Das ist eine wahre Geschichte, die sich zugetragen hat

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Das ist eine wahre Geschichte, die sich zugetragen hat
Das ist eine wahre Geschichte, die sich zugetragen hat – einmal - vor gar nicht langer Zeit.
Es kommt mir vor, als wäre es eine Prophezeiung aus einer längst vergessenen Zeit, in der
sich die Menschen vor Drachen und bösen Flüchen fürchteten.
Sie beginnt auf der hölzernen Eckbank hinter dem Esstisch in dem Haus, das gegenüber der
Kirche stand und heute immer noch dort steht.
Als ich klein war und aus dem Fenster blickte, konnte ich nur das Gelb sehen. Wenn ich
davor stand, bestand die Welt im Norden des Hauses nur aus dieser Farbe. Es war die
Farbe, in der die ganze Kirche gestrichen war. Das Gelb war so hoch und so breit, dass ich
mit meinen dreieinhalb Jahren, weder oben die Dachrinne, noch an den Seiten die Ecken der
riesigen fensterlosen Rückwand dieser Kirche erkennen konnte.
Sie war immer da gewesen - diese Kirchenwand und unübersehbar in unserer „Stubn“. Vor
diesem großen Hintergrund spielte sich das Leben in dieser Stube ab.
In meiner Erinnerung baumeln meine Füße um das abgewetzte Tischbein, wenn ich auf
dieser Eckbank sitze. Die Metallschnallen an den Sandalen machen Geräusche, wenn ich
sie gegen das gedrechselte Holzbein schwenke. Diese schabenden Geräusche mag meine
Oma gar nicht.
Aber ich mag meine Oma sehr. Sie heißt Rosa. Sie ist groß und alt und hat weiße Haare, so
weiße, wie man sie nur bekommen kann, wenn man in jungen Jahren strohblond war. Sie
flicht sie morgens immer zu einem langen Zopf, den sie sich zu einer großen Schnecke
gewickelt mit großen Haarnadeln am Hinterkopf feststeckt.
Ich möchte sie so beschreiben wie die alte Krösa-Maya in den Filmen über Michel aus
Lönneberg. Nur war sie viel größer und in ihren riesigen Busen konnte ich damals meine
Kindertränen schluchzen. Der dicke blau gefärbte Baumwollstoff ihrer Bluse schluckte sie
alle meine Schmerzenstränen über aufgeschürfte Knie, über die Ohrfeigen, die ich vom
Vater bekam und noch so manch anderes.
Meine Großmutter sitzt mir an diesem Nachmittag gegenüber und weiß nicht mehr, welche
Geschichten sie mir noch erzählen soll. Die alten Märchen, die paar, die sie auswendig kann,
hatte sie mir wahrscheinlich schon längst erzählt, wahrscheinlich auch schon die
Geistergeschichte, die sich tatsächlich zugetragen haben soll bei ihrem Bruder, der Priester
geworden war.
Sie sieht mich an und hat dabei einen starren kalten Blick, der mich aufmerksam und verwirrt
macht. Dann sieht sie aus dem Fenster auf die große gelbe unendlich wirkende Wand.
Und sie beginnt so: „Weißt du was?“ Sie sagt es mit einem gequälten harten Lächeln, so wie
sie immer guckt, wenn sie mit der 80-jährigen Nachbarin über die Dorfleute plaudert. Genau
diesen Blick hat sie zum Beispiel, wenn sie erzählt, dass der „Wend“-Nachbar seiner Frau
die ganze schwere Arbeit auf dem Hof machen lässt, weil er immer betrunken ist.
Mit diesem Gesichtsausdruck spricht sie weiter und ich weiß, dass es keine
Kindergeschichte ist, die sie erzählen wird: „Es war noch vor dem Krieg, mein erster Mann
war schon tot und dein Vater war noch lange nicht geboren. Damals stand an diesem Platz,
wo wir jetzt sitzen unser alter Stall. Wir haben ihn schon lange abreißen lassen und deine
Eltern haben hier dieses Haus gebaut. Damals bin ich an einem Morgen in den Stall
gegangen und wollte Heu für die Kühe vom Heuboden herunterholen, da sah ich ihn hängen.
Es war der Mann, von der Frau, die dort drüben wohnen. Er war schon stocksteif. Er hatte
sich einen Strick um den Hals gebunden und ist damit vom Balken gesprungen.“
Ich weiß noch, wie ich frage: „Oma, was ist stocksteif und warum hatte er einen Strick? Hat
er dir den Strick einfach aus deinem Stall gestohlen?“
Sie hat mir erklärt, was stocksteif bedeutet und sie hat mir damals gesagt, dass es nicht
darauf ankam, ob der Mann ihr den Strick gestohlen hatte. Für meine dreieinhalb Jahre hat
mir das ausgereicht, um Ihre Geschichte zu verstehen. Ich hatte mir das Bild vorstellen
können, wie ein Mann in einem alten Stall mit einem Strick um den Hals von einem Balken
herab hin. Sehr dramatisch wirkte das auf mich nicht. Die Geistergeschichten, die mir meine
Oma erzählen konnte, waren viel gruseliger. Bei denen lief es mir kalt den Rücken herunter.
Diese Geschichte berührte mich wenig. Ich merkte sie mir, wie viele andere, um mich mal
daran erinnern zu können, was im Leben meiner Oma so alles passiert war.
35 Jahre später sitze ich mit meinem Vater am selben Platz in der „Stubn“. Wir sind allein.
Ich habe die Geschichte, die mir meine Oma damals erzählt hat, noch nie weitererzählt. In
meinem Kinderleben war sie unwichtig, in meinem Erwachsenenleben glaubte ich, es wäre
eine Erfindung meiner Oma gewesen, um mir die Zeit zu vertreiben.
Meine Oma ist längst tot. Ihren Grabstein kann man vom anderen Fenster der Stubn aus
sehen. Denn der Friedhof breitet sich über die große weite Sichtfläche aus, die das andere
Fenster der Stubn hergibt.
Es ist so still wie es nur ganz selten still in diesem Raum war. Draußen hört man ab und zu
Autos zwischen der gelben riesigen Wand und dem Haus vorbeifahren, denn dazwischen
liegt die Dorfstraße. Mein Vater sagt nichts und ich sage auch nichts.
Ich sehe auf die angetrunkene Tasse Kaffee vor mir. Als meine Mutter noch da war, hat es
immer selbstgebackenen Kuchen dazu gegeben. Heute gibt es nur Kekse aus der Packung.
Und auf der beige gemusterten Wachstuchtischdecke liegen ein paar eingetrocknete
Brotbrösel von der letzten Mahlzeit.
Ich lasse meine Gedanken laufen. Meine Mutter ist seit ein paar Tagen tot. Wie viele Tage?
Sind es schon Wochen? Es ist ein außergewöhnlicher Umstand, dass ich hier allein ohne
Mann und Kind meinem Vater gegenübersitze. Sein Schweigen und mein Schweigen sagen
viel mehr als Worte. Wir sitzen da und schweigen.
Wie war es als meine Oma gestorben war? Da saß ich auch so da, auf derselben Eckbank.
Mein Vater hebt gerade den Kopf und blickt aus dem anderen Fenster hinaus. Man kann
über den Friedhof schauen. Man sieht die Strasse und man sieht auf den grau gepflasterten
Hof vor dem großen Haus. Es war am Morgen, ein nebeliger, kalter Oktobermorgen, an dem
die Beerdigung meiner Oma stattfand. Ich war in der fünften Klasse. Latein und der
zugehörige Lehrer bereiteten mir damals immerwährende Übelkeit. Wir saßen beim
Frühstück und erzählten uns unsere Träume aus der Nacht. Mein Vater hatte einen
ähnlichen Traum wie ich gehabt.
Er spielt auf diesem Hof vor dem Haus. „Dort haben sich eine Menge schwarz gekleideter
Verwandte versammelt. Alle stehen vor einer Grube, die sich mitten im Hof vor der Einfahrt
befindet. Sie ist rechteckig und so groß wie ein Grab. Alle stehen da herum und schauen
betreten. Meine Geschwister sind da, mein Vater steht neben mir. Ich will in dem Traum
wissen, was in dieser Grube ist. Ich trete näher heran und sehe darin einen hölzernen Sarg
mit einem Metallkreuz darauf. Ich will fragen, wer dort drinnen liegt. Da blicke in die
meerblauen Augen meiner Großmutter. Sie steht da groß und mächtig, wie sie immer war, in
der ersten Reihe. Ich frage sie: „Oma, wo ist die Mama?“ Da blickt sie geradeaus in die
Grube hinein. Sie wendet ihren Blick nicht ab. Schnurgerade ohne irgendeinen Zweifel blickt
sie dahin – lange, zu lange.“
Mein Vater träumt in dieser Nacht von einer blonden Frau mittleren Alters mit einer
Dauerwellenfrisur, die vor einem ausgehobenen Loch steht und hineinschaut. Sie steht
etwas abseits unter vielen schwarz gekleideten Leuten auf dem Hof vor dem Haus. Und er
vermisst meine Mutter im Traum.
Er vermisst sie wohl heute auch. Aber wie? Vermisst er nur die fehlenden Mahlzeiten, die sie
ihm immer warm auf den Tisch gestellt hat? Was vermisst er an ihr? Er hat alle Blumen,
unendlich viele, weggeworfen, die sie gehegt und gepflegt hat. Nur die Geranien auf dem
Balkongeländer hat er übrig gelassen. Er gießt sie nicht. Absichtlich nicht, sagt er. Er will
sehen, wie sie verwelken und dahinkümmern und schließlich verdörren.
Wenn ich ihn fragen würde, ob er damit zeigen will, wie er jetzt dahinkümmert oder … - will
er damit dem Geist meiner Mutter zeigen, dass er nichts, was sie übrig gelassen hat,
weiterpflegen will. Ist ihm diese Härte zutrauen?
Ich schaue ihn an.
Dann setze ich zu meiner Frage an: „Du Papa, hat dir die Oma damals die Geschichte
erzählt, dass sie einen Mann mit einem Strick um den Hals stocksteif auf dem Heuboden des
alten Stalls gefunden hat?“
Er blickt mich kalt an. „Wer soll das gewesen sein?“ „Es wird schon irgendjemand gewesen
sein, der hier in der Nähe gewohnt hat, irgendein Nachbar“, sage ich. Er schüttelt
missbilligend den Kopf: „Meine Mutter soll dir das erzählt haben?“ Dann steht er abrupt auf
und verlässt die Stube.
So schnell verstumme ich nicht. Ich folge ihm in den kalten Keller. In der Vorratskammer hole
ich ihn ein: „Weißt du nun von der Geschichte, ja oder nein? Hat dir die Oma das jemals
erzählt?“
Er dreht sich um und beugt sich über die tief gefrorenen Fleischstücke in seinem alten
Gefrierschrank. „Davon habe ich noch nie etwas gehört!“ Sein Tonfall ist so hart wie
Eichenholz, scharf wie der Gestank von Schweinegülle und schneidend, wie das große
scharfe Messer, das auf dem Fensterbrett neben ihm liegt. Damit schnitt meine Mutter immer
vom Geräucherten ein Stück ab.
Wie auch, denke ich mir. Ich träume. Wie sollte es sein können, dass ich im Stande bin, die
Erinnerungen eines dreieinhalb Jahre alten Mädchens, die Träume einer Elfjährigen und
diese Wirklichkeit miteinander in Verbindung zu bringen? Wie sollte es sein können, dass der
Gürtel des weißen Bademantels, den meine Mutter um den Hals geknotet hatte, als mein
Vater sie auf dem Dachboden des Hauses fand, und der Strick, den der Mann aus dem Stall
meiner Großmutter gestohlen hatte, jemals in irgendeiner Verbindung stehen würden.
Wieso frage ich das überhaupt meinen Vater?
Eines ist sicher, wenn mir meine Oma eine wahre Geschichte erzählt hat, dann sind an
derselben Stelle zwei Menschen auf dieselbe Weise gestorben – mit einem Strick um den
Hals, der an einem Balken festgeknotet war. Und beides vor der großen gelben Wand, die
Rückwand der Kirche.

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