Samstag, 19. September 2015 9.05

Transcrição

Samstag, 19. September 2015 9.05
SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
_________________________________________________________________________________
SWR2 Musikstunde
Pasticcio musicale 09-15
Von Konrad Beikircher
Sendung:
Redaktion:
Samstag, 19. September 2015
Martin Roth
9.05 – 10.00 Uhr
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede
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Pasticcio musicale (September 2015)
... wieder mit Ihrem Konrad Beikircher....
Titelmusik
... der diesmal gar nicht so recht weiß, wie er beginnen soll, abgesehen davon, dass
er Ihnen einen schönen Tag wünscht, dass er sich dafür bedankt, dass Sie ihm
zuhören und dass er hofft, Sie gut gelaunt in den Samstag hinein unterhalten zu
können. Samstag, was für ein eigenartiger Tag: für mich ist er immer noch geprägt
von meiner Zeit im Schülerwohnheim "Antonianum" in Bozen. Da war ich von
meinem zehnten bis zu meinem achtzehnten Lebensjahr, drei Franziskaner-Patres
haben versucht, 8o Zöglinge unter Kontrolle zu halten, am Samstag aber mussten
sie uns in die Stadt lassen: von 16 bis 17 Uhr 30 war Beichtausgang.
Der Ausgang diente natürlich in erster Linie der Beichte, der Ausgang war aber
insbesondere die Vorbereitung auf das Leben „draußen“, für alle Altersstufen. Das
waren zwar nur anderthalb Stunden pro Woche, aber irgendwann kommt auch da
eine stattliche Summe heraus!
Natürlich gingen wir in den ersten zwei Jahren wirklich zur Beichte und zwar in die
Franziskanerkirche in Bozen. Da war aber die Frage: Bei wem beichtet man am
günstigsten? Eine extrem wichtige Frage, denn Zeit war kostbar, da konnte man jetzt
nicht eine halbe Stunde Vaterunser herunterleiern, dann war der Beichtausgang
vorbei und man hatte vom Leben nichts gesehen. P. Leopold, das wussten wir, war
besonders streng, bei dem kam man unter fünf Vaterunser nicht weg,
möglicherweise sogar zwei oder drei Engel-Des-Herrn noch obendrauf, wenn die
Woche besonders sündig war. Einfach nur zwei Vaterunser beten und damit so tun,
als hätte man keine Sünde abzubüßen, das hat sich keiner getraut: Da schwebte
schließlich eine riesige Jesusfigur im Fenster der Apsis und schaute einen an, überall
sind Fresken, ehrwürdige gotische Flügelaltäre, die irgendwie Respekt einflößen,
aber vor allen Dingen wusste man nie genau, ob nicht doch irgendein Pater einen
beobachtet und alles genau registriert: „Fünf Vaterunser aufgehabt, aber nur zwei
gebetet, na warte!“
Zu wem also gehen? Die Jungs aus der nächst höheren Klasse, die „Zwoatila“,
kannten diese Nöte und halfen: „Es miaßt zin P. Augustin giahn, do ischis am
günschtigschten“, aha, P. Augustin, der legendäre Deutschlehrer der Mittelschule bis
Gymnasium, der so hilflos war, dass in seiner Stunde eine klassische
Lausbubensportart gepflegt wurde: Papierflieger werfen, und das machte vor allem
deswegen so viel Spaß, weil er immer den bestrafte, bei dem der Flieger landete.
Ansonsten war P. Augustin eine lächelnde Seele von Lehrer mit heimlichem Hang
zum Anarchismus - als braver und frommer Franziskaner war er ein glühender
Verehrer von Heinrich Heine!
Im Beichtstuhl war er ein großer Verzeiher, der allerdings einen Nachteil hatte: Er
war ein bisschen tearat, schwerhörig. Das aber hatten uns die Drecksäcke aus der
Zwoatila natürlich nicht gesagt. Wir haben uns so am Samstag, als wir in der Kirche
vor dem Beichtstuhl von P. Augustin knieten, nicht gewundert, dass so viele Zwoatila
ebenfalls da waren, werden schon auch auf die augustinische Milde angewiesen
sein, dachten wir.
Kaum war der erste drin und flüsterte seine Sünden ins Gitter, dröhnte die Stimme
von P. Augustin durch die Kirche:
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„Wie oft? Allein oder mit anderen?“, und hinter uns Gekicher der Zwoatila,
Kopfwenden der Erwachsenen, die vor anderen Beichtstühlen auf die Absolution
warteten, kurz: die Blamage war grenzenlos. Mit hochrotem Kopf kamen die Sünder
heraus und verkrochen sich zum Vaterunser in die nächste dunkle Ecke der Kirche,
auf ewig der Lächerlichkeit preisgegeben.
Natürlich haben wir im Schuljahr darauf ebenso den „Earschtilan“ gesagt:
„Es miaßt zin P. Augustin giahn, do ischis am günschtigschten“.
Giuseppe Verdi:
„Pater noster“ für fünfstimmigen Chor a cappella
SWR Vokalensemble Stuttgart
Leitung: Marcus Creed
Dauer: 6‘50
An das Antonianum grenzte die Handelsoberschule. Die Mädchen, die dort waren,
schauten die seltenen Male, in denen das möglich war - wir wechselten uns meistens
mit dem Vormittags- und Nachmittagsunterricht ab -, in der Pause auf unseren Hof.
Auch die Barbara schaute. Sie war vom Ritten, war der heißeste Teenager von
Bozen und war bis über beide Ohren in mich verknallt. Am Ende des dritten
Schuljahres lernten wir uns dann endlich kennen: Ihre Cousine passte mich beim
sonntäglichen Gang zur Franziskanerkirche ab, flüsterte mir zu: „Am Samstag um
vier in der Moser Bar!“, und es war um mich geschehen.
Natürlich ging ich nach dem nächsten Beichtausgang in die Moser-Bar am Ende des
Dominikaner Platzes. Die Moser Bar wurde von Herrn und Frau Moser betrieben, er
aus Bruneck und sie eine Frau, die aussah, als stünde sie kurz vor einem
Tränenausbruch, aber sie war voller mütterlich-kuppeliger Gefühle für mich. Ab und
zu waren wir Jungs vom Antonianum schon gemeinsam dort gewesen, um während
eines Beichtausgangs einen Macchiato zu trinken. In der Moser-Bar stand schließlich
eine Wurlitzer und die hatte die heißeste Musik Bozens. Hier gab es keinen Peter
Kraus und keine Connie Francis, hier gab es nur Wanda Jackson, Elvis, Bill Haley
und vor allem: Little Richard und Adriano Celentano.
Dahin ging ich also nun, hatte mir extra die grüne Strickjacke angezogen und ein
weißes Hemd und kurz vor Betreten der Moser-Bar stellte ich mir den Hemdkragen
hoch, weil es ja schließlich um alles ging.
Da stand sie mit ihrer Cousine: Barbara, der Hammer! Petticoat, aber mindestens
zehn Lagen, Strümpfe mit Naht und ein Schmollmund, gegen den Brigitte Bardot ein
Schnullermädchen war. W!O!W! Mir verschlug es den Atem, zum Glück aber war erst
einmal die Cousine dabei, die uns zu einem Tisch führte, hinter der Wurlitzer, links in
der Ecke, von außen nicht einsehbar. Nach zehn Minuten Gekicher und Gemache
murmelte sie, dass sie noch was besorgen müsse, dann war Narkose. Frau Moser
kam wohl mehrmals an den Tisch, um nach unseren Wünschen zu fragen, aber
wünscht man sich noch was, wenn man alles, wovon man jemals geträumt hat, in
den Armen hält? Siebzig Minuten Zungenkuss, mir hat der Mund bis Mittwoch oder
Donnerstag weh getan, siebzig Minuten langsames Vortasten und mit einer Hand wie
aus Versehen den Busen streifen, das hieß siebzig Minuten Beherrschung bis zum
Äußersten. Ich weiß nicht mehr, wie ich ins Antonianum kam, ich weiß nur noch,
dass ich ein Ziehen im Schritt hatte, das tagelang anhielt, Schmerzen ohne Ende und
keine Heilung in Sicht. Monatelang ging das so, genauer: anderthalb Schuljahre lang.
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Erst ein Jahr später hatten meine Freunde aus dem Antonianum herausbekommen,
wohin ich immer verschwand beim Beichtausgang – und da war ich schon von der
Moser-Bar in die Loreto-Bar gewechselt, weil ich befürchtete, dass sie mich finden
würden –, und tauchten plötzlich auf, standen vor uns in der Loreto-Bar in der
Kapuzinergasse und wollten schon hämisch loslachen, als sie uns im Kuss so
ineinander versunken sahen. Dann aber löste sich Barbara von mir, zog ihren
schönsten Schmollmund und schaute diese Tölpel mit einem so vernichtenden Blick
an, dass sie, fasziniert von soviel Schönheit und Stolz, verstummten und kleinlaut
abzogen.
Und mit O-Beinen ging ich aus der Loreto-Bar ins Antonianum zurück und wenn mich
P. Franz gefragt hätte, ob ich bei der Beichte war, hätte ich ohne zu zögern
„Selbstverständlich“ gesagt.
Francis Poulenc:
„Les chemins de l’amour“, Lied bearbeitet für Klarinette und Klavier
Nicola Jürgensen (Klarinette)
Matthias Kirschnereit (Klavier)
Dauer: 3‘00
Rudi Stephan! Sagt Ihnen das was? Mir hat es nichts gesagt, als ich seinen Namen
im Kalender mit Musiker-Jubiläen fand, denn er ist am 29. September vor hundert
Jahren gestorben, nein, gefallen. In Ternopol. Rudi Stephan also. Das klingt, als
wäre er ein Fußballer gewesen, aber nein, er war Komponist. Weil ich - ich will ja vor
Ihnen, meinen Freunden, jetzt nicht so tun, als sei ich allwissend. Das ist nämlich
eine Krankheit der Moderatoren, dass sie sich dadurch, dass sie Ihnen das erzählen,
was sie recherchiert haben, Sie in die Eselsbank setzen, Ihnen zurufen: "So, jetzt
passt mal auf und schreibt brav mit, klar?!" und somit sich das Mäntelchen des
Allwissenden umhängen können. Ich kannte also den Namen nicht, Rudi Stephan?
Nie gehört, also begab ich mich auf die Suche, und siehe da, was für ein Fund! 1887
in Worms geboren und mit 28 Jahren vor 1oo Jahren im Krieg gefallen. Da war also
nicht viel Zeit, um sich in die Annalen einzugraben und dennoch: er hat es getan. Er
hat in Frankfurt und in München Komposition studiert, von 1905 bis 1908 und lebte
dann, ab seinem 19. Lebensjahr, als freischaffender Komponist in München. 1911
gab er sein Debut mit u.a. der ersten 'Musik für Orchester'. Dieses Konzert war
heftigst umstritten, was aber der Aufmerksamkeit, die er plötzlich auf sich zog,
natürlich nur gut getan hat. 1912 und 1913 folgten weitere Konzerte die seinen Ruf
festigten. Den Ruf, einer der talentiertesten jungen deutschen Komponisten zu sein.
Die Musik in Geschichte und gegenwart scheibt: "Stephan hat auf revolutionärem
Wege einen markanten Initialbeitrag zur Stilwende der Tonkunst um 1910 geleistet.
Er hat mit urwüchsiger Kraft und reicher Klangfantasie den Bannkreis der
spätromantischen, sensualistischen Stimmungs- und 'Bedeutungs'-musik
durchstoßen und in seinen Instrumentalwerken ... erste Modelle ... einer 'musica
nova' erstellt." Und weiter: "Die gedrungene und wendige Gebärde, die multiple
Dynamik und die schlichte Sinnfälligkeit seiner objektiv-wahrhaft ansprechenden
Musik ließen von ihm noch bedeutende Taten auf dem Gebiet der Oper erwarten". Er
hat 1914 eine Oper geschrieben: "Die ersten Menschen", die 1920, fünf Jahre nach
seinem Tod, uraufgeführt wurde. Genug Informationen, meine ich, die es an der Zeit
erscheinen lassen, einen großen Künstler dem Malstrom des Vergessens, in den der
Erste Weltkrieg so viele sog, zu entreißen.
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Rudi Stephan:
Musik für Violine und Orchester (Beginn)
Hans Maile (Violine)
Deutsches Symphonie-Orchester Berlin
Leitung: Hans Zender
Dauer: 4‘00
Die Ungarn, liebe Freunde, schenken uns zur Zeit eher Flüchtlinge als das, was sie
uns jahrhundertelang geschenkt haben: Musik. Au, au, au, das ist dir ja vielleicht eine
Moderation, aber stimmen tut es dennoch: im Moment stehen die Magyaren nicht
gerade ruhmbekleckert da und das war einmal anders. Andererseits: was wissen wir
denn wirklich über ungarische Komponisten? Naja, Lakatos und Zymbal und
Czardas, gut, aber es gibt auch die andere Seite. Erkel und Bartok und Kodaly und
Ligeti und Kurtag und Eötvös aber auch Emmerich Kalman und und und?... und
Mihaly Mosony! Am 4. September vor 2oo Jahren, also 1815, in Boldogasszonyfalva
geboren, das ist in West-Ungarn, heißt heute Frauenkirchen und ist in Österreich. Er
kam aus einer deutschsprachigen Handwerkersfamilie und wurde zu einem der
populärsten ungarischen Komponisten. Musik hat er sich selbst beigebracht, erst mit
19 hat er in Pressburg Unterricht bekommen. Das Gelernte hat er schnell selbst als
Lehrender weitergegeben und sich einen ausgezeichneten Ruf als Musikpädagoge
erworben, er kam in den inneren Kreis des ungarischen Musiklebens, befreundete
sich mit Ferenc Erkel und Franz Liszt. Zwischen 1845 und 1856 komponierte er
wenig, kam dann mit einer Oper heraus, die einen recht eigenartigen Titel hat:
"Kaiser Max auf der Martinswand" (wir erinnern uns an die Geschichte vom Kaiser,
der sich im Berg verstiegen hat und dank inbrünstiger Gebete sich wieder befreien
konnte, wie man daraus eine Oper machen kann, ist mir, ehrlich gesagt,
schleierhaft), Franz Liszt wollte die Oper in Weimar aufführen, wozu es aber nicht
kam. Warum? Man weiß es nicht. Diese Oper ist aber auch die Zäsur im
musikalischen Leben von Mihaly Mosony, denn schrieb er bis dahin eher
europäische Musik, kam jetzt der Umschwung. Er entdeckte die ungarische Seite in
sich, änderte seinen namen von Michael Brand in Mihaly Mosony und bekannte sich
ab da zu, no, Paprika, Czardas, "Joy Maman"!! und dem Ungarntum. Er schrieb
Artikel über Artikel zum Thema ungarische Nationalmusik, er komponierte große
Form, Oper und Sinfonik, genau so wie kleine Form, Klavierstücke etwa und einige
seiner Kompositionen, Lieder, wurden so populär, dass sie von den Ungarn als echte
Volkslieder angesehen wurden. Er ist einer der ersten Vertreter der nationalen
romantischen Schule in Ungarn und verdient es, wenn Sie mich fragen, dass wir ihm
zuhören!
Mihaly Mosonyi:
Scherzo aus der Sinfonie Nr. 1 D-Dur
Slowakisches Radio-Sinfonieorchester Bratislava
Leitung: Robert Stankovsky
Dauer: 6‘40
Die erste Bach-Biographie war eine dicke Schwarte und sie war von Albert
Schweitzer. Sie sah sehr wissenschaftlich aus und imponierte mir sehr. Dann hab ich
tatsächlich auch angefangen, darin zu lesen und hörte gar nicht mehr auf, denn hier
war ein Buch, das meinen Vorstellungen von tiefgehender Biographie absolut
entsprach. Und das über einen Komponisten, der mir damals wie heute sehr, sehr
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nahestand. Musikalisch hat mich Karl Richter und seine Aufnahmen für die ArchivProduktion geprägt (ich bitte Sie: seine Matthäus-Passion ist doch immer noch eine
der ersten Richtlinien für die Aufführung dieses Meisterwerks, es ei denn, man liebte
den dicken Pinsel, dann ist die Klemperer-Aufnahme die Richtschnur, auch sie eine
exemplarische Einspielung, ach, was vermisse ich heute oft die Qualität der
Aufnahmen der Fünfziger Jahre, das war schon eine große Zeit, gell?!), vom Ernst
der Darstellung und der wissenschaftlichen Seriosität aber war es die Biographie von
Albert Schweitzer, die mich gefangen nahm. Ich erinnere mich noch daran, dass ich
mich darüber wunderte, woher ein Arzt in Afrika, spezialisiert auf Lepra mitten im
Urwald in Lambarene - so dachte ich jedenfalls - sich die Zeit nehmen konnte,
zwischen Affen, Zebras und Leprakranken noch ein Buch über Bach zu schreiben.
Sie sehen, ich wußte damals nicht viel über Albert Schweitzer, die evangelische Welt
war dem Südtiroler FranziskanerSchüler zu fremd, aber sein monumentales BachWerk hat mich beeindruckt. Bis heute. Auch wenn ich heute weiß, dass man Bach
anders sehen kann, auch wenn die Forschung sich weiter entwickelte und gerade bei
Bach viel Neues hervorbrachte, die Biographie von Albert Schweitzer halte ich immer
noch für lesenswert und toll. Wollte ich nur mal gesagt haben, wo wir doch am 4.
September seinen 5o.ten Todestag begehen durften.
J.S. Bach:
Präludium C-Dur aus BWV 545
Albert Schweitzer (Orgel)
Dauer: 2‘30
Hinweis: Aufnahme aus dem Jahr 1935!
Genug Geburtstage, genug Todestage, genug Staatstragendes, da braucht es schon
einen kleinen Kontrast, oder?
Ich schreibe im Moment an einer Mozart-Biographie für Jugendliche. Sie wird im
Arena Verlag erscheinen. Dabei bin ich auf folgendes gestoßen:
Nannerl Mozart hat kurz nach dem Tod ihres Bruders den Hoftrompeter Andreas
Schachtner gebeten aufzuschreiben, wie Mozart als Kind so war. Schachtner war
nämlich ein guter Freund Leopolds und hat mit der Familie musiziert. Hier der Brief,
den er am 24. April 1792 geschrieben hat - ins Neudeutsche übertragen und ganz
leicht gekürzt:
"Hochwohledelgeborne gnädige Frau!
...
Zur Sache also!
Auf Ihre erste Frage was Ihr seliger Herr Bruder in seiner Kindheit außer seiner
Beschäftigung in der Musik für Lieblingsspiele hatte: auf diese Frage ist nichts zu
antworten, denn sobald er mit der Musik sich abzugeben anfing, waren alle seine
Sinne für alle übrigen Geschäfte soviel wie tot, und selbst die Kindereien und
Tändelspiele mussten, wenn sie für ihn interessant sein sollten, von der Musik
begleitet werden. Wenn wir, er und ich, Spielzeuge zum Spielen von einem Zimmer
ins andere trugen, musste allemal derjenige von uns, der leer ging, einen Marsch
dazu singen und geigen. Vor dieser Zeit aber, ehe er die Musik anfing, war er für
jede Kinderei, die mit ein bisschen Witz gewürzt war, so empfänglich, dass er
darüber Essen und Trinken und alles andere vergessen konnte. Ich wurde ihm
daher, weil ich, wie Sie wissen, mich mit ihm abgab, so äußerst lieb, dass er mich oft
zehnmal an einem Tage fragte, ob ich ihn lieb hätte, und wenn ich es zuweilen, auch
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nur zum Spass, verneinte, standen ihm gleich die hellen Tränen im Auge, so zärtlich
und so wohlwollend war sein gutes Herzchen.
...
Es war ihm fast einerlei, was man ihm zu lernen gab, er wollte nur lernen und ließ die
Wahl seinem innigst geliebten Papa, welches Feld er ihm zu bearbeiten auftrug, es
schien, als hätte er verstanden, dass er in der Welt keinen Lehrmeister oder Erzieher
wie seinen unvergesslichen Herrn Vater hätte finden können.
(und auf einem extra Zettelchen schrieb er: Was man ihm immer zu lernen gab, dem
hing er so ganz an, dass er alles Übrige, auch sogar die Musik, auf die Seite setzte,
z.B. als er Rechnen lernte, waren Tisch, Sessel, Wände, ja sogar der Fussboden voll
Ziffern mit der Kreide überschrieben.)
...
er war voller Feuer, seine Neigung hing jedem Gegenstand sehr leicht an; hätte er
nicht eine so gute Erziehung gehabt, er hätte der ruchloseste Bösewicht werden
können, so empfänglich war er für jeden Reiz, dessen Güte oder Schädlichkeit er zu
prüfen noch nicht im Stande war.
Einige sonderbare Wunderwürdigkeiten in seinem vier- bis fünfjährigen Alter, auf
deren Wahrhaftigkeit ich schwören könnte:
einmal ging ich mit Ihrem Herrn Papa nach der Donnerstagsmesse zu Ihnen nach
Hause, da trafen wir den vierjährigen Wolfgangerl in der Beschäftigung mit der Feder
an.
Papa: Was machst Du?
Wolfgang: ein Konzert fürs Clavier, der erste Teil ist bald fertig.
Papa: Lass sehen.
Wolfgang: Ist noch nicht fertig.
Papa: Lass sehen, das muss was sauberes sein.
Der Papa nahms ihm weg und zeigte mir ein Geschmiere von Noten, die meistenteils
über ausgewischte Tintenkleckse geschrieben waren (Der kleine Wolfgangerl tauchte
die Feder aus Unverstand allemal bis auf den Grund des Tintenfasses ein, daher
musste ihm, sobald er aufs Papier kam, ein Tintenklecks entfallen, aber er fuhr mit
der linken Hand darüber hin und wischte ihn auseinander und schrieb darauf weiter),
wir lachten anfangs über dies verworrene Zeug, aber der Papa schaute dann genau
auf die Hauptsache, die Noten, die Komposition und hing lange Zeit regungslos mit
seiner Betrachtung über dem Blatte. Endlich fielen zwei Tränen, Tränen der
Bewunderung und der Freude aus seinen Augen. Sehen Sie, Herr Schachtner, sagte
er, wie alles richtig und regelmäßig gesetzt ist, nur ists nicht zu brauchen, weil es so
außerordentlich schwer ist, dass es kein Mensch zu Spielen imstande wäre. Der
Wolfgangerl fiel ein: Drum ists ein Konzert, man muss so lange üben, bis man es
kann, sehen Sie, so muss es gehen. Er spielte, konnte aber auch nur so viel
herausbringen, dass wir erkennen konnten, wo er hinaus wollte. Er hatte damals die
Meinung, dass Konzert spielen und Wunder wirken dasselbe sein müsse.
Noch eins:
Fast bis in sein zehntes Jahr hatte er eine unbezwingliche Furcht vor der Trompete,
wenn sie allein, ohne andere Musik, geblasen wurde; wenn man ihm eine Trompete
nur vorhielt, war es ebensoviel als wenn man ihm eine geladene Pistole aufs Herz
setzte. Papa wollte ihm diese kindische Furcht nehmen und befahl mir einmal ... ihm
entgegen zu blasen. Aber mein Gott! hätte ich mich nicht dazu verleiten lassen.
Wolfgangerl hörte kaum den schmetternden Ton, da wurde er bleich und begann zur
Erde zu sinken, und hätte ich länger angehalten, er hätte sicher Krämpfe bekommen.
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Dies ist ungefähr, womit ich auf die gestellten Fragen dienen kann, verzeihen Sie
mein Geschmier, ich bin geschlagen genug, dass ich's nicht besser kann. Ich bin mit
geziemend schuldigster Hochschätzung und Ehrfurcht
Euer Gnaden
Ergebenster Diener
Andreas Schachtner
Hochfürstl. Hoftrompeter.
Salzburg, den 24. April 1792"
W.A. Mozart:
„Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen“, bearbeitet für Trompete und Orchester
Alison Balsom (Trompete)
Sinfonieorchester Göteborg
Leitung: Edward Gardner
Dauer: 2‘50
Jetzt aber ganz schnell, ich muss noch einkaufen und hab mich eh schon so
verplaudert, also: danke fürs Zuhören und einen wunderschönen Samstag und
bleiben Sie mir gewogen und kommen Sie im Oktober wieder, wenns am dritten
Samstag hier im wunderbaren SWR 2 um 9 Uhr wieder heißt: Pasticcio musicale von
Ihrem ergebenen Konrad Beikircher
Johann Sebastian Bach:
Zweistimmige Invention Nr. 8 F-Dur BWV 779
Renaud Capuçon (Violine)
Gautier Capuçon (Violoncello)
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