und “männlichem” Glück in Lessings Minna von Barnhelm
Transcrição
und “männlichem” Glück in Lessings Minna von Barnhelm
Zur Antinomie von “weiblichem” und “männlichem” Glück in Lessings Minna von Barnhelm martin blawid Universität Leipzig Der Begriff des Glücks wird im Laufe des 18. Jahrhunderts wiederholt in Konversationslexika und Wörterbüchern des deutschen Sprachraums definiert. Einer dieser Definitionsansätze wird der folgenden Untersuchung zugrunde gelegt. Im Jahre 1735 erscheint in Johann Heinrich Zedlers Grossem vollständigen Universallexicon der im Anschluss zitierte Eintrag unter dem Stichwort “Glück”: Glück, ist der ganze Zusammenhang derer bey denen menschlichen Unternehmungen mit beylauffenden natürlichen Umständen und Neben-Ursachen, die sich begeben, und nicht begeben können, und zwar beydes ohne unser willkührliches Zuthun, mit dem Verlauffe unserer Thaten, in welchem sie einen unseren Absichten entweder gemässen oder entgegen lauffenden Einfluß haben. Im ersten Fall nennen wir es ein gutes oder günstiges; im andern Fall ein wiedriges Glück oder Unglück. (1701) Zedlers Definition weist gutes “Glück” und “Unglück” demnach als zwei Ausprägungsformen eines übergeordneten Glückskonzeptes aus; sie sind – wie die Linguistik lehrt – durch Kohyponymie miteinander verbunden. Das Kriterium für den Unterschied macht Zedlers Lexikon an dem Verhältnis fest, das zwischen dem “Verlauffe der Thaten” und den “Absichten” besteht. Bei weitestgehender Übereinstimmung beider Kategorien ergebe sich “gutes Glück,” bei Abweichungen entstehe “Unglück.” In Zedlers Lexikoneintrag wird der enge semantische Bezug zwischen Glück und Unglück in den epistemologischen Vorstellungen des 18. Jahrhunderts sehr anschaulich verdeutlicht. Dass der schmale Grat zwischen Glück und Unglück allerdings auch in fiktionalen Texten des vergleichbaren Entstehungszeitraumes reflektiert wird, kann an folgendem Beispiel gezeigt werden. Gotthold Ephraim Lessings 1767 vollendeter Text Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück enthält im fünften Akt folgende Schlüsselszene (V, 2), in der der Major von Tellheim seine eigene und die Situation seiner Verlobten Minna in der Figurenrede reflektiert: “[v. tellheim]: Wie ist mir? – Meine ganze Seele hat neue Triebfedern bekommen. Mein eignes Unglück schlug mich nieder; seminar 47:2 (May 2011) 142 martin blawid machte mich ärgerlich, kurzsichtig, schüchtern, lässig: ihr Unglück hebt mich empor, ich sehe wieder frei um mich, und fühle mich willig und stark, alles für sie zu unternehmen” (91). Bekanntlich strebt Minna nach einer dauerhaften amourösen Verbindung mit Tellheim, in der sie ihr individuelles Glück zu finden hofft. Tellheim sträubt sich bis zu der zuvor zitierten Textstelle dagegen, was dazu führt, dass das durch Minna angestrebte “weibliche Glück” zunächst im Widerspruch zu Tellheims Plänen steht. In diesem Zusammenhang sind zwei Aspekte besonders interessant. Zum einen die Tatsache, dass Tellheim sein eigenes Schicksal sehr stark extern, und genauer: von der Situation Minnas ableitet, wobei er in V,2 das plötzliche Unglück seiner Verlobten paradoxerweise zum Anlass nimmt, “wieder frei um sich zu sehen” und damit Hoffnung zu schöpfen. Zum anderen lenkt die Figurenrede die Aufmerksamkeit auf die Bindung eines “männlichen Glücksempfindens” an ein “weibliches Unglück.” Die Schlussfolgerung, zu der Tellheim in dem zitierten Abschnitt kommt, hat die Lessing-Forschung wiederholt beschäftigt: Weshalb gelangt Tellheim erst durch das vermeintliche Unglück seiner Partnerin zum eigenen Glück? Die Frage kann auch aus umgekehrter Perspektive gestellt werden: Warum verhindert das Glücksbestreben Minnas ein Glücksempfinden Tellheims so lange, bis es aus seiner Sicht ausbleibt. Zum Thema “Glück” in der Lessing-Forschung und insbesondere in Minna von Barnhelm vergleiche man Beatrice Wehrli (98–102) und Monika Fick (247–48); das körperliche Unglück eines versehrten Soldaten kommentieren Martin Kagel (22–27) und Wolfgang Schmale (196–200), während Peter Brenner “Glücksempfinden” im Zusammenhang mit dem “autonomen Subjektentwurf” untersucht (120–21). “Weibliches” und “männliches” Glück bilden – so die erste Ausgangsthese vorliegender Analyse – zwei entgegengesetzte Kräfte in Lessings Text, d.h. eine antinomische Grundkonstellation. Dabei bleibt zu hinterfragen, welche Motive dieser Opposition, die die Handlung wesentlich beeinflusst, zugrunde liegen. Wenn Minnas Ziel in einer dauerhaften Verbindung mit Tellheim besteht, gegen die sich der Major jedoch bis zum Ende hartnäckig wehrt, dann legitimiert der Handlungsverlauf folgende zweite Ausgangsthese: Minnas “weibliches Glück” ist wesentlich von Tellheims männlichem Dominanzbestreben abhängig. “Weibliches Glück” als Ergebnis eines männlichen Dominanzproblems? Aus der Glücksfrage wird folglich eine Geschlechterfrage. Woraus sich diese entwickelt, zeigt die folgende Textpassage der Figurenrede Tellheims, in der er in II,9 seine Ausgangssituation schildert: v. tellheim: Recht, gnädiges Fräulein; der Unglückliche muss gar nichts lieben. Er verdient sein Unglück, wenn er diesen Sieg nicht über sich selbst zu erhalten weiß; wenn er es sich gefallen lassen kann, daß die, welche er liebt, an seinem Unglück Anteil nehmen dürfen.– Wie schwer ist dieser Sieg! – Seitdem mir Vernunft und Notwendigkeit befehlen, Minna von Barnhelm zu vergessen: was für Mühe habe ich angewandt! (44) Männliches und weibliches Glück in Lessings Minna von Barnhelm 143 Tellheim – so scheint es – gefällt sich in der Position des Unglücklichen. “Vernunft und Notwendigkeit” befehlen ihm die Absage an ein amouröses Glück. Die Ursachen dafür werden bei dem Aufeinandertreffen von Tellheim und Minna in II,8 zum ersten Mal dargelegt. Wie insbesondere anhand des Nebentextes – der Regieanweisungen – erkennbar wird, präsentiert sich Tellheim zu Beginn der Szene als von seinen Affekten beherrschter Mann und agiert somit in Gegenwart Minnas vollkommen widersprüchlich zu seiner Haltung im ersten Akt: v. tellheim: tritt herein, und indem er sie erblickt, flieht er auf sie zu: Ah! meine Minna. – das fräulein: ihm entgegen fliehend: Ah! mein Tellheim! – v. tellheim: stutzt auf einmal, und tritt wieder zurück: Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein. (42) Diese Textstelle ist von Brenner (128), Fritz Martini (376–426), Jürgen Schröder (230–32) und Wehrli (103) kommentiert worden, wobei sich wiederholt der Hinweis auf den von Lessing im 20. Stück der Hamburgischen Dramaturgie enthüllten Gegensatz zwischen der “Sprache des Herzens” und dem “hässlichen Ton des Zeremoniells” findet (136). Die rasche Abfolge von Hingabe und Selbstdisziplin bzw. Reflexion, mit der nach Wehrli für Tellheim die Probleme “erst beginnen” (103), verweist auf einen Bereich der Anthropologie der Aufklärung, der insbesondere in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein deutlich zunehmendes Interesse verzeichnet, das sich schließlich auch in literarischen Texten niederschlägt: die angestrebte Dominanz bzw. Herrschaft der oberen über die unteren Seelenkräfte, die Herrschaft von Verstand bzw. Vernunft über die Leidenschaften. Diese Fähigkeiten beeinflussen im Laufe des 18. Jahrhunderts immer stärker die Tendenz zur Distinktion der Geschlechtereigenschaften. Tellheims angestrebte Disziplinierung der Affekte, die in der zuvor zitierten Passage deutlich wird, kann aus diesem Grund als Versuch bezeichnet werden, der insbesondere an “Männlichkeit” gebundenen Forderung nach Mäßigung der Leidenschaften zu entsprechen. Dass er jedoch weder erkennen kann noch will, wie seine individuelle Absage an ein amouröses Glücksgefühl mit Minnas “weiblichem Glücksempfinden” verbunden ist, lässt sein Verharren in der starren Position des gekränkten, versehrten und daher unglücklichen ehemaligen Soldaten als zunehmend eigenfixiert erkennbar werden. Das Zusammenspiel von Haupt- und Nebentext ist dafür in der Szene II,8 von besonderer Bedeutung: Tellheim versucht, sowohl durch sein körperliches Zurückweichen Distanz zu Minna zu wahren als auch die Distanz auf die Ebene des Verbalen zu projizieren, indem er von der eingangs verwendeten, vertrauten Form “meine Minna” zum formellen Form “gnädiges Fräulein” übergeht. Dadurch weist er die körperliche Annäherung Minnas entschieden zurück und erteilt somit auch dem physischen Glücksempfinden der Verlobten 144 martin blawid eine Absage. Dabei wird sich der Major plötzlich der Öffentlichkeit der Kommunikation bewusst, da neben Minna und ihm auch Franciska und der Wirt Zeugen seiner spontanen Leidenschaft geworden sind. Allerdings strebt Tellheim genau das Gegenteil, die Exklusion der Öffentlichkeit aus seinem Verhältnis zu Minna, an, was zum einen die zusätzliche Forderung an seine Selbstdisziplin erklärt und zum anderen sein Verharren in der Sprachlosigkeit hervorruft, die erst in II,9 in der Gewissheit der Wahrung einer Zone der Intimität mit Minna aufgehoben werden kann: “[v. tellheim]: zurückweichend: Sie suchten einen glücklichen, einen Ihrer Liebe würdigen Mann; und finden – einen Elenden” (43). Die Fixierung auf den Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart führt Tellheim Minna gegenüber als Eigencharakteristik an und erklärt im Folgenden die sich für ihn ergebenden Konsequenzen: Die Berufung auf die Verantwortung für das eigene korrespondiert aus Tellheims Sicht mit der Pflicht, das fremde Schicksal zu schützen, was sich in dem zuvor zitierten Textabschnitt aus II,9 zeigt. Erneut tritt in seiner Figurenrede ein verbitterter Fatalismus hervor, der ihn die selbstauferlegte Pflicht herleiten lässt, seinen Affekten zu entsagen. Die enge Verknüpfung seines männlichen Selbstverständnisses mit der an eine soldatische Ehre gebundenen Erwartungshaltung manifestiert sich deutlich in der Sprache, die gerade in einem zweifelsohne emotional aufgeladenen Moment mit militärisch besetzten Begriffen (der “Sieg” über sich selbst oder der “Befehl,” Minna zu vergessen) die Disziplinierung herzustellen bemüht ist. Die Beherrschbarkeit der Affekte – in diesem Fall der amourösen Art Minna gegenüber – sei ihm von “Vernunft und Notwendigkeit” befohlen, womit er sich als Vertreter des zuvor geschilderten anthropologischen Postulats der Beherrschbarkeit der unteren durch die oberen Seelenkräfte ausweist. Im gleichen Zusammenhang verdeutlicht er jedoch auch die Schwierigkeiten, die für ihn mit diesem Prozess verbunden gewesen seien. Dadurch legt er die Schlussfolgerung nahe, dass die Strategie, den Leidenschaften zu entsagen, dem sich in einer Krise befindlichen männlichen Individuum nur über das Applizieren von Mechanismen der Gewalt gegen sich selbst ermöglicht wird (vgl. Kaufman 13–17). Indem Minna ihn – zunächst unverhofft – persönlich trifft und ihn in dem folgenden Wortwechsel dazu zwingt, offen auszusprechen, dass er sie noch immer liebe, bricht die vermeintlich gelöste amouröse Krise aufs Neue über Tellheim herein. In diesem Zusammenhang ist es wichtig hervorzuheben, dass die Krise ursprünglich nur von Tellheim als solche empfunden wird. Minna hingegen strebt weiterhin nach der Erfüllung des gemeinsamen Liebesglücks. Tellheim jedoch ist es, der vor seiner Verlobten flüchtet, ihr ausweicht und in ihrer Gegenwart Unbehagen empfindet. Sein Fluchtversuch – oder, systemtheoretisch argumentiert – sein Versuch, das Dasein als Exklusionsindividuum zu intensivieren, muss spätestens in diesem Moment als gescheitert bezeichnet werden, wozu sowohl Mittel der Gewalt gegen sich selbst, als auch Mittel fremder Einflussnahme durch Minna entscheidend Männliches und weibliches Glück in Lessings Minna von Barnhelm 145 beitragen. Das komische Potenzial dieser zweifelsohne aus Sicht Tellheims sehr ernsten Situation wird durch die Tatsache verstärkt, dass der Major das Zusammentreffen mit Minna als Abschied deutet, währenddessen Minna auf ein Wiedersehen abzielt. Dem tritt verstärkend hinzu, dass auch Tellheim nicht nur versucht, seine Affekte zu unterdrücken, sondern sich der durch Niklas Luhmann für das ausgehende 18. Jahrhundert konstatierten “Semantik des Gefühls” (154–55) keinesfalls bedienen kann. Ebenso zögerlich wie auf die Frage, ob er Minna noch liebe, verhält sich Tellheim, als Minna ihn bittet, von seinem “Unglück” zu berichten. Dabei dienen ihm die Anforderungen an eine durch das Militär geprägte “Männlichkeit,” die sich durch eine Resistenz gegenüber Emotionen definiert, erneut als Rechtfertigungsgrundlage. Tellheim will nicht kommunizieren; er weicht, wie Schröder formuliert, Minnas Impulsen entweder aus oder antwortet widerwillig (232). Die Inkommunikabilität der emotional aufgeladenen Bereiche “Liebe,” “Schicksal” und “Unglück” begründet Tellheim im Anschluss wie folgt: v. tellheim: Aber Sie meinen, ich sei […] der blühende Mann, voller Ansprüche, voller Ruhmbegierde; der seines ganzen Körpers, seiner ganzen Seele mächtig war; […] der Ihres Herzens und Ihrer Hand […] täglich würdiger zu werden hoffen durfte. – Dieser Tellheim bin ich eben so wenig, – als ich mein Vater bin. Beide sind gewesen. – Ich bin Tellheim, der verabschiedete, der an seiner Ehre gekränkte, der Kriepel, der Bettler. (45–46) Brigitte Prutti gelangt zu dem Ergebnis, dass Tellheim im Evozieren eines Bildes aus seiner ruhmreichen Vergangenheit eine “Rekonstruktion des fragmentierten männlichen Subjekts” beabsichtigt (230). Schröder sieht darin erneut eine Verbindung zum sprachlichen Duktus, den sowohl Minna als auch Tellheim wählen: “So wie sie [Minna] hier die natürliche “Sprache des Herzens” noch auf eine spürbar willkürliche Weise handhabt, so spricht Tellheim seine unnatürlich-zeremonielle Sprache schon auf eine unwillkürliche, weil psychologisch begründete Weise” (234). Die Definition des – wie Tellheim sich ausdrückt – “blühenden” Mannes leitet sich sowohl über primär soziale Aspekte wie Reputation und Ambition als auch über biologisch-anatomische Aspekte her. Die Brisanz der Interaktion zwischen Minna und Tellheim erwächst in II,9 vor allem daraus, dass Minna meint, den vornehmlich auf den sozialen Gesichtsverlust abzielenden Äußerungen Tellheims mit einer dezidierten Forderung nach Körperlichkeit zu entgegnen. Erneut ist das Zusammenwirken von Haupt- und Nebentext in dieser entscheidenden Situation bedeutsam: das fräulein: Deine Hand, lieber Bettler! indem sie ihn bei der Hand ergreift. v. tellheim: der die andere Hand mit dem Hute vor das Gesicht schlägt, und sich von ihr abwendet: Das ist zu viel! – Wo bin ich? – Lassen Sie mich, Fräulein! – Ihre Güte foltert mich! – Lassen Sie mich! 146 martin blawid […] das fräulein: Von mir? indem sie seine Hand an ihre Brust zieht: Träumer! […] v. tellheim: Lassen Sie mich, Minna! reißt sich los und ab. (46) Schröder hebt diesbezüglich zu Recht hervor, dass Minna versucht, “jeden zeremoniellen Ansatz […] Tellheims in die Sprache des Herzens zurückzuübersetzen” (233). Das “weibliche Glück” wird aus der Perspektive Minnas somit als amouröses Glück beschreibbar. Allerdings besitzt die Szene – von der Forschung noch nahezu unbeachtet – über die platonischamouröse hinaus eine stark erotische Komponente. Die Projektion sexueller Desiderate, unterstützt von der Kleidung Minnas, dem Negligé, und der von ihr initiierten körperlich-intimen Berührung, spiegelt durchaus mehr wider als den von Prutti unterstellten Wunsch Tellheims “nach der Heimkehr in die weiblichmütterlichen Arme” (232). Minna begehrt zumindest an dieser Stelle deutlich eher sexuell als ideell. Jedoch verdeutlicht der körperliche Zustand Tellheims, dass Minna ihn an seinem gelähmten – und damit nicht nur mechanisch unbrauchbaren, sondern durch die Lähmung auch für Erotik unempfänglichen Arm – ergreift. Das erotisch-amouröse Glück, das Minna zweifelsfrei als Teilkomponente ihres “weiblichen Glücks” versteht, rückt aus diesem Grund für Tellheim in weite Ferne: Der soldatische Körper verliert in dieser Situation über die ohnehin eingebüßte Unversehrtheit hinaus auch den Bezug zum Status des Subjekts. Er wird manövrierbar in den Händen einer Frau, die ein erotisches Spiel initiieren will, das der Mann jedoch nicht zu empfinden vermag. Dem Verbergen des Gesichts hinter dem Hut und dem Abwenden von Minna liegt das Bedürfnis nach Distanz zugrunde, über das Tellheim allerdings nicht mehr entscheiden kann. Minna “ergreift” und “zieht” (46) ihn, sodass er sich nur mit einem erneuten Akt der Gewalt von ihr befreien kann. Tellheim bedarf nicht nur der Hilfe anderer Figuren, sondern auch des emotionalen Schutzes vor anderen Figuren. Um die Distanz zu Minna aufgrund dieser Erfahrung zu wahren, bemüht Tellheim im weiteren Verlauf immer wieder seine Gefolgsleute, die entweder – wie Just in III,2 – einen Brief übergeben oder – wie Paul Werner in IV,4 – seine bevorstehende Ankunft melden sollen. Die Strategie, Minna einen Brief zu schreiben, in dem er seine Situation nochmals erklärt, stellt, genau betrachtet, eine Verkettung verschiedener Mittel zur Wahrung der Distanz dar: der Brief als Mittel der sekundären Oralität anstatt eines klärenden Gesprächs, die Übergabe dieses Briefes durch einen Diener anstatt von eigener Hand und die indirekte Übergabe an Franciska anstelle Minnas. Deutlicher kann die Betonung der Distanz nicht hervortreten. Das Spannungsverhältnis setzt sich auch in dem entscheidenden Treffen zwischen Minna und Tellheim in IV,6 fort, wobei Minna eingangs die Exklusion militärischer Attribute fordert: “O, Herr Major, so gar militärisch wollen wir es mit einander nicht nehmen” (79). Männliches und weibliches Glück in Lessings Minna von Barnhelm 147 Tellheims Figurenrede bleibt jedoch weiterhin davon affiziert. Minna bietet ihm daraufhin eine Alternative an: das fräulein: Ich bin Ihre Gebieterin, Tellheim; Sie brauchen weiter keinen Herrn. – […] Was sind Sie noch mehr? Ein Kriepel: sagten Sie? Nun, indem sie ihn von oben bis unten betrachtet der Kriepel ist doch noch ziemlich ganz und gerade; scheinet doch noch ziemlich gesund und stark. – Lieber Tellheim, wenn Sie auf den Verlust Ihrer gesunden Gliedmaßen betteln zu gehen denken: so prophezeie ich Ihnen voraus, daß Sie vor den wenigsten Türen etwas bekommen werden; ausgenommen vor den Türen der gutherzigen Mädchen, wie ich. v. tellheim: Jetzt höre ich nur das mutwillige Mädchen, liebe Minna. (81) Minna beansprucht damit nicht nur die Hegemonie einer zukünftigen Verbindung, sondern spricht dem Major darüber hinaus weitere Alternativen zu dem vermeintlichen Glück ab, das ihn mit ihr erwarte. Tellheim avanciert hier vom melancholisch Leidenden zum Erpressten. Diese Tatsache illustriert Minna in ihrer Figurenrede im Anschluss noch drastischer: das fräulein: Doch alles wohl überlegt: so ist auch das so schlimm nicht. Um so viel sichrer bin ich vor Ihren Schlägen. v. tellheim: Fräulein! das fräulein: Sie wollen sagen: Aber Sie um so viel weniger vor meinen. Nun, nun, lieber Tellheim, ich hoffe, Sie werden es nicht dazu kommen lassen. (82) Das von Minna in Aussicht gestellte vermeintliche Glück ist jedoch vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Konventionen des 18. Jahrhunderts äußerst instabil. Ludwig Stockinger weist auf das Konfliktpotenzial der angedeuteten Beziehung zwischen Minna und Tellheim hin: Es ist der Widerspruch zwischen der Forderung nach Gleichheit in einer Beziehung, die das rechtliche Band der Ehe mit starker seelischer und körperlicher Gefühlsbindung vereinigt, und der Forderung nach hierarchischer Über- und Unterordnung in dieser Beziehung, in der dem Mann nach den geltenden gesellschaftlichen Konventionen die übergeordnete Rolle zukommt. Tellheim, der nicht nur sozial und ökonomisch geschwächt, sondern auch körperlich erheblich behindert ist, könnte in dieser Ehe nur eine untergeordnete Rolle spielen, und er kann deswegen erst dann wieder dem Gedanken einer Heirat nähertreten und sich und Minna das Gefühl der Liebe eingestehen, als er glaubt, daß Minna von ihrem Onkel enterbt und verstoßen worden sei. Jetzt kann er die Rolle eines beschützenden und damit auch Herrschaft ausübenden Mannes erneut einnehmen. [...] Dieser Widerspruch zwischen Herrschaft und Liebe wird von Minna nun in recht drastischer Weise explizit mit einem Thema verbunden, das – zumindest innerhalb dessen, was die ‘Bürgerliche Gesellschaft’ für aussprechbar hielt – schon weitgehend mit einem Tabu belegt war: die körperliche Gewalt als letztes Mittel der Regulierung von Konflikten im Sinne der Stabilisierung der Herrschaft des Mannes, eine 148 martin blawid Gewalt, die in der Ehe zwischen Minna und Tellheim allerdings nicht mehr vom Mann ausgehen würde – er kann ja seinen rechten Arm nicht mehr bewegen –, sondern von der Frau. (136) Tellheim ist es jedoch, der Minna die Gelegenheit verschafft, die aktive Position innerhalb der in Aussicht gestellten Beziehung zu besetzen, indem es ihm wiederholt nicht gelingt, klare Entscheidungen zu treffen bzw. sich zu verteidigen. Die von ihm vertretenen Ideale finden keine Entsprechung in der Umsetzung in eine Tat, was insbesondere Minna bemerkt und bereits in II,1 konstatiert: “[Das Fräulein:] Er hat das rechtschaffenste Herz, aber Rechtschaffenheit und Edelmut sind Worte, die er nie auf die Zunge bringt” (29). Ein erneuter Versuch Minnas, die erschöpften kommunikativen Mittel durch den Einsatz von Körperlichkeit – ähnlich wie bereits in II,9 – zu rekompensieren, führt zu folgender Einsicht Tellheims: v. tellheim: Mein Fräulein, lassen Sie mir noch heute meinen gesunden Verstand, und beurlauben Sie mich. Sie sind auf dem besten Wege, mich darum zu bringen. Ich stemme mich, so viel ich kann. (85) Diese Kritik greift Minna auf und erweitert sie auf die einseitige Fixierung auf den Begriff der “männlichen Ehre” hin. Damit berührt sie einen zentralen Punkt der Krise, in der sich Tellheim befindet, was anhand seiner hitzigen Reaktion transparent wird: v. tellheim: Ich brauche keine Gnade; ich will Gerechtigkeit. Meine Ehre. das fräulein: Die Ehre eines Mannes, wie Sie. v. tellheim: hitzig: Nein, mein Fräulein, Sie werden von allen Dingen recht gut urteilen können, nur hierüber nicht. […] [W]enn meiner Ehre nicht die vollkommenste Genugtuung geschieht; so kann ich, mein Fräulein, der Ihrige nicht sein. Denn ich bin es in den Augen der Welt nicht wert, zu sein. Das Fräulein von Barnhelm verdienet einen unbescholtenen Mann. (86) Tellheims Rechtfertigungsstrategie wird durch die vermeintliche Unvereinbarkeit eines privaten Glücks mit seiner öffentlichen Wahrnehmung als entehrtem Krieger motiviert. Seine Vorstellung von “Männlichkeit,” die an dieser Stelle durch den Wunsch, ein “unbescholtener Mann” zu sein, gut paraphrasiert werden kann, definiert sich vordergründig über das System der Öffentlichkeit, von dem er sich “die vollkommenste Genugtuung seiner Ehre erhofft.” An dieser Stelle wird deutlich, weshalb es Tellheim im “weiblichen” System der Intimität nicht gelingen kann, die von Luhmann im Sinne einer “passionierten Liebe” beschriebene Integration von Privatheit und Öffentlichkeit zu vollziehen: Die Wiederherstellung der Ehre erhebt Tellheim Minna gegenüber zur Voraussetzung der Liebe. Die Öffentlichkeit greift nicht Männliches und weibliches Glück in Lessings Minna von Barnhelm 149 nur in die Privatheit ein; sie wird zu deren zwingenden Voraussetzung. Die primäre Ausrichtung auf die Partnerin im System der Intimität wird dabei von ihm ebenso vehement ausgeschlossen wie das Zurückstellen der eigenen Reputation zugunsten der Wahrnehmung als amouröses Paar, worin Saße – Minnas Perspektive nachvollziehend – “männlichen Hochmut, der selbst in der Not vom patriarchalischen Gestus der Dominanz nicht lassen kann” (42) sieht. Darin liegt auch der Schlüssel zur Absage Tellheims an eine durch Minna angestrebte Erfüllung des “weiblichen Glücks.” Da das System der Intimität durch sie als Verwirklichungsmoment des individuellen Glücksgefühls gedacht wird, muss die vehemente Absage Tellheims an den Bereich der “Liebe” eine Enttäuschung der Hoffnung auf Erfüllung des Glücks bei Minna hervorrufen. Erst der Übergang vom vierten zum fünften Akt löst die Spannung und die vermeintlichen Widersprüche in Tellheims Figurencharakteristik auf. Diese Schlüsselstelle des Textes soll genauer untersucht werden: Die zentrale Frage zielt auf Tellheims Motivationsgrundlagen ab, die zu einer Revision seiner zuvor geschilderten, pessimistischen Haltung beitragen. Dabei ist entscheidend, dass sich im Vergleich zu den ihn betreffenden Umständen, die er in IV,6 Minna gegenüber erwähnt hatte, tatsächlich keine Änderungen ergeben haben: Tellheims öffentliche Reputation ist weiterhin beschädigt; sämtliche Hinweise auf das Gegenteil, die an ihn von anderen Figuren herangetragen werden, weist er bis zur vollständigen Gewissheit in V,9 (noch) vehement von sich. Die in der Forschungstradition weit verbreitete Annahme, Tellheim müsse der Beziehung mit Minna entsagen, da er seine Reputation nicht wiederhergestellt sieht, würde seinen amourösen Umbruch erst nach Erhalt des königlichen Handschreibens in V,9 überzeugend motivieren. Die von Fick beschriebene Scheu, “die Geliebte in sein Unglück hineinzuziehen und eine schwerwiegende Minderung ihrer Glücksumstände zu verursachen” (244), legt Tellheim jedoch bereits vor der eigenen Gewissheit seiner (vollständig) wiedererlangten Reputation ab. Daher ist die Ursache für seine überraschende Meinungsänderung in einem anderen Bereich zu suchen: Einzig das Unglück Minnas “hebt ihn empor” und lässt ihn – wie aus dem Gespräch mit Paul Werner in V,1 hervorgeht – zwei wichtige Überzeugungen, die er zuvor noch glühend vertreten hatte, verwerfen: die Bitte um Geldanleihen bei Paul Werner und die abgelehnte Aussicht auf Heirat mit Minna. Ein entscheidendes Kriterium für diesen Umschwung beinhaltet seine Formulierung, “alles für sie zu unternehmen” (91) An dieser Stelle neigt ein beachtlicher Teil der Untersuchungen zu Tellheim dazu, den Affekt des Mitleids als Ursprung der Meinungsänderung auszumachen (Fick 255–56; Homann 84–85; Wehrli 113–14). Allerdings wird aus einer genderanalytischen Perspektive Folgendes deutlich: Nicht aus der angeblich unverzichtbaren Rehabilitation seiner öffentlichen Ehre, sondern einzig aus der vermeintlichen Gewissheit der Hilflosigkeit der Frau an seiner Seite, der “Aufhebung weiblicher Autonomie” (Prutti 288), bezieht Tellheim 150 martin blawid die Sicherheit, wieder die Kennzeichen eines wehrhaften Mannes zu besitzen, die er zuvor noch für sich selber verneint hatte: Willen, Entschlossenheit und Stärke. Die kausale Verknüpfung jener Eigenschaften mit der Hilflosigkeit der Frau lässt auf eine nicht primär nach Ehre, sondern nach maskuliner Dominanz strebende männliche Figur schließen, die sich verpflichtet fühlt, die eigene Stärke in den Dienst der Frau zu stellen. Durch die Gewissheit der Hilflosigkeit Minnas erhöht sich zum einen Tellheims Aussicht auf die Erlangung einer zwischengeschlechtlichen Machtposition in einer zukünftigen Beziehung zu Minna, indem Tellheim Minna gegenüber den Status eines handelnden Subjekts und die Funktion eines Beschützers wiederzuerlangen hofft. Zum anderen glaubt er, sich somit auch stärker auf die Machtposition, die er gegenüber einer breiten Öffentlichkeit einnehmen würde, berufen zu können. Beide Aspekte sieht er als “Schlüsselfaktoren” für sich und Minna: Das wiedererlangte “männliche Glück” wird zum Garant für die Konzeption “weiblichen Glücks” – so zumindest aus der Perspektive Tellheims. Sobald Tellheim sich gegenüber der geliebten Frau wieder als “Beschützer,” “Verteidiger der Ehre,” “Entscheidungen Treffender” und somit innerhalb einer patriarchalischen Dominanzposition wiederzufinden glaubt, fällt seine angebliche externe Abhängigkeit von gesellschaftlich-strukturellen Begleitumständen, seine Fixierung auf die Restitution seiner soldatischen Ehre, wie ein Kartenhaus zusammen. Tellheim fühlt sich in dem Moment als “Mann,” in dem er Minna gegenüber dominieren kann. Tellheims Bild der “Männlichkeit” und des “männlichen Glücks” rekurrieren folglich auf ein traditionelles, den Anforderungen des Patriarchats folgendes Muster. Dieses definiert sich in seinem Fall – den Umständen entsprechend – nicht durch das Applizieren physischer Gewalt, wofür die Interaktion mit Minna in IV,6 als Bestätigung angeführt werden kann. Vielmehr speist es sich aus dem Willen zu handeln, zu protegieren und Entscheidungen zu treffen. Lessings Text verdeutlicht erst retrospektiv an dieser Stelle, weshalb Tellheim den Ring – wie Just in I,11 eröffnet – nicht mehr tragen konnte: Das äußere Attribut der amourösen Bindung verweist in Tellheims Selbstverständnis auf die dominante Position innerhalb der Beziehung, derer er sich nicht mehr sicher sein konnte. Wie abhängig bei Tellheim die vermeintlich wiedererlangte Position von seiner Vorstellung von dominanter “Männlichkeit” ist, zeigt sich insbesondere in der dramatischen Entwicklung von V,5 bis V,11. Nach dem neu gewonnenen Vertrauen in die eigene Stärke ist Tellheim bemüht, auch die emotionale Empathiefähigkeit zurückzuerlangen. Anhand des Nebentextes in V,5 wird deutlich, dass die intrinsische Überzeugung Tellheims auch Einflüsse auf die externalisierenden Aspekte seiner Körperwahrnehmung hat: v. tellheim: Diesen Ring nahmen Sie das erstemal aus meiner Hand, als unser beider Umstände einander gleich, und glücklich waren. Sie sind nicht mehr glücklich, aber wiederum einander gleich. Gleichheit ist immer das festeste Band der Liebe. Erlauben Sie, liebste Minna! – ergreift ihre Hand, Männliches und weibliches Glück in Lessings Minna von Barnhelm 151 um ihr den Ring anzustecken. das fräulein: Wie? mit Gewalt, Herr Major? (94) Im Gegensatz zu II,9 und IV,6 greift Tellheim in V,5 sogar mehrfach nach Minnas Hand, lässt sie kurz darauf los und gesteht, ihm habe Minnas Weigerung, den Ring anzunehmen, “wehgetan.” Der Ring ist in diesem Zusammenhang an die Erinnerung an ein Glücksgefühl aus der gemeinsamen amourösen Vergangenheit geknüpft, auf die Tellheim nunmehr wie folgt anpielt. Die Neubewertung des individuell erlebten Glücksgefühls wird zur Voraussetzung dafür, sich auch im emotional-amourösen Bereich Affekte zuzugestehen und die Position des werbenden Mannes einzunehmen, die Minna zuvor von ihm eingefordert hatte. Diese emotionale Öffnung betrifft auch den Bereich des amourösen Thesaurus, was insbesondere durch die Anrede “liebste Minna,” die das zuvor verwendete “mein Fräulein” ersetzt, deutlich wird. Sein Motiv dafür ist, wie er bereits durch die Formulierung “Gleichheit ist immer das festeste Band der Liebe” darstellt, jedoch nicht etwa der Affekt der Liebe, sondern der Affekt des durch patriarchalisches Beschützertum getragenen Mitleids: v. tellheim: Ärgernis und verbissene Wut hatten meine ganze Seele umnebelt; die Liebe selbst […] konnte sich darin nicht Tag schaffen. Aber sie sendet ihre Tochter, das Mitleid […]. Der Trieb der Selbsterhaltung erwacht, da ich etwas Kostbarers zu erhalten habe, als mich, und es durch mich zu erhalten habe. […] durch mich, Minna, verlieren Sie Freunde und Anverwandte, Vermögen und Vaterland. Durch mich, in mir müssen Sie alles dieses wieder finden, oder ich habe das Verderben der Liebenswürdigsten Ihres Geschlechts auf meiner Seite. (95–96) Die Außenfokussierung seines männlichen Beschützerdranges erwächst aus der Überzeugung von der eigenen Aktivität und Fähigkeit; und erst an dieser Stelle verknüpft sich die neu gestellte Aufgabe wieder mit der Wahrung der Ehre, dieses Mal jedoch in einem geschlechterspezifischen Kontext: der Rettung Minnas, “der Liebenswürdigsten Ihres Geschlechts,” vor dem “Verderben” (96). Als “Mann” ist Tellheim aufgrund des Mitleids zunächst aus seiner Sicht als Beschützer gefordert, nicht etwa als Liebhaber oder Liebender. Eben diesen sucht jedoch Minna zur Erfüllung des “weiblichen Glücks.” Tellheim entspricht diesen Anforderungen allerdings erst in dem Moment, in dem er vollständige Gewissheit über die Wiederherstellung seiner Ehre erlangt: v. tellheim: […] Aber nun, da mich nichts mehr zwingt, nun ist mein ganzer Ehrgeiz wieder einzig und allein, ein ruhiger und zufriedener Mensch zu sein. Der werde ich mit Ihnen, liebste Minna, unfehlbar werden […] Morgen verbinde uns das heiligste Band; und sodann wollen wir […] in der ganzen weiten bewohnten Welt den stillsten, heitersten, lachendsten Winkel suchen, dem zum Paradiese nichts fehlt, als ein glückliches Paar. (100) 152 martin blawid Tellheim stellt damit das Leben mit Minna als gepaarte Exklusionsindividuen fernab der Gesellschaft in Aussicht. Darin sieht er die hinreichende Voraussetzung dafür, ein “glückliches Paar” zu sein. Auf Minnas Ablehnung, die eine Reprise der Äußerung Tellheims aus V,5 (“Gleichheit ist immer das festeste Band der Liebe”) darstellt, zeigt er sich im Überschwang seiner unteren Seelenkräfte sogar bereit, den Brief mit der Nachricht der Wiedergutmachung zu zerreißen. Minnas Überlegenheit als Interaktionspartnerin – sie erkennt Tellheims fehlende Selbstkontrolle: “Er erlaube mir, dass ich, bei seiner fliegenden Hitze, für uns beide Überlegung behalte” (100) – führt zur alles entscheidenden Frage: das fräulein: das ihm in die Hände greift: Was wollen Sie, Tellheim? v. tellheim: Sie besitzen. […] das fräulein: Wollen Sie es wagen, Ihre eigene Rede in meinem Munde zu schelten? v. tellheim: Sophistin! So entehrt sich das schwächere Geschlecht durch alles, was dem stärkern nicht ansteht? So soll sich der Mann alles erlauben, was dem Weibe geziemet? Welches bestimmte die Natur zur Stütze des andern? (102) Gerlinde Anna Wosgien gelangt in diesem Zusammenhang zu folgender Erkenntnis: Deshalb ist Tellheim dem traditionellen Rollenverständnis verpflichtet, das von einer Hierarchie der Geschlechter ausgeht. Wenn er von Gleichheit spricht […], versteht er darunter die gleichen sozialen “Umstände” und gesellschaftlichen Voraussetzungen, nicht etwa die Gleichberechtigung von Mann und Frau. […] Diesen Anspruch leitet er aus seiner Männlichkeit ab, die im Laufe der Komödie immer wieder dezidiert hervorgehoben wird. (123–24) Wosgien resümiert ihre Argumentation wie folgt: “Tellheim glaubt, Minna nur lieben zu dürfen, wenn er ihr gesellschaftlich und ökonomisch überlegen oder wenigstens ebenbürtig ist” (124). Dieser fruchtbare Ansatz legt folgende weiterführende Überlegung nahe: Tellheim will – wie bereits anhand der Brüchigkeit seiner Ideale im Übergang vom vierten zum fünften Akt hergeleitet werden konnte – nicht lieben, sondern besitzen. Um diese Absicht zu begründen, führt er ein geschlechtertheoretisches Argument aus dem Bereich des biologischen Determinismus an, das ihn in die dem “stärkeren Geschlecht” zugedachte Position des Beschützers manövrieren soll. Der Einfluss Rousseaus – Émile und die Erziehung erscheint 1762, also ca. fünf Jahre vor Lessings Text – wird mit Bezug auf Tellheims Argumentation zumindest insofern deutlich, als Rousseau der männlichen Stärke, der sich die Frau “unterwerfen” solle (167), besondere Aufmerksamkeit widmet. Hierbei betrachtet er den Gehorsam der Frauen gegenüber den Männern als “Ordnung der Natur” (167). Männliches und weibliches Glück in Lessings Minna von Barnhelm 153 Allerdings setzt Lessing das männliche Selbstverständnis Tellheims und damit indirekt auch die Thesen Rousseaus sowohl im inneren als auch im äußeren Kommunikationssystem des Textes in zweifacher Hinsicht der dramatischen Ironie aus. Im inneren Kommunikationssystem des Textes verfügen sowohl Minna als auch Franciska, im äußeren Kommunikationssystem die Zuschauer über die Tellheim vorenthaltene Information, dass Minna ihr eigenes Unglück zum einen nur fingiert und zum anderen Tellheim nicht ihren, sondern seinen eigenen Ring zurückgegeben hat. Dieser Wissensvorsprung parodiert Tellheims neu erwachten Drang zur Dominanz, da er unzweifelhaft verdeutlicht, dass der Major weiterhin den ludistisch-amourösen Bestrebungen Minnas ausgesetzt ist. Umso belustigender gestaltet sich für das Publikum Tellheims auf Minnas Ringkauf bezogener Prozess der Erkenntnis in V,10: v. tellheim: zu Justen: Was sagst du? – Das ist nicht möglich! – Sie? indem er das Fräulein wild anblickt […] Ist das wahr, mein Fräulein? – Nein, das kann nicht wahr sein! das fräulein: lächelnd: Und warum nicht, Tellheim? – Warum kann es nicht wahr sein? v. tellheim: heftig: Nun, so sei es wahr! – Welch schreckliches Licht, das mir auf einmal aufgegangen! Nun erkenne ich Sie, die Falsche, die Ungetreue! […] Vergessen Sie meinen Namen! – Sie kamen hierher, mit mir zu brechen. Es ist klar! (103–04) Tellheims Reaktion resultiert erneut nicht primär aus amouröser Enttäuschung, sondern vor allem aus der Erkenntnis, auf die Funktion einer manövrierbaren Figur innerhalb des von Minna initiierten Spiels reduziert worden zu sein. Diese vermeintliche Einsicht wirkt seinem erst kurz zuvor wieder gewonnenen und aus diesem Grund noch instabilen “männlich-tugendhaften Stolz” (Lorey 137) entgegen und macht ihm die Öffnung gegenüber rationalen Argumenten unmöglich. Die Rückbesinnung auf die Vernunft kann in Tellheims Fall nicht intrinsisch erfolgen; sein erneuter Gesinnungswandel in V,12 wird erst durch die Ankündigung des Deus ex Machina, des Grafen von Bruchsall, ermöglicht: das fräulein: Ist er’s? – O nun geschwind, Tellheim – v. tellheim: auf einmal zu sich selbst kommend: Wer? wer kömmt? Ihr Oheim, Fräulein? dieser grausame Oheim? Lassen Sie ihn nur kommen; lassen Sie ihn nur kommen! – Fürchten Sie nichts! Er soll Sie mit keinem Blicke beleidigen dürfen! Er hat es mit mir zu tun. – Zwar verdienen Sie es um mich nicht. (106) Wie bereits bei den vorangegangenen plötzlichen Inkongruenzen, die Tellheim durchweg kennzeichnen, muss auch an dieser Stelle wieder die 154 martin blawid Frage aufgeworfen werden, worauf seine unerwartete Meinungs- und Bewusstseinsänderung zurückzuführen ist. Erneut tendieren Teile der TellheimForschung dazu, ihm diesbezüglich eine “Ritterlichkeit, die […] auf Mitleid und echtem Verantwortungsbewusstsein basiert” (Wehrli 118), zu attestieren. Die genderanalytische Herangehensweise legt jedoch eine andere Annahme nahe: Der Grund dafür liegt zum wiederholten Male darin, dass ein externes Ereignis – in diesem Fall die vermeintliche Bedrohung der Ehre Minnas durch den Grafen von Bruchsall – Tellheims Selbstverständnis als das eines starken und entschlossenen Mannes gegenüber einer schwachen, schutzbedürftigen Frau aktiviert. Die Einschränkung: “Zwar verdienen Sie es um mich nicht” impliziert, dass das externalisierte Bedürfnis, die entsprechenden Aufgaben eines wehrhaften Mannes wahrzunehmen, gegenüber dem eigentlichen Verhältnis zu Minna dominiert. Es ist einzig der Aufklärung Minnas in V,12 zu verdanken, dass Tellheim über die vollständige Einsicht in das Spiel mit dem Ring auch seine Position im System der Intimität wahrnehmen kann und will: v. tellheim: Wo bin ich? – ihre Hand küssend: O boshafter Engel! – mich so zu quälen! […] Noch kann ich mich nicht erholen. – Wie wohl, wie ängstlich ist mir! So erwacht man plötzlich aus einem schreckhaften Traume! (107) Durch den Auftritt des Grafen von Bruchsall in V,13 wird Tellheim schließlich nicht nur als Partner Minnas und Freund des Grafen in die Familie Minnas integriert, sondern auch als Mann wertgeschätzt. Erst nach der Rehabilitation seines öffentlichen Ansehens und der Klärung der Missverständnisse im Bereich der Intimität gegenüber Minna gelingt es Tellheim schließlich, sein individuelles Glück zu erkennen. Jedoch erschöpft sich die Lösung von Tellheims Konflikten nicht ausschließlich, wie in diversen Texten vornehmlich der älteren Tellheim-Deutung (vgl. Orlando 3; Steinmetz 95) angenommen, durch die Wiederherstellung seiner Ehre. Daher muss eine genderorientierte Analyse Tellheims von Martinis Feststellung, dass “das eigentliche Lustspiel mit der Selbstreflexion des fingierten Spiels im fiktiven Spiel zu Ende sei” (426), Abstand nehmen. Die daran gebundene, wiedererlangte Handlungsfreiheit wird erst zur Basis für die emotionale Komponente Tellheims, wobei der Händedruck und der Ausruf “Ha! wer ein besseres Mädchen und einen redlicheren Freund hat als ich, den will ich sehen!” (109) zum ersten Mal ungetrübt von patriarchalischen Anforderungen gegenüber Minna und berufsbedingten Hierarchieauflagen gegenüber Werner als Ausdruck dessen verstanden werden können, dem Tellheim den gesamten Text über ausgewichen war: Der Wiederentdeckung seiner männlich-intrinsischen Gefühlswelt, die ihm letztlich das lang ersehnte Gleichgewicht bringt: die finale Rückkehr zur “Sprache des Herzens.” Männliches und weibliches Glück in Lessings Minna von Barnhelm 155 Damit ist der Schlüssel zur Erfüllung des “weiblichen Glücks,” nach dem Minna von Beginn an sucht, gegeben. Beide Kategorien, das “männliche” und das “weibliche” Glück, können erst nach Tellheims vollzogener Entwicklung aus ihrer antinomischen Grundkonstellation in eine komplementäre überführt werden. Ob das dadurch ermöglichte “weibliche Glück” allerdings Aussicht auf eine längere Dauer besitzt oder doch letztlich nicht vollkommen frei von einer auf das Lustspiel bezogenen Gattungskonvention ist, entzieht sich der vorliegenden Analyse, wenngleich Lessings Dramenschluss zu derartigen Überlegungen einlädt. Literaturverzeichnis Brenner, Peter J. Gotthold Ephraim Lessing. Stuttgart: Reclam, 2000. Fick, Monika. Lessing-Handbuch: Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler, 2000. Homann, Renate. Selbstreflexion der Literatur: Studien zu Dramen von G. E. Lessing und H. v. Kleist. München: Fink, 1986. Kagel, Martin. “Des Soldaten Glück: Aufklärung, Kriegserfahrung und der Ort des Militärs in Gotthold Ephraim Lessings Minna von Barnhelm.” Lessing Jahrbuch 35 (2003). Hrsg. Herbert Rowland et al. Göttingen: Wallstein, 2004. 9–34. Kaufman, Michael. “The Construction of Masculinity and the Triad of Men’s Violence.” Men’s Lives. Hrsg. Michael Kimmel et al. Boston: Allyn and Bacon, 1994. 13–25. Lessing, Gotthold Ephraim. Hamburgische Dramaturgie. 1767. Leipzig: Reclam, 1972. ———. Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück. Werke und Briefe 1767–1769. Hrsg. Klaus Bohnen. Bd. 6 von Werke und Briefe in 12 Bänden. Hrsg. Wilfried Barner, et al. Frankfurt/M.: Deutscher Klassiker Verlag, 1985. 9–110. Lorey, Christoph. Lessings Familienbild im Wechselbereich von Gesellschaft und Individuum. Bonn: Bouvier, 1992. Luhmann, Niklas. Liebe als Passion: Zur Codierung von Intimität. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1994. Martini, Fritz. “Riccaut, die Sprache und das Spiel in Lessings Lustspiel ‘Minna von Barnhelm.’” Gotthold Ephraim Lessing. Hrsg. Gerhard Bauer und Sibylle Bauer. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1968. 376–426. Orlando, Antonino. “Lessings ‘Minna von Barnhelm’: Eine Interpretation.” Diss. Zürich, 1978. Prutti, Brigitte. Bild und Körper: Weibliche Präsenz und Geschlechterbeziehungen in Lessings Dramen “Emilia Galotti” und “Minna von Barnhelm.” Würzburg: Königshausen und Neumann, 1996. Rousseau, Jean-Jacques. “Émile oder Über die Erziehung.” Philosophische Geschlechtertheorien: Ausgewählte Texte von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. Sabine Doyé et al. Stuttgart: Reclam, 2002. 165–90. Saße, Günter. “Der Streit um die rechte Beziehung: Zur ‘verborgenen Organisation’ von Lessings ‘Minna von Barnhelm.’” Streitkultur: Strategien des Überzeugens im Werk Lessings. Hrsg. Wolfram Mauser und Günter Saße. Tübingen: Niemeyer, 1993. 38–55. Schmale, Wolfgang. Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450–2000). Wien: Böhlau, 2003. 156 martin blawid Schröder, Jürgen. Gotthold Ephraim Lessing: Sprache und Drama. München: Fink, 1972. Steinmetz, Horst, Hrsg. Gotthold Ephraim Lessings “Minna von Barnhelm”: Dokumente zur Rezeptions- und Interpretationsgeschichte. Königstein: Athenäum, 1979. Stockinger, Ludwig. “Aufklärung und ‘Bürgerliche Gesellschaft’ im Spiegel von Christian Felix Weißes Singspiel-Libretti.” Christian Felix Weiße und die Leipziger Aufklärung. Hrsg. Katrin Löffler und Ludwig Stockinger. Hildesheim: Olms 2006. 129–48. Wehrli, Beatrice. Kommunikative Wahrheitsfindung: Zur Funktion der Sprache in Lessings Dramen. Tübingen: Niemeyer, 1983. Wosgien, Gerlinde Anna. Literarische Frauenbilder von Lessing bis zum Sturm und Drang: Ihre Entwicklung unter dem Einfluß Rousseaus. Frankfurt/M.: Lang, 1999. Zedler, Johann Heinrich. Großes vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste. Halle/Leipzig: 1735. Copyright of Seminar -- A Journal of Germanic Studies is the property of UTP/Seminar A Journal of Germanic Studies and its content may not be copied or emailed to multiple sites or posted to a listserv without the copyright holder's express written permission. However, users may print, download, or email articles for individual use.