Prüfstand
zu stellen.
Erstes Aufatmen beim Nachschlagen im
guten alten Wörterbuch der Brüder Grimm.
Die Vokabel „extrem“ ist dort – zumindest im
Nachdruck der Erstausgabe von 1862 – gar
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nicht gelistet. Als Lehnwort findet sich dort
maximal die Formulierung „extra“. Bin ich
also gar nicht – ob des oben zitierten BMI
– extrem dick, sondern nur extra geformt?
„Was ist für dich extrem? Und warum?“
„Extrem ist, vom Himmel fallen,
wie Felix Baumgartner.“ (w, 12)
Zweites Aufatmen: Der Artikel, so versichert man mir auf Nachfrage in der Redaktion, solle ganz allgemein Körperlichkeit und
die dabei diagnostizierbaren (extremen)
Auffälligkeiten beschreiben. Auf keinen Fall
wolle man Pathologisches oder Krankhaftes
zur Schau stellen und bewerten. Aber was
bliebe dann, wenn nicht von Menschen zu
berichten ist, die zwei Meter dreißig und
mehr messen, die durch Piercings so durchlöchert sind, dass chronische Inkontinenz
zu befürchten ist, oder die, wie unlängst
Ercan Demir in dem Film „Pumping Ercan“,
zeigen, dass man auch jenseits der 40 noch
ein Bodybuilder sein kann, der – würde man
ihn mit einer Nadel pieken – wie ein leckender
Ballon durch die Luft sauste.
Ich beschließe, mich zunächst dem eigentlichen Wort linguistisch zu nähern und stelle
bald fest, dass ich es mit einem wirklich unschönen – ja phonetisch fast unangenehmen
– Wort zu tun habe. Es schwingt zwar darin
etwas scheinbar Faszinierendes mit; für mich
persönlich ist es allerdings mit einer Kette
negativer Assoziationen verbunden: Extrem
EXTREM
Was heißt hier „zu viel“? Ist der BMI hinreichendes Kriterium für „extrem sein“?
gültigen Indikator für ein langes (gesundes)
Leben sehen.
Ähnliche Analogien ließen sich leicht für
die Anhänger der Körpermodellierung durch
Tätowiernadel, Silikon-Implantate oder Hantelbänke herstellen. Denn die Bewertungen
reichen auch dort von ästhetischer Meisterleistung bis zu Verbrechen am eigenen Körper
– je nach Sichtweise und persönlichem (auch
finanziellem) Interesse.
Der Artikel könnte bis zu dieser Stelle
als „extrem gelabert“ abgetan werden. Und
es wäre nicht falsch. Will heißen: „extrem“
ist tatsächlich kein Adjektiv, dessen die
deutsche Sprache bedarf. Es ist eine Phrase
und verstellt den Blick auf Wesentliches, den
Kern einer Person, einer Sache. Es erzeugt
– um mit Thomas Bernhard zu sprechen
– eine gekünstelte Spannung und traut
dem Substantiv, zu dem es gehört, nicht
zu, allein zu wirken. Wozu also sollte man
es dann benutzen?
Unsere extremsten Links
■ Felix Baumgartner Stratos Sprung: www.youtube.com/watch?v=daVaC0chPOI
■ Wingsuit Base Jumping: www.youtube.com/watch?v=I4U6T_BB1N8,
http://www.youtube.com/watch?v=ZHw7N8hhUMQ
■ Apnoetauchen in the Blue Hole: www.youtube.com/watch?v=uQITWbAaDx0
■ Kajaking im Wasserfall Weltrekord (2009): www.youtube.com/watch?v=uNXh9gXDd2Y
■ Longboarding in München: www.youtube.com/watch?v=OX4o-ajcxL8
■ Bike Jumps: www.youtube.com/watch?v=B3GribQCg6c
■ Buildering (Gebäudeklettern): www.youtube.com/watch?v=tlPk9Ykvz4w
■ Kajak (Rissbachfliegen 2009): http://www.youtube.com/watch?v=JGrIJYAR8Fo
■ Snowboarden: www.youtube.com/watch?v=kh29_SERH0Y
■ Mountainbiken in der Stadt: www.youtube.com/watch?v=Z19zFlPah-o
■ Slackline Worldcup München 2011: www.youtube.com/watch?v=U8v4_4eJaz4
■ Cup Stacking: www.youtube.com/watch?v=zDjj2ArlIu4&feature=relmfu
■ Pen Spinning Weltrekord 2010:
www.youtube.com/watch?v=mTIbc7WKoKs&feature=related
■ Zauberwürfel Rekord 2008: www.youtube.com/watch?v=h6GnxKGicyg&feature=fvwrel
Zusammengestellt von Armin Schroth und Gerhard Wagner
Foto: Rainer Sturm, pixelio.de
ist gleich ungesund, ist gleich unvernünftig,
ist gleich leichtsinnig oder ist gar krankhaft.
Ich mag dieses Wort nicht und reihe es in
meine individuell erstellte Liste verhasster
Wörter neben „total“, „Ambiente“ oder „Begrüßungsgeld“ ein. Allerdings: Das Wort ist in
der Welt – es zu leugnen scheint albern.
Dann vielleicht eine Richtigstellung oder
Kommentierung? Wohl an! Vielleicht gelingt
sogar eine Auseinandersetzung entlang des
schmalen Grats des vermeintlich normalen Körperlichen, ohne der Versuchung zu
erliegen, Übergewicht, Tattoos oder auch
plastische Chirurgie als extrem und damit
anormal zu verteufeln.
Was heißt also extrem dick, gar fettleibig? Was sagt es aus? Welcher Maßstab liegt
zugrunde und wer hat diesen Maßstab als
die gültige Richtschnur festgelegt? Der BMI
scheint mir so willkürlich festgelegt wie die
Reihenfolge der als Gewinnzahlen beim Samstagslotto ermittelten Kugeln. Andersherum
– und das scheint der eigentliche Kern der
Diskussion zu sein – führt der leichtfertige
Umgang mit dem Wörtchen „extrem“ schnell
zu Missbilligung, Ausgrenzung oder gar gewaltsam ausgetragenen Konflikten.
Nein, keiner darf sich jetzt in Sicherheit
wiegen, denn diese Ausgrenzung hat zwei
Perspektiven. Derjenige, der beispielsweise
als extrem übergewichtig beschrieben wird,
damit sehr schnell als willensschwach, unterschichtzugehörig oder gar suizidal veranlagt stigmatisiert wird, ist ebenso Opfer
wie derjenige, der aus der Perspektive des
Extremsportlers herablassend auf die Normalen schaut. Gibt es dann überhaupt ein
„gesundes Maß“?
Ich tendiere in dieser Frage eher zu einem
„Nein“. Nicht aus Selbstschutz, sondern ob
des (Ver-)Zweifelns an wissenschaftlichen
Expertisen, die heute mindestens ein Glas
Rotwein pro Tag als gesund und empfehlenswert anpreisen und morgen davon sprechen,
dass Alkohol per se zu verbieten sei. Die
heute den Laborwert für Cholesterin als überschätzt abtun und morgen darin den einzig
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Sprache ist verräterisch – vor allem, wenn
es um (Be-)Wertung geht. Kennzeichne ich
eine Person als in irgendeiner Form extrem,
spricht daraus nur selten Bewunderung und
Anerkennung. Bezieht sich das Extreme auf
Körperdetails, gerät die Beschreibung in der
Regel zum Vorwurf, zur Besserwisserei, zur
Abgrenzung. Ich mache mich davon nicht
frei. „Schau mal, diese extrem dünne Frau“,
höre ich mich sagen und meine wohl damit,
dass sie sicher ein psychisches Problem hat,
„Was ist für dich extrem? Und warum?“
„Extrem!? Vorwärts- und Rückwärtssalto, weil es gefährlich ist
– das ist extrem.“ (m, 13)
das diese Magersucht hervorruft. „Hast
du diese extremen Bodybuilder gesehen?“
und will damit eigentlich ausdrücken, dass
diejenigen, die Bodybuilding exzessiv betreiben, in der Regel zur sozialen Unterschicht
gehören.
Und was hat das alles mit dem Schwerpunkt
dieses Heftes zu tun? Vielleicht bleibt am
Ende nur eine Botschaft übrig. „Extrem“ ist
ein untaugliches – ich würde sogar sagen
unerlaubtes – Mittel, Dinge, die jenseits des
eigenen Erfahrungs- und Erlebnishorizonts
liegen, zu charakterisieren. Denn es sagt alles
und nichts – aber schafft persönliche und
emotionale Distanz. Die sorgsam gepflegten
Vorurteile tun das Übrige dazu. Das Wort aus
dem Duden zu streichen (in dem wird es im
Gegensatz zum Grimm übrigens erwähnt),
scheint auch keine Lösung.
Ich entscheide für mich, einzugestehen,
dass ich zwar zugegebenermaßen mit einer
gewissen Körperfülle ausgestattet bin, mir
aber nicht suggerieren lassen will, dies sei
extrem im Sinne von kompromisslos und radikal. Mir gefällt eine andere Übersetzung, die
der Thesaurus anbietet: extravagant.
Marko Junghänel
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EXTREM
Hilfe zu einem selbstbestimmten Glauben
Extrem glauben ...
Religion extrem – was versteckt sich hinter
diesem Begriff? Gibt es objektive Merkmale,
die eine Organisation extremistisch erscheinen lassen? Ab wann ist diese Organisation
dann extrem?
Zunächst scheint ein Widerspruch aufzutauchen: Es geht bei diesem Thema um Religion,
um Glaubensgemeinschaften, um Kirchen. Alle
drei stiften ihren Sinn darin, dem Menschen
bei der Gestaltung des Lebens eine Hilfe zu
sein, Halt und Sinn zu geben, eine Perspektive
über das Leben hinaus zu entwickeln. Glaube
erfüllt eben diese Aufgaben. Glauben wird aber
nicht so verstanden, dass ich etwas „für wahr
halte“. Es geht nicht darum, Beweise oder Erklärungen zu finden. Glaube wird im religiösen
Sinn als Vertrauen in eine göttliche Macht oder
eine höhere Instanz verstanden. „Ich vertraue
mein Leben einer höheren Instanz an, ich
liefere mich in gewisser Weise einer Religion,
einer Weltanschauung aus.“ Sicher geht es
in den meisten Glaubensgemeinschaften in
erster Linie genau darum.
Menschen fühlen sich in einer Gemeinschaft, im Kreis von Gleichgesinnten, die
alle (an) das Gleiche glauben, wohl. Sei es
eine christliche Gemeinde in traditioneller
Form der evangelischen, katholischen oder
orthodoxen Kirche oder eine freie Gemeinde.
Letztere hat oft eine eigene Prägung, spricht
durch mitunter unkonventionelle Formen
der Versammlungen ganz andere – oft junge
– Menschen an. Oder die islamischen Gemeinden, in denen Menschen ihren Glauben und
ihre Kultur pflegen können, oder die vielen
anderen religiösen Gruppen und Angebote
für die unterschiedlichsten Nationalitäten
und spirituellen Bedürfnisse. Ein großer
Reichtum für München, in der die gelebte
Religionsfreiheit ein Abbild der multikulturellen Gesellschaft ist.
Gewiss ist, dass die Auseinandersetzung,
der Austausch und die Diskussionen über
die jeweils andere Glaubensgemeinschaft
dazugehören, dass der Dialog mit dem Andersdenkenden besonders in Glaubensfragen
zu einer toleranten und offenen Gesellschaft
gehört. Insbesondere deshalb, weil es in den
Glaubensgemeinschaften um die Wahrheit
geht, um das, was jeweils in einer Religion,
in einer Gruppe als wahr erkannt worden
ist. Allerdings ist es vom Wort „Wahrheit“
gedanklich nur ein kurzes Stück zum Wort
„extrem“. „Wenn ich die Wahrheit habe,
kann der mit der anderen Erkenntnis nur die
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Die Evangelikalen (Massen-)Kirchen auf dem Vormarsch: ultrakonservativ,
kommerziell, menschenverachtend
Unwahrheit haben ...“, sagte ein Gesprächspartner während einer Diskussion. „Es kann
doch nur eine Wahrheit geben!“
Was bedeutet das für den Umgang mit
anderen? Menschen leiden extrem darunter,
dass ihnen immer wieder deutlich gemacht
wird: „Du musst genau das glauben, was
wir dir sagen, was wir erkannt haben, was
in unserer Gruppe als richtig gilt. Du musst
funktionieren, du musst die Regeln beachten
und dein Leben unter unsere Führung stellen.
Wir wissen, was richtig für dich und für die
Welt ist.“ Und damit diese Anforderungen
erfüllt werden, gibt es die passenden Drohungen dazu: „Wir sind die Einzigen, die errettet
„Was ist für dich extrem? Und warum?“
„Extrem heißt für mich, dass etwas
brutal ist.“ (m, 13)
werden / die das Paradies erreichen / die den
Untergang der Erde überleben werden / die
im Gericht überleben / die ihre Bestimmung
leben können.“ Es ist eine Art „Arche-NoahBewusstsein“: Wir sind im rettenden Schiff,
alle anderen sind draußen in der gefährdeten
Welt, die demnächst untergehen wird.
Angst, Schuldbewusstsein, Unzufriedenheit
bzw. Unsicherheit werden angesprochen und
es wird suggeriert, dass die Anhänger dieser
Gruppe die Auserwählten sind, die mit den
besseren Chancen in der Welt, die Überlebenden jeder Katastrophe. Extrem auserwählt,
extrem richtig, extrem überzeugt ...
Aber da gibt es noch die anderen: den
Psychokult aus den USA, der vom Verfassungsschutz beobachtet wird, weil er Ziele
und Methoden propagiert, die gegen das
Grundgesetz gerichtet sind. Wo Menschen
erleben, dass sie zu funktionierenden Rädern
eines auf wirtschaftlichen Erfolg ausgerichteten Systems gemacht werden sollen, die die
Verbreitung der Organisation durch hohe finanzielle Leistungen sicherstellen. Auch hier
steht ein Elitebewusstsein der Mitglieder im
Vordergrund: Fähige sollen die Bürgerrechte
bekommen (... und die „Unfähigen“?), Tüchtige sollen Erfolg haben können (... und die
„Schwachen“?). Letztlich ist es eine kleine
Gruppe machthungriger Menschen, die ihre
Opfer ausnutzen, um die eigenen Ziele zu
verfolgen.
Glaubensgemeinschaften, die ihre Mitglieder mit Angst und Drohungen an die Gruppe
binden, die einen zornigen und strafenden
Gott verkünden und eine ausweglose Situation außerhalb der Gruppe beschwört. Der
oder das Böse lauert immer und überall und
nur das Befolgen der Lebensregeln bis hinein
in private und intime Lebensbereiche würde
die Rettung bedeuten.
Die Beispiele könnten erweitert werden.
Wichtig ist jedoch: Jede Religion, jede Glaubensgemeinschaft birgt in sich das Potenzial,
zu einer extremen Gruppe zu werden, eine
extreme Form der Glaubenspraxis zu propagieren. Es geht um Menschen, die – wie
anfangs beschrieben – auf der Suche nach
Hilfe, Sinn und Perspektive für ihr Leben
sind. Diese Menschen sind ansprechbar, sind
im Zweifelsfall auch verführbar und können
aufgrund von Angst und Unsicherheit für
Machtphantasien missbraucht werden. Aufmerksam sein und Informationen einholen
ist im Ernstfall die beste Möglichkeit, sich
zu schützen, denn: Wer nichts weiß, muss
alles glauben.
Rudi Forstmeier, Evangelische Beratungsstelle
Neue religiöse Bewegungen
Foto: jesus.ch
Immer wieder ist in den Medien von
Gruppen und Organisationen die Rede,
die als „extreme Glaubensgruppen“
oder auch als „extreme Sekten“ bezeichnet werden. Dabei wird von Menschen berichtet, die in das Umfeld einer
religiösen Gruppe geraten sind und dort
verletzende Erfahrungen im weitesten
Sinn machen mussten.