Beitrag lesen
Transcrição
Beitrag lesen
Hauptdokument_313_final_musterdokument neues layout 03.06.13 08:43 Seite 92 Mittelweg 36 3/2013 Aus der Protest-Chronik 18. März 1968 Der Film- und Theaterschauspieler Wolfgang Kieling befindet sich zur Zeit der Studentenbewegung auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Erste Bekanntheit hat der 1924 in Berlin-Neukölln geborene Darsteller noch in der Weimarer Republik als Star im Kinderfunk erlangt. Schon 1936 gab er in einem Veit-Harlan-Film sein Leinwanddebüt. In den frühen 1950er Jahren avanciert Kieling zu einem der meistbeschäftigten deutschen Schauspieler; seit den 1960ern tritt er auch immer häufiger im Fernsehen auf. Seine Popularität ist allerdings nicht ganz ungebrochen, da er meist etwas undurchsichtige Figuren spielt oder in die Rolle ausgesprochener Bösewichte schlüpft. Für seine Verkörperung eines Stasi-Mannes im Hitchcock-Thriller Der zerrissene Vorhang (1966) gewinnt er auch internationale Anerkennung. Eine makabre Szene des Films zeigt, wie der ostdeutsche Agent von einem amerikanischen Kernphysiker, den er während dessen Aufenthalt in der DDR zu überwachen hat, umgebracht wird. Der von Paul Newman dargestellte Wissenschaftler steckt ihn, unterstützt von einer einheimischen Bäuerin, mit dem Kopf voran in die Röhre eines Backofens und dreht den Gashahn auf. Der ebenso brutale wie symbolträchtige Akt soll verhindern, dass die geplante Flucht des Physikers von Leipzig nach West-Berlin auffliegt. Natürlich ahnt das amerikanische Publikum nicht, wie stark gerade Kielings Biografie vom Wechsel zwischen Ost und West geprägt ist. Der deutschen Öffentlichkeit hingegen ist das keineswegs verborgen geblieben. Bereits Mitte der 1950er Jahre, in einer Hochphase des Kalten Krieges, setzte sich Kieling erstmals in die DDR ab und verfolgte seineFilm- undTheaterkarriere dort für einige Jahre weiter. Zu dem spektakulären Schritt hatten ihn nicht politische, sondern rein private Gründe bewogen. In zweiter Ehe war er 92 Aus der Protest-Chronik mit seiner Schauspielerkollegin Gisela Uhlen verheiratet, die befürchten musste, ihre Tochter aus einer früheren Verbindung könne dem Vater zugesprochen werden. Um dem vorzubeugen, entschieden sich die Eheleute, zusammen mit dem Kind ins deutschsprachige Nachbarland zu gehen. Nach einer abenteuerlichen Flucht über die Schweiz, Liechtenstein, Österreich und die Tschechoslowakei traf die kleine Familie im April 1954 auf dem Ost-Berliner FlughafenSchönefeld ein.Damit ergab sich für die SED-Regierung eine willkommene Gelegenheit, das prominente Paar vor den Karren ihrer Propaganda zu spannen. Die beiden Neuankömmlinge wurden entsprechend hofiert. Sie erhielten Zweijahresverträge mit der DEFA. Kieling wirkte in etlichen hochkarätig besetzten DDR-Produktionen mit: als Kriegsheimkehrer in Konrad Wolfs Genesung, im Résistance-Epos Damals in Paris sowie in Betrogen bis zum jüngsten Tag, einem Film über die Verbrechen der Wehrmacht. Freilich ging die Ehe mit Uhlen in die Brüche, woraufhin der Schauspieler in den Westen zurückkehrte. Dort waren zunächst einige bürokratische Hürden zu überwinden, doch gelang es Kieling schnell, beruflich wieder Fuß zu fassen. Als Synchronsprecher lieh er Leinwandhelden wie Frank Sinatra, Glenn Ford, Kirk Douglas und Paul Newman seine Stimme. Dank verschiedener Film- und Fernsehauftritte verzeichnete er auch bei der Kritik beachtliche Erfolge. Im Jahr 1965 erhielt Kieling den begehrten Bundesfilmpreis als besterHauptdarsteller,1967 ehrte ihn dieZeitschrift Hör Zu mit einer Goldenen Kamera für seine Rolle als Garcin in der Filmadaption von Jean-Paul Sartres Stück Geschlossene Gesellschaft.Trotz der wachsenden Anerkennung geriet Kiesling in immer größer werdende Distanz zum politischen und gesellschaftlichen Leben der Bundesrepublik, zumal © Mario Mach – Deutsche Kinemathek Hauptdokument_313_final_musterdokument neues layout 03.06.13 08:43 Seite 93 Mittelweg 36 3/2013 1966 im Zentrum von West-Berlin. »Der zerrissene Vorhang« läuft in der Frontstadt an. Der Regisseur gibt ihr die Ehre. Wolfgang Kieling (re.) und Günter Strack folgen einem augenscheinlich ortskundigen Alfred Hitchcock, der die Richtung vorgibt. von ihrem Medienbetrieb fühlte er sich abgestoßen. Im Februar 1968, genau ein Jahr nach der Entgegennahme der Goldenen Kamera für seinen Auftritt in der Sartre-Verfilmung, gibt Kiesling die Auszeichnung im direkt an der Berliner Mauer postierten Axel-SpringerHaus an den stellvertretenden Chefredakteur der Hör Zu zurück. Eine Presseerklärung erläutert die Beweggründe: »Ich habe mich zu diesem Schritt entschlossen, weil ich in der Öffentlichkeit nicht länger dem Verdacht ausgesetzt sein will, daß ich mich als Besitzer dieses Preises in irgendeiner Weise mit der Politik der Springer-Zeitungen identifiziere. Die Springer-Presse hat in diesem Jahr gezeigt, daß sich hinter ihrem Etikett ›Seid nett zueinander‹ eine terroristische Meinungsmaschine ver- 93 Aus der Protest-Chronik birgt. Ihre Berichterstattung über die studentische Opposition hat deutlich gemacht, daß sie vor keiner Lüge und Diffamierung zurückschreckt, wenn es darum geht, Andersdenkende mundtot zu machen. Sie hat sich nicht gescheut, die von ihr falsch informierte Bevölkerung zum Studentenpogrom offen aufzuhetzen und ist dadurch unübersehbar zu einer Gefahr für Meinungsfreiheit und Demokratisierung geworden.« Mit der Rückgabe des Preises wolle er, so heißt es weiter, sich zugleich der vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) erhobenen Forderung »Enteignet Springer« anschließen. Als der SDS kurz darauf den großes Aufsehen erregenden »Internationalen Vietnamkongreß« veranstaltet, ist Kieling mit von der Partie.Die Abschlussdemonstration führt Mittelweg 36 3/2013 Hauptdokument_313_final_musterdokument neues layout 03.06.13 08:43 Seite 94 12000Teilnehmer über den Kurfürstendamm, wo Passanten den Schauspieler erkennen und als Kommunistenfreund anfeinden. Sein markanter Kinnbart provoziert den spöttischen Vergleich mit SED-Chef Walter Ulbricht. Es sei nicht weiter verwunderlich, lässt einer der Passanten verlauten, wenn jemand, der »im Fernsehen immer die Mörder« spiele, auf der Straße mitmarschiere. Kieling ist empört. Dass er sich inzwischen von der SpringerPresse zur »Unperson« erklärt findet, tut ein Übriges. Binnen kurzem reift ein neuer Entschluss. Der Schauspieler wechselt ein zweites Mal die Seite. Am Nachmittag des 18. März 1968 fährt er bei strahlendem Sonnenschein mit seinem blauenVW-Käfer über den Checkpoint Charlie von West- nach Ost-Berlin – »ins Paradies der Werktätigen«, wie er in seinen Erinnerungen mit einer gewissen Ironie schreiben wird. Aus Protest gegen die politischen Verhältnisse in West-Berlin, den Vietnamkrieg und den »Verfall des westdeutschen Kulturbetriebes« will er, wie Kielings Memoiren unterstreichen, in die DDR übersiedeln. Mit im Auto sitzt seine siebenjährige Tochter Annette. Deren Mutter, Kielings dritte Ehefrau Johanna Göllnitz, bleibt im Westen zurück. Fürs Erste kommen Vater und Tochter im Diplomatenhotel »Johannishof« unter, das an der Friedrichstraße gelegen ist und Kieling schon 1954 als Quartier gedient hatte. Offenbar ist der Schritt gut vorbereitet und mit einflussreichen Unterstützern in OstBerlin abgesprochen. Eine durch den Republikanischen Club (RC) in West-Berlin verbreitete Erklärung Kielings gibt zu Protokoll: »Ich habe heute die Bundesrepublik und WestBerlin verlassen und bin in die DDR gegangen, um dort zu leben und zu arbeiten. [...] Ich lebe seit Oktober 1967 in West-Berlin und habe erlebt, was sich in diesen Monaten in dieser Stadt abgespielt hat. Ich habe an den Veranstaltungen der Studenten teilgenommen und habe gelesen, wie die Berliner Zeitungen über diese Veranstaltungen berichtet haben. Da sah ich, wie in dieser Stadt gelogen wird, das Bewußtsein der Menschen manipuliert wird. Da begriff ich, daß ein einzelner Schauspieler, der sich der Wahrheit verpflichtet fühlt, nichts mehr ausrichten kann gegen so viele 94 Aus der Protest-Chronik brutale, erdrückende Verfälschung der Wirklichkeit, wie die Springer-Presse sie betreibt. Ich habe 1965 in Los Angeles die Aufstände der amerikanischen Neger erlebt, und ich weiß, was in Vietnam geschieht. Ich halte die Regierung der Vereinigten Staaten für die gefährlichste, kulturfeindlichste, menschenfeindlichste Macht der Gegenwart. Ich wünsche nicht mehr in einem Land zu leben, wo alles Schweigen und alle Ohnmacht gegenüber dieser Unmenschlichkeit zur Komplizenschaft mit den Verbrechen der amerikanischen Regierung gegenüber den amerikanischen Negern und dem vietnamesischen Volk wird. Ich gehe in die DDR, weil sie das einzige deutschsprachige Land ist, von dem ich mit Gewißheit sagen kann, daß es an den Verbrechen der amerikanischen Politik keinerlei Anteil hat. Ich kenne aus eigener Anschauung den Verfall des westdeutschen Kulturbetriebes durch Manipulation und Bevormundung. Es wäre eine Selbsttäuschung, zu glauben, man könnte sich an diesem Kulturbetrieb beteiligen und gleichzeitig noch irgendetwas bewirken, um den Verfall aufzuhalten, die herrschende Manipulation zu durchbrechen. Mit Betroffenheit wurde ich Zeuge, wie letzte Inseln der Liberalität, der Freiheit, der Kritik in Funk und Fernsehen abgebaut wurden, liquidiert, gleichgeschaltet. Ich denke dabei insbesondere an die Absetzung von ›Hallo Nachbarn‹, eine Sendung, an der ich mitgearbeitet habe. Ich habe es erlebt, wie in engstem Freundeskreis die Gespräche erstarrten, wenn man von Politik zu reden anfing, wie Freundschaften zerbrachen, wenn nicht mehr Vorurteile, sondern Erfahrungen zu Wort kamen. Meine Sympathie gehört der jungen Generation in Westdeutschland und West-Berlin, die angefangen hat, politisch zu arbeiten, die angefangen hat, gegen Gewalt, Mißbrauch von Autorität, Manipulation und Gleichschaltung Widerstand zu leisten, die begonnen hat, ihrer Solidarität mit der südvietnamesischen Befreiungsfront nicht mehr nur in Worten Ausdruck zu geben, sondern sie durch Taten effektiv zu machen. Ich verlasse Westdeutschland aus Solidarität mit ihnen. Ich glaube, daß ich als einzelner, als Schauspieler diesen Schritt tun muß, daß mir nichts anderes bleibt, als meine Mitwirkung an diesem verlogenen Kulturbetrieb zu verweigern, will ich nicht selbst einer sein, der der Manipulation, der Täuschung, dem Betrug Vorschub leistet.« Mittelweg 36 3/2013 Hauptdokument_313_final_musterdokument neues layout 03.06.13 08:43 Seite 95 Einen Tag später lässt die Bild-Zeitung den »verkehrten Flüchtling« wissen, sie wünsche »Herrn Kieling gute Reise.« Weiter heißt es dort: »Wenigstens einer, der die Konsequenzen zieht. Der nicht gegen die demokratische Ordnung der Bundesrepublik muffelt und trotzdem ihre Segnungen genießen will. Schade, daß so wenig andere Linksradikale seinem Beispiel folgen. Hinter Mauer und Stacheldraht, in ihrem sozialistischen Paradies, müssen sie sich doch eigentlich viel wohler fühlen als bei uns.« Der Artikel trägt die Überschrift »Einer, der ging«. Ein anderer, ihm gegenübergestellter Text berichtet unter der nicht minder lakonischen Überschrift »Und einer, der kam« von der Flucht eines Kraftfahrers aus der DDR. Er war schwer verwundet »durch den Todesstreifen an der bayerischen Zonengrenze gekrochen«, um trotz der Lebensgefahr in den Westen zu gelangen. Kurz darauf meldet der Spiegel, die von ihm unterzeichnete Erklärung habe Kieling gar nicht alleine verfasst. Vielmehr sollen ihn die konkret-Kolumnistin Ulrike Meinhof und der RC-Aktivist Klaus Meschkat »angeleitet« haben. Mit seinem Weggang gehöre der Schauspieler zu den rund 5000 Deutschen, die jährlich von West nach Ost übersiedelten, während etwa 20 000 Menschen, so die Statistik des Vorjahres, die umgekehrte Richtung wählten, unter ihnen 1203 Flüchtlinge. In einem Postskriptum zu seiner Erklärung stellt Kiesling den Bundesfilmpreis in Gold, der ihm 1965 verliehen wurde, für eine Versteigerung zur Verfügung. Der Erlös solle der südvietnamesischen Befreiungsfront zugutekommen. Tatsächlich veranstaltet der Republikanische Club in der Charlottenburger Wielandstraße nur ein paar Tage später eine Auktion, zu der sich rund 300 Besucher einfinden. Um 22 Uhr eröffnet Dietrich Kittner, der die Aufgabe des Auktionators übernimmt, die amerikanische Versteigerung mit einem Mindestgebot von fünf DM – den Kosten für eine Handgranate, wie der Kabarettist erklärt. Etwa 70 Interessenten bieten mit. Jedes Mal, wenn ein neues Gebot eine Hunderterschwelle überschreitet, tönt es im Chor: »Hoho-ho-Chi-Minh!« Kurz vor Mitternacht fällt der Hammer und Kittner erteilt dem 95 Aus der Protest-Chronik RC-Mitglied Barbara Agnoli den Zuschlag. Der beachtliche Erlös von 1760 DM geht, wie von Kieling verfügt, ohne Abzüge an die Nationale Befreiungsfront Südvietnams. Der SED verschafft Kielings zweite »Flucht« in die DDR eine neuerliche Gelegenheit, den berühmten Schauspieler für eigene Zwecke zu nutzen. Das Hotel »Johannishof« ist bei dessen Eintreffen von Journalisten regelrecht belagert. In Empfang genommen wird Kieling vom Generaldirektor der DEFA, Franz Bruk, der abermals einen Vertrag anbietet. Auch der Kulturminister der DDR, Klaus Gysi, scheint eigene Pläne zu verfolgen. Er offeriert Kieling gleich ein eigenes Haus. Die DDR-Presse wertet Kielings Schritt als Zeichen seiner »Abscheu vor der alten Welt« (Neues Deutschland) und preist seine Übersiedlung als ein »Bekenntnis zur Humanität« (Berliner Zeitung). Schon drei Tage nach Kielings Ankunft lädt das Kulturministerium zu einer Pressekonferenz in den renommierten Künstlerclub »Die Möwe« ein. Auf dem Podium haben zwei alte Bekannte neben Kieling Platz genommen, der Schauspieler Erwin Geschonneck, seinerseits Nationalpreisträger und als besonders linientreu bekannt,sowie der international geachtete Filmregisseur Konrad Wolf. Den Übersiedler begrüßt Geschonneck als »Kollege Unzufriedener«. Um dessen Entschluss zu würdigen, versteigt er sich zu einem Vergleich von Kielings Schritt mit der Entscheidung des einstigen Greifswalder Stadtkommandanten, die Stadt kampflos der Roten Armee zu übergeben. Wolf vermeidet fragwürdiges Pathos und wünscht dem Neuankömmling, er möge in der DDR »seine politische und künstlerische Heimat« finden. Wegen der »Rufmordkampagnen«, denen sich »fortschrittlicheKulturschaffende« imWesten ausgesetzt sähen, stünden auch andere Künstler vor einer ähnlichen Entscheidung. Kieling erklärt, er wolle sich von seiner Tochter nicht eines Tages die Fragen stellen lassen, mit denen er seinen Vater zwanzig Jahre zuvor konfrontiert habe. Dass er sich solche Fragen zuallererst selbst hätte stellen können, verschweigt Kieling, der als Wehrmachtssoldat an der Ostfront gekämpft hatte, auf der Krim verwundet wurde und in sowjetische Mittelweg 36 3/2013 Hauptdokument_313_final_musterdokument neues layout 03.06.13 08:43 Seite 96 Kriegsgefangenschaft geriet, aus der er erst 1949 zurückkehrte. Neue Hauptrollen in DEFA-Filmen lassen nicht lange auf sich warten. Trotzdem stellt sich bei Kieling Enttäuschung ein. In Konrad Wolfs Goya spielt er mit, allerdings wird ihm die Titelrolle vorenthalten. Auch in anderen Produktionen fühlt er sich durch die Besetzung zurückgesetzt. Zwar lebt Kieling ausgesprochen privilegiert. In unmittelbarer Nachbarschaft zur Machtelite der SED bewohnt er die Köpenicker Villa des vormaligen Stummfilmstars Henry Porten. Doch zieht es ihn in den Westen. Als der Bayerische Rundfunk im Sommer 1969 die Mitwirkung an dem Filmprojekt »Hunger 2000« in Brasilien anbietet, gestatten die DDR-Behörden Kielings Teilnahme unter gewissen Auflagen. Im Juli 1970 nutzt Kieling einen Aufenthalt in Wien dazu, sich einen bundesdeutschen Reisepass zu besorgen. Er möchte offenbar wieder im Westen arbeiten. Indes hat er in Monika Gabriel eine junge Ost-Berliner Kollegin kennengelernt, mit der er zusammenleben will. Dank des neuen Passes, der es ihm erlaubt, nach Belieben in den Westen zu reisen, kann er sich beide Wünsche erfüllen. Freilich verlagert sich Kielings Lebensmittelpunkt wieder in die von der DDR so verteufelte Bundesrepublik. Daraus ergibt sich für den Schauspieler aber die Unannehmlichkeit, die meiste Zeit von seiner neuen Lebensgefährtin getrennt zu sein. Um sie wiederzusehen, fährt er – wie schon so oft – auch am Heiligabend des Jahres 1970 nach Ost-Berlin. Die Einreise verläuft auch dieses Mal ohne Komplikationen. Allerdings kann Kieling nicht über Nacht bleiben, da er als aus dem Westen Einreisender das Staatsgebiet der DDR spätestens bis Mitternacht verlassen muss. Bei einem nächsten Grenzübertritt am Morgen des Silvestertages wird er zu seiner Überraschung von einem Offizier der Grenztruppen in einen Nebenraum gebeten. Der aus Sachsen stammende Grenzer macht ihn auf eine Besonderheit aufmerksam, die ihm das Leben erleichtern könnte: »Guder Mann, Sie machen sichs werglich schregglich schwer, verschdehnse? Und immr midden Audo und ’n Goffer.« 96 Aus der Protest-Chronik »Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, gibt der verdutzte Kieling zurück. »SiegönndochübernamerigahnschenScheggpoind Scharly in unsere Dedde-Err einreisen.« »Der ist doch nur für Ausländer.« »Richtsch! Nu guggen Se mal Ihrn Paß genau an. Was stehdn da, Herr Gieling?« Beglaubigt durch einen offiziellen Stempel der bundesdeutschen Botschaft in Österreich, gilt »Wien« als Kielings derzeitiger Wohnsitz.Also kann er tatsächlich denGrenzübergang Checkpoint Charlie in der Friedrichstraße nutzen. Dennoch bleiben die Stippvisiten im Osten zeitraubende Geduldsproben. Monatelang pendelt Kieling tagtäglich zwischen den beiden Teilen Berlins, was stundenlange Wartezeiten am Kontrollpunkt der Alliierten mit sich bringt. Kieling, der die Wartereien nicht mehr ertragen mag, wendet sich schließlich mit einem Brief direkt an SED-Chef Erich Honecker, der Walter Ulbricht in diesem Amt gerade erst abgelöst hat. Ihn bittet er um eine »Familienzusammenführung«. Und um die Dringlichkeit des Antrags zu unterstreichen, trägt Kieling seinen Brief persönlich ins Zentralsekretariat. Zwei Tage später erklärt Honecker dem Bittsteller höchstselbst am Telefon, es bestünden keine Hindernisse. Offenbar sind die propagandistischen Potentiale erschöpft, der Mohr hat seine Schuldigkeit getan. Am 28. Juni 1971 ist es so weit. Sogar Kielings künftige Ehefrau kann in den Westen ausreisen. Damit ist das Kapitel DDR für den Schauspieler endgültig abgeschlossen. In der unvollendet gebliebenen Autobiografie, die nach Walter Kielings frühem Tod im Oktober 1985 unter dem Titel Stationen erscheint, rekapituliert er die Übersiedlung nach Ost-Berlin im März 1968 recht selbstkritisch: Er werde das Gefühl nicht los, sie sei »der größte Fehler« seines Lebens gewesen. Die Erinnerung an die Flucht mit Gisela Uhlen habe ihn »zu schnell, zu unüberlegt, zu emotional handeln lassen«. Derweil macht unter den Filmschaffenden der DEFA ein Bonmot immer noch die Runde: »Kannten Sie Kieling? – Ja, flüchtig.« Wolfgang Kraushaar